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Document 62007CJ0322

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt – Wahrung der Verteidigungsrechte

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 19 Abs. 1)

2. Rechtsmittel – Gründe – Fehlerhafte Tatsachenwürdigung – Unzulässigkeit – Überprüfung der Beweiswürdigung durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung

(Art. 225 EG; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

3. Wettbewerb – Geldbußen – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

4. Rechtsmittel – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Urteil des Gerichts betreffend die Festsetzung einer Geldbuße im Bereich des Wettbewerbsrechts

(Art. 81 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15)

5. Verfahren – Dauer des Verfahrens vor dem Gericht – Angemessene Dauer – Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der Sanktionen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängt werden – Beurteilungskriterien

Leitsätze

1. Die Beachtung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muss. Dieser Grundsatz verlangt insbesondere, dass die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die die Kommission an ein Unternehmen richtet, gegen das sie eine Sanktion wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln zu verhängen beabsichtigt, die wesentlichen diesem Unternehmen zur Last gelegten Gesichtspunkte wie den ihm vorgeworfenen Sachverhalt, dessen Einstufung und die von der Kommission herangezogenen Beweismittel enthält, damit sich das Unternehmen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, das gegen es eingeleitet worden ist, sachgerecht äußern kann.

Dieser Grundsatz schließt es aus, dass eine Entscheidung als rechtmäßig gelten kann, mit der die Kommission gegen ein Unternehmen eine Geldbuße im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängt, ohne ihm zuvor die ihm zur Last gelegten Beschwerdepunkte mitgeteilt zu haben.

Außerdem muss die Mitteilung der Beschwerdepunkte wegen ihrer Bedeutung eindeutig angeben, gegen welche juristische Person Geldbußen festgesetzt werden könnten, und an diese Person gerichtet sein. Ebenso muss in der Mitteilung der Beschwerdegründe angegeben werden, in welcher Eigenschaft dem Unternehmen die behaupteten Tatsachen zur Last gelegt werden.

Eine Entscheidung der Kommission muss für nichtig erklärt werden, wenn in ihr die Verantwortung einer Muttergesellschaft zum einen wegen deren unmittelbarer Beteiligung an den Tätigkeiten eines Kartells und zum anderen wegen der Teilnahme einer ihrer Tochtergesellschaften am Kartell bejaht wird, während die Mitteilung der Beschwerdepunkte es der Muttergesellschaft nicht ermöglicht, vom Vorwurf ihrer unmittelbaren Beteiligung an der Zuwiderhandlung oder auch nur von den Tatsachen, auf die dieser Vorwurf in der Entscheidung letztlich gestützt wird, Kenntnis zu erlangen. Auch wenn in der abschließenden Entscheidung die Verantwortung der genannten Gesellschaft nicht nur wegen ihrer eigenen Beteiligung, sondern auch wegen ihrer Beteiligung in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft bejaht wird, schließt dies nicht aus, dass sich diese Entscheidung möglicherweise auf Verhaltensweisen gründet, in Bezug auf die sich diese Gesellschaft nicht verteidigen konnte. In einem solchen Fall begeht das Gericht einen Rechtsfehler, wenn es aus der Feststellung, dass die Verteidigungsrechte der Muttergesellschaft nicht beachtet worden seien, nicht die rechtlichen Konsequenzen zieht.

(vgl. Randnrn. 34, 36-39, 41, 44-45, 48)

2. Im Fall der Einlegung eines Rechtsmittels ist der Gerichtshof nicht für die Feststellung der Tatsachen zuständig und grundsätzlich nicht befugt, die Beweise zu prüfen, auf die das Gericht seine Feststellungen gestützt hat. Sind diese Beweise ordnungsgemäß erhoben und die allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie die Vorschriften über die Beweislast und das Beweisverfahren eingehalten worden, ist es nämlich allein Sache des Gerichts, den Wert der ihm vorgelegten Beweise zu beurteilen. Diese Würdigung ist somit, sofern die Beweise nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt.

Eine Verfälschung der dem Gericht unterbreiteten Tatsachen und Beweise muss sich in offensichtlicher Weise aus den Akten ergeben, ohne dass eine neue Tatsachen- und Beweiswürdigung vorzunehmen ist.

(vgl. Randnrn. 52-53, 75)

3. Die Kommission verfügt über ein weites Ermessen in Bezug auf die Methode zur Berechnung der wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen. Diese in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, beschriebene Berechnungsmethode enthält verschiedene Spielräume, die es der Kommission ermöglichen, ihr Ermessen im Einklang mit den Vorschriften des Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 auszuüben. Im Rechtsmittelverfahren hat der Gerichtshof zu prüfen, ob das Gericht die Ermessensausübung durch die Kommission ordnungsgemäß gewürdigt hat.

Mit der Feststellung, dass die Kommission nicht ihr Ermessen überschritten habe, indem sie die fraglichen Unternehmen nach Maßgabe ihrer relativen Bedeutung auf dem betroffenen Markt voneinander unterschieden hat, wobei sie dieser Unterscheidung den Anteil am Produktumsatz im Europäischen Wirtschaftsraum zugrunde gelegt hat, verstößt das Gericht nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Mit einer solchen Methode soll nämlich verhindert werden, dass die Geldbußen aufgrund einer auf dem Gesamtumsatz jedes einzelnen Unternehmens beruhenden einfachen Berechnung festgesetzt werden und damit zu Ungleichbehandlungen führen.

(vgl. Randnrn. 112-113, 116-117)

4. Im Verfahren über ein Rechtsmittel gegen ein Urteil des Gerichts im Bereich der Verhängung von Geldbußen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft hat der Gerichtshof zum einen zu überprüfen, inwieweit das Gericht rechtlich korrekt alle Faktoren berücksichtigt hat, die für die Beurteilung der Schwere eines bestimmten Verhaltens anhand des Art. 81 EG und des Art. 15 der Verordnung Nr. 17 von Bedeutung sind, und zum anderen, ob das Gericht auf alle Argumente rechtlich hinreichend eingegangen ist, die zur Stützung des Antrags auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße vorgebracht wurden.

In diesem Rahmen ist ein erstmals vor dem Gerichtshof vorgebrachtes Argument nicht zulässig.

(vgl. Randnrn. 125, 128)

5. Der auf Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention beruhende allgemeine Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass jedermann Anspruch auf ein faires Verfahren und insbesondere auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist hat, gilt auch im Rahmen einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der gegen ein Unternehmen Geldbußen wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht verhängt worden sind.

Die Angemessenheit der Frist ist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache und insbesondere anhand der Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens des Klägers und der zuständigen Behörden zu beurteilen.

Die Liste dieser Kriterien ist nicht abschließend, und die Beurteilung der Angemessenheit der Frist erfordert keine systematische Prüfung der Umstände des Falles anhand jedes Kriteriums, wenn die Dauer des Verfahrens anhand eines von ihnen gerechtfertigt erscheint. So kann die Komplexität einer Sache herangezogen werden, um eine auf den ersten Blick zu lange Dauer zu rechtfertigen.

Ist eine Entscheidung der Kommission, mit der gegen mehrere Unternehmen Geldbußen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verhängt werden, Gegenstand mehrerer Nichtigkeitsklagen, für die verschiedene Verfahrenssprachen gelten, mit denen der überwiegende Teil des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts bestritten wird und die einen Streitbeitritt umfassen, hat das Gericht diese Klagen parallel zu prüfen und eingehende Ermittlungen anzustellen, dabei jedoch die sprachlichen Zwänge aufgrund der Verfahrensvorschriften zu beachten. Angesichts der Komplexität eines solchen Verfahrens kann eine Dauer von fünf Jahren von der Einreichung der Klageschriften bis zur Verkündung des Urteils gerechtfertigt sein und verstößt insoweit nicht gegen die Anforderungen, die an die Einhaltung einer angemessenen Frist zu stellen sind.

(vgl. Randnrn. 143-149)

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