EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62004CJ0212

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofes – Grenzen

(Artikel 234 EG)

2. Sozialpolitik – EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Richtlinie 1999/70

(Richtlinie 1999/70 des Rates, Anhang, Paragraf 5 Nummer1 Buchstabe a)

3. Sozialpolitik – EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Richtlinie 1999/70

(Richtlinie 1999/70 des Rates, Anhang, Paragraf 5)

4. Sozialpolitik – EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Richtlinie 1999/70

(Richtlinie 1999/70 des Rates, Anhang, Paragraf 5 Nummer 1)

5. Handlungen der Organe – Richtlinien – Durchführung durch die Mitgliedstaaten

(Artikel 10 Absatz 2 EG und 249 Absatz 3 EG)

Leitsätze

1. Das in Artikel 234 EG vorgesehene Verfahren ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen die Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit kann das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, das allein den diesem zugrunde liegenden Sachverhalt unmittelbar kennt und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf den Einzelfall sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt, am besten beurteilen. Betreffen diese Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden.

Dem Gerichtshof obliegt es jedoch, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird. Denn der Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, verlangt auch, dass das nationale Gericht seinerseits auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe Rücksicht nimmt, die darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben.

(vgl. Randnrn. 40-42)

2. Paragraf 5 Nummer 1 Buchstabe a der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, der sachliche Gründe betrifft, die die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse rechtfertigen könnten, ist dahin auszulegen, dass er der Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge entgegensteht, die allein damit gerechtfertigt wird, dass sie in einer allgemeinen Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats vorgesehen ist. Vielmehr verlangt der Begriff „sachliche Gründe“ im Sinne des Paragrafen 5, dass der in der nationalen Regelung vorgesehene Rückgriff auf diese besondere Art des Arbeitsverhältnisses durch konkrete Gesichtspunkte gerechtfertigt wird, die vor allem mit der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausübung zusammenhängen.

Eine innerstaatliche Vorschrift, die sich darauf beschränkt, den Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge allgemein und abstrakt durch Gesetz oder Verordnung zuzulassen, birgt nämlich die konkrete Gefahr eines missbräuchlichen Rückgriffs auf diese Art von Verträgen und ist daher mit dem Ziel und der praktischen Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung unvereinbar. Würde zugelassen, dass eine nationale Vorschrift von Gesetzes wegen und ohne weitere Präzisierung aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge rechtfertigen kann, so liefe dies auf eine Missachtung der Zielsetzung der Rahmenvereinbarung, mit der die Arbeitnehmer gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse geschützt werden sollen, und auf eine Aushöhlung des Grundsatzes hinaus, dass unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses sind. Insbesondere lassen sich dem Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge allein aufgrund einer allgemeinen Rechtsvorschrift, ohne Zusammenhang mit dem konkreten Inhalt der betreffenden Tätigkeit, keine objektiven und transparenten Kriterien für die Prüfung entnehmen, ob die Verlängerung derartiger Verträge tatsächlich einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet und insoweit erforderlich ist.

(vgl. Randnrn. 71-75, Tenor 1)

3. Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, der Maßnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge betrifft, ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der als „aufeinanderfolgend“ im Sinne dieses Paragrafen nur die befristeten Arbeitsverträge und ‑verhältnisse gelten, die höchstens 20 Werktage auseinanderliegen.

Eine solche nationale Regelung ist nämlich geeignet, den Sinn und Zweck sowie die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung insoweit zu unterlaufen, als Arbeitnehmer bei einer derart starren und restriktiven Definition des Aufeinanderfolgens mehrerer nacheinander geschlossener Arbeitsverträge über Jahre hinweg in unsicheren Verhältnissen beschäftigt werden könnten, weil der Arbeitnehmer im Regelfall keine andere Wahl hätte, als Unterbrechungen von etwa 20 Tagen in einer Kette von Verträgen mit seinem Arbeitgeber hinzunehmen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass eine derartige nationale Regelung nicht nur dazu führt, dass eine große Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse vom Arbeitnehmerschutz nach der Richtlinie 1999/70 und der Rahmenvereinbarung ausgeschlossen werden, so dass das mit diesen verfolgte Ziel weitgehend ausgehöhlt wird, sondern auch dazu, dass den Arbeitgebern eine missbräuchliche Verwendung solcher Verhältnisse ermöglicht wird.

(vgl. Randnrn. 84-86, 89, Tenor 2)

4. Die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass sie, sofern das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats im betreffenden Sektor keine andere effektive Maßnahme enthält, um den Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden, der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die nur im öffentlichen Sektor die Umwandlung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge, die tatsächlich einen „ständigen und dauernden Bedarf“ des Arbeitgebers decken sollten und als missbräuchlich anzusehen sind, in einen unbefristeten Vertrag uneingeschränkt verbietet.

(vgl. Randnr. 105, Tenor 3)

5. Die nationalen Gerichte sind bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats und bei Fehlen unmittelbarer Wirkung ihrer einschlägigen Bestimmungen verpflichtet, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zweckes der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen, indem sie die diesem Zweck am besten entsprechende Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften wählen und damit zu einer mit den Bestimmungen dieser Richtlinie vereinbaren Lösung gelangen.

Daraus folgt zwingend, dass in einem solchen Fall nicht auf den Zeitpunkt, zu dem die nationalen Umsetzungsmaßnahmen im betreffenden Mitgliedstaat tatsächlich in Kraft treten, abzustellen ist. Dies könnte nämlich die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und dessen einheitliche Anwendung insbesondere im Wege von Richtlinien ernsthaft gefährden. Darüber hinaus müssen es die Gerichte der Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie so weit wie möglich unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.

(vgl. Randnrn. 115-116, 123-124, Tenor 4)

Top