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Document 62015CJ0524

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. März 2018.
    Strafverfahren gegen Luca Menci.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen.
    Rechtssache C-524/15.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    Rechtssache C‑524/15

    Strafverfahren

    gegen

    Luca Menci

    (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bergamo)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. März 2018

    1. Eigenmittel der Europäischen Union–Schutz der finanziellen Interessen der Union–Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen–Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen–Umfang–Steuerstraftaten im Bereich der Mehrwertsteuer

      (Art. 325 AEUV)

    2. Grundrechte–Charta der Grundrechte der Europäischen Union–Geltungsbereich–Durchführung des Unionsrechts–Nationale Regelung, die Verwaltungssanktionen und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, mit denen die Erhebung der Mehrwertsteuer sichergestellt und Betrug bekämpft werden soll–Einbeziehung

      (Art. 325 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und 51 Abs. 1; Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 2 und 273)

    3. Grundrechte–Europäische Menschenrechtskonvention–Instrument, das nicht formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist

      (Art. 6 Abs. 3 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Abs. 3)

    4. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Tatbestandsmerkmale–Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur–Beurteilungskriterien–Rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, Art der Zuwiderhandlung und Schweregrad der drohenden Sanktion

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

    5. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Tatbestandsmerkmale–Vorliegen derselben Straftat–Beurteilungskriterium–Identität der materiellen Tat

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

    6. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Beschränkung–Nationale Regelung, nach der die Kumulierung einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und einer strafrechtlichen Sanktion zulässig ist–Zulässigkeit–Voraussetzungen–Beschränkung, mit der ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt werden muss–Ziel, die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten–Einbeziehung

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und 52 Abs. 1)

    7. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Beschränkung–Nationale Regelung, die die Kumulierung einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und einer strafrechtlichen Sanktion vorsieht–Zulässigkeit–Voraussetzungen–Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit–Umfang

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 3, 50 und 52 Abs. 1)

    8. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Verankerung in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention–Gleiche Bedeutung und Tragweite–Von der Charta gewährleistetes Schutzniveau, das das durch die Menschenrechtskonvention garantierte Schutzniveau nicht verletzt

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50, 52 Abs. 3 und 53)

    9. Grundrechte–Grundsatz ne bis in idem–Beschränkung–Nationale Regelung, nach der eine Person wegen Nichtabführung der Mehrwertsteuer in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, die wegen derselben Tat bereits mit einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur belegt wurde–Zulässigkeit–Voraussetzungen–Überprüfung durch das nationale Gericht

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und 52 Abs. 1)

    1.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 19, 20)

    2.  Die von den nationalen Steuerbehörden verhängten Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleiteten Strafverfahren wie die im Ausgangsverfahren fraglichen sollen die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Betrug bekämpfen. Daher sind sie als Durchführung der Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27, sowie vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16). Sie müssen daher das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren.

      (vgl. Rn. 21)

    3.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 22)

    4.  Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 35).

      Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 26 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind.

      In Bezug auf das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 39). Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur.

      (vgl. Rn. 26, 30, 31)

    5.  Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40). Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen.

      Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.

      (vgl. Rn. 35, 36)

    6.  Hinsichtlich der Frage, ob die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass mit dieser Regelung die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer gewährleistet werden soll. In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zur Erreichung dieses Ziels beimisst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

      Insoweit erscheint es bei Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen mit der Verhängung von gegebenenfalls pauschal festgesetzten Verwaltungssanktionen von jedem vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Verstoß gegen die Regeln über die Erklärung und Erhebung der Mehrwertsteuer abschrecken und ihn ahnden will, und zum anderen von schweren Verstößen gegen diese Regeln, die für die Gesellschaft besonders schädlich sind und die Verhängung schwererer strafrechtlicher Sanktionen rechtfertigen, abschrecken und sie ahnden will.

      (vgl. Rn. 44, 45)

    7.  Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, EU:C:2010:93, Rn. 43, vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, sowie vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die anwendbaren Sanktionen frei wählen können, um die vollständige Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zu gewährleisten. In Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf diesem Gebiet dürfen die Mitgliedstaaten daher sowohl eine Regelung vorsehen, in der Mehrwertsteuerstraftaten nur einmal Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sein können, als auch eine Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt. Der bloße Umstand, dass sich der betreffende Mitgliedstaat für die Möglichkeit einer solchen Kumulierung entschieden hat, kann mithin die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht in Zweifel ziehen, da dem Mitgliedstaat sonst seine Wahlfreiheit genommen würde.

      Zur zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.

      Sodann muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche sicherstellen, dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend Erforderliche beschränkt bleiben.

      Was zum einen die Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur betrifft, die, wie aus der Akte hervorgeht, unabhängig voneinander durchgeführt werden, folgt aus der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderung, dass es Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung geben muss, um die mit einer solchen Kumulierung verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche zu beschränken.

      Zum anderen muss die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, wobei sich eine solche Anforderung nicht nur aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, sondern auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Diese Regeln müssen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet.

      (vgl. Rn. 46, 47, 49, 52, 53, 55)

    8.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 60-62)

    9.  Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung

      eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,

      Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und

      Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.

      Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.

      (vgl. Rn. 63, 64, Tenor 1, Tenor 2)

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