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Document 62011CJ0578

    Leitsätze des Urteils

    Rechtssache C‑578/11 P

    Deltafina SpA

    gegen

    Europäische Kommission

    „Rechtsmittel — Kartelle — Italienischer Markt für den Ankauf und die Erstverarbeitung von Rohtabak — Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird — Erlass von Geldbußen — Verpflichtung zur Zusammenarbeit — Verteidigungsrechte — Grenzen der gerichtlichen Nachprüfung — Recht auf ein faires Verfahren — Vernehmung von Zeugen oder Beteiligten — Angemessene Verfahrensdauer — Grundsatz der Gleichbehandlung“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Juni 2014

    1. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen – Verpflichtung zur Geheimhaltung der Zusammenarbeit – Offenlegung gegenüber den anderen am Kartell Beteiligten aus freien Stücken – Nicht unvermeidliche Offenlegung – Verstoß gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit

      (Art. 81 EG und 82 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung der Kommission 2002/C 45/03)

    2. Gerichtliches Verfahren – Beweisaufnahme – Mündliche Verhandlung – Befragung zu technischen Fragen oder komplexen Sachverhalten – Ermessen des Gerichts – Grenzen

      (Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 68)

    3. Rechtsmittel – Gründe – Überprüfung der vom Gericht vorgenommenen Beurteilung, ob das Beweismaterial der Ergänzung bedarf, durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung

      (Art. 256 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 64)

    4. Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das auf Gründe gestützt wird, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind – Neuer rechtlicher Grund – Entscheidung, die die Verpflichtungen präzisiert, die der Kommission nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz obliegen – Ausschluss

      (Art. 256 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichtshofes, Art. 127 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 48 § 2)

    5. Gerichtliches Verfahren – Dauer des Verfahrens vor dem Gericht – Angemessene Dauer – Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln – Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer – Folgen

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 und 47 Abs. 2)

    6. Außervertragliche Haftung – Auf die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht gestützte Klage – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Beurteilungskriterien – Besetzung des Spruchkörpers

      (Art. 256 AEUV, 268 AEUV und 340 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 und 47 Abs. 2)

    1.  Im Wettbewerbsrecht der Union obliegt für eine Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens die Verpflichtung zur Zusammenarbeit dem Unternehmen.

      Selbst unterstellt, dass die Kommission eine etwaige nicht freiwillige Offenlegung eines Unternehmens seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gegenüber anderen am selben Kartell beteiligten Unternehmen akzeptiert hätte, könnte dies nicht die von diesem Unternehmen aus freien Stücken vorgenommene Offenlegung rechtfertigen und damit die Feststellung entkräften, dass es gegen seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verstoßen hat. Eine Offenlegung aus freien Stücken ist nicht unvermeidlich.

      (vgl. Rn. 53)

    2.  Zwar besteht eine gängige und legitime Praxis des Gerichts, zu technischen Fragen oder komplexen Sachverhalten Vertreter der Parteien zu befragen, denen die maßgeblichen Einzelheiten bekannt sind, die an den Rechtsanwalt der Klägerin und den mit einer Sache befassten Beamten der Kommission gerichteten Fragen betrafen u. a. von den Parteien bestrittene und zwischen ihnen streitige Tatsachen, und die Betroffenen wurden offensichtlich auch nicht wegen etwaiger besonderer technischer Kenntnisse befragt. Aber das Gericht geht über das hinaus, was im Rahmen der oben dargestellten Praxis zulässig ist, da die Vernehmung durch das Gericht sich auf Tatsachen bezogen hat, die gegebenenfalls durch Zeugenaussagen gemäß dem in Art. 68 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Verfahren hätten bewiesen werden müssen. Die Tatsache, dass die Klägerin hiergegen in der mündlichen Verhandlung keine Einwände erhoben hat, führt nicht zur Unzulässigkeit des diese Unregelmäßigkeit betreffenden Rechtsmittels.

      (vgl. Rn. 59-62)

    3.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 67)

    4.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 74-76)

    5.  Die Überschreitung einer angemessenen Entscheidungsfrist muss als ein Verfahrensfehler, der die Verletzung eines Grundrechts darstellt, der betreffenden Partei einen Rechtsbehelf eröffnen, der ihr eine angemessene Wiedergutmachung bietet.

      Jedoch kann die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.

      Dieses Ergebnis beruht insbesondere auf der Erwägung, dass die Aufhebung des angefochtenen Urteils dem vom Gericht begangenen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht abhelfen kann, wenn die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist keine Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat.

      Was außerdem die Urteile betrifft, mit denen ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union festgestellt und eine Geldbuße verhängt wird, kann der Gerichtshof angesichts der Notwendigkeit, die Beachtung des Wettbewerbsrechts der Union durchzusetzen, nicht aus dem bloßen Grund der Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist erlauben, eine Geldbuße dem Grund oder der Höhe nach in Frage zu stellen, obwohl sämtliche gegen die Feststellungen des Gerichts zur Höhe dieser Geldbuße und zu den mit ihr geahndeten Verhaltensweisen vorgebrachten Rechtsmittelgründe zurückgewiesen worden sind.

      (vgl. Rn. 80-84)

    6.  Der Verstoß des Gerichts gegen seine Verpflichtung aus Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, kann zu einer Schadensersatzforderung führen. Daher ist ein solcher Verstoß mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden, da eine solche Klage einen effektiven Rechtsbehelf darstellt.

      Es ist Sache des nach Art. 256 Abs. 1 AEUV zuständigen Gerichts, über solche Schadensersatzforderungen in einer anderen Besetzung als derjenigen, die mit dem als überlang gerügten Verfahren befasst war, zu entscheiden. Diese Forderungen können nicht unmittelbar im Rahmen eines Rechtsmittels beim Gerichtshof geltend gemacht werden.

      Das Gericht muss bei seiner Beurteilung der Frage, ob die Anforderungen zur Wahrung einer angemessenen Entscheidungsfrist verkannt wurden, die Umstände des Einzelfalls, etwa die Komplexität der Rechtssache und das Verhalten der Beteiligten, das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit und das Ziel der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs berücksichtigen.

      Ebenfalls Sache des Gerichts ist es, sowohl die Verwirklichung des geltend gemachten Schadens als auch den Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und der überlangen Dauer des streitigen Gerichtsverfahrens zu beurteilen sowie die allgemeinen Grundsätze zu berücksichtigen, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten für auf ähnliche Verstöße gestützte Klagen gelten.

      (vgl. Rn. 86-89)

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    Rechtssache C‑578/11 P

    Deltafina SpA

    gegen

    Europäische Kommission

    „Rechtsmittel — Kartelle — Italienischer Markt für den Ankauf und die Erstverarbeitung von Rohtabak — Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird — Erlass von Geldbußen — Verpflichtung zur Zusammenarbeit — Verteidigungsrechte — Grenzen der gerichtlichen Nachprüfung — Recht auf ein faires Verfahren — Vernehmung von Zeugen oder Beteiligten — Angemessene Verfahrensdauer — Grundsatz der Gleichbehandlung“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Juni 2014

    1. Wettbewerb — Geldbußen — Höhe — Festsetzung — Kriterien — Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens — Voraussetzungen — Verpflichtung zur Geheimhaltung der Zusammenarbeit — Offenlegung gegenüber den anderen am Kartell Beteiligten aus freien Stücken — Nicht unvermeidliche Offenlegung — Verstoß gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit

      (Art. 81 EG und 82 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung der Kommission 2002/C 45/03)

    2. Gerichtliches Verfahren — Beweisaufnahme — Mündliche Verhandlung — Befragung zu technischen Fragen oder komplexen Sachverhalten — Ermessen des Gerichts — Grenzen

      (Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 68)

    3. Rechtsmittel — Gründe — Überprüfung der vom Gericht vorgenommenen Beurteilung, ob das Beweismaterial der Ergänzung bedarf, durch den Gerichtshof — Ausschluss außer bei Verfälschung

      (Art. 256 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 64)

    4. Gerichtliches Verfahren — Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens — Voraussetzungen — Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das auf Gründe gestützt wird, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind — Neuer rechtlicher Grund — Entscheidung, die die Verpflichtungen präzisiert, die der Kommission nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz obliegen — Ausschluss

      (Art. 256 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichtshofes, Art. 127 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 48 § 2)

    5. Gerichtliches Verfahren — Dauer des Verfahrens vor dem Gericht — Angemessene Dauer — Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln — Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer — Folgen

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 und 47 Abs. 2)

    6. Außervertragliche Haftung — Auf die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht gestützte Klage — Voraussetzungen — Rechtswidrigkeit — Schaden — Kausalzusammenhang — Beurteilungskriterien — Besetzung des Spruchkörpers

      (Art. 256 AEUV, 268 AEUV und 340 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 und 47 Abs. 2)

    1.  Im Wettbewerbsrecht der Union obliegt für eine Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens die Verpflichtung zur Zusammenarbeit dem Unternehmen.

      Selbst unterstellt, dass die Kommission eine etwaige nicht freiwillige Offenlegung eines Unternehmens seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gegenüber anderen am selben Kartell beteiligten Unternehmen akzeptiert hätte, könnte dies nicht die von diesem Unternehmen aus freien Stücken vorgenommene Offenlegung rechtfertigen und damit die Feststellung entkräften, dass es gegen seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verstoßen hat. Eine Offenlegung aus freien Stücken ist nicht unvermeidlich.

      (vgl. Rn. 53)

    2.  Zwar besteht eine gängige und legitime Praxis des Gerichts, zu technischen Fragen oder komplexen Sachverhalten Vertreter der Parteien zu befragen, denen die maßgeblichen Einzelheiten bekannt sind, die an den Rechtsanwalt der Klägerin und den mit einer Sache befassten Beamten der Kommission gerichteten Fragen betrafen u. a. von den Parteien bestrittene und zwischen ihnen streitige Tatsachen, und die Betroffenen wurden offensichtlich auch nicht wegen etwaiger besonderer technischer Kenntnisse befragt. Aber das Gericht geht über das hinaus, was im Rahmen der oben dargestellten Praxis zulässig ist, da die Vernehmung durch das Gericht sich auf Tatsachen bezogen hat, die gegebenenfalls durch Zeugenaussagen gemäß dem in Art. 68 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Verfahren hätten bewiesen werden müssen. Die Tatsache, dass die Klägerin hiergegen in der mündlichen Verhandlung keine Einwände erhoben hat, führt nicht zur Unzulässigkeit des diese Unregelmäßigkeit betreffenden Rechtsmittels.

      (vgl. Rn. 59-62)

    3.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 67)

    4.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 74-76)

    5.  Die Überschreitung einer angemessenen Entscheidungsfrist muss als ein Verfahrensfehler, der die Verletzung eines Grundrechts darstellt, der betreffenden Partei einen Rechtsbehelf eröffnen, der ihr eine angemessene Wiedergutmachung bietet.

      Jedoch kann die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.

      Dieses Ergebnis beruht insbesondere auf der Erwägung, dass die Aufhebung des angefochtenen Urteils dem vom Gericht begangenen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht abhelfen kann, wenn die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist keine Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat.

      Was außerdem die Urteile betrifft, mit denen ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union festgestellt und eine Geldbuße verhängt wird, kann der Gerichtshof angesichts der Notwendigkeit, die Beachtung des Wettbewerbsrechts der Union durchzusetzen, nicht aus dem bloßen Grund der Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist erlauben, eine Geldbuße dem Grund oder der Höhe nach in Frage zu stellen, obwohl sämtliche gegen die Feststellungen des Gerichts zur Höhe dieser Geldbuße und zu den mit ihr geahndeten Verhaltensweisen vorgebrachten Rechtsmittelgründe zurückgewiesen worden sind.

      (vgl. Rn. 80-84)

    6.  Der Verstoß des Gerichts gegen seine Verpflichtung aus Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, kann zu einer Schadensersatzforderung führen. Daher ist ein solcher Verstoß mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden, da eine solche Klage einen effektiven Rechtsbehelf darstellt.

      Es ist Sache des nach Art. 256 Abs. 1 AEUV zuständigen Gerichts, über solche Schadensersatzforderungen in einer anderen Besetzung als derjenigen, die mit dem als überlang gerügten Verfahren befasst war, zu entscheiden. Diese Forderungen können nicht unmittelbar im Rahmen eines Rechtsmittels beim Gerichtshof geltend gemacht werden.

      Das Gericht muss bei seiner Beurteilung der Frage, ob die Anforderungen zur Wahrung einer angemessenen Entscheidungsfrist verkannt wurden, die Umstände des Einzelfalls, etwa die Komplexität der Rechtssache und das Verhalten der Beteiligten, das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit und das Ziel der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs berücksichtigen.

      Ebenfalls Sache des Gerichts ist es, sowohl die Verwirklichung des geltend gemachten Schadens als auch den Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und der überlangen Dauer des streitigen Gerichtsverfahrens zu beurteilen sowie die allgemeinen Grundsätze zu berücksichtigen, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten für auf ähnliche Verstöße gestützte Klagen gelten.

      (vgl. Rn. 86-89)

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