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Document 62009CJ0521

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Rechtsmittel – Gründe – Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht wird – Unzulässigkeit

    (Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 113 § 2)

    2. Wettbewerb – Unionsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Anteile sie zu 100 % hält

    (Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

    3. Wettbewerb – Unionsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Anteile sie zu 100 % hält – Widerlegbarkeit

    (Art. 101 AEUV; Verordnung Nr.  1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

    4. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Akteneinsicht – Zweck – Wahrung der Verteidigungsrechte – Umfang

    (Art. 81 EG)

    5. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Einhaltung einer angemessenen Frist

    (Art. 81 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

    6. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang

    (Art. 81 EG und 253 EG)

    7. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – An eine Mehrzahl von Adressaten gerichtete Entscheidung, mit der Geldbußen wegen eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängt werden

    (Art. 81 EG und 253 EG)

    Leitsätze

    1. Das Rechtsmittel kann den vor dem Gericht verhandelten Streitgegenstand nicht verändern. Im Rahmen eines Rechtsmittels sind die Befugnisse des Gerichtshofs auf die Beurteilung der rechtlichen Entscheidung über das im ersten Rechtszug erörterte Vorbringen beschränkt. Eine Partei kann daher den Gegenstand dieses Rechtsstreits nicht dadurch verändern, dass sie vor dem Gerichtshof erstmals ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorbringt, das sie vor dem Gericht hätte vorbringen können, aber nicht vorgebracht hat, da ihr damit erlaubt würde, den Gerichtshof, dessen Befugnisse im Rechtsmittelverfahren beschränkt sind, letztlich mit einem weiter reichenden Rechtsstreit zu befassen, als ihn das Gericht zu entscheiden hatte. Ein solches Angriffs- oder Verteidigungsmittel ist daher im Stadium des Rechtsmittels als unzulässig anzusehen.

    (vgl. Randnrn. 35, 51, 78)

    2. Der Begriff „Unternehmen“ bezeichnet jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Zum einen ist in diesem Zusammenhang unter dem Begriff „Unternehmen“ eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird, zum anderen hat eine solche wirtschaftliche Einheit, wenn sie gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung für diese Zuwiderhandlung einzustehen. Einer Muttergesellschaft kann das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten trotz eigener Rechtspersönlichkeit nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen diesen beiden Rechtssubjekten.

    In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, kann zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht zum anderen eine widerlegliche Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen solchen Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt. Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission für die Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft ausübt, nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält. Die Kommission kann in der Folge die Muttergesellschaft als Gesamtschuldnerin für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße in Anspruch nehmen, sofern die Muttergesellschaft, der es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt.

    (vgl. Randnrn. 53-54, 56-57, 80, 96)

    3. Mit der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses, den eine Muttergesellschaft auf das Verhalten einer Tochtergesellschaft ausüben kann, deren Kapital sie zu 100 % hält, soll u. a. ein Gleichgewicht zwischen der Bedeutung des Ziels, Verhaltensweisen, die gegen die Wettbewerbsregeln, insbesondere gegen Art. 101 AEUV, verstoßen, zu unterbinden und ihre Wiederholung zu verhindern, einerseits und den Anforderungen bestimmter allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts wie etwa des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der individuellen Zumessung von Strafen und der Rechtssicherheit sowie der Verteidigungsrechte einschließlich des Grundsatzes der Waffengleichheit andererseits hergestellt werden. Insbesondere aus diesem Grund ist diese Vermutung widerlegbar. Diese Vermutung beruht auf der Feststellung, dass – von wirklich außergewöhnlichen Umständen abgesehen – eine Gesellschaft, die die Gesamtheit des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, allein aufgrund dieser Beteiligung einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann, und dass es normalerweise am zweckmäßigsten ist, in der Sphäre der Einheiten, denen gegenüber diese Vermutung eingreift, zu ermitteln, ob diese Befugnis zur Einflussnahme tatsächlich nicht ausgeübt wurde.

    Könnte daher ein Betroffener die genannte Vermutung durch bloße, nicht belegte Behauptungen widerlegen, wäre sie weitgehend nutzlos. Außerdem hält sich eine Vermutung – selbst wenn sie schwer zu widerlegen ist – innerhalb akzeptabler Grenzen, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel angemessen ist, wenn die Möglichkeit besteht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, und die Verteidigungsrechte gewahrt sind.

    (vgl. Randnrn. 59-62)

    4. Hinsichtlich eines Verfahrens zur Anwendung von Art. 81 EG ist das Verwaltungsverfahren vor der Kommission in zwei unterschiedliche, aufeinanderfolgende Abschnitte unterteilt, die jeweils einer eigenen inneren Logik folgen, nämlich einen Abschnitt der Voruntersuchung und einen kontradiktorischen Abschnitt. Der Abschnitt der Voruntersuchung, der sich bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte erstreckt, soll es der Kommission ermöglichen, alle relevanten Elemente zusammenzutragen, durch die das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften bestätigt oder nicht bestätigt wird, und eine erste Position zur Ausrichtung und zum weiteren Gang des Verfahrens einzunehmen. Der kontradiktorische Abschnitt, der sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der endgültigen Entscheidung erstreckt, soll es ihr ermöglichen, sich abschließend zu der gerügten Zuwiderhandlung zu äußern.

    Der Abschnitt der Voruntersuchung beginnt dann, wenn die Kommission in Ausübung der Befugnisse, die ihr der Unionsgesetzgeber verliehen hat, Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Einheiten haben. Erst zu Beginn des kontradiktorischen Abschnitts des Verwaltungsverfahrens wird die betroffene Einheit durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte über alle wesentlichen Gesichtspunkte informiert, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt. Folglich kann das betroffene Unternehmen die Verteidigungsrechte erst nach Übersendung dieser Mitteilung umfassend geltend machen.

    (vgl. Randnrn. 113-115)

    5. Hinsichtlich eines Verfahrens zur Anwendung von Art. 81 EG muss verhindert werden, dass die Verteidigungsrechte im Abschnitt der Voruntersuchung des Verwaltungsverfahrens unwiederbringlich beeinträchtigt werden, da die ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen für die Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen, die geeignet sind, deren Haftung zu begründen, von entscheidender Bedeutung sein können.

    Daher darf die Beurteilung der Quelle etwaiger Beeinträchtigungen der wirksamen Ausübung der Verteidigungsrechte nicht auf den kontradiktorischen Abschnitt des Verwaltungsverfahrens beschränkt sein, sondern muss sich auf das gesamte Verwaltungsverfahren erstrecken und es in voller Länge einbeziehen.

    Die Kommission muss jedoch eine Einheit nicht in jedem Fall bereits ab der ersten gegenüber dieser ergriffenen Maßnahme sogar auf die Möglichkeit von auf das Wettbewerbsrecht der Union gestützten Ermittlungs- oder Verfolgungsmaßnahmen hinweisen, vor allem, wenn dadurch die Effizienz der von der Kommission geführten Untersuchung unangemessen beeinträchtigt werden könnte.

    Darüber hinaus verbietet es der Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit der Kommission nicht, ins Auge zu fassen, zunächst die Gesellschaft, die einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln begangen hat, mit einer Sanktion zu belegen, bevor sie untersucht, ob die Zuwiderhandlung gegebenenfalls deren Muttergesellschaft zugerechnet werden kann.

    Sofern der Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzt wird, seinen Standpunkt zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission behaupteten Tatsachen und Umstände im Lauf des kontradiktorischen Verwaltungsverfahrens in geeigneter Weise zu Gehör zu bringen, ist die Kommission daher grundsätzlich nicht verpflichtet, vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte eine Ermittlungsmaßnahme an diesen Adressaten zu richten.

    (vgl. Randnrn. 117-122)

    6. Die Pflicht zur Begründung einer Einzelentscheidung hat neben der Ermöglichung einer gerichtlichen Überprüfung den Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht. Die Begründung ist dem Betroffenen daher grundsätzlich gleichzeitig mit der ihn beschwerenden Entscheidung mitzuteilen. Das Fehlen der Begründung kann nicht dadurch geheilt werden, dass der Betroffene die Gründe für die Entscheidung während des Verfahrens vor den Unionsinstanzen erfährt.

    Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Die Begründung eines Rechtsakts muss jedoch auch folgerichtig sein und darf insbesondere keine inneren Widersprüche aufweisen, die das Verständnis der Gründe, die diesem Rechtsakt zugrunde liegen, erschweren.

    (vgl. Randnrn. 148-151)

    7. Betrifft eine an eine Mehrzahl von Adressaten gerichtete Entscheidung zur Anwendung des Wettbewerbsregeln der Union die Zurechnung der Zuwiderhandlung, muss sie in Bezug auf jeden Adressaten hinreichend begründet sein, insbesondere aber in Bezug auf diejenigen, denen die Zuwiderhandlung in der Entscheidung zugerechnet wird. Daher muss eine solche Entscheidung in Bezug auf die Muttergesellschaft, die für die Zuwiderhandlung ihrer Tochtergesellschaft haftbar gemacht wird, eine ausführliche Darlegung der Gründe enthalten, die es rechtfertigt, dass die Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft zugerechnet wird. Was insbesondere eine Entscheidung der Kommission anbelangt, die im Hinblick auf bestimmte Adressaten ausschließlich auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses gestützt ist, so ist die Kommission – da diese Vermutung andernfalls praktisch nicht zu widerlegen wäre – in jedem Fall verpflichtet, diesen Adressaten angemessen die Gründe darlegen, aus denen die geltend gemachten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht ausgereicht haben, um die Vermutung zu widerlegen. Die Verpflichtung der Kommission, ihre Entscheidungen insoweit zu begründen, ergibt sich vor allem aus der Widerlegbarkeit dieser Vermutung, zu deren Widerlegung die Betroffenen einen Beweis zu den wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen den betroffenen Gesellschaften erbringen müssten. Doch ist die Kommission in einem solchen Kontext nicht verpflichtet, zu Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, die offensichtlich neben der Sache liegen oder keine oder eindeutig untergeordnete Bedeutung haben.

    Außerdem kann eine Entscheidung der Kommission, die sich in eine ständige Entscheidungspraxis einfügt, summarisch, insbesondere unter Bezugnahme auf diese Praxis, begründet werden; geht sie jedoch über die früheren Entscheidungen merklich hinaus, hat die Kommission ihre Erwägungen explizit darzulegen.

    Unter diesen Umständen hat das Gericht besonderes Augenmerk auf die Frage zu legen, ob eine Entscheidung, mit der gegen ein aus einer Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaft bestehendes Unternehmen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln eine Geldbuße verhängt wird und der Muttergesellschaft das Verhalten der Tochtergesellschaft zugerechnet wird, eine ausführliche Darlegung der Gründe enthält, aus denen die Kommission die von der Muttergesellschaft vorgebrachten Gesichtspunkte nicht als ausreichend ansah, um die in dieser Entscheidung herangezogene Vermutung der Zurechenbarkeit zu widerlegen. In bestimmten Einzelfällen begeht das Gericht daher einen Rechtsfehler, wenn es den Begründungsmangel nicht beanstandet, mit dem eine Entscheidung der Kommission behaftet ist, die in einer Reihe bloßer Behauptungen und Negierungen besteht, die sich wiederholen und in keiner Weise substantiiert sind. In einem derartigen Fall können die Betroffenen dieser Reihe von Behauptungen und Negierungen ohne ergänzende Angaben nämlich nicht die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe nicht wahrnehmen.

    (vgl. Randnrn. 152-155, 167-170)

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