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Document 52020IP0183

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2020 zu den Rechten von Menschen und von ihren Familien mit geistiger Behinderung in der COVID-19-Krise (2020/2680(RSP))

OJ C 371, 15.9.2021, p. 6–9 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

15.9.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 371/6


P9_TA(2020)0183

Die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung und von ihren Familien in der COVID-19-Krise

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2020 zu den Rechten von Menschen und von ihren Familien mit geistiger Behinderung in der COVID-19-Krise (2020/2680(RSP))

(2021/C 371/02)

Das Europäische Parlament,

gestützt auf Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union und auf die Artikel 2, 9, 10, 19, 165, 166 und 168 sowie Artikel 216 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),

unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere die Artikel 1, 3, 14, 20, 21, 26 und 35,

unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), insbesondere Artikel 4 Absatz 3 und die Artikel 11, 24, 25 und 28, in Übereinstimmung mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 über den Abschluss des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (1),

unter Hinweis auf die europäische Säule sozialer Rechte, insbesondere auf Grundsatz 17 über die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Grundsatz 3 über Chancengleichheit und Grundsatz 10 über ein gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld und Datenschutz,

unter Hinweis auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und die damit verbundenen Nachhaltigkeitsziele, zu deren Umsetzung sich die EU verpflichtet hat,

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 17. April 2020 zu abgestimmten Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und ihrer Folgen (2),

gestützt auf Artikel 227 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass beim Petitionsausschuss die Petition Nr. 0470/2020 eingegangen ist, in der Besorgnis über die Rechte von Menschen mit geistigen Behinderungen und ihrer Familien in der COVID-19-Krise geäußert und die EU aufgefordert wird, sicherzustellen, dass im Zuge der COVID-19-Krise und ihrer Folgen getroffene Maßnahmen sowohl mit der UN-Behindertenrechtskonvention als auch mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar sind;

B.

in der Erwägung, dass in Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention — dem ersten internationalen Menschenrechtsvertrag, der von der EU und ihren 28 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde — festgelegt ist, dass die Vertragsstaaten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um in Gefahrensituationen und humanitären Notlagen den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten;

C.

in der Erwägung, dass bei Maßnahmen, die von Regierungen während außergewöhnlichen Umständen wie schwerwiegenden Gesundheitskrisen, humanitären Notsituationen und Naturkatastrophen getroffen werden, stets die Grundrechte jedes Einzelnen geachtet werden sollten und im Zuge derartiger Maßnahmen nicht bestimmte Gruppen, etwa Menschen mit Behinderungen, diskriminiert werden können;

D.

in der Erwägung, dass für Menschen mit geistiger Behinderung die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken, höher ist, was auf Barrieren beim Zugang zu Informationen zur Prävention und zu Hygiene, auf die Abhängigkeit von körperlichem Kontakt mit unterstützenden Personen, darauf, dass diese Menschen sehr oft in Einrichtungen und gemeinschaftsbasierten Betreuungsstrukturen leben, und auf sonstige gesundheitliche Einschränkungen, die mit einigen Formen von Behinderung einhergehen, zurückzuführen ist;

E.

in der Erwägung, dass Menschen mit geistiger Behinderung besonders unter strikten Ausgangsbeschränkungen leiden;

F.

in der Erwägung, dass durch die COVID-19-Krise und durch die Ausgangssperren die andauernde und fortlaufende gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit geistiger Behinderung deutlich wird;

G.

in der Erwägung, dass aufgeschlüsselte Daten, anhand derer sich feststellen lässt, welche Folgen die Auswirkungen der Pandemie für Menschen mit geistiger Behinderung nach sich ziehen, nur begrenzt verfügbar sind;

H.

in der Erwägung, dass es Berichte darüber gibt, dass in einigen Mitgliedstaaten Menschen mit geistiger Behinderung eine ärztliche Behandlung verwehrt wurde, dass sie aufgrund der Ausgangssperren Einrichtungen nicht verlassen dürfen und isoliert sind, weil sie keine Möglichkeit haben, Besuch von Familienangehörigen zu erhalten oder zu ihren Angehörigen zurückzukehren, und dass diskriminierende Leitlinien für Triage-Entscheidungen erlassen wurden;

I.

in der Erwägung, dass Strukturen für Menschen mit geistiger Behinderung, etwa Tagesbetreuungseinrichtungen oder Schulen, vorübergehend geschlossen sind und sich Notfälle ergeben haben, die es erforderlich gemacht haben, dass Familien ihre Angehörigen mit geistiger Behinderung selbst betreuen;

J.

in der Erwägung, dass die COVID-19-Krise zeigt, dass das Konzept der inklusiven Bildung noch nicht Realität ist; in der Erwägung, dass in vielen Mitgliedstaaten Lernende mit geistiger Behinderung nicht die Möglichkeit haben, während der Ausgangssperre mit ihrem Lernprogramm fortzufahren; in der Erwägung, dass es den Familien an Unterstützung für den Unterricht von Lernenden mit geistiger Behinderung fehlt, insbesondere was barrierefreie digitale und innovative Technologien und Anwendungen für den Fernunterricht betrifft;

K.

in der Erwägung, dass die Technik eine entscheidende Rolle dabei spielen kann, Menschen mit Behinderung sowie ihren Eltern, Lehrern und Betreuern eine qualitativ hochwertige Unterstützung zu bieten;

L.

in der Erwägung, dass es Berichten zufolge einen beträchtlichen Mangel an Schutzausrüstung für Menschen mit Behinderung, vor allem jene, die in Einrichtungen leben, für ihre Betreuer und für Mitarbeiter gibt;

M.

in der Erwägung, dass Artikel 4 Absatz 3 der UN-Behindertenrechtskonvention die Vertragsstaaten verpflichtet, bei allen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen zu führen und sie aktiv einzubeziehen;

N.

in der Erwägung, dass die EU und die Mitgliedstaaten Organisationen von Menschen mit Behinderungen konsultieren und bei ihrer Reaktion auf die COVID-19-Pandemie aktiv einbeziehen sollten, da andernfalls Maßnahmen angenommen werden könnten, durch die die Grundrechte dieser Menschen verletzt werden;

O.

in der Erwägung, dass die Europäische Bürgerbeauftragte eine an die Kommission gerichtete Initiative eingeleitet hat, in deren Rahmen Informationen darüber gesammelt werden sollen, wie sich die COVID-19-Krise auf die Bediensteten der Kommission mit einer Behinderung und auf die angemessenen Vorkehrungen auswirkt, die zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse getroffen wurden, und festgestellt werden soll, ob die gefundenen bzw. geplanten Lösungen auch eingesetzt werden können, um es EU-Bürgern mit einer Behinderung zu ermöglichen, leichter mit der Verwaltung der EU in Kontakt zu treten;

1.

ist äußerst besorgt über die unverhältnismäßigen Auswirkungen der COVID-19-Krise auf Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit sonstigen psychischen Problemen und auf ihre Familien, was zu einer zusätzlichen Belastung der sie betreuenden Familienmitglieder — in vielen Fällen Frauen — führt; hebt hervor, dass Menschen mit Behinderung im Zuge der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen keine weitere Isolation erfahren sollten und dass sie in dieser Phase als Priorität behandelt werden sollten;

2.

weist darauf hin, dass die Ausgangsbeschränkungen nicht nur für Menschen mit geistiger Behinderung, sondern für jeden psychisch kranken Menschen ein schwerwiegendes Problem sind, weil die Probleme durch Isolation nur verstärkt werden;

3.

ist der Auffassung, dass strikte Ausgangsbeschränkungen sich auf Menschen mit Behinderungen besonders negativ auswirken und dass es bei den Behörden größerer Flexibilität bedarf;

4.

verurteilt nachdrücklich jegliche medizinische Diskriminierung von Menschen mit geistiger Behinderung; weist darauf hin, dass einschlägige Maßnahmen der Mitgliedstaaten mit der UN-Behindertenrechtskonvention im Einklang stehen müssen und durch sie ein gleichberechtigter und nicht diskriminierender Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten gewährleistet sein muss; betont, dass Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen dieselbe medizinische Behandlung verdienen wie jeder andere an COVID-19 erkrankte Mensch, einschließlich intensivmedizinischer Behandlung;

5.

weist darauf hin, dass medizinische Leitlinien diskriminierungsfrei sein und das Völkerrecht und bestehende ethische Leitlinien zur Versorgung im Fall von Notfällen, Gesundheitskrisen und Naturkatastrophen einhalten müssen;

6.

weist darauf hin, dass für Menschen mit geistiger Behinderung während der Ausgangssperre unterstützende Dienste, persönliche Hilfe, physische Barrierefreiheit und Kommunikation bereitgestellt werden müssen, indem die Gesundheitsversorgung mittels innovativer Methoden erfolgt;

7.

fordert, dass in jedem Mitgliedstaat Daten zur Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung in Krankenhäusern, Einrichtungen und gemeinschaftsbasierten Betreuungsstrukturen sowie zur Sterblichkeitsrate von Menschen mit Behinderungen gesammelt werden, damit bewertet werden kann, ob Menschen mit Behinderungen angemessenen Schutz, eine angemessene Gesundheitsversorgung und angemessene Unterstützung während der COVID-19-Krise erfahren;

8.

hebt hervor, dass Ausgangsbeschränkungen sich sehr stark auf die psychische Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Angehörigen auswirken und dass entsprechende Maßnahmen an die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung angepasst sein sollten, um sicherzustellen, dass sie sich wohlfühlen und unabhängig leben können;

9.

hebt hervor, dass jeder Mensch das Recht hat, unabhängig zu leben und unverzüglich und korrekt, in einem barrierefreien Format, über die Pandemie und die Maßnahmen, die ihn selbst und seine Familie betreffen, informiert zu werden; fordert, dass alle Mitteilungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein und in einfacher Sprache, in verschiedenen herkömmlichen und digitalen Formaten und in der Gebärdensprache des Mitgliedstaats bereitgestellt werden müssen;

10.

erkennt an, dass die Situation während COVID-19 ein Weckruf im Hinblick auf die Aufmerksamkeit ist, die diesem Kollektiv zuteil wird; erkennt an, dass die Aufmerksamkeit durch starke öffentliche Gesundheitsdienste gewährleistet werden muss; fordert, dass in Erwägung gezogen werden muss, diese durch eine Finanzierung auf EU-Ebene zu stärken, wenn dies angemessen und möglich ist; unterstreicht, wie wichtig eine angemessene Gesundheitspolitik in den Mitgliedstaaten ist;

11.

unterstreicht, wie wichtig es ist, Barrieren zu beseitigen, mit denen Menschen mit geistiger Behinderung beim Zugang zu Gesundheitsdiensten und zu Hygieneartikeln konfrontiert sind, und angemessene Vorkehrungen in Erwägung zu ziehen, die es ihnen ermöglichen, in Telearbeit zu arbeiten;

12.

betont, dass die COVID-19-Pandemie im Hinblick auf eine Reihe von gefährdeten Gesellschaftsgruppen schwerwiegende Mängel bei den Unterstützungssystemen zutage gebracht hat; hebt hervor, dass es prioritär sein sollte, in den allmählichen Übergang von einer institutionalisierten Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung zu gemeinschaftsbasierten Strukturen zu investieren; hebt hervor, dass die Bereitstellung von personalisierten Unterstützungsdiensten aus Investitionsfonds unterstützt werden sollte, weil viele der Erbringer dieser Dienste während und nach der Pandemie stark gelitten haben und die Gefahr besteht, dass sie auf unbestimmte Zeit ihre Tätigkeit einstellen müssen;

13.

fordert die Kommission auf, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Investitionen und Ressourcen zu mobilisieren und somit im Einklang mit den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention und der europäischen Säule sozialer Rechte die Kontinuität der Betreuungs- und Unterstützungsdienste zu gewährleisten;

14.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ausgehend von den Lehren aus der COVID-19-Krise für gemeinsame Protokolle zu möglichen künftigen Risikosituationen oder humanitären Notsituationen und Naturkatastrophen zu sorgen, einschließlich der Bereitstellung der benötigten Schutzausrüstung und von Informationsmaterial sowie der Schulung des Fachpersonals im Gesundheitswesen und in der Sozialfürsorge und der Aufsichtsbehörden, wobei den spezifischen Bedürfnissen und Umständen von Menschen mit Behinderungen stets Rechnung zu tragen ist;

15.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisationen von Anfang an zu konsultieren und einzubeziehen, wenn als Reaktion auf eine künftige Krise Maßnahmen verabschiedet werden;

16.

ersucht die Kommission und die Mitgliedstaaten, zu überwachen, ob die Gesundheits- und Sozialdienste nachhaltig und in der Lage sind, sich an neue Formen der Leistungserbringung anzupassen; fordert, dass bei der Zuteilung von Finanzmitteln der EU für diese Dienste eine echte gesellschaftliche Inklusion gefördert wird, wobei der Schwerpunkt auf jenen Diensten liegen sollte, die anstelle einer Institutionalisierung ein gemeinschaftsbasiertes Leben bieten; betont, dass sichergestellt werden muss, dass zum Zugang zu Gesundheitsversorgung keine finanziellen Barrieren bestehen;

17.

fordert die Kommission auf, für den Zeitraum nach 2020 eine umfassende, ehrgeizige und langfristige Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen vorzulegen und darin auch die Lehren aus der COVID-19-Krise einfließen zu lassen;

18.

betont, dass die Grundsätze des universellen Designs eingehalten werden müssen, wobei bei der Entwicklung von Ressourcen, die für Lernende mit geistiger Behinderung zugänglich sind, den Möglichkeiten Rechnung zu tragen ist, die digitale und innovative Technologien und Anwendungen bieten, und dass Tätigkeiten im Rahmen von Fernunterricht angeboten werden müssen;

19.

erinnert die Kommission an das brachliegende Potenzial in Form digitaler Technologien und Anwendungen, die ein unabhängiges Leben von Menschen mit Behinderungen fördern können; fordert, dass diese Technologien und Anwendungen bei möglichen künftigen Risikosituationen oder humanitären Notsituationen und Naturkatastrophen besser eingesetzt werden; betont, wie wichtig es ist, dass unter offener Lizenz stehende Ressourcen online verfügbar sind und dass Lehrer im Hinblick auf die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien weiterqualifiziert werden;

20.

fordert die Mitgliedstaaten auf, Menschen mit geistiger Behinderung psychologische Unterstützung zu bieten, um die Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen zu mildern;

21.

fordert die Mitgliedstaaten auf, für Menschen mit geistiger Behinderung Rechtsbehelfe zu gewährleisten, indem sie speziell darauf achten, proaktiv Fälle auszumachen, in denen Menschen mit geistiger Behinderung, die nicht rechtsfähig sind, keinen oder unzureichenden Zugang zu ihrem gesetzlichen Vormund haben, so dass ihre Rechte nicht gewährleistet sind;

22.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.

(1)  ABl. L 23 vom 27.1.2010, S. 35.

(2)  Angenommene Texte, P9_TA(2020)0054.


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