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Document 52017IE1144

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Klimagerechtigkeit“ (Initiativstellungnahme)

OJ C 81, 2.3.2018, p. 22–28 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

2.3.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 81/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Klimagerechtigkeit“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 081/04)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Beschluss des Plenums

23.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

3.10.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.10.2017

Plenartagung Nr.

529

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/12/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Konzept der Klimagerechtigkeit beruht auf der Überlegung, dass der weltweite Klimawandel kein reiner Umweltbelang, sondern auch eine politische und ethische Frage ist. Meist beinhaltet es eine räumlich und zeitlich verflochtene, globale Perspektive und berücksichtigt die Tatsache, dass häufig die schwächsten und ärmsten Mitglieder der Gesellschaft die Klimawandelfolgen am stärksten zu spüren bekommen — und das, obwohl gerade sie den geringsten Teil der Emissionen verursachen, die die Klimakrise angeheizt haben. Klimagerechtigkeit bedeutet in dieser Stellungnahme allgemein die notwendige Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die häufig unverhältnismäßigen Auswirkungen des Klimawandels auf Bürger und Gemeinschaften in Entwicklungsländern und Industrieländern vertretbar sind.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist davon überzeugt, dass alle Bürger ein Anrecht auf eine gesunde und saubere Umwelt haben und die Regierungen ihnen gegenüber in der Pflicht stehen, ihre im Rahmen des Übereinkommens von Paris eingegangenen nationalen Verpflichtungen und national festgelegten Beiträge (Nationally Determined Contributions, NDC) betreffend die Treiber des Klimawandels und die Klimarisiken einzuhalten und dabei nicht nur die offenkundigeren ökologischen und wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen Aspekte zu berücksichtigen.

1.3.

Der EWSA schlägt vor, eine Debatte über eine EU-Charta der Klimarechte einzuleiten, die die Rechte der Bürger und der Natur im Rahmen der Herausforderungen der globalen Klimakrise beinhalten würde. Der EWSA erkennt die Führungsrolle der EU bei den Forderungen nach einer soliden und gerechten internationalen Klimaschutzregelung an und fordert die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, die Anwendung der Grundsätze der Klimagerechtigkeit auf allen Ebenen — global, EU, national, regional und kommunal — zu prüfen. Der Prozess des Europäischen Semesters könnte als Instrument genutzt werden, um dieses Anliegen zu verwirklichen. Bei Klimagerechtigkeit geht es um Gerechtigkeit für die Menschen und für die Umwelt, von der sie abhängen — und beide Aspekte greifen ineinander. Der EWSA verweist in diesem Zusammenhang auf zwei neue Initiativen: den globalen Pakt für die Umwelt und das Vorhaben „Allgemeine Erklärung der Menschheitsrechte“.

1.4.

Die Produktions- und Verbrauchssysteme müssen im Rahmen der Anpassung an den Klimawandel und seine Eindämmung verändert werden. Diese Umstellung muss weltweit und in den einzelnen Sektoren erfolgen. Die EU kann hierbei eine Führungsrolle übernehmen. Die am stärksten gefährdeten Wirtschaftssektoren und Arbeitnehmer müssen ermittelt und angemessen unterstützt werden. Insbesondere Lebensmittelsysteme und ihre Interessenträger müssen bei der Umstellung unterstützt werden. Ein nachhaltiger Lebensmittelverbrauch muss am Anfang der Produktionskette bei der Bodenvorbereitung und der Bewirtschaftung der natürlichen Systeme als Grundlage der Lebensmittelerzeugung ansetzen. Die EU sollte klare Weichenstellungen für die Bewirtschaftung und den Schutz der Böden vornehmen.

1.5.

Die Verbraucher können nur dann aktiv zum Wandel beitragen, wenn sie über nachhaltige ethische Alternativen verfügen, die ihnen hinsichtlich Dienstleistung, Nutzung und Zugang das mehr oder weniger gleiche Maß an Komfort und Qualität bieten. Gangbare Alternativen für die Verbraucher lassen sich über die neuen Geschäftsmodelle, bspw. die digitale, die kollaborative und die Kreislaufwirtschaft, sowie durch die internationale Zusammenarbeit im Rahmen des weltweiten sektoralen Übergangs zu diesen Modellen entwickeln.

1.6.

Unterstützungsmechanismen einschließlich öffentlicher Mittel, wirtschaftlicher Instrumente und Anreize sollten für den Aufbau von Infrastrukturen und geeignete Fördermaßnahmen für diejenigen Verbraucher genutzt werden, die sich für einen emissionsarmen Lebensstil entscheiden, um sie u. a. bei der Bewältigung der höheren Kosten von ethischen bzw. langlebigen bzw. nachhaltigen Gütern und Dienstleistungen zu unterstützen. Gleichzeitig muss gewährleistet werden, dass die Wettbewerbsfähigkeit nicht untergraben wird.

1.7.

Es muss eine Bestandsaufnahme der Verlagerung von Arbeitsplätzen in einer Niedrigemissionswirtschaft vorgenommen werden, damit neue Möglichkeiten so früh wie möglich erkannt werden. Dadurch können optimale Maßnahmen konzipiert und durchgeführt werden, sodass die Arbeitnehmer geschützt werden und ihre Lebensqualität im Zuge eines gerechten Wandels erhalten bleibt.

1.8.

Der EWSA plädiert erneut für die Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut (1), die alle Interessenträger zusammenbringen würde, um europäische Indikatoren für Energiearmut festzulegen. Gerechtigkeit für alle Bürger bedeutet, dass die Versorgung aller mit sauberer und erschwinglicher barrierefreier Energie gewährleistet sein muss.

1.9.

Der EWSA fordert die Einstellung von Beihilfen für fossile Brennstoffe und einen Kurswechsel hin zur Förderung der Energiewende.

1.10.

Wirksame Nachhaltigkeitsmaßnahmen setzen voraus, dass Unterstützungsstrukturen für den Wandel klar definiert, priorisiert und angemessen finanziert werden. Zugleich muss die EU sehr umfassende internationale Verhandlungen über eine weltweite Vereinbarung aufnehmen, damit die Treiber des Klimawandels abgeschwächt und ein nachhaltigeres weltweites Wirtschaftsmodell gefördert werden können.

2.   Hintergrund dieser Stellungnahme

2.1.

Diese Initiativstellungnahme ist eine logische Folge aus dem Arbeitsprogramm 2017 der Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung. Klimagerechtigkeit ist ein Thema, das uns alle angeht, und doch mangelt es auf EU-Ebene an einschlägigen Maßnahmen. Für den EWSA ergibt sich daraus die Gelegenheit, eine Führungsrolle zu übernehmen und erste Vorschläge insbesondere mit Blick auf Europa zu machen. Viele Aspekte der Klimagerechtigkeit müssen noch vertiefter diskutiert werden, zum Beispiel die Frage der globalen und individuellen Verteilung von Emissionsrechten.

2.2.

In Wahrnehmung seiner institutionellen Rolle möchte der EWSA in der Debatte über die Auswirkungen des Klimawandels und die angemessene und gerechte Bewältigung dieser Auswirkungen den Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft in der EU darlegen.

2.3.

In Anbetracht der auf internationaler Ebene angenommenen UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG), des Übereinkommens von Paris und des bereits einsetzenden Klimawandels wird es immer dringlicher, über konkrete Maßnahmen für Klimagerechtigkeit zu sorgen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Das Konzept der Klimagerechtigkeit beruht auf der Überlegung, dass der weltweite Klimawandel kein reiner Umweltbelang, sondern auch eine politische und ethische Frage ist. Es berücksichtigt die Tatsache, dass häufig die schwächsten und ärmsten Mitglieder der Gesellschaft die Klimawandelfolgen am stärksten zu spüren bekommen. Meist beinhaltet es eine räumlich und zeitlich verflochtene, globale Perspektive und setzt bei der Verantwortung derjenigen Länder an, deren Entwicklung auf der Nutzung natürlicher Ressourcen gründet.

3.2.

Die Nachhaltigkeitsziele gehen über die früheren Millenniumentwicklungsziele (MDG) hinaus und heben auf gegenseitige Rechenschaftspflicht, Eigenverantwortlichkeit, kollektives Handeln und notwendigerweise inklusive partizipative Prozesse ab. Der EWSA erkennt die Führungsrolle der EU bei den Forderungen nach einer soliden und gerechten internationalen Klimaschutzregelung an und fordert die EU Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zur Verwirklichung von Klimagerechtigkeit auf allen Ebenen — global, EU, national, regional und kommunal — zu prüfen. Der Prozess des Europäischen Semesters könnte als Instrument genutzt werden, um dieses Anliegen zu verwirklichen. Klimagerechtigkeit bedeutet in dieser Stellungnahme somit die notwendige Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die häufig unverhältnismäßigen Auswirkungen des Klimawandels auf Bürger und Gemeinschaften in Entwicklungsländern und Industrieländern vertretbar sind.

3.3.

Ein Problem besteht in der Ablehnung von Klimaschutzmaßnahmen, die trotz der damit verbundenen Vorteile als Benachteiligung des Durchschnittsbürgers, spezifischer Sektoren (bspw. Lebensmittelindustrie oder Verkehr) oder von auf fossile Brennstoffe angewiesenen Gemeinschaften und Einzelnen angesehen werden.

3.4.

Verschiedene strategische Initiativen sind auf besonders klimarelevante Sektoren und Bereiche ausgerichtet, z. B. den Gesundheitsbereich, Verkehr, Landwirtschaft, Energie. Klimagerechtigkeit bietet sich als übergreifender integrierter Ansatz an, mit dessen Hilfe sichergestellt werden kann, dass die Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft auf faire und gerechte Weise erfolgt.

3.5.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei Klimagerechtigkeit nicht nur um diejenigen geht, die unmittelbar durch die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigt werden, sondern auch um diejenigen, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von emissions- und ressourcenintensiven Gütern, Diensten und Lebensstilen von den Treibern des Klimawandels betroffen sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Soziale Gerechtigkeit

4.1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist davon überzeugt, dass alle Bürger ein Anrecht auf eine gesunde und saubere Umwelt haben und die Regierungen ihnen gegenüber in der Pflicht stehen, ihre im Rahmen des Übereinkommens von Paris eingegangenen nationalen Verpflichtungen und national festgelegten Beiträge (Nationally Determined Contributions, NDC) betreffend die Treiber des Klimawandels und die Klimarisiken einzuhalten und dabei nicht nur die offenkundigeren ökologischen und wirtschaftlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Aspekte zu berücksichtigen.

4.1.2.

Die europäische Säule sozialer Rechte soll als Kompass für einen erneuerten Konvergenzprozess in Richtung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mitgliedstaaten dienen. Sie baut auf 20 Grundsätzen auf, von denen viele entweder direkt vom Klimawandel oder indirekt von der notwendigen Umstellung auf neue Geschäftsmodelle berührt werden.

4.1.3.

Mit Blick auf die Menschenrechte und die sozialen Rechte schlägt der EWSA vor, eine Debatte über die Aufstellung einer Charta der Klimarechte einzuleiten, die die Rechte der Bürger und der Natur im Rahmen der Herausforderungen der Klimakrise beinhalten würde. Der EWSA verweist in diesem Zusammenhang auf die von Corinne Lepage entworfene „Allgemeine Erklärung der Menschheitsrechte“, die auch in Verbindung mit der COP 21 im Jahr 2015 steht.

4.1.4.

Die Rechte der Natur werden inzwischen in vielen Ländern weltweit gesetzlich anerkannt. Beispielsweise gewann 2015 in den Niederlanden eine NGO, die Umweltstiftung Urgenda, ein Gerichtsverfahren, in dem sie die niederländische Regierung wegen unzureichender Klimaschutzmaßnahmen verklagt hatte. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande bestätigte den Grundsatz, dass die Regierung zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn sie keine ausreichenden Maßnahmen ergreift, um absehbare Schäden aufgrund des Klimawandels zu verhindern. In Belgien und Norwegen werden entsprechende Verfahren vorbereitet. Des Weiteren befassen sich Initiativen wie der am 24. Juni 2017 aufgelegte globale Pakt für die Umwelt mit der Notwendigkeit einer fairen globalen Umwelt-Governance im Wege der Ablösung der Rechte der dritten Generation durch ein allgemeines, übergreifendes, universelles Referenzinstrument.

4.1.5.

Es muss sichergestellt werden, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft keiner unverhältnismäßigen Belastung ausgesetzt werden und dass die Kosten der Umstellung auf ein klimagerechtes Wirtschaftsmodell fair auf die Gesellschaft verteilt werden. Beispielsweise sollte das Verursacherprinzip bei denjenigen ansetzen, die die Verschmutzung verursachen und daraus Gewinn ziehen, und nicht bei den Endnutzern, wenn es keine tragfähige Alternative gibt. Der EWSA hat sich bereits mit einer umsichtigen und belangreichen Anwendung dieses wichtigen Prinzips befasst (2).

4.1.6.

Infolge von Vertreibung werden alle Arten von Migration (auch Klimaflucht) zunehmen (3). Es hat sich bereits gezeigt, wie schlecht die EU darauf vorbereitet ist und wie ungleich die Belastungen auf die Mitgliedstaaten verteilt sind. Der EWSA hat allemal aufgezeigt, wie unausgewogene wirtschaftliche Prozesse in diesem Zusammenhang Destabilisierung begünstigen können (4).

4.1.7.

Eine jüngere Studie des Europäischen Parlaments über Klimaflüchtlinge gelangt zu dem Schluss, dass es auf EU-Ebene kein spezifisches Instrument gibt, das auf Umweltmigranten anwendbar wäre. Die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes ist ein politisch schwerfälliges Instrument für den Umgang mit einem Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen, weshalb der EWSA sich dem Standpunkt anschließt, dass der Vertrag von Lissabon ein ausreichend breites Mandat bietet, um die Einwanderungspolitik zu überarbeiten und den Status von Umweltmigranten zu regeln.

4.2.   Land- und Ernährungswirtschaft

4.2.1.

Die Lebensmittelproduktionssysteme und Ernährungsweisen werden angepasst, um das Klima zu schonen. Alle Bürger sind von der Land- und Ernährungswirtschaft abhängig (bspw. Landwirte, Familien, Betriebe in der Versorgungskette, Verbraucher), und im Rahmen des Übergangs zu einer Niedrigemissionsgesellschaft sollten deshalb Förder- und Unterstützungsmaßnahmen für die vom Wandel Betroffenen sichergestellt werden. Diese Umstellung muss weltweit und in den einzelnen Sektoren erfolgen. Die EU kann hierbei eine Führungsrolle übernehmen.

4.2.2.

Der Klimawandel stellt sich als ungeheure Herausforderung für die europäische Landwirtschaft dar, die ihn auf der einen Seite antreibt, auf der anderen Seite aber mit am stärksten unter seinen Auswirkungen leidet.

4.2.3.

Der Agrarsektor muss neu ausgerichtet werden, um seinen Beitrag zu einigermaßen klimaresistenten natürlichen Senkensystemen bzw. Ökosystemleistungen zu verstärken. Diese Ökosystemleistungen des Agrarsektors sollten anerkannt und in Verbindung mit dem Ziel der Nahrungsmittelerzeugung im Rahmen der GAP finanziell gefördert werden. Dieser allgemeine Ansatz wird in der jüngst verabschiedeten einschlägigen Stellungnahme (5) befürwortet.

4.2.4.

Ein nachhaltiger Lebensmittelverbrauch muss am Anfang der Produktionskette bei der Bodenvorbereitung und der Bewirtschaftung der natürlichen Systeme als Grundlage der Lebensmittelerzeugung ansetzen. Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit, eine Debatte über den Bedarf an einer Bodenschutzrichtlinie einzuleiten und klare Weichenstellungen für die Bewirtschaftung und den Schutz der Böden vorzunehmen (6). Bodenschutz und seine Bedeutung für Ökosystemleistungen sind ein Schwerpunkt des derzeitigen estnischen Ratsvorsitzes (7).

4.2.5.

Der EWSA unterstützt das Konzept der Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch. Ein Konsens über den notwendigen Wandel der Einstellungen zum Fleischkonsum kann nur erreicht werden, wenn für diejenigen, die von diesem Sektor der Lebensmittelindustrie abhängig sind, durch Entwicklungsmöglichkeiten und Unterstützungsmaßnahmen ein gerechter Übergang sichergestellt wird.

4.2.6.

Dieser Sektor ist auch von den Treibern des Klimawandels betroffen, insbesondere durch seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bei der Erzeugung, der Verarbeitung, dem Transport und der Verpackung von Lebensmitteln. Es muss eine Strategie entworfen werden, die den Sachzwängen des bestehenden Lebensmittelmodells Rechnung trägt und einen gangbaren Entwicklungspfad hin zu einer nachhaltigen klimafreundlichen Zukunft für die Landwirte entwirft.

4.2.7.

Umweltschutzmaßnahmen stehen nicht notwendigerweise im Widerspruch zu den unmittelbaren Bedürfnissen des Agrarsektors, wenn sie als praktische Fördermaßnahmen zur Erleichterung des Wandels hin zu einer Niedrigemissionsgesellschaft begriffen werden.

4.3.   Verbraucher

4.3.1.

Die Verbraucher können nur dann aktiv zum Wandel beitragen, wenn sie über nachhaltige ethische Alternativen verfügen, die ihnen hinsichtlich Dienstleistung, Nutzung und Zugang das mehr oder weniger gleiche Maß an Komfort und Qualität bieten. Gangbare Alternativen für die Verbraucher lassen sich über die neuen Geschäftsmodelle, bspw. die digitale, die kollaborative und die Kreislaufwirtschaft, sowie durch die internationale Zusammenarbeit im Rahmen des weltweiten sektoralen Übergangs zu diesen Modellen entwickeln.

4.3.2.

Das Verursacherprinzip wird allzu häufig falsch angewendet, und die Verbraucher werden mit Abgaben belastet, wenn ihnen keine vertretbare Alternative zur Verfügung steht. Verbraucher müssen über eine Alternative verfügen, bevor die Preisgestaltung als wirksames Instrument zur Förderung von Verhaltensänderungen eingesetzt werden kann.

4.3.3.

Die Abgabe auf Plastiktüten ist ein gutes Beispiel für eine geringe, von den Verbrauchern zu entrichtende Gebühr, bei der ihnen alternative Möglichkeiten offenstehen — ihre eigene Tasche mitzubringen oder einen vom Händler bereitgestellten Karton zu verwenden. Auf diese Art und Weise können Verhaltensänderungen im großen Maßstab erreicht werden.

4.3.4.

Dagegen kann die Besteuerung von fossilen Brennstoffen (bspw. von Benzin) auf Verbraucherebene Unzufriedenheit hervorrufen, da ein größerer Teil des verfügbaren Einkommens für Brennstoff aufgewendet werden muss. Zudem kann der Entstehung eines illegalen Nebenmarkts Vorschub geleistet werden, während der Schadstofferzeuger weiterhin profitabel wirtschaftet. Durch die meist fehlende Zweckbindung dieser Steuern wird die Lage weiter verschlimmert. Die Bürger gewinnen den Eindruck, dass Klimaschutzmaßnahmen gleichbedeutend sind mit der Benachteiligung derjenigen, die an die fossile Brennstoff-Wirtschaft gefesselt sind.

4.3.5.

Unterstützungsmechanismen einschließlich öffentlicher Mittel und wirtschaftlicher Instrumente sollten in den Aufbau von Infrastrukturen und geeignete Fördermaßnahmen für diejenigen Verbraucher investiert werden, die sich für einen emissionsarmen Lebensstil entscheiden, um sie u. a. bei der Bewältigung der höheren Kosten von ethischen bzw. langlebigen bzw. nachhaltigen Gütern und Dienstleistungen zu unterstützen. Dies kann die Form von öffentlich-privaten Partnerschaften annehmen. Die Automobilindustrie ist ein bewährtes Beispiel für herstellerseitig geförderte Finanzierungsmodalitäten, um den Verbrauchern den Zugang zu neuen Autos zu erleichtern. Entsprechende Unterstützungsmaßnahmen wären auch für andere Bereiche denkbar, beispielsweise bei der Anschaffung von Haushaltsgeräten oder der Renovierung von Wohn- oder Betriebsraum.

4.3.6.

Unter Klimagesichtspunkten besteht ein Widerspruch zwischen dem Einsatz öffentlicher Mittel zur Förderung von Systemen und Infrastrukturen, die die Abhängigkeit der Endnutzer von den Treibern des Klimawandels vergrößern, und den gleichzeitigen Anstrengungen zur Eindämmung und Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels. Die Verbraucher bekommen die Folgen als erste zu spüren. Eine Wahlmöglichkeit der Bürger zwischen höheren Kosten für die umweltschädlicheren Optionen oder Verzicht ist keine „gerechte“ Wahl.

4.3.7.

Es besteht der Eindruck, dass ein nachhaltiger Lebensstil und nachhaltige Verbrauchsentscheidungen ein hohes verfügbares Einkommen voraussetzen. Ethische, klimafreundliche und nachhaltige Entscheidungen sind nicht allen gleichermaßen möglich. Durch einen geeigneten konzeptuellen Rahmen, der dieser Auffassung entgegentritt und gleiche Möglichkeiten für alle Verbraucher fördert, sollte die Einpreisung der Klimakosten (bspw. der Ressourcenintensität) von Gütern und Diensten unterstützt werden.

4.3.8.

Die EU-Rechtsvorschriften zum Verbraucherschutz stammen aus der Zeit vor 1999, als die Vereinten Nationen den nachhaltigen Konsum als grundlegendes Verbraucherrecht anerkannten, weshalb dieser Aspekt darin nicht berücksichtigt ist (8). Der EWSA wiederholt seine Forderung nach einer Strategie für nachhaltigen Verbrauch, die besonders im Kontext der Nachhaltigkeitsziele und der Kreislaufwirtschaftsinitiative relevant ist.

4.3.9.

Ohne Alternative werden die Verbraucher in Armut getrieben oder zu schlechten, ungesunden oder nicht nachhaltigen Entscheidungen bewegt und lehnen Umweltschutzmaßnahmen ab, die sie als Benachteiligung der Endverbraucher begreifen. Diejenigen aber, die von diesem System profitieren, zahlen keine Abgaben, sondern erwirtschaften mehr Gewinn, sodass die Ungleichheit unter dem Deckmantel des Umweltschutzes, aber im Widerspruch zu den Grundsätzen der Nachhaltigkeit, zunimmt.

4.4.   Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt

4.4.1.

Es ist maßgeblich wichtig, alle Arbeitnehmer, sowohl diejenigen mit geringen oder nicht übertragbaren Qualifikationen als auch die hochqualifizierten, im Wandel zu schützen. Die am stärksten gefährdeten Branchen und Arbeitnehmer müssen ermittelt und angemessen unterstützt werden. Die Automatisierung von Arbeitsplätzen im Rahmen der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft könnte dazu führen, dass bestimmte Arbeitsplätze verloren gehen (9).

4.4.2.

Bei diesem Schutz spielen u. a. Umschulungs- und Bildungsmaßnahmen eine Rolle. Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze dem Klimawandel oder der notwendigen Beendigung der Abhängigkeit von den Treibern des Klimawandels zum Opfer fallen, sollten nicht die Kosten des Wandels tragen müssen.

4.4.3.

Eine rechtzeitige Ermittlung der erforderlichen Kompetenzen zur umfassenden Teilhabe an diesen neuen Geschäftsmodellen ist ein Teil der Lösung, doch sollten sie auch mit den bestehenden Arbeitsplätzen und Abhängigkeiten im Rahmen des aktuellen nicht nachhaltigen Modells abgeglichen werden.

4.4.4.

Es ist wichtig, Gemeinschaften so weit wie möglich zu schützen und zu erhalten und den Übergang mit einer geringstmöglichen Beeinträchtigung des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens der Betroffenen zu bewerkstelligen.

4.4.5.

Die vorgeschlagenen neuen Geschäftsmodelle wie die Functional Economy, die kollaborative Wirtschaft und die Kreislaufwirtschaft eröffnen in jedem Fall neue Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang sollte die EU die notwendigen internationalen Verhandlungen aufnehmen, um auf ein weltweites Wirtschaftsmodell hinzuarbeiten.

4.5.   Gesundheit

4.5.1.

Der Klimawandel und die Treiber des Klimawandels verursachen Gesundheitskosten, die sich beispielsweise in luftverschmutzungsbedingten Todes- und Krankheitsfällen ausdrücken lassen und gesellschaftliche Kosten wie auch Kosten für das Gesundheitssystem umfassen. Die öffentlichen Gesundheitssysteme müssen die sie betreffenden Auswirkungen des Klimawandels und der Treiber des Klimawandels berücksichtigen.

4.5.2.

Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gesundheit und Wohlergehen und Zugang zur Natur (Institut für Europäische Umweltpolitik, IEEP). In vielen Mitgliedstaaten stellen sich gesundheitliche und gesellschaftliche Herausforderungen wie Adipositas, psychische Gesundheitsprobleme, soziale Ausgrenzung, Lärm- und Luftverschmutzung, die sozial und wirtschaftlich benachteiligte und schutzbedürftige Gruppen unverhältnismäßig stark betreffen.

4.5.3.

Investitionen in die Natur kommen dem Klimaschutz zugute, weil weniger in Schadstoffe und mehr in Kohlenstoffspeicher in natürlichen Ökosystemen investiert wird. Daraus entstehen Gesundheitsvorteile in zweierlei Hinsicht: Es wird Gesundheitsproblemen vorgebeugt und ein aktiver Lebensstil gefördert, was die Gesundheit von Bürgern und Gemeinschaften verbessert. Eine Anerkennung dieses Sachverhalts trägt zu ausgewogenen, sachkundigen und faktengestützten strategischen Entscheidungen bei.

4.6.   Energie

4.6.1.

Die Erzeugung erneuerbarer Energie als prozentualer Anteil am Stromverbrauch hat sich in der EU zwischen 2004 und 2015 mehr als verdoppelt (von 14 % auf 29 %). Bei der Wärmeerzeugung, im Gebäudebereich, in der Industrie und im Verkehr ist der Energiebedarf jedoch immer noch enorm. Die Entwicklung steht noch am Anfang, beispielsweise ist im genannten Zeitraum der Anteil erneuerbarer Energieträger am Brennstoffverbrauch im Verkehr von 1 % auf 6 % gestiegen.

4.6.2.

Energiearmut ist ein europaweites Problem. Zwar unterscheidet sie sich von Land zu Land in Ausprägung und Kontext, doch verdeutlicht auch sie die Notwendigkeit, im Rahmen von Klimaschutzmaßnahmen den Schutz der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft sicherzustellen.

4.6.3.

Der EWSA plädiert erneut für die Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut (10), die alle Interessenträger zusammenbringen würde, um europäische Indikatoren für Energiearmut festzulegen. Gerechtigkeit für alle Bürger bedeutet, dass die Versorgung aller mit sauberer und erschwinglicher barrierefreier Energie gewährleistet sein muss.

4.6.4.

Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems der Energiearmut in der EU können auch in Lösungen für die Errichtung einer sauberen Energieinfrastruktur und -versorgung durch die Verlagerung von Beihilfen und die Koordinierung der politischen Bemühungen bestehen.

4.6.5.

Eine Politik, die direkt oder indirekt Beihilfen für fossile Brennstoffe unterstützt, kommt einer Verkehrung des Verursacherprinzips gleich — der Verursacher wird belohnt. Viele dieser Beihilfen sind für den Endverbraucher unsichtbar, stammen letztlich jedoch aus öffentlichen Mitteln. In einer jüngeren Stellungnahme (11) wurde bereits die Abschaffung umweltschädlicher Beihilfen in der EU begründet, und in einer Stellungnahme zur Bilanzierung der Nachhaltigkeitspolitik der EU (12) wird die Notwendigkeit bekräftigt, bestehende Verpflichtungen zur Einstellung umweltschädlicher Beihilfen umzusetzen und ökologische Steuerreformen entschlossen zu fördern.

4.6.6.

Unterstützung sollte allen offen stehen, Beihilfen sollten auf erneuerbare Energieträger konzentriert werden, Beihilfen für die Treiber des Klimawandels aber sollten dringend eingestellt werden, und Ausnahmen sollten auf gerechtere Weise gewährt werden, und zwar keinesfalls denjenigen, die sich die Kosten leisten können, oder denjenigen, die aus den Schadstoffen Gewinn ziehen. Dem IWF zufolge belaufen sich die Beihilfen für fossile Brennstoffe gegenwärtig weltweit auf 10 Mio. USD pro Minute. Durch die Einstellung dieser Beihilfen würden die staatlichen Einnahmen um 3,6 % des globalen BIP steigen, die Emissionen mehr als 20 % sinken, luftverschmutzungsbedingte vorzeitige Todesfälle über die Hälfte zurückgehen und der weltwirtschaftliche Wohlstand um 1,8 Billionen USD (2,2 % des globalen BIP) steigen. Diese Zahlen veranschaulichen die Ungerechtigkeit des aktuellen Systems.

4.6.7.

Wirksame Nachhaltigkeitsmaßnahmen setzen voraus, dass Unterstützungsstrukturen für den Wandel klar definiert, priorisiert und angemessen finanziert werden.

Brüssel, den 19. Oktober 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Für ein koordiniertes europäisches Vorgehen zur Prävention und Bekämpfung von Energiearmut“, ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 21.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Auswirkungen der auf der COP 21 getroffenen Vereinbarungen auf die europäische Verkehrspolitik“, ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 10.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Integration von Flüchtlingen in der EU“, ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 19.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für einen neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik — Unsere Welt, unsere Würde, unsere Zukunft“, ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 71.

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine mögliche Umgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik“, ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 10.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Kreislaufwirtschaft — Düngemittel“, ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 80.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Landnutzung für eine nachhaltige Nahrungsmittelerzeugung und nachhaltige Ökosystemleistungen“ (siehe Seite 72 dieses Amtsblatts).

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Gemeinschaftlicher oder partizipativer Konsum: ein Nachhaltigkeitsmodell für das 21. Jahrhundert“, ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 1.

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050“ (siehe Seite 44 dieses Amtsblatts).

(10)  Siehe Fußnote 1.

(11)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente zur Förderung einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft in der EU“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU“, ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41.


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