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Document 52013AE1557

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt — einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020“ — COM(2013) 83 final

OJ C 271, 19.9.2013, p. 91–96 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

19.9.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 271/91


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt — einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020“

COM(2013) 83 final

2013/C 271/17

Berichterstatter: Oliver RÖPKE

Die Europäische Kommission beschloss am 18. März 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt – einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020

COM(2013) 83 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 490. Plenartagung am 22./23. Mai 2013 (Sitzung vom 22. Mai) mit 160 gegen 3 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das Sozialinvestitionspaket der EU-Kommission und den damit verbundenen Paradigmenwechsel, der die stärkere Fokussierung auf Sozialinvestitionen nicht nur einseitig als Kostenfaktor sieht, sondern als Investitionen in die Zukunft und in Wachstum und Beschäftigung begreift, die einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Europa-2020-Ziele leisten und ein Kernelement des Europäischen Sozialmodells darstellen.

1.2

Zielgerichtete soziale Investitionen bringen aber nicht nur sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt und steigern gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit. Besonders in Zeiten einer nie gekannten, dramatischen Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut kommt Investitionen in den Sozialstaat darüber hinaus eine zentrale Rolle für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts, für die soziale Eingliederung sowie für die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut zu.

1.3

Der Arbeitsmarkt ist der zentrale Schlüssel zur Bewältigung des demografischen Wandels und zur nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Nach Auffassung des EWSA erhöhen starke und zielgerichtete Sozialinvestitionen die Beschäftigungschancen der Menschen nachhaltig. Das Sozialinvestitionspaket kann deshalb einen wichtigen Beitrag zu einem politischen Kurswechsel für mehr Wachstum und Beschäftigung leisten, wenn es in der Praxis konsequent umgesetzt wird.

1.4

Der EWSA stimmt der EU-Kommission zu, dass die Ausgestaltung der Sozialpolitik vornehmlich in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt und jedes Land ein eigenes Gleichgewicht von Nachhaltigkeit und Angemessenheit seiner Sozialsysteme und der Organisation sozialer Dienstleistungen finden muss. Aufgrund der starken nationalen Unterschiede sollte die EU-Kommission eine zentrale Rolle beim Austausch bewährter und innovativer Ansätze zwischen den Mitgliedstaaten und allen relevanten Akteuren spielen.

1.5

Der EWSA begrüßt, dass in der Mitteilung die wichtige Rolle der Sozialwirtschaft, der sozialen Unternehmen, der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner für die Umsetzung des Sozialinvestitionspakets ausdrücklich anerkannt wird. Der EWSA unterstützt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Forderung nach einer grundlegenden Einbindung der Sozialpartner und der Akteure der organisierten Zivilgesellschaft auf Ebene der Mitgliedstaaten und in den Koordinierungsprozess des Europäischen Semesters.

1.6

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, einen Plan für die konkrete Umsetzung des Sozialinvestitionspaketes vorzulegen, die Mitgliedstaaten bei den notwendigen Maßnahmen zu unterstützen und den Austausch zwischen Ländern, den Sozialpartnern, sozialwirtschaftlichen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, der organisierten Zivilgesellschaft und Anbietern sozialer Dienstleistungen zu fördern. Diese Akteure verfügen über das notwendige Fachwissen in den Bereichen Sozialinvestitionen, soziale Innovation und Beschäftigungsförderung.

1.7

Dennoch kritisiert der EWSA, dass die Frage der Finanzierung des Sozialinvestitionspakets in weiten Teilen unbeantwortet bleibt. Ohne eine Änderung der einseitigen Politik der Ausgabenkürzungen scheint eine erfolgreiche Umsetzung der Vorschläge nicht realistisch. Die bessere Nutzung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) sowie eine möglichst hohe Effizienz und Treffsicherheit der Maßnahmen sind zwar zu begrüßen, werden aber keinesfalls ausreichen, um den angestrebten Kurswechsel herbeizuführen.

1.8

Der EWSA bekräftigt deshalb seine Auffassung, dass die Erschließung neuer Einnahmequellen für die öffentlichen Haushalte unumgänglich ist. Hierbei sind Maßnahmen wie die Veränderung und Verbreiterung von Steuerbemessungsgrundlagen, die Schließung von Steueroasen, ein Ende des ruinösen Steuersenkungswettlaufs sowie der Kampf gegen Steuerhinterziehung ebenso zu nennen wie Beiträge der unterschiedlichen Arten von Vermögen.

1.9

Insbesondere wiederholt der EWSA in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich seine Forderung nach einem europäischen Konjunktur- und Investitionsprogramm in Höhe von 2 % des BIP. Damit könnte ein sozialer Investitionspakt finanziert werden, der den politischen Prioritätenwechsel in Richtung sozialer Investitionen und eine Stärkung und Modernisierung der Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten trotz der angestrebten Haushaltskonsolidierung auch praktisch ermöglicht. Nur bei einer ausreichenden Finanzierung kann das Sozialinvestitionspaket erfolgreich in die Tat umgesetzt werden, andernfalls bleibt es bei bloßen Absichtserklärungen.

1.10

Der EWSA fordert von der Europäischen Kommission, dass eine stärkere Fokussierung auf soziale Investitionen auch im Koordinierungsprozess des Europäischen Semesters seinen Niederschlag findet. Diese neue Schwerpunktsetzung muss in den länderspezifischen Empfehlungen sowie im kommenden Jahreswachstumsbericht (2014) explizit berücksichtigt werden. Die Europäische Kommission muss hierfür rasch konkrete Vorschläge vorlegen. Es muss klargestellt werden, dass verstärkte Sozialinvestitionen mit einer „differenzierten und wachstumsfreundlichen“ Haushaltskonsolidierung in Einklang stehen.

2.   Das Sozialinvestitionspaket für Wachstum und Zusammenhalt

2.1

Die Europa-2020-Strategie enthält als eines ihrer Ziele, bis 2020 mindestens 20 Mio. Bürgerinnen und Bürger aus der Armut herauszuführen. Die tief greifenden Konsequenzen der Krise und die Notwendigkeit, das Wachstum wiederherzustellen, haben zu einer Reihe von Initiativen der Kommission geführt, die auf den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen, reibungslose Beschäftigungsübergänge und eine Aktivierung im Allgemeinen abzielen (1).

2.2

Die Kommission hat am 20. Februar 2013 ihr seit Langem erwartetes Sozialinvestitionspaket vorgelegt. Es besteht aus einer Mitteilung („Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt – einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020“), einer Empfehlung der Kommission („Investitionen in Kinder: Den Kreislauf der Benachteiligung durchbrechen“) und sieben begleitenden Arbeitspapieren der Kommissionsdienststellen.

2.3

Das Paket stellt verbesserte Sozialinvestitionen in den Zusammenhang des Europäischen Semesters und strafft die Steuerung und Berichtspflichten der Union und der Mitgliedstaaten in dem Bemühen, die Ziele der Europa-2020-Strategie auf dem Gebiet der Sozial-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik zu erreichen.

2.4

Die Kommission stellt fest, dass im Zuge der seit 2008 andauernden Krise in Europa in vielen Mitgliedstaaten Armut und soziale Ausgrenzung sowie der Ausschluss vom Arbeitsmarkt für viele Bürgerinnen und Bürger der Union gestiegen sind und neue Höchststände erreicht wurden, insbesondere bei den gefährdetsten Gruppen. In ihrer Mitteilung legt die Kommission den Mitgliedstaaten daher nahe, mehr Gewicht auf soziale Investitionen zu legen und die Mittel effizienter einzusetzen.

2.5

Der Kommission zufolge helfen Sozialinvestitionen Bürgern. Sie steigern ihre Fähigkeiten und Qualifikationen und fördern deren Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt. Das führt zu mehr Wohlstand, kurbelt die Wirtschaft an und hilft der EU, gestärkt, geschlossener und wettbewerbsfähiger aus der Krise hervorzugehen.

2.6

Die Sozialsysteme erfüllen demnach eine dreifache Funktion: soziale Investitionen für eine bessere Zukunft, Sozialschutz in widrigen Lebensphasen und nicht zuletzt eine Stabilisierung der Volkswirtschaften.

2.7

Hierzu fordert die Kommission Maßnahmen, die sicherstellen, dass die Sozialschutzsysteme den Bedürfnissen der Menschen in kritischen Lebensabschnitten gerecht werden. Um dieses zu erreichen, fordert die Kommission vorbeugende Maßnahmen in der Form möglichst frühzeitiger Investitionen, anstatt im Nachhinein die Schäden zu beheben, was sich als kostenintensiver erweist. Investitionen in Kinder und junge Menschen sind daher wichtig.

2.8

Dies wird in der Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten mit der Formulierung von Leitsätzen näher präzisiert. Vorbeugende Investitionen gegen Kinderarmut und soziale Ausgrenzung, die das Wohl des Kindes fördern sollen, können der Kommission zufolge durch eine ganze Palette unterschiedlicher Maßnahmen erreicht werden.

2.9

Unter dem Stichwort „Mehr Effizienz in der Sozialpolitik“ fordert die Kommission in der Mitteilung einen wirksameren Einsatz von Finanzmitteln zur Gewährleistung einer angemessenen und nachhaltigen sozialen Sicherheit sowie für eine bessere, evidenzbasierte Sozialpolitik. Um dies zu erreichen, sollen die Mitgliedstaaten die Verwaltung von Leistungen und Diensten vereinfachen, Leistungen gezielter gewähren und gleichzeitig an Bedingungen knüpfen, wie z.B. an die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen.

2.10

Die Mitgliedstaaten werden in der Mitteilung mehrfach aufgefordert, bei der Verbesserung der Sozialpolitik im Rahmen der Europa-2020-Strategie die Einbeziehung aller relevanten Stakeholder, vor allem der Sozialpartner und zivilgesellschaftlicher Organisationen, zu verstärken.

3.   Allgemeine Bemerkungen zum Sozialinvestitionspaket

3.1

Die Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren tief greifenden Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt beherrscht seit nunmehr fünf Jahren die politische Agenda der Europäischen Union. Während die Mitgliedstaaten anfangs mit einer antizyklischen, konjunkturstabilisierenden Wirtschaftspolitik reagierten, haben vor allem die Bankenrettungspakete zu einem erheblichen Anstieg der öffentlichen Verschuldung geführt. Der Versuch der Regierungen, im Konjunkturabschwung die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte einseitig durch eine Kürzung der Ausgaben zu erreichen, wird allgemein als gescheitert erachtet. Die Mitteilung der Kommission zu den Sozialinvestitionen bringt daher eine neue Perspektive für die Krisenbekämpfung mit sich, nämlich die, dass mit Sozialinvestitionen zwar kurzfristig Kosten, mittel- und längerfristig aber Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaft und höhere Einnahmen für die Staatshaushalte verbunden sind, die zudem die in der Zukunft liegenden gesellschaftlichen Kosten deutlich verringern.

3.2

Der EWSA begrüßt daher ausdrücklich das Sozialinvestitionspaket der Kommission und den für die EU-Institutionen damit verbundenen Paradigmenwechsel einer vorausschauenden Agenda. Die Mitgliedstaaten werden nunmehr ausdrücklich ersucht, mehr Gewicht auf soziale Investitionen zu legen sowie die Sozialpolitik zu modernisieren und zu stärken und die verfügbaren Mittel effizienter einzusetzen. Die Sozialpolitik muss nachhaltiger werden. Damit scheint die Kommission Fehlentwicklungen der letzten Jahre zu korrigieren und soziale Investitionen nicht einseitig als Kostenfaktor zu sehen. Vielmehr steigern sie die Qualifikationen und Fähigkeiten der Bürger, erhöhen ihre Chancen in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt und damit den Wohlstand, wirken wachstumsfördernd und helfen der EU, gestärkt und wettbewerbsfähiger aus der Krise hervorzugehen. Das vorliegende Paket könnte damit eine der wichtigsten sozialpolitischen Initiativen der letzten Jahre darstellen, wenn es auch tatsächlich konsequent und ambitioniert umgesetzt wird. Dies erfordert eine nachhaltige Unterstützung seitens der Europäischen Kommission.

3.3

Die Ausgestaltung der Sozialpolitiken liegt jedoch vornehmlich in den Händen der Mitgliedstaaten. Die Diversität der nationalen Bedingungen und Umstände erfordert, dass jeder Mitgliedstaat sein eigenes Gleichgewicht zwischen Nachhaltigkeit und Angemessenheit seines Sozialsystems findet, da es ein einheitliches Modell für alle nicht gibt. Die Kommission sollte eine Zusammenstellung der besten Praxisbeispiele erarbeiten, einschließlich der Förderung gemeinwohlorientierter Leistungsanbieter über öffentliche Auftragsvergabe und Wahlfreiheit bei sozialen Diensten, und die Mitgliedstaaten dazu ermuntern, ihre Sozialsysteme innovativ und effizient zu gestalten und dabei die Betonung auf Beschäftigung und Aktivierung legen, um das Armutsbekämpfungsziel der Europa-2020 Strategie zu erreichen.

3.4

In Zeiten einer nie gekannten Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut in der EU kommt dem Sozialstaat eine unverzichtbare Rolle zu, die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen. Durch gezielte Investitionen in den Sozialschutz und den Sozialstaat können strukturelle Probleme gelöst und Arbeitsplätze geschaffen werden. Bestehende Potenziale können besser genutzt werden, indem eine möglichst umfassende, aktive Inklusions- und Teilhabestrategie für möglichst breite Teile der Bevölkerung verfolgt wird und indem die Empfehlungen zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen aus dem Jahr 2008 von allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden.

3.5

Wurden bislang Sozialausgaben vorwiegend mit „Kosten“ verbunden und Kürzungen der Sozialbudgets gefordert, könnte die Mitteilung in gewisser Weise einen politischen Kurswechsel auf der Ebene der EU wie in einigen Mitgliedstaaten darstellen. Der EWSA hat schon bislang die Position vertreten, dass es einen enormen – auch sozialen – Investitionsbedarf gibt, der beschäftigungswirksam sein kann, Armut verhindert und der sozialen Ausgrenzung entgegenwirkt. Dafür müssen sowohl private als auch öffentliche Investitionen mobilisiert und Reformen durchgeführt werden (2).

3.6

Der in der Kommissionsmitteilung verfolgte lebenszyklus- und bedürfnisorientierte Ansatz für Sozialinvestitionen, der sowohl zu einer Erhöhung der individuellen Lebensmöglichkeiten und des sozialen Zusammenhalts als auch zu einer besseren ökonomischen Entwicklung beitragen kann, wird vom EWSA ebenfalls als eine neue Sichtweise und neue Interventionslogik begrüßt. Eine Stärkung der Sozialinvestitionen hat insbesondere mittel- und langfristig positive Effekte. Jedoch sollten auch die kurzfristigen positiven Effekte keinesfalls unterschätzt werden. Investitionen in eine bessere, evidenzbasierte Sozialpolitik zeitigen erwiesenermaßen schnelle und positive Resultate in mancherlei Situationen (3).

3.7

Soziale Investitionen haben neben den arbeitsmarktpolitischen Effekten aber auch eine zentrale Funktion für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die soziale Eingliederung sowie für die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut. Die tiefe Wirtschaftskrise in Europa hat die soziale Lage vieler Menschen dramatisch verschlechtert. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist ein Kurswechsel zu mehr Sozialinvestitionen unbedingt notwendig.

3.8

In diesem Zusammenhang müsste die Europäische Kommission ihre Forderung nach einer „Konditionalität“ von Sozialleistungen näher erklären und eingrenzen. So kann es z.B. im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik sinnvoll sein, Unterstützungsleistungen an ein bestimmtes Ziel zu binden (z.B. Teilnahme an Schulungsmaßnahmen), doch darf dieses Prinzip keinesfalls generell für sozialpolitische Maßnahmen gelten (Beispiel: Kinderbetreuung). Sozialleistungen müssen als Rechte mit vorhersehbaren Kriterien gesehen werden, wobei Rechtssicherheit gewährleistet sein muss.

3.9

Die mit der Mitteilung herausgegebene Empfehlung sowie die Arbeitsdokumente spiegeln die wichtigsten Bereiche wider, in denen die „neue Logik“ von Sozialinvestitionen angewendet werden soll. Die Kommission sollte nun den Dialog mit allen relevanten Akteuren darüber beginnen, wie die Logik von Sozialinvestitionen auf diese thematischen Schwerpunktsetzungen in der Praxis anzuwenden ist, und einen Plan zur Umsetzung ihrer Mitteilung vorlegen, der einen Handlungsleitfaden zur Unterstützung der Mitgliedstaaten enthalten sollte.

3.10

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die wichtige Rolle, die die Sozialwirtschaft, die sozialen Unternehmen und die Zivilgesellschaft bei der Umsetzung des Sozialinvestitionspakets spielen, ausdrücklich anerkennt (4). Neben der Bereitstellung von Erfahrung und zusätzlichen Ressourcen sind sie oft direkt an der Umsetzung der politischen Ziele in konkrete Handlungen beteiligt, z.B. durch die Erbringung von sozialen Diensten. Um diese Aufgaben zu unterstützen, müssen öffentliche Mittel und privates Kapital besser und einfacher zugänglich gemacht werden. Die Einbeziehung von thematischen Zielsetzungen zu sozialen Investitionen und von Investitionen als Förderlinien unter der EU-Kohäsionspolitik 2014-2020 sind begrüßenswerte Vorschläge. Sie sollten in den Verhandlungen berücksichtigt werden, die – unter Mitbeteiligung von Vertretern der Zivilgesellschaft – zwischen nationalen Behörden und der EU-Kommission über die Programme geführt werden.

3.11

Ein wesentliches Element der Strategien im Bereich Sozialinvestitionen ist der Kommission zufolge die Innovation, denn die Sozialpolitik muss laufend an neue Herausforderungen angepasst werden. Privatunternehmen, die sich auf öffentliche Aufträge stützen können, spielen daher eine wichtige Rolle als Alternative und Ergänzung zum öffentlichen Sektor.

3.12

Innovative Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch die Beteiligung des privaten Sektors oder durch Social Investment Bonds, sollen von den Mitgliedstaaten stärker genutzt werden und könnten angeblich zu Haushaltseinsparungen führen, so die Europäische Kommission (5). Allerdings werden Social Investment Bonds reichlich kontrovers diskutiert, und es bedarf einer Reihe weiterer Untersuchungen über ihre Folgewirkungen. Zudem sollten die potenziell betroffenen Bereiche, die sich für eine „innovative Finanzierung“ eignen, näher beschrieben werden. Der EWSA betont jedenfalls, dass diese Instrumente keinesfalls zu einer Kommerzialisierung der Sozialpolitik führen dürfen. Der Staat darf sich nicht aus seiner sozialpolitischen Verantwortung stehlen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

In den kommenden Jahren ist – nicht zuletzt durch die Konsolidierungspakete in den einzelnen EU-Ländern – leider von einer Fortsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Abwärtsspirale bzw. von einer verlangsamten wirtschaftlichen Dynamik auszugehen. Ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum muss deshalb über eine stärkere (Binnen-)Nachfrage angekurbelt werden, z.B. durch eine bessere Arbeitsmarktintegration von Frauen. Auch das Wachstum der sozialen Dienstleistungen und der Sozialwirtschaft, die gerade in der Krise ihre Belastbarkeit bewiesen haben, spielt hier eine Schlüsselrolle.

4.2

Dazu kann das soziale Investitionspaket einen wichtigen Beitrag liefern. So hat der Ausbau sozialer Dienstleistungen höhere Beschäftigungseffekte als jede andere Form des öffentlichen Mitteleinsatzes. Zudem sind Investitionen in soziale Dienstleistungen nötig, um die wachsende Nachfrage und den zunehmenden sozialen Bedarf zu decken. Die Beschäftigungsziele der Europa-2020-Strategie erfordern neben der Bekämpfung der (Jugend-)Arbeitslosigkeit und der besseren Erwerbsintegration der Älteren vor allem eine Erhöhung der Frauenbeschäftigung.

4.3

Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Unterstützung des Sozialinvestitionspakets für die nationalen Politikfelder der sozialen Eingliederung, des Gesundheitssystems und der sozialen Dienste auch leicht zugängliche, bezahlbare und qualitativ hochwertige Sozialleistungen für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen umfassen sollte, wie z.B. für Menschen mit Behinderungen und die wachsende Zahl von Menschen, die in extremer Armut leben. Diese Sozialleistungen erhöhen ihre Chancen, ein Leben in Würde zu führen und Beschäftigung zu finden und zu behalten.

4.4

Gerade das Beispiel der Kinderbetreuung zeigt, dass durch zielgerichtete Investitionen sozialer und gesellschaftlicher Fortschritt mit einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit verbunden werden kann. Verstärkte Investitionen in die Kinderbetreuung und in soziale Dienste i.w.S. (Altenbetreuung, Bildung, Pflege, Leistungen für Menschen mit Behinderungen, unterstütztes und betreutes Wohnen etc.) verbessern einerseits die „Standortqualität“, liefern gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen und der am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernten Personen wie etwa Menschen mit Behinderungen und tragen mittel- und langfristig zur Entlastung der öffentlichen Budgets bei. Wie bereits von der Kommission anerkannt, ist es wichtig sicher zu stellen, dass diese Investitionen sich zielgerichtet auf die spezifischen Bedürfnisse einer Person richten statt auf eine Gruppe, um individuelle Unterstützung und bestmögliche Ergebnisse zu erzielen (6). Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass Prävention aller möglichen Arten sozialer Probleme notwendig ist, unabhängig vom Lebensalter der Betroffenen. Prävention sollte daher ein allumfassender Ansatz der Sozialpolitik sein, der sich über die Gruppe der Kinder hinaus auf alle gesellschaftlichen Gruppen bezieht.

4.5

Der Arbeitsmarkt ist der zentrale Schlüssel zur Bewältigung des demografischen Wandels und zur nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Deshalb ist die Forderung der Kommission nach einer Verbesserung der Erwerbsbeteiligung, auch durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik und durch die Stärkung der sozialen Eingliederung, zu begrüßen. Wenn das vorhandene Beschäftigungspotenzial besser genutzt wird, kann das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern trotz des massiven Anstiegs der Zahl der Älteren weitgehend stabil gehalten werden (7). Allerdings bekräftigt der EWSA seine Auffassung, dass Sozialinvestitionen auch die gesellschaftlichen Gruppen betreffen müssen, für die der Bezug sozialer Leistungen nicht in ihrer Aktivierung für den Arbeitsmarkt mündet.

4.6

Gleichzeitig können durch Sozialinvestitionen und eine verbesserte Sozialpolitik nicht nur wichtige beschäftigungspolitische Effekte erzielt werden. Eine konsequente Umsetzung der Politik der sozialen Inklusion in den Mitgliedstaaten und die konsequente Bekämpfung von Armut bringen für die gesamte Gesellschaft entscheidende Vorteile mit sich und fördern den sozialen Frieden und Zusammenhalt in der Gesellschaft.

4.7

Der in der Mitteilung skizzierte Kurswechsel stellt auch einen wichtigen Beitrag für die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Budgets dar. Die Förderung eines inklusiven Wachstums und eine deutliche Erhöhung der Beschäftigungsquoten bis zum Jahr 2020 können einen zusätzlichen Spielraum der Staatshaushalte der EU-27 im Ausmaß von bis zu 1 000 Mrd. EUR bedeuten (8).

4.8

Für den in der Mitteilung skizzierten Prioritätenwechsel und dessen Integration in das Europäische Semester bleiben aber entscheidende Fragen offen. Der EWSA begrüßt ein verbessertes Monitoring, ist sich aber bewusst, dass die Ausrichtung des Jahreswachstumsberichts 2013 noch die Prioritäten des abgelaufenen Jahres enthält. Eine stärkere Fokussierung auf soziale Investitionen sollte nach Auffassung des EWSA in den länderspezifischen Empfehlungen für die zweite Jahreshälfte erfolgen. Im kommenden Jahreswachstumsbericht (2014) sollten dann soziale Investitionen explizit berücksichtigt und soziale Probleme in das kommende Europäische Semester integriert werden. Des Weiteren sollte im Laufe des Semesters ausdrücklich klargestellt werden, dass stärkere soziale Investitionen mit einer „differenzierten und wachstumsfreundlichen“ Haushaltskonsolidierung in Einklang stehen.

4.9

Die Aussagen zur Finanzierung der Sozialinvestitionsoffensive und zur Änderung der Steuerstrukturen sind in der Mitteilung aber leider eher enttäuschend und fallen hinter das Beschäftigungspaket zurück, wo die Kommission neben der Entlastung des Faktors Arbeit auch die stärkere Besteuerung von Vermögen empfohlen hatte. Doch nur, wenn die Finanzierung sichergestellt wird, kann der durch das Sozialinvestitionspaket angekündigte Kurswechsel auch erfolgreich in die Tat umgesetzt werden.

4.10

Dennoch bleibt die Frage der Finanzierung des Sozialinvestitionspakets in weiten Teilen unbeantwortet. Die bessere Nutzung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF), insbesondere des ESF, können zwar wichtige Finanzierungsinstrumente sein, doch werden sie keinesfalls ausreichen, um den angestrebten politischen Kurswechsel durchzuführen. Vielmehr wiederholt der EWSA seine Forderung, dass neben der Steigerung der Effizienz und Treffsicherheit öffentlicher Ausgaben auch die Erschließung neuer Einnahmequellen für die öffentlichen Haushalte unumgänglich ist. Hierbei werden auch die möglichen Beiträge der unterschiedlichen Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein (9). Zur Verfügung stehende Ressourcen sollten gleichzeitig besser verwendet werden.

4.11

Der EWSA weist darauf hin, dass die Logik der Sozialinvestitionen auch dadurch erreicht wird, dass Politiken dort verändert und verbessert werden, wo sie sich als ineffizient erwiesen haben. Hier werden nicht primär zusätzliche Investitionen erforderlich. Der EWSA fordert die Kommission auf, über neue Sozialpolitiken zu informieren und aufzuklären, die besser für die Endverbraucher sind und deren Kostenrahmen vergleichbar oder geringer ausfällt.

4.12

Der EWSA hat sich schon seit Längerem dafür ausgesprochen, dass nicht nur auf die Ausgabenseite geachtet werden sollte, sondern auch die öffentlichen Einnahmen verbessert werden müssen, z.B. durch eine Veränderung und Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlagen, durch die Erhebung einer Finanztransaktionssteuer, mittels Schließung von Steueroasen, durch die Beendigung des Steuersenkungswettlaufs sowie durch Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung (10). Gerade im Lichte des Sozialinvestitionspakets und der damit verbundenen Herausforderungen unterstreicht der EWSA diese Forderungen sowie die Notwendigkeit eines europäischen Konjunktur- und Investitionsprogramms in Höhe von 2 % des BIP nochmals ausdrücklich (11). Das vorliegende Paket bringt zwar richtige Weichenstellungen, aber es fehlen die Vorschläge für eine Art sozialen Investitionspakt, um es nicht bei Absichtserklärungen zu belassen, sondern die politische Neuausrichtung auch praktisch umzusetzen.

4.13

Neben der Forderung nach einer stärkeren Einbindung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft durch die Mitgliedstaaten, die der EWSA ausdrücklich unterstützt, sollte die Kommission rasch konkrete Vorschläge für die verstärkte und kontinuierliche Einbindung in den Koordinierungsprozess des Europäischen Semesters vorlegen. Dies betrifft auch und vor allem die stärkere Ausrichtung auf Sozialinvestitionen und aktive Inklusion. Diese Einbindung sollte grundlegend sein und einen effektiven Einfluss auf die Politikgestaltung ermöglichen.

Brüssel, den 22. Mai 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Beschäftigungspaket, Jugendbeschäftigungspaket, EU-Initiative „Chancen für junge Menschen“, Neue Denkansätze für die Bildung.

(2)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 65.

(3)  „Housing First“, auch „rapid re-housing“ genannt, ist ein ursprünglich aus der US-amerikanischen Sozialpolitik hervorgegangener Ansatz für den Umgang mit Obdachlosigkeit, der als Alternative zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung seit einigen Jahren auch in Österreich, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Portugal und dem Vereinigten Königreich erfolgreich umgesetzt wird.

(4)  COM(2013) 83 final, S. 5.

(5)  COM(2013) 83 final, S. 6, 7.

(6)  COM(2013) 83 final, S. 8.

(7)  COM(2012) 55 final, Weißbuch der Kommission „Eine Agenda für angemessene, sichere und nachhaltige Pensionen und Renten“, S. 6.

(8)  Vgl. EPC Issue Paper No. 72, November 2012: „1 000 billion Euros at stake: How boosting employment can address demographic change and public deficits“.

(9)  Vgl. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94, Ziffer 4.3, sowie ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70, Ziffer 3.4.2.

(10)  Vgl. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 23, Ziffer 6.1.3.1.

(11)  Vgl. ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 77-80, Ziffer 3.2.4.


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