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Document 52012IE1929

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema: „Zehn Jahre Euro — und jetzt? Die wirtschaftliche und politische Zukunft der EU und der neue Vertrag“ (Initiativstellungnahme)

OJ C 271, 19.9.2013, p. 8–17 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

19.9.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 271/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema: „Zehn Jahre Euro — und jetzt? Die wirtschaftliche und politische Zukunft der EU und der neue Vertrag“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 271/02

Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Zehn Jahre Euro – und jetzt? Die wirtschaftliche und politische Zukunft der EU und der neue Vertrag.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 490. Plenartagung am 22./23. Mai 2013 (Sitzung vom 22. Mai) mit 134 gegen 27 Stimmen bei 22 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge für die Zukunft des Euro

1.1

Der EWSA hält die Einführung des Euro und die Schaffung der WWU für den wichtigsten Meilenstein in der Entwicklung Europas. Dies war Teil eines strategischen Plans für die Union im Rahmen der Vision, die der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und dem Vertrag von Rom zugrunde lag. Mit diesem großen und mutigen Engagement – einer Wette auf die Zukunft – wurden große Hoffnungen geweckt. Es gipfelte in der allgemeinen Überzeugung, dass sich im Sog der Einheitswährung sämtliche noch bestehenden Widerstände überwinden ließen, Widerstände, die der notwendigen Vollendung der Währungsunion und der politischen Union im Wege standen. Der Euro bleibt aber nach wie vor die Voraussetzung für all dies.

1.2

Nach zwanzig langen Jahren ist indes einzugestehen, dass dies nicht eintraf. Vielleicht, weil der Euro in dieser ganzen Zeit keinen größeren internen oder externen Erschütterungen ausgesetzt war, oder vielleicht wegen des nach wie vor mangelnden Vertrauens zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern in Europa, was letztlich mangelnder Zusammenhalt und fehlendes Vertrauen in unsere Regierungen bedeutet. Alle hatten sich auf ruhige Zeiten und Wohlstandswahrung eingestellt, alles schien glatt zu laufen – doch die Ruhe war trügerisch. Denn als die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise über Europa hereinbrach, gingen die Alarmsirenen an, die in der Struktur der WWU angelegten Schwachstellen und Widersprüche brachen auf und der Euro verlor seine Anziehungskraft. Ursprünglich wurde geglaubt, ein paar „Buchführungsvorschriften“ wie der Stabilitätspakt würden ausreichen, damit die WWU funktioniert. Dabei war das Problem nicht technischer, sondern wirtschaftlicher und politischer Natur.

1.3

Der EWSA weiß, dass Stabilität wichtig ist. Allerdings betrifft Stabilität nicht nur Preise oder Einrichtungen der Wirtschaft und der Finanz, sondern auch die Politik und die sozialen Bedingungen. Die Bürgerinnen und Bürger haben zu Recht den Eindruck, dass sie und nicht die Banken, die in der Krise eine entscheidende Rolle gespielt haben, den höchsten Preis für die Krise bezahlen und die Schulden zurückzahlen müssen, und dass dies ungerecht ist. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Sparpolitik nicht mehr lange politisch tragbar ist. In einigen Ländern wurden die Grenzen vielmehr bereits überschritten.

1.4

Der EWSA ist deshalb der Ansicht, dass die gemeinsame Währung nur dann dauerhaft bestehen kann, wenn zwischen den Staaten des Euroraums Konvergenz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hergestellt und die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt gesteigert werden. Diese Ziele erfordern sowohl wirtschaftliche als auch politische Anstrengungen. Kleine provisorische Ausbesserungen reichen da nicht aus. Vielmehr ist ein Qualitätssprung notwendig, bei dem nicht nur die Währung und die Wirtschaft, sondern auch die Politik, der Souveränitätsaspekt, die Menschen sowie die Fähigkeit zum Dialog zwischen den europäischen Völkern eine Rolle spielen. Wir brauchen eine stärkere politische Integration, weniger Dirigismus und eine soziale Marktwirtschaft, um Wachstum und Beschäftigung neue Impulse zu geben. Der Euro muss wieder als Vorteil wahrgenommen werden, nicht als Handicap.

1.5

Aus der Stellungnahme geht klar hervor, dass die Vorschläge des EWSA proaktiv, die Antworten der Kommission und des Rates auf die Krise hingegen überwiegend reaktiv sind. Es sei z.B. daran erinnert, dass in dem Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung das Augenmerk auf Stabilität gelegt wird. Indes werden keine gemeinsamen Finanzierungsinstrumente für wirtschaftliche Erholung und Beschäftigung vorgeschlagen, auch wenn das Übereinkommen über einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) einen wichtigen Fortschritt darstellt – allerdings in Abwesenheit eines glaubwürdigen und konkreten Fahrplans für die politische Union. Europa muss hingegen Wohlstand erst wieder produzieren, um ihn gerecht verteilen zu können. Das ist der Königsweg zur Besänftigung der Gemüter. Sparzwang allein reicht nicht aus.

1.6

Der EWSA fordert indes, wie schon mehrfach zuvor, eine schonungslose Bestandsaufnahme vorzunehmen in puncto: Euro und Europa (um sie zu retten); ihre politischen und wirtschaftlichen Grenzen; die Vorteile und Verluste; und die Verantwortlichkeiten für die gegenwärtige Lage. Rasches Handeln ist vonnöten, für große Worte, Täuschungsmanöver und Märchen ist keine Zeit mehr. Nur so kann die Auflösung Europas, das sich schon seit einiger Zeit auf Talfahrt befindet, vermieden werden. Deshalb wäre es auch besser, diejenigen, die gegen die auferlegten Opfer protestieren, nicht des Populismus zu bezichtigen. Europa muss lernen, ohne Anmaßung zuzuhören, es kann sich nicht länger taub stellen.

Vorschläge zur Vollendung der WWU: die fehlenden Aspekte

Wirtschaftliche Aspekte

1.7

Der EWSA ist der Ansicht, dass der beste Weg zu der Vollendung der WWU, der Vermeidung der Rezession, dem Abbau nationaler Schulden und der Stabilisierung der Haushalte darin besteht, das gegenwärtige Prinzip der Wirtschaftskultur der EU (Wachstum durch Stabilität) umzukehren. D.h., Wachstum muss Hauptziel werden, und ein neuer Pakt für (die Vergemeinschaftung von) Wachstum, Beschäftigung und Stabilität ist zu fördern, auch mittels Beteiligung der Sozialpartner (Stabilität durch Wachstum). Der EWSA vertritt folgende Standpunkte:

i)

Der Aufschwung darf nicht ausschließlich mit Maßnahmen der Geldpolitik (wie z.B. die Versorgung des Bankensystems mit ausreichender Liquidität, niedrige Zinsen) und der Fiskalpolitik (deren Spielraum aufgrund der erforderlichen Haushaltskonsolidierung in vielen Ländern derzeit eingeschränkt ist) verfolgt werden. Er muss vielmehr auch durch eine Steigerung der Investitionen in alternative Energieträger und in die Umwelt sowie der sozialen Investitionen gefördert werden, was die Nachfrage des Privatsektors nach Investitionsgütern und Dienstleistungen belebt, wobei auch die Bedürfnisse der privaten Haushalte berücksichtigt werden müssen.

ii)

Dadurch können die sehr hohen Arbeitslosenquoten gesenkt und das für den Abbau öffentlicher Schulden und nationaler Haushaltsdefizite notwendige Steueraufkommen erzielt werden.

iii)

Diese Investitionen dürfen nicht nur entsprechend dem Ansatz tax and spend (mehr Steuern – mehr Ausgaben der öffentlichen Hand) finanziert werden, sondern durch Anleihen, die globale Sparüberschüsse ohne Anlagemöglichkeiten anziehen würden, was dem Wachstum in der EU und weltweit förderlich wäre. Wachstum würde so durch die Erträge aus den finanzierten Projekten anstatt durch Fiskaltransfers zwischen den Mitgliedstaaten finanziert werden.

iv)

Die Finanzierungskapazitäten der Unternehmen müssen vorrangig gestärkt werden. Das gilt vor allem für die KMU, von denen viele derzeit von der Schließung bedroht sind, weil sie nicht über ausreichende Bankkredite verfügen, die den Kauf von Komponenten und Werkstoffen gewährleisten – zum Teil auch deshalb, weil die Zentralbanken von den Banken, die Kredite an KMU vergeben, zu hohe Sicherheiten verlangen.

v)

Öffentliche Investitionen, die das Wachstum anregen, sollten unmittelbar gefördert werden, indem sie gemäß „goldenen Regeln“ aus den Haushalten ausgeklammert werden, d.h. mittels eines Systems gemeinsamer Vorschriften, die auch – in Erwartung der Euroanleihen (1) – das Niveau der Verschuldung der Privathaushalte in den Ländern berücksichtigen.

1.8

Die politischen Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt werden, um die Tragfähigkeit des Euro abzusichern und die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern abzubauen. Dies soll durch einen Solidarplan, der die Investitionsressourcen in die Länder mit schwächeren Volkswirtschaften lenkt, durch gezielte Projekte, ggf. fiskalische Umschichtungen und durch die Integration des Arbeitsmarkts und der Sozialpolitik bewerkstelligt werden. Es geht also um symmetrische Anpassungen: gemeinsame Fonds zur Stützung ausfallender Banken, europäische Einlagensicherung, Unionsanleihen, Eurobonds, gemeinsame Maßnahmen zur Senkung des Zahlungsbilanzdefizits der EU usw. (Schaffung eines gemeinsamen Ausgleichs- oder Anpassungsfonds).

1.9

Schaffung einer Wirtschaftsregierung der EU und Überwindung der derzeitigen Koordinierungsmaßnahmen, die keine positiven Ergebnisse erzielt haben, durch Umgestaltung der Eurogruppe in ein Gremium, das zusammen nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet und als Sprecher des Euro auftritt. Eine Währungs- und Bankenunion bei getrennten Wirtschaftspolitiken ist nicht mehr tragbar. Eine Governance (wie sie mit dem Fiskalpakt ins Leben gerufen wurde) auf Makro- und Mikroebene (durch Lancieren eines Industriepakts) kann indes die Wirtschafts- und Fiskalpolitik auf die Förderung des Wachstums, der Beschäftigung und der sozialen Integration ausrichten.

1.10

Es sollte ein gemeinsamer Haushalt des Euroraums, natürlich mit gemeinsamen Vorschriften, angestrebt werden, indem die Handelspolitik und die Zahlungsbilanzen zusammengeführt werden, die heute große Unterschiede aufweisen. Dabei soll die Haushaltskonsolidierung unter Einwirkung auf die Struktur von Multiplikatoren vorangetrieben werden, um Ressourcen für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung freizusetzen, und indem Reformen zur Steigerung der Produktivität (der schwächeren Länder) durchgeführt werden (2).

1.10.1

Jedenfalls müssen die gegenwärtigen Sparmaßnahmen in den am höchsten verschuldeten Ländern verringert und/oder abgemildert und die Nachfrage in den Gläubigerländern belebt werden. Um die Beschäftigung und die soziale Gerechtigkeit zu fördern, ist ein gleichzeitiges Handeln seitens der Mitgliedstaaten bezüglich Schulden und Strukturreformen, und seitens der EU bezüglich Wachstum mittels eines konkreten Solidarplans erforderlich. In der Rezession darf keine Sparpolitik betrieben werden, wie die EU es macht: gehen Einschnitte bei den Schulden mit einer Kreditklemme einher, ist dies für die Wirtschaft schädlich.

Geld- und finanzpolitische Aspekte

1.11

Deshalb ist ein System erforderlich, das die Fehler und Schwächen der einzelnen Staaten abfedern, den Reformprozess begleiten und das wirtschaftliche Gefälle und die Ungleichgewichte zwischen den Ländern des Euroraums – auch durch die Geldpolitik – abbauen kann.

1.12

Auch die EZB leidet unter den Beschränkungen der WWU. Die EZB war aufgrund des Vertrags gehalten, eine einheitliche, fast föderale Geldpolitik zu verfolgen, obwohl die Wirtschaftssysteme nach wie vor unterschiedlich sind und große Ungleichgewichte zwischen ihnen bestehen. Was wie gesagt Korrekturmaßnahmen seitens der EU erfordert hätte bzw. erfordern würde. Dadurch ließe sich die übermäßige Beanspruchung der EZB vermeiden, die ihre auf Preisstabilität ausgerichteten Aktivitäten wirksamer und ausgewogener durchführen könnte. Ebenso ließen sich die bestehenden Verzerrungen und Ungleichgewichte abbauen, die andernfalls die Existenz der gemeinsamen Währung bedrohen können, wie sich in der jüngsten Phase der Staatsschuldenkrise gezeigt hat. Nur durch ein beherztes Eingreifen des EZB-Präsidenten konnte Schlimmeres verhindert werden. Dies ist notwendig, um die wirtschaftliche Integration zu fördern, die der monetären Integration hinterherhinkt, zumindest bis zur Überwindung des gegenwärtigen Mandatsdefizits der EZB und Politikdefizits der EU.

1.12.1

Die Rolle der EZB ist gegenwärtig überfrachtet. Um ihrer Rolle besser gerecht werden und sich mit gleichen Mitteln zur Wehr setzen zu können, müsste sie dieselben Funktionen und das gleiche Mandat wie die US-Notenbank haben – einschließlich das des Kreditgebers der letzten Instanz, um die Zinsdifferenz zu verringern. Sie muss folglich ein umfassendes Mandat erhalten, das der EZB ggf. erlaubt, auch wachstumsfördernde Maßnahmen zu ergreifen.

1.12.2

Unter den Zentralbanken wird derzeit heftig darüber diskutiert, mit welchen Strategien das Wachstum angekurbelt werden soll. Dabei handelt es sich um die altbekannte Frage des Verhältnisses Sparen/Wachstum, d.h. Inflation/Wachstum und Wachstum/Beschäftigung. Die US-Notenbank pumpt jeden Monat 85 Mrd. USD in den Markt, um ihrem Auftrag nachzukommen, die Arbeitslosenrate auf 6 % zu drücken (die Bank of England steht angeblich im Begriff, eine ähnliche Politik zu betreiben). Angesichts dessen befindet sich die EZB in einer schwachen Position, da sie im Gegensatz zu den anderen Zentralbanken nicht durch eine Regierung oder einen Haushalt gestützt wird. Dies betrifft auch das Verhältnis zwischen den Währungen. Die EZB sollte auch Verantwortung über die Wechselkurspolitik ausüben. Bislang hat laut Vertrag nur der Rat das Recht, offizielle Vereinbarungen über den Wechselkurs zwischen Euro und Drittlandswährungen abzuschließen.

1.12.3

Die Schulden: ein weiteres großes Problem der WWU. Der EWSA hat hierzu bereits den konkreten Vorschlag vorgelegt, 60 % der Staatsschulden vom Markt zu nehmen, um dadurch negative Auswirkungen der Spekulationen der Märkte auf den Euroraum zu unterbinden (3). Es liegt auf der Hand, dass bei einer Vollendung der WWU und einem gemeinsamen Haushalt des Euroraums auch die Emission gemeinsamer Anleihen vorgesehen werden kann (natürlich im Rahmen eines gemeinsamen Haushalts des Euroraums).

1.13

In Bezug auf die Gesamtheit des Finanz- und Bankensystems hält es der EWSA für erforderlich, möglichst rasch und zügig alle Aspekte der von der EU initiierten Maßnahmen zu vervollständigen (4), d.h. einiger der wichtigsten und wirksamsten Instrumente, um die WWU und den Binnenmarkt zu vollenden und Stabilität zu schaffen.

Politisch-institutionelle Aspekte

1.14

Der EWSA hält es für das Überleben des Europa-Gedankens für erforderlich, bei der Diskussion über die Zukunft der EU und ihrem institutionellen Aufbau ideologische Muster zu überwinden (wenngleich dem EWSA das „föderale Modell“ am geeignetsten zu sein scheint) und funktionale und inhaltliche Fragen zu behandeln. Die Menschen und die Solidarität müssen in Europa wieder in den Mittelpunkt gerückt werden – die Wirtschaft muss sich um sie drehen, nicht umgekehrt. Es ist an der Zeit, die Schaffung einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Union in Angriff zu nehmen. Der diesbezügliche Versuch des Rates ist zwar lobenswert, aber nach Auffassung des Ausschusses zu zaghaft, schwach und wirklich unzureichend. Dem Egoismus, der Illusion der Verteidigung von Partikularinteressen, der Europa aufgesessen ist, muss zugunsten der Solidarität eine Absage erteilt werden. Die Sparpolitik ist zu beenden oder abzuschwächen, um die Notlagen zu lindern und Beschäftigung und Wachstum wieder ins Zentrum seiner Initiativen zu rücken.

1.15

Folglich bedarf es der Konvergenz hin zu einer politischen und sozialen Union zur Vollendung der WWU gemäß den o.g. Vorschlägen. Der Entscheidungsprozess muss demokratischer (Mehrheitsentscheidung) und transparenter werden – im Sinne einer positiven und ausgewogenen Integration und geteilter Souveränität. Dadurch soll das Gefälle beim Integrationsprozess verringert werden. Dann könnte die EU auch in den internationalen Gremien mit einer Stimme sprechen.

1.16

Neuer Vertrag: Der EWSA ist der Auffassung, dass die meisten in der vorliegenden Stellungnahme aufgeführten Vorschläge wirtschaftlicher Natur sind und ohne eine Änderung des Vertrags realisiert werden können. Falls erforderlich wäre ein Handeln im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Ländern, die die Vorschläge mittragen (wie beim Fiskalpakt), möglich. Dies auch, um rascher zu handeln und dem Risiko einer eventuellen Auflösung der EU angesichts neuer externer Angriffe und dem Beibehalten der Sparpolitik vorzubeugen. Eine weitere Möglichkeit für eine vertiefte Integration bestünde darin, das Europäische Parlament nach den nächsten Wahlen mit der Erarbeitung eines Verfassungsvorschlags zu beauftragen, der dann einem gleichzeitig in allen betroffenen Ländern organisierten Referendum unterzogen werden könnte.

Internationaler Aspekt

1.17

Was in Europa geschieht, wirkt sich auch auf internationaler Ebene aus, und umgekehrt. Deshalb bedarf es wirksamerer, mit größerer Entscheidungsfähigkeit ausgestatteter internationaler Instanzen, um eine umfassendere globale Ordnungspolitik zu gewährleisten. Die EU sollte in diesem Zusammenhang zumindest für den Euroraum über eine einheitliche Vertretung verfügen. Insbesondere sollten die G20-Staaten u.a. einen „Wirtschafts- und Sozialrat“ für die weltweite Entwicklung einrichten und Fiskalanreize setzen.

1.18

Nur eine andere – kohärentere und demokratischere – politische Struktur kann der EU neben einer besseren Governance im Inneren ein wirksameres auswärtiges Handeln und ein einheitliches Auftreten auf der internationalen Bühne ermöglichen. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis zwischen den Währungen, um Schaden von der EU-Wirtschaft fernzuhalten, sowie das Verhältnis zwischen den Wirtschaftssystemen auf globaler Ebene – vor allem mit Blick auf die Entwicklungsländer.

1.19

Kurzum, dies sind die vier Vorschläge zur Vollendung der Konstruktion des Euro:

i)

Wirtschaftsregierung der EU (für Wachstum, Beschäftigung, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt); gemeinsamer Haushalt für den Euroraum und Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern des Euroraums.

ii)

Währungs- und finanzpolitische Steuerung: Stärkung des Mandats der EZB; Vollendung des Binnenmarkts im Bereich Finanzwesen und Banken.

iii)

Politische und soziale Union.

iv)

Stärkung der internationalen Rolle der EU und der globalen Ordnungspolitik.

2.   Einleitung

2.1

Die EU durchlebt derzeit eine besonders schwierige und gefährliche Phase mit möglichen negativen Auswirkungen, die über die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Beeinträchtigungen weit hinausgehen könnten. In dieser Initiativstellungnahme werden eine Reihe von Fragen behandelt, wie z.B. die Notwendigkeit der Einhaltung der bereits eingegangenen Vertragsverpflichtungen im Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, die Förderung einer neuen Wirtschafts- und Währungspolitik für Wachstum und Beschäftigung, proaktivere Innovationsmaßnahmen, die Einrichtung eines europäischen Risikokapitalfonds für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und schließlich der Einsatz für die Zukunft der Europäischen Union (5).

2.2

Auch in der EU ist keine Konvergenz, sondern vielmehr eine Kollision großer wirtschaftlicher Interessen festzustellen. Der Euro trägt für die gegenwärtige Entwicklung keinerlei Verantwortung (6). Er wurde lange Zeit vernachlässigt und wartet immer noch darauf, dass die Kontrahenten (die Regierungen) sich zu einer Entscheidung durchringen.

2.3

Der EWSA hat die Pflicht, auf diese Herausforderungen einzugehen, mit großer Weitsicht die Dinge klar und deutlich zu benennen, ohne sie zu beschönigen und in dem Bewusstsein, was auf dem Spiel steht und auf welcher Ebene die Konfrontation ausgetragen wird. Mit seiner Initiativstellungnahme und der diesbezüglichen Anhörung möchte er einen aktiven und vorbehaltslosen Beitrag zur Vollendung der WWU und zur Überwindung der Krise leisten – im Interesse der Arbeitnehmer, Unternehmen und Bürger der EU und insbesondere des Euroraums, der am meisten unter der gegenwärtigen Krise leidet.

3.   Der Vertrag von Maastricht: Währungspolitik und Zusammenhalt

3.1   Währungsunion

3.1.1

Die Übernahme der gemeinsamen Währung wäre für jene Staaten optimal gewesen, die einem symmetrischen Schock ausgesetzt sind oder über einen Mechanismus verfügen, um asymmetrische Schocks zu absorbieren. Empirische Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit asymmetrischer Schocks in Europa höher ist als in den USA. Naturgemäß kann die EZB mit ihrer vorrangig auf Preisstabilität in der Währungsunion ausgerichteten Währungspolitik nicht auf asymmetrische Schocks in den einzelnen Mitgliedstaaten der Eurozone reagieren. Aus diesem Grunde ist ein anderer, effizient wirkender Mechanismus zur Absorbierung derartiger Schocks erforderlich. Je geringer die Mobilität der Produktionsfaktoren und die Offenheit der Volkswirtschaften sind, je weniger die Wirtschaftszyklen miteinander synchronisiert werden, je geringer die Diversifizierung der Produktion und die Finanzintegration, je niedriger das gegenseitige Handelsvolumen, je unflexibler der Arbeitsmarkt und je höher die Inflationsdifferenziale zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten sind, desto weniger wird die gemeinsame Geldpolitik der EZB für die Mitglieder der Eurozone geeignet sein. Je schlechter die Anpassungsmechanismen funktionieren, die die negativen Auswirkungen asymmetrischer Schocks auffangen (Preis- und Lohnflexibilität, Mobilität der Arbeitskräfte und des Kapitals über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg oder auch ein fiskalischer Föderalismus), desto schlechter werden die Staaten mit dem Verlust der eigenen Währungshoheit zurechtkommen.

3.1.2

Die WWU ist vielleicht die wichtigste, aber nicht die einzige Säule des Vertrags von Maastricht. Für die WWU gab es nicht nur wirtschaftliche, sondern nach dem Fall der Berliner Mauer vornehmlich politische Gründe. Viele Länder blieben in dieser veränderten Lage staunende und unbeteiligte Zuschauer, auch angesichts der fast unmittelbaren Auflösung der DDR und der Währungsparität zwischen der DM und der Mark der DDR (Wechselkurs 1 zu 1, der von der Bundesbank unterstützt wurde). Man zog es vor, die Entscheidung für die Vollendung der WWU aufzuschieben, und schuf so die allgemeine Erwartung – die sich als illusorisch erweisen sollte –, dass die Währungsunion die politische Union nach sich ziehen würde, dass sich der Euro als Motor eines föderalen Europas herausstellen würde. Aber so ist es nicht gekommen.

3.1.3

Die Union hätte hinsichtlich des Euros nicht nur für Deckung und eine gemeinsame Stimme sorgen, sondern auch alle Mängel des Euros beheben sollen. Stattdessen wurde davon ausgegangen, dass für die Funktionstüchtigkeit der Währungsunion nur wenige „Regeln“ ausreichen würden, wie z.B. der Stabilitätspakt mit willkürlichen Parametern. Dieses selbstreferenzielle System wurde für unfehlbar gehalten, aber es funktionierte nicht wie erwartet – und hätte es auch gar nicht können. Auch das Mandat der EZB ist einseitig, und im Vergleich zu den anderen Zentralbanken begrenzter. Diese Widersprüche sind im Zuge der Finanzkrise, die in der EU erst mit großer Verzögerung wahrgenommen wurde, und dann in der Staatsschuldenkrise evident geworden. Dem Euro wurden seine Aura und seine magischen Kräfte genommen, die ihm seit seiner Einführung zugeschrieben wurden. Dadurch wurde seine Anziehungskraft so sehr geschmälert, dass er heute gar als Bedrohung oder als hinterhältiger Vorwand zur Rechtfertigung von Sparmaßnahmen wahrgenommen wird.

3.2   Durch die Sparpolitik wird der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefährdet, eine weitere Säule der Einheitlichen Europäischen Akte und des Maastricht-Vertrags, die eine hohe Beschäftigungsquote und einen hohen Lebensstandard als ein Ziel der EU vorsieht. Und eben dieses Ziel wurde von der gegenwärtigen Krise von der europäischen Agenda gefegt. Wenngleich unlängst wieder Lippenbekenntnisse für den Zusammenhalt zu vernehmen waren, folgten doch keine Durchführungsinstrumente, weshalb keinerlei praktische Wirkung auf die Realwirtschaft und die Beschäftigung zu verzeichnen ist.

4.   Die ersten zehn Jahre des Bestehens des Euros

4.1   Vorteile

4.1.1

Bis 2008 funktionierte die WWU unter währungspolitischen Gesichtspunkten für die Staaten des Euroraums relativ gut: Sie vereinfachte den Handel, beseitigte Wechselkursrisiken und wettbewerbsbedingte Abwertungen, gewährleistete Preisstabilität (durchschnittliche jährliche Inflationsrate von 2,03 %, abgesehen von außergewöhnlichen Schwankungen in einigen Ländern bei der Umstellung vom alten auf das neue System), führte zur Verringerung und Angleichung der Schuldzinsen (bis 2009!), erzeugte Wachstum und Beschäftigung (14,5 Mio. neue Arbeitsplätze (7)) und sorgte für die Ausgeglichenheit sämtlicher Leistungsbilanzen, die öffentliche Schuldenquote lag unterhalb der Japans und der USA und der Wechselkurs zum Dollar blieb (mit etwas über 30 %) aufgrund der schwächeren Volkswirtschaften verhalten.

4.1.2

So stellt sich der Gesamtüberblick dar. Bei der Betrachtung der Situation der einzelnen Staaten ergibt sich aber ein anderes Bild. Die größten Vorteile hatten vor allem diejenigen Länder, auf deren Wirtschaft die bei der Euro-Einführung festgelegten Parameter basierten: Ihr Wachstum und ihre Produktivität wurden gestärkt, ihre Ausfuhren schnellten in die Höhe (um ca. 2 Billionen USD seit 2 000 allein für Deutschland), und sie erreichte relativ ausgeglichene Zahlungsbilanzen (8), während andere Länder nur teilweise profitierten bzw. reale Nachteile hinnehmen mussten. Dies ist hauptsächlich auf die Asymmetrie des Systems im Zusammenhang mit der einheitlichen Währung zurückzuführen, das Länder mit einem Defizit zu Korrekturen zwingt, während diese für Länder mit einem Überschuss nicht erforderlich sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Staaten auf die durch den Euro geschaffenen Bedingungen unterschiedlich reagierten.

4.2   Kosten

4.2.1

Die zu berücksichtigenden Kosten stehen im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeit der Länder, ihrem Souveränitätsverlust im Bereich der makroökonomischen Politik, dem Wechselkurs, den wettbewerbsbedingten Abwertungen usw.

4.2.2

Ohne eine angemessene oder vollständige WWU hat die Krise noch andere Kosten mit sich gebracht, z.B. die Übernahme von Schulden der Banken durch die öffentlichen Haushalte oder den Schuldenanstieg mit einer Zunahme der Schwierigkeiten für die bereits höher verschuldeten Länder. Dies hat zu einer Spaltung der EU geführt: auf der einen Seiten stehen die Gläubigerländer, auf der anderen die Schuldnerländer, die immer mehr Ländern der Dritten Welt ähneln. Die Gläubigerländer verursachen mehr Armut vor allem im Süden und mehr Reichtum im Norden. Man denke nur an die von Deutschland angesammelten Überschüsse – nicht bezogen auf die interne Bilanz im Euroraum (in diesem Falle wäre die Zahlungsbilanz der EU ausgeglichen!), sondern in Bezug auf den gegenüber Drittstaaten erzielten Überschuss. Dieser ist so hoch, dass er sich auf lange Sicht zu einem Finanzrisiko für Deutschland und eine Gefahr für seine Wirtschaft entwickeln könnte.

4.3   Kritische Punkte

4.3.1

Die Steuerung der Währung weist mehrere strukturelle Mängel und Schwachpunkte auf: die Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, den einige Länder (Deutschland, Frankreich und Italien) auszuhöhlen versuchten, als er ihnen Probleme bereitete; fehlende Überwachung der Produktivitätsindikatoren; fehlende Instrumente zur Krisenbewältigung; die Kosten des Verbleibs im Euro; die systemischen Risiken; die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern; das Festhalten der Nationalstaaten an der Steuer- und Haushaltshoheit.

4.3.2

Wechselkursrisiken und Abwertungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit wurden indes nicht beseitigt zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums und den Mitgliedstaaten, die nicht dazu gehörten, vor allem das Vereinigte Königreich. Eine erhebliche Abwertung des britischen Pfunds gegenüber dem Euro könnte in relativ kurzer Zeit die gleichen Wettbewerbsbedingungen unterminieren, die eigentlich auf dem Binnenmarkt gelten sollten.

4.3.3

Aus wirtschaftlicher Sicht besteht das größte Problem in den wirtschaftlichen Ungleichgewichten, die bereits vor dem Jahr 2 000 bestanden. Diese Situation hat die schwächeren Länder benachteiligt und ausgeprägte „asymmetrische Schocks“ ausgelöst, die auch durch die umfangreichen Kapitalflüsse nach Deutschland begünstigt wurden. Die EZB konnte mit den ihr gegenwärtig zur Verfügung stehenden Instrumenten nichts gegen diese asymmetrischen Schocks ausrichten. Ein weiteres Problem besteht auf internationaler Ebene, das erst durch die Krise allmählich zu Tage trat (9).

4.3.4

Der größte Fehler war jedoch zu glauben, dass eine einheitliche Währung ohne jedwede Begrenzung der Souveränität der Staaten machbar wäre. Dies bezieht sich nicht nur auf die Haushaltsautonomie, sondern vor allem auch auf das getrennte Schuldenmanagement und das in nationaler Zuständigkeit verbliebene Banken-, Finanz- und Aufsichtssystem.

4.3.5

Das schwerwiegendste politische Manko ist schließlich die Einführung des Euros ohne Schaffung eines gemeinsamen Hauses und ohne gemeinsame Stimme – sieht man einmal von den vereinzelten Versuchen der EZB ab, diesen Mangel zu beheben. Auf diese Weise entfernte sich die EZB von ihrer vertraglich verankerten Unabhängigkeit hin zum Lückenbüßer für die Politik, um Schaden von der einheitlichen Währung und der EU abzuwenden (10). Ebenso wie auch beim Wachstum die Rolle des stärksten Landes deutlich wurde.

4.3.6

Der EWSA ist jedenfalls der Ansicht, dass der Euro an Tragfähigkeit gewinnen wird, wenn die Wirtschaftsleistungen der Euro-Länder konvergieren, um ein einheitlicheres Wachstum zu bewirken, und wenn es eine politische Union gibt, die diese Differenzen akzeptabel macht. Denn das Problem ist nicht buchhalterischer, sondern politischer Natur, und betrifft auch die Demokratie und folglich eine gerechtere Stimmengewichtung in den verschiedenen Beschlussorganen. Wir können uns nicht länger die Illusion und den Irrtum leisten, uns ausschließlich auf wirtschaftliche und „buchhalterische“ Aspekte zu beschränken.

5.   Internationaler Kontext

5.1

Die gegenwärtigen Ereignisse in Europa wirken sich auch auf internationaler Ebene aus – und umgekehrt. Es gibt enge Verknüpfungen zwischen den Wirtschaftssystemen, den Schulden, den Finanzsystemen, dem Handel, dem Verhältnis zwischen den Währungen usw. Dies gilt insbesondere für die noch engeren Verbindungen zwischen den Wirtschaftssystemen diesseits und jenseits des Atlantiks. So war es zumindest bis 2009. Heute hingegen erholt sich die Wirtschaft der USA, während sich die europäische Wirtschaft in einer Rezession befindet. Dies ist nicht nur auf die unterschiedliche Funktion von amerikanischer Notenbank und EZB, sondern auch auf unterschiedliche volkswirtschaftliche Denkweisen zurückzuführen.

5.2

Für die gesamte Weltwirtschaft sind jedenfalls wirksamere internationale Einrichtungen mit größerer Entscheidungsfähigkeit erforderlich, um eine ausgeprägtere globale Ordnungspolitik (durch IWF, Weltbank, ILO und WTO) sicherzustellen. Die Gruppe der G-20-Staaten sollte besser strukturiert sein, um verpflichtende Entscheidungen treffen zu können. Z.B. sollten ein „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ für die weltweite Entwicklung eingerichtet, steuerliche Anreize gesetzt und die Beziehungen zwischen den Währungen gesteuert werden, um Handelsdiskriminierungen auch dank verstärkter Handlungsmöglichkeiten der EZB abzubauen.

5.3

Globale Sparüberschüsse. Wachstum ist auch für die übrige Weltwirtschaft von wesentlicher Bedeutung. Die Warnung der IWF, dass Europa neben den Schritten zum Schulden- und Defizitabbau auch wachstumsstimulierende Maßnahmen ergreifen muss, kommt zum richtigen Zeitpunkt und ist gerechtfertigt. Es gibt Sparüberschüsse auf globaler Ebene, für die sich keine Anlagemöglichkeiten finden. Tatsächlich wurden vergeblich Anlagemöglichkeiten für Private-Equity-Fonds in Höhe von fast 2 000 Mrd. USD gesucht (11). Der wichtigste staatliche Investitionsfonds Norwegens reduziert derzeit die Quote für europäische Investitionen von mehr als die Hälfte auf zwei Fünftel (12). 2011 verzeichnete der wichtigste staatliche Investitionsfonds Asiens, China Investment Corporation, Verluste bei Investitionen in Private-Equity-Fonds, halbierte seinen Bestand privater Anleihen auf ein Viertel und sucht jetzt nach langfristigen Anlagemöglichkeiten nicht im privaten, sondern im öffentlichen Sektor (13).

6.   Laufende Maßnahmen in der EU

6.1   EFSF/ESM: Angesichts der Verschärfung der Krise, die in spekulative Angriffe auf den Euro ausuferte, ohne dass irgendwelche Schritte gegen die Spekulanten unternommen worden wären, hat die Union versucht, auf verschiedenen Ebenen zu reagieren. Die Verstärkung des Rettungsschirms mit eventueller Bankenlizenz ist ein Beispiel für ein wirksames, wenngleich begrenztes Instrument, um von unverschuldeter Zahlungsunfähigkeit bedrohte Staaten zu schützen gegen die Spekulation auf Bankwertpapiere und Schulden, auch wenn damit die Krise nicht gelöst wird.

6.2   Einen weiteren Ansatz stellt die Bankenunion dar. Tatsächlich ist es unmöglich, einen einheitlichen Währungsraum mit 17 unterschiedlichen Finanz- und Schuldmärkten aufrecht zu erhalten, insbesondere nachdem die Segmentierung in nationale Märkte durch die Krise noch verschärft wurde. Die Bankenunion wird deshalb zu einem unerlässlichen und prioritären Instrument für die Teilung des Risikos, für den Einlegerschutz – auch mittels des „Abwicklungsmechanismus“ –, für neues Vertrauen in das System, dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt ist, und für die Wiederankurbelung des Finanzierungskreislaufs für die Unternehmen in allen Staaten auf der Grundlage der betroffenen Bevölkerung, nicht der Größe der Banken. Dabei wird der Liquiditätsabfluss in Länder mit geringerer Risikoeinstufung vermieden und die Zinsdifferenz verringert. Die Bankenunion hilft außerdem, das systemische Risiko zu verringern und würde die Verknüpfung zwischen Staatsschulden und Banken kappen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass bei der Einführung des Euro die Bankensysteme getrennt blieben – ein schwerer Mangel. Das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Bankensysteme einiger starken Länder großteils öffentlich-rechtlicher Natur sind.

6.3   Die europäische Bankenaufsicht vervollständigt die in Erarbeitung befindlichen Maßnahmen. Diese Zuständigkeit wird auf die Unionsebene verlagert und unmittelbar von einer einzigen Behörde wahrgenommen. Um zu zeigen, dass Europa einen wichtigen Mehrwert bietet, ist es unerlässlich, bei den Bankaktivitäten für mehr Transparenz zu sorgen und Interessenkonflikte sowie unlautere Praktiken wie z.B. die Manipulation des LIBOR-Zinssatzes zu unterbinden. Der EWSA begrüßt den Vorschlag, ein einheitliches Aufsichtssystem unter der Führung der Europäischen Zentralbank einzuführen, das für den gesamten Euroraum zuständig ist und dem auch alle anderen Mitgliedstaaten beitreten können (14).

6.4   Der EWSA begrüßt auch das neue Programm zum Ankauf von Staatsanleihen („Outright Monetary Transactions“ – unbegrenzter Anleihekauf), mit dem die EZB Staatstitel auf dem Sekundärmarkt aufkaufen kann, um die Spekulation zu stoppen und die Zinsdifferenz bei den Staatstiteln der Mitgliedstaaten und folglich beim Euro zu verringern. Dies stellt zusammen mit den anderen geldpolitischen Sondermaßnahmen (die es auch früher schon gab), die in Reaktion auf die Finanzkrise eingeleitet wurden, eine Richtungsänderung der EZB dar – im Geiste des Vertrags und in die richtige Richtung. Es handelt sich dabei aber auch hier um technische Instrumente, die letztlich die Krise nicht lösen, sondern den Regierungen und der EU etwas Zeit verschaffen, um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

6.5   Die EZB

6.5.1

Ziel der EZB ist die Aufrechterhaltung der Preisstabilität, wofür sie politisch unabhängig sein muss. D.h., sie darf weder von den Regierungen noch der EU „Weisungen einholen oder entgegennehmen“. Dies ist ein korrekter Status, wenngleich im Vertrag dem Rat die Aufgabe zugewiesen wird, Vereinbarungen über den Wechselkurs zwischen Euro und Drittlandswährungen abzuschließen (15). Ohne solche Vereinbarungen bzw. in der Zeit zwischen solchen Abkommen sollte die EZB die Wechselkurspolitik als Teil ihrer Aufgaben betrachten. Die EZB verfolgt auch sekundäre Ziele wie z.B. einen Beitrag zur Finanzstabilität zu leisten. Dennoch können ihre Interventionen während der Krise unter dem Hauptziel subsumiert werden, das großteils durch die Notwendigkeit diktiert wurde, wieder einen wirksamen Übertragungsmechanismus der Geldpolitik herzustellen und dadurch die Finanzstabilität in allen Staaten des Euroraums zu wahren.

6.5.2

Hinsichtlich der Preisentwicklung ist darauf hinzuweisen, dass sich im Zusammenhang mit den Maastricht-Kriterien die Frage stellt, ob es richtig ist, bei der Berechnung des Inflationskriteriums den Inflationsdurchschnitt der drei erfolgreichsten EU-Staaten und nicht den der Eurozone zugrunde zu legen.

6.5.3

Allgemein gesprochen ist das Mandat der EZB begrenzter als das anderer Zentralbanken. Zunächst hat die EZB kein Mandat für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung wie z.B. die FED, wenngleich ihre Geldpolitik ähnlich ist. Grundlegende Unterschiede bestehen indes zwischen den USA (zentralistisches Fiskalsystem) und der EU bei der Durchführung der Haushaltspolitik. Die Rolle der EZB als Kreditgeber letzter Instanz (lender of last resort) ist außerdem derzeit auf das Bankensystem beschränkt und schließt nicht die Regierungen ein (die EU-Regierung), wie dies in „nationalen Kontexten“ der Fall wäre – und wie dies eine Vollendung der WWU ermöglichen würde. Ferner wird eine einheitliche Geldpolitik der EZB dadurch erschwert, dass es zwischen den verschiedenen Staaten des Euroraums – aufgrund fehlender Korrekturmaßnahmen seitens der EU – wirtschaftliche Divergenzen und Ungleichgewichte gibt.

6.5.4

Es ist deshalb zu begrüßen, dass die EZB den Euro auf dem Grundsatz der Einheit des Euroraums für „unumkehrbar“ erklärt hat. Dadurch konnte sie wie gesagt nach einer harten Auseinandersetzung Maßnahmen zur Senkung der Zinsdifferenz (spread) zwischen den Staatsschulden der Mitgliedstaaten ergreifen, indem sie die Möglichkeit vorsah, Schuldtitel auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen. Dieses Vorgehen macht parallel zur Wiederankurbelung des Wachstums einen „europäischen“ Plan für den Schuldenabbau erforderlich, der die entsprechenden einzelstaatlichen Pläne begleitet (16).

6.5.5

Dadurch können zumindest die Wettbewerbsverzerrungen aufgrund der Kosten für die Finanzierung der Schulden und der Investitionen verringert werden. Bis heute werden die bestehenden Ungleichgewichte – auch bezüglich der Zahlungsbilanzen – durch einen enormen Spread verschärft.

6.5.6

Der EWSA ist außerdem der Auffassung, dass die Frage der von der EZB und der EU auferlegten Bedingungen ebenfalls überdacht werden muss. Es ist nicht hinnehmbar, dass Banken zu sehr niedrigen Zinsen ohne jedwede Bedingungen z.B. bezüglich der Verwendung der Mittel mit Liquidität versorgt werden. Zumindest ein Teil der Mittel sollte für Investitionen eingesetzt werden; wohingegen der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB (Outright Monetary Transactions – OMT) – auch wenn die Sachlage hier anders ist – Bedingungen unterliegen, die für die Länder sehr hart sind. Diese Bedingungen werden hauptsächlich damit begründet, dass der Marktlogik entsprochen werden müsse – der Logik eines veränderten und skrupellosen, anonymen Hochgeschwindigkeitsmarktes, der mit einem echten Markt wenig gemein hat (17). Dafür darf sich die EU nicht hergeben: extreme Sparzwänge und Härte für die Bürger und die Unternehmen in Krisenzeiten, Neutralität gegenüber Investoren/Spekulanten, die sich hinter den Investmentbanken und internationalen Investmentfonds verschanzen – abgesehen von der Entschlossenheit des EZB-Präsidenten, den Euro zum kritischsten Zeitpunkt der Angriffe zu verteidigen.

6.5.7

Das Handeln der EZB sollte vielmehr eine ausgewogene Unterstützung der Wirtschaft der verschiedenen Länder ermöglichen, um die existierenden Verzerrungen und Ungleichgewichte mit den derzeitigen Instrumenten zu verringern und so über das gegenwärtige Mandat hinauszugehen und das Politikdefizit der EU zu überwinden. Z.B. könnte der Interbankenmarkt in einigen Ländern des Euroraums mittels Negativzinsen für die Übernacht-Einlagen bei der EZB neubelebt werden.

6.5.8

Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass die Schuldenfrage zügig nach Maßgabe seiner Vorschläge gelöst werden muss, und dass das Handeln der EZB und des Rates für dieses Ziel von grundlegender Bedeutung ist (18).

6.5.9

Der EWSA hält eine größere Transparenz der EZB-Beschlüsse für angebracht. Beispielsweise könnten die Abstimmungsbeschlüsse aus den Sitzungen des EZB-Rates veröffentlicht werden, um den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Währungsunion eine höhere Verantwortung zu übertragen. Das würde dazu führen, dass sie ihre Entscheidungen nach gesamtwirtschaftlichen Kriterien in der Eurozone fällen und nicht nach der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Heimatländer.

6.5.10

Ein weiteres erwähnenswertes Problem betrifft das Abstimmungssystem des EZB-Rates (19), insbesondere das Ungleichgewicht zwischen Stimmrecht und Finanzbeitrag der Mitgliedstaaten. Dieses Problem hat sich bereits für das Zahlungssystem innerhalb des Europäischen Stabilitätsmechanimus (ESM) ergeben und könnte sich auch in Zukunft stellen, z.B. im Rahmen der Bankenunion.

7.   Die wirtschaftliche Zukunft der EU: Wirtschafts- und Sozialunion – Wachstum und Beschäftigung

7.1

Nach Auffassung des EWSA ist ein durch Investitionen in die Bereiche Umwelt und Soziales induzierter Aufschwung  (20) erforderlich. Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass Stabilität allein nicht den Aufschwung gewährleisten kann, denn dieser hängt vom Vertrauen sowohl der Unternehmer als auch der Verbraucher ab. Angesichts der begrenzten Erwartungen des Privatsektors und der brachliegenden Kapazitäten können sich die Unternehmen nicht darauf verlassen, dass Investitionen jetzt zu künftigen Gewinnen führen. Haben die Bürger ihrerseits nicht die Gewähr, ihren Arbeitsplatz behalten oder einen neuen finden zu können, ziehen sie Sparen oder Schuldenabbau neuen Ausgaben vor. Eine höhere Arbeitslosigkeitsrate führt zwangsläufig zum Anstieg der Zahl von Personen, die keine Ausgaben machen können.

7.2

Um bei Unternehmen und Bürgern mehr Vertrauen zu schaffen, muss der Aufschwung deshalb nach Art des „New Deal“ in den USA durch Investitionen induziert werden (21). Die Schlüsselkriterien dafür sind diejenigen, die die EIB seit dem Amsterdamer Sonderaktionsprogramm von 1997 angenommen hat mit der Aufgabe, den Zusammenhalt und die Konvergenz in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, Umwelt sowie Transeuropäische Netze zu fördern.

7.3

Dies ist ein anzustrebendes Ziel, bei dem Sparüberschüsse auf globaler Ebene – wie in Ziffer 5.3 skizziert – in Umlauf gebracht werden. Tatsächlich sind einige Investitionsfonds auf der Suche nach langfristigen Anlagemöglichkeiten für die in anderen Teilen der Welt erwirtschafteten Sparüberschüsse. Das bietet beiderseitige Vorteile, sowohl für die Investoren aus Drittstaaten als auch für die europäische Wirtschaft. In diesem Zusammenhang können die beiden Komponenten der Europäischen Investitionsbank-Gruppe, d.h. die EIB und der Europäische Investitionsfonds (EIF), eine Schlüsselrolle spielen.

7.4

Die Erhöhung des von der EIB gezeichneten Kapitals ist deshalb zu begrüßen. Auch die projektbezogenen Anleihen können für den Aufschwung eine wichtige Rolle spielen. Die Verwendung der Überschüsse auf globaler Ebene für Investitionen der EU sollte jedoch Eurobonds genannt werden (die Märkte werden dafür evtl. die Abkürzung „€-Bonds“ wählen). Der Widerstand einiger Regierungen gegen die Eurobonds ist bekannt, beruht gleichwohl auf einer irrigen Annahme, da die Eurobonds, die zur Ankurbelung des Wachstums notwendig sind, mit den Unionsanleihen verwechselt werden, die für die Schulden vorgesehen sind (22).

7.5

Seit seinen Anfängen ist der EIF der Auffassung, dass er europäische Anleihen zur Finanzierung langfristiger sozialer Investitionen (23) auflegen könnte mittels einer Erhöhung des gezeichneten Eigenkapitals gegenüber dem derzeit ziemlich niedrigen Volumen von 3 Mrd. EUR, ohne dass dafür eine Änderung der Verträge erforderlich wäre (24). Keiner der wichtigsten Mitgliedstaaten wie auch die anderen des Euroraums berücksichtigt derzeit die Finanzierungen der EIB bei der Berechnung der eigenen Staatsschulden, und dasselbe sollte auch für die Finanzierungen des EIF gelten. Die vom EIF begebenen Anleihen könnten – analog zur Praxis der EIB – durch die Renditen der Projektfinanzierungen garantiert werden.

7.6

Produktinnovation und Erschließung von Märkten: Der EWSA ist außerdem der Auffassung, dass die Union eine entschlossenere Innovationspolitik verfolgen sollte. In den 1970er Jahren kamen industriepolitische Maßnahmen aus der Mode aufgrund der Tatsache, dass die Regierungen keine „bestimmten Akteure“ oder „nationalen Marktführer“ bevorzugen konnten. Jedoch gibt es nach Ansicht des Ausschusses triftige Gründe, diesen Ansatz zu überdenken (25).

7.7

Vor allem ist erstens nicht gesagt, dass nichtinterventionistische Maßnahmen auch vorbildlich sind. In der Vergangenheit haben sie den Ausschlag für falsche Investitionen im Finanzbereich gegeben. Zweitens müssen noch viel entschlossenere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen werden. Und drittens wird eine viel zu große Zahl von Technologieprojekten, die im Kontext der Rahmenprogramme vorgelegt werden, nicht wegen inhaltlicher Mängel, sondern aufgrund mangelnder Eigenmittel abgelehnt. Dieses Problem könnte mithilfe eines europäischen Risikokapitalfonds gelöst werden, der durch die Emission von Anleihen finanziert werden könnte. Viertens waren die Schwellenländer in der Lage, eine Reihe von nationalen Marktführern zu fördern – mit durchaus respektablen Ergebnissen (26).

7.8

Die Investitionsfinanzierung mittels Transfer der Überschüsse in Eurobonds sollte für alle Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen und würde auf makroökonomischer, sozialer, beschäftigungsspezifischer und politischer Ebene zu kumulativen Vorteilen führen. Dies würde auch belegen, dass „mehr Europa“ notwendig ist: ein Ansatz, der gegenwärtig von den Wählern und einigen Regierungen mit wachsender Skepsis betrachtet wird.

7.9

Wachstum kann auch zu mehr Stabilität führen. Gemäß dem Grundsatz der EIB, dass anleihebasierte Finanzierungen nicht notwendigerweise zu den nationalen Schulden hinzugerechnet werden müssen, würde die Finanzierung durch Eurobonds zur Förderung des Aufschwungs eine schnellere Senkung der nationalen Schuldenstände und eine Erhöhung der nationalen Steuereinnahmen ermöglichen. Dadurch ließen sich die Haushaltsdefizite senken oder niedrig halten, wobei gleichzeitig die grundlegenden Ausgaben im Sozialbereich sichergestellt werden könnten. Diesbezüglich müssten von den Ländern und Eurostat Parameter und gemeinsame Kriterien für eine gerechtere und bessere Auswertung der Daten festgelegt werden.

7.10

Übrigens wurde nicht berücksichtigt, dass der Ansatz des Verdrängungseffekts (crowding out) Vollbeschäftigung voraussetzt. Angesichts der derzeit in den meisten Mitgliedstaaten hohen Arbeitslosenraten könnte die – separate oder gemeinsame – Finanzierung durch EIB/EIF-Projektanleihen zu einem Verstärkungseffekt (crowding in) bei Investitionen im Privatsektor, Einkommen und Arbeitsplätzen mit einem Multiplikator der eingesetzten Investitionen bis zum Faktor 3 führen. Positive fiskalische Multiplikatoren könnten zu erhöhten Einnahmen bei den direkten und indirekten Steuern führen (27).

7.11

Angesichts der Schwierigkeiten, in denen sich einige andere Länder, vor allem Griechenland und Zypern befinden, schlägt der EWSA vor, die von der Troika geforderte kurzfristige strukturelle Anpassung zu überdenken. Dabei sind die längerfristigen Perspektiven dieser Länder infolge der Entdeckung umfangreicher Erdöl- und Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeerraum zu berücksichtigen, die bislang noch kaum genutzt werden (28).

8.   Die politische Zukunft der EU

8.1

Der EWSA ist deshalb davon überzeugt, dass einfache und periodische „Erhaltungsmaßnahmen“ für die EU nicht ausreichen. Die EU kann das seit dem Maastrichter Vertrag bestehende politische Vakuum nicht fortbestehen lassen, ohne sich der Herausforderung des Euros zu stellen, die durch die Krise offensichtlich wurde und die seine großen internen Defizite ans Licht gebracht hat – allen voran das demokratische Defizit (29). Dies gibt dem europäischen Integrationsprozess wieder ein Ziel, um den Europa-Gedanken am Leben zu halten.

8.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass die gemeinsame Währung nur dann dauerhaft bestehen kann, wenn eine Konvergenz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Staaten des Euroraums erreicht wird. Dies macht ein wirtschaftliches wie auch ein politisches Engagement erforderlich. D.h., es ist eine politische Union erforderlich, die die Differenzen erträglich macht und erforderlichenfalls einen Teil des Reichtums von den starken in die schwachen Gebiete übertragen kann – mit einem transparenten und demokratischen Entscheidungsprozess und einer neuen Art der Solidarität zwischen den Staaten (30).

8.3

Diese Krise lässt die alten Differenzen zwischen den Europäern wieder aufbrechen. Es kommt wieder rückwärtsgewandtes Verhalten auf, schon längst verschwunden geglaubte Gespenster werden wieder ausgegraben und Gemeinplätze gepflegt, als ob die Sparpolitik und die Schulden nur eine Ursache hätten und nicht vielmehr auf die Fehler der Regierungen auf „beiden Seiten“ zurückzuführen seien. So wie die Länder, die sich in Schwierigkeiten befinden, ihre eigene Verantwortung nicht auf die EU (oder Deutschland) abschieben dürfen, so dürfen die reicheren Länder nicht die erhebliche Vorteile übersehen, die ihnen der Euro aufgrund der bestehenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte z.T. auf Kosten der anderen verschafft. Wir brauchen also ein neues Vermögen in den Bereichen Politik, Kultur und Dialog zwischen den europäischen Völkern, was unzweifelhaft von gegenseitigem Vorteil ist, wie bereits schon Friedrich Hölderlin (31), durch die griechische Kultur inspiriert, feststellte.

8.4

Es ist ein Qualitätssprung erforderlich, Integration ist nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern auch der Politik und der SOUVERÄNITÄT eines jeden Staates erforderlich. Viel wichtiger als die Diskussion über das zu realisierende europäische „Modell“ ist die Diskussion über die dafür notwendigen Instrumente: wirksame, demokratische und transparente Mittel der Entscheidung, zur Wahrnehmung des Gemeinwohls, für die Einigung, nicht die Teilung des europäischen Volkes.

8.5

Aus diesen Gründen hält der EWSA die Frage für falsch, ob der Vertrag geändert werden soll oder nicht. Dies hängt offensichtlich davon ab, was für die Vollendung der WWU erforderlich ist. Ohnehin können die meisten Vorschläge des EWSA ohne eine Änderung des Vertrags realisiert werden (in puncto Wachstum, Schulden usw.), wohingegen für andere die verstärkte Zusammenarbeit möglicherweise ausreicht. Wichtig ist jedenfalls der Zweck: das Wohl der Wirtschaft, des Euros und der Bürgerinnen und Bürger der Union. Der Vertrag ist dafür nur das Mittel. Das muss den Bürgern so korrekt wie möglich erläutert werden, wobei sie an den Entscheidungen direkt und/oder über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente zu beteiligen sind.

8.6

Der EWSA ist davon überzeugt, dass der Euroraum über die zur Planung seiner Zukunft erforderlichen Instrumente verfügt: mehr politische Integration, weniger Dirigismus, eine soziale Marktwirtschaft, um Wachstum und Beschäftigung neue Impulse zu geben und um eine politische, wirtschaftliche und soziale Union zu schaffen.

9.   Integration oder Auflösung?

9.1

Ohne diesen weiteren Schritt könnte die Krise, so wie bisher mit ihr umgegangen wird, zur Auflösung des Euroraums und folglich der EU führen. Es kann nicht nur eine Politik der Sparzwänge und der Kürzungen, wie beim Schuldenabbau, betrieben werden, auch wenn sie angezeigt sind. In einem von Solidarität geprägten Rahmen müssen auch andere Maßnahmen ergriffen werden (wie z.B. die Belebung der Nachfrage in den Gläubigerländern). Den Bürgerinnen und Bürgern der betreffenden Länder muss klar gemacht werden, dass die Haushaltsüberschüsse der einen die Schulden der anderen sind, und dass die Angriffe auf den Euro nicht von der Höhe der Schulden abhängen, auch wenn diese gesenkt werden müssen (32). Andrerseits müssen die Bürger südlicher Mitgliedstaaten ihre Regierungen dazu anhalten, die Schulden zu konsolidieren und mit Haushaltsmitteln sorgfältiger umzugehen, Verschwendung und Steuerflucht zu unterbinden, Steuern zu senken und Wachstum, Beschäftigung, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Systeme zu fördern. Und dies nicht nur durch vereinzelte Reformen, sondern im Rahmen größerer Solidarität und mit einer anderen Wirtschaftspolitik der EU und der EZB (33).

9.2

Andernfalls wird kein Land seine Schulden abbauen und seinen Haushalt in Ordnung bringen können. Deshalb müssen die Sparzwänge gelockert und die Weichen der Wirtschaftspolitik neu gestellt werden. Ansonsten könnten die Risiken zunehmen: Hier mag ein Blick in die Geschichte hilfreich sein (34). Es gilt, der Integration eine neue Perspektive zu geben – einer positiven Integration, keiner negativen, schädlichen und erzwungenen Integration.

9.3

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass niemand in Europa heute seine Schäfchen im Trockenen hat und außer Gefahr ist, auch wenn eine außergewöhnliche Situation entstanden ist. Das auch durch den Euro begünstigte Wirtschaftswachstum einiger Länder und die Schwäche der EU-Institutionen haben Deutschland, das stärkste Land, dazu gebracht, in Europa eine zentrale Rolle zu spielen, die sich häufig im Gegensatz zu den peripheren Ländern – vor allem des Südens, aber nicht nur – befindet. „Dies weckt den Argwohn der anderen“ (Helmut Schmidt), insbesondere aufgrund der Art und Weise, wie diese Rolle wahrgenommen wird. Deshalb sind Schritte notwendig, die diese Wahrnehmung widerlegen können (35).

9.4

Nach Auffassung des EWSA scheinen heute in Europa Egoismen und nationale Interessen vorherrschend zu sein, es besteht gleichsam eine Illusion der Verteidigung von Partikularinteressen. Heute geht es in erster Linie um die Wirtschaft. Die Werte, auf deren Grundlage Europa entstanden ist und auf denen es basiert, sind in den Hintergrund gerückt. Ans Licht kommt ein egoistisches Europa bar jeder Solidarität. Die Spannungen der letzten Zeit bergen die Gefahr einer gefährlichen „psychologischen Auflösung“ der EU, die Bürger und Regierungen gleichermaßen betreffen. Dagegen bedarf es eines Zuhörens ohne Anmaßung und des Vorlegens konkreter Vorschläge.

9.5

Europa steht am Kreuzweg: Der EWSA fragt sich, wie es möglich sein kann, dass das Zögern und Zweifeln Europas, der größten Wirtschaft der Welt, Griechenland - die Wiege all seiner Grundprinzipien, aber wirtschaftlich gesehen nur sehr unbedeutend (36) – zugrunde gehen zu lassen droht. Den Bürgern und Unternehmen werden Opfer auferlegt, ohne diese durch ein wachstumsorientiertes Hilfsprogramm – der einzigen Möglichkeit zur Rückzahlung der Schulden – zu begleiten, und ohne einen Plan zur Abmilderung des schweren sozialen Elends eines Teils der Bevölkerung Griechenlands und Europas zu haben. Mit Verlaub, was für ein Europa ist das eigentlich?

Brüssel, den 22. Mai 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(2)  ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 44.

(3)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(4)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 68, und ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 34.

(5)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(6)  „Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche ‚Krise des Euro‘ ist leichtfertiges Geschwätz“, Helmut Schmidt.

(7)  Wenngleich mit unterschiedlichen Raten (die durchschnittliche Wachstumsrate lag zwischen 2001 und 2006 bei 1,6 %, während sie in den drei Mitgliedstaaten der EU-15, die nicht dem Euro beigetreten waren, bei 2,3 % lag. Dies gilt auch für die Arbeitslosenrate, die in diesen Ländern um fast 3 % niedriger war.

(8)  „Denn alle unsere Überschüsse sind in Wirklichkeit die Defizite der anderen. Die Forderungen, die wir an andere haben, sind deren Schulden“, Helmut Schmidt.

(9)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 10, und ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(10)  „Der Euro könnte die politischen Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten der Währungsunion verschärfen und sogar die Voraussetzungen für das Aufbrechen neuer Konflikte, auch militärischer Natur, schaffen“, Martin Feldstein und Milton Friedman.

(11)  Bain & Company, Global Private Equity Report 2012.

(12)  Reuters (2012). Der staatliche Investitionsfonds Norwegens (610 Mrd. USD) wird sein Engagement in Europa zurückfahren (30. März 2012).

(13)  http://www.upi.com/Business_News/2012/07/25/Chinas-sovereign-wealth-fund-reports-loss/UPI-38111343274421/#ixzz2AcHV3HNp

(14)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 34.

(15)  Artikel 219 AEUV.

(16)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(17)  „Die Märkte arbeiten nicht für, sondern gegen die Menschen. Unsere Aufgabe ist es, den Märkten und der Finanzwelt den Geist der Solidarität der Sozialwirtschaft zu vermitteln“, Bundeskanzlerin Angela Merkel.

(18)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(19)  Beschluss des Europäischen Rates vom 21.3.2003.

(20)  Siehe Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam 1997, Ziffer 9, und die Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates von Luxemburg 1997, Ziffern 37-40.

(21)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(22)  Siehe ebenda.

(23)  Stuart Holland (1993). The European Imperative: Economic and Social Cohesion in the 1990s. (Der europäische Imperativ: wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in den 1990er Jahren). Vorwort von Jacques Delors. Nottingham (UK), Spokesman Press.

(24)  Gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Satzung des Europäischen Investitionsfonds können zu „den Aktivitäten des Fonds (…) auch Mittelaufnahmeoperationen gehören“. Der Fonds hat prinzipiell bestätigt, dass er mit einem einfachen Beschluss der Generalversammlung und nach der Zustimmung zu einer Erhöhung des gezeichneten Kapitals Anleihen begeben könnte, wie dies unlängst bei der EIB der Fall war. Gleichwohl muss eine solche Entscheidung eine deutlichere Zustimmung bekommen, wenn die EU die Bedeutung der Emission von Anleihen sowohl zur Finanzierung eines von Investitionen im sozialen Bereich induzierten Aufschwungs als auch für die Inverkehrbringung der auf globaler Ebene erwirtschafteten Überschüsse anerkennen möchte. Im Grunde könnte dies durch den Europäischen Rat als „allgemeine Wirtschaftspolitik“ der Union zur Finanzierung des Aufschwungs erfolgen, anstatt ausschließlich durch den Rat „Wirtschaft und Finanzen“. Sollte es sich als notwendig erweisen, könnte diese Würdigung zu einer verstärkten Zusammenarbeit führen – wie unlängst beim Vorschlag bezüglich der Finanztransaktionssteuer –, die auch makroökonomische Bedeutung erlangen könnte.

(25)  Philippe Aghion, Julian Boulanger und Elie Cohen, Rethinking Industrial Policy (Überdenken der Industriepolitik), Bruegel Policy Brief, April 2011.

(26)  The Economist (2012), The Rise of State Capitalism: The Emerging World’s New Model. (Der Aufstieg des Staatskapitalismus: das neue Modell der Schwellenländer). Sonderbericht, 21.-27. Januar 2012.

(27)  Blanchard, Blot, Creel u.a., Analysen für Observatoire Français des Conjonctures Économiques.

(28)  In diesem Zusammenhang hält es der EWSA für unannehmbar, dass die Troika von Griechenland den Verkauf der Mehrheitsanteile des griechischen Staats an der nationalen Mineralölgesellschaft an ausländische Gesellschaften fordert, womit ein Gewinn von nur 50 Mrd. EUR erzielt werden kann. Nach Auffassung des Ausschusses halten die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands dies zu Recht für eine Maßnahme, die nur für die Märkte, nicht aber für die Bürger von Vorteil ist. Deshalb schlägt der EWSA vor, dass der Europäische Rat die Kommission auffordert, die geforderte kurzfristige strukturelle Anpassung zu überdenken und die langfristig zu erwartenden außergewöhnlichen Einnahmen zu berücksichtigen.

(29)  „Zum ersten Mal in der Geschichte der EU erleben wir einen Abbau der Demokratie“, Jürgen Habermas.

(30)  „Kein Land darf Maßnahmen durchführen, die einem anderen Land des Euroraums schaden“, Mario Draghi.

(31)  „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“, Friedensfeier, Friedrich Hölderlin (1770-1843).

(32)  Dies wird durch das Beispiel Spaniens belegt, das (mit 68,5 % des BIP) einen geringeren Schuldenstand als Deutschland (mit 81,2 % des BIP) hat. Angaben von Eurostat für 2011.

(33)  Im Spaak-Bericht von 1956 wurde anerkannt, dass die Integration von Wirtschaftssystemen mit unterschiedlichen Effizienzniveaus strukturelle, soziale und regionale Ungleichheiten verschärfen könnte und deshalb mittels gemeinsamer struktur-, sozial- und regionalpolitischer Maßnahmen ausgeglichen werden muss.

(34)  Das Jahr 1933 als Folge der deflationistischen Politik von Reichskanzler Heinrich Brüning in der Weltwirtschaftskrise.

(35)  „Wir brauchen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland“, Helmut Kohl.

(36)  2 % des BIP der EU.


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