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Document 51999IE0954

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema «Die Auswirkungen der Errichtung der WWU auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt»

OJ C 368, 20.12.1999, p. 87–92 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

51999IE0954

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema «Die Auswirkungen der Errichtung der WWU auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt»

Amtsblatt Nr. C 368 vom 20/12/1999 S. 0087 - 0092


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Die Auswirkungen der Errichtung der WWU auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt"

(1999/C 368/22)

Der Wirtschafts- und Sozialausschuß beschloß am 25. Februar 1999, gemäß Artikel 23 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu dem vorgenannten Thema zu erarbeiten.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 29. September 1999 an. Berichterstatter war Herr Dock.

Der Ausschuß verabschiedete auf seiner 367. Plenartagung am 20. und 21. Oktober 1999 (Sitzung vom 21. Oktober) mit 101 gegen 7 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1. Einleitung

1.1. Seit dem 1. Januar 1999 bilden elf Mitgliedstaaten eine Währungsunion. Dies ist ein großer Erfolg, der das Ergebnis eines vor mehreren Jahren eingeleiteten Konvergenzprozesses ist. Um rechtzeitig beitreten zu können, haben die meisten Mitgliedstaaten konsequente Anstrengungen unternommen, insbesondere was die Sanierung ihrer öffentlichen Finanzen betrifft.

1.2. Der Euro ist kein Selbstzweck. Er ist ein wertvolles Instrument, das es den Mitgliedstaaten ermöglicht, den Binnenmarkt abzurunden und eine koordinierte Währungspolitik zu betreiben. Die einheitliche Währung muß nun genutzt werden, um eine Dynamik zu entfachen, die Europa stärker und solidarischer macht.

1.3. Die einheitliche Währung betrifft bei weitem nicht nur die Fachkreise. Sie geht mehr und mehr auch alle Bürger der Europäischen Union an. Der Erfolg des Euro in den Augen der Bürger wird anhand sehr konkreter Kriterien bewertet.

1.3.1. Der Euro als Instrument wird um so mehr Anerkennung finden, als es der Europäischen Union gelingt, ihn zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung des Wohlstands aller Staaten und Regionen der Union einzusetzen.

1.4. Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union setzt sich die Union folgendes zum Ziel: "... die Förderung eines wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung, insbesondere... durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und durch die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion...."

1.4.1. Alle Politiken der Europäischen Union müssen auf das Ziel einer Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts ausgerichtet werden.

1.5. Erst wenige Monate nach Beginn der dritten Phase der Wirtschafts- und Währungsunion ist es in vielerlei Hinsicht gewagt, die Auswirkungen der WWU auf den Zusammenhalt untersuchen zu wollen. Dennoch können bereits nach so kurzer Zeit bestimmte Feststellungen getroffen werden, da sich die Auswirkungen der WWU in den meisten Mitgliedstaaten nicht erst am 1. Januar 1999 bemerkbar gemacht haben.

2. Der Zusammenhalt in der Europäischen Union

2.1. Die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zielt gemäß Artikel 158 des EG-Vertrags darauf ab, "die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern".

2.2. Die Fortschritte bei der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts hat die Kommission in ihrem im November 1996 vorgelegten "Ersten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt" analysiert, zu dem der Ausschuß Stellung genommen hat(1). Neuere Angaben zu den Fortschritten auf dem Weg zum Zusammenhalt finden sich in dem "Sechsten periodischen Bericht über die sozioökonomische Lage und Entwicklung der Regionen der Europäischen Union"(2).

2.3. Die Entwicklung anhand der Lage der Regionen zu untersuchen hat den Vorteil, daß die Analyse genauer ausfällt. Hinter der durchschnittlichen Entwicklung auf nationaler Ebene können sich nämlich sehr unterschiedliche gebietsspezifische Situationen verbergen.

2.4. Wird der Zusammenhalt tatsächlich gestärkt? Die Statistiken in den Berichten der Kommission sind nicht aussagekräftig genug, um diese Frage eindeutig mit ja beantworten zu können.

2.4.1. Zwei Kriterien verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit: Das Pro-Kopf-BIP und die Arbeitslosigkeit.

2.5. Was das BIP pro Kopf der Bevölkerung betrifft, so stellt die Kommission einen Aufwärtstrend fest. In den Jahren 1986 bis 1996 ist das Pro-Kopf-BIP der 25 ärmsten Regionen von 52 auf 59 % des Unionsdurchschnitts angestiegen.

2.5.1. Dies ist zwar ermutigend, sollte jedoch auch relativiert werden. Der Aufwärtstrend ist in bestimmten Regionen, so z. B. in den Hauptstädten der Kohäsionsländer, sehr viel ausgeprägter als in anderen. In den ländlichen Regionen derselben Länder ist der Fortschritt deutlich langsamer.

2.5.2. Beunruhigend ist ferner, daß die am Pro-Kopf-BIP gemessenen regionalen Disparitäten in der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten größer werden.

2.6. Die Arbeitslosenstatistik bleibt ein düsteres Kapitel. Die traurige Bilanz ist nach wie vor eine Arbeitslosenquote von durchschnittlich etwa 10 % (nach der Definition der IAO).

2.6.1. Die Abweichungen von diesem Durchschnitt sind enorm. Einige Regionen kennen praktisch keine Beschäftigungsprobleme. In den 25 Regionen mit der niedrigsten Arbeitslosenquote hat die Unterbeschäftigung seit zehn Jahren fast nicht zugenommen. Der Arbeitslosigkeit bleibt in etwa auf einem Stand von 4 %.

2.6.2. In anderen Regionen hingegen hat die Arbeitslosigkeit völlig unannehmbare Ausmaße erreicht. Innerhalb von zehn Jahren (1987-1997) ist die Arbeitslosenquote in den 25 am stärksten betroffenen Regionen erheblich gestiegen, und zwar von 20,1 auf 23,7 %.

2.7. Die Fortschritte bei der Anhebung des Wohlstands schlagen sich kaum auf die Arbeitslosigkeit nieder. Unter diesen Voraussetzungen kann schwer behauptet werden, der Zusammenhalt zwischen den Regionen sei wesentlich gestärkt worden.

3. Die Notwendigkeit, den "Europäischen Beschäftigungspakt" zum Erfolg zu führen

3.1. Die Fortschritte in Richtung auf einen stärkeren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt hängen entscheidend von der Dynamik der Wirtschaft ab. Ferner bemißt sich der Erfolg der WWU in den Augen der Bürger an der Fähigkeit der Union, eine Wachstums- und Beschäftigungsstrategie zu verfolgen. In diesem Zusammenhang ist der vom Europäischen Rat in Köln vereinbarte "Europäische Beschäftigungspakt" von ausschlaggebender Bedeutung.

3.2. Ziel des Paktes ist es, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu verstärken, um die Wirtschaftspolitiken sowohl auf makroökonomischer als auch auf struktureller Ebene wirksamer zu koordinieren. In einer kürzlich verabschiedeten Stellungnahme(3) hob der Ausschuß folgendes hervor: "Die in Luxemburg befürworteten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die durch das in Cardiff eingeleitete strukturpolitische Programm vervollständigt wurden, sollten den geeigneten, die Haushalts-, Geld- und Lohnpolitik umfassenden makroökonomischen Policy-Mix flankieren, damit ein konsum- und investitionsförderndes Klima des Vertrauens geschaffen und mithin für eine nachhaltige Neubelebung des Arbeitsmarkts gesorgt werden kann."

3.3. Das in Köln vereinbarte Schema ist noch Theorie. Nun gilt es, diese in die Praxis umzusetzen. Der Ausschuß ist der Meinung, daß sich nun alle betroffenen Akteure, d. h. nicht nur die Regierungen, sondern auch die Sozialpartner und die Europäische Zentralbank, entschlossen dafür einsetzen müssen, entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten zu einer erfolgreichen Umsetzung der drei über den Beschäftigungspakt aufeinander abzustimmenden Prozesse beizutragen. Dabei handelt es sich um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ("Luxemburg-Prozeß"), Maßnahmen zur Reform der Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte ("Cardiff-Prozeß") sowie makroökonomische Maßnahmen ("Köln-Prozeß").

3.4. Der Ausschuß weist erneut mit Nachdruck auf die Wechselbeziehungen zwischen diesen drei Strategien hin. Die Bemühungen um eine Verbesserung der Funktionsweise des Arbeitsmarktes sind zwecklos, wenn das Wachstum zu schwach ist, um die Schaffung von Arbeitsplätzen zu ermöglichen, und im umgekehrten Fall ist es genauso. Die gleichen Feststellungen sind auch in bezug auf die Reform der Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte zu treffen.

3.5. Wie der Ausschuß bereits in früheren Stellungnahmen betonte, müssen die Mitgliedstaaten der Union insbesondere in Anbetracht der steigenden Lebenserwartung Anstrengungen unternehmen, um die Funktionsweise der Sozialschutzmechanismen (Renten, Gesundheitsfürsorge usw.) sowohl hinsichtlich der Finanzierung als auch der Leistungen zu modernisieren, um deren grundlegende Rolle im europäischen Sozialmodell zu erhalten.

4. Die potentiellen Auswirkungen der WWU auf die Mitgliedstaaten

4.1. Die dritte Phase der WWU hat erst vor einigen Monaten begonnen. Etliche Auswirkungen der einheitlichen Währungen sind also noch wenig sichtbar. Es ist mit einer Reihe von Veränderungen zu rechnen, von denen sich einige bereits abzeichnen.

4.2. Die Einführung der einheitlichen Währung war ein weiterer Schritt in Richtung auf die Schaffung eines großen Binnenmarktes in Europa. Durch die Abschaffung der verschiedenen einzelstaatlichen Währungen werden die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten weiter abgebaut. Die Währungseinheit ermöglicht insbesondere durch die größere Preistransparenz eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem gesamten Gebiet der Union. Für Unternehmensbewegungen (grenzüberschreitende Annäherung, Zusammenschlüsse usw.), die durch den Binnenmarkt einen Aufschwung erlebten, bestehen nun noch mehr Anreize.

4.2.1. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit kann sich insofern positiv auswirken, als sie einen Anreiz zur Verbesserung der Qualität und Produktivität bieten kann. Es gilt jedoch zu vermeiden, daß sich jeder Mitgliedstaat auf einen regellosen Konkurrenzkampf gegen seine Nachbarn einläßt. Dieser Kampf könnte auf dem Boden des Umweltschutzes, der Besteuerung oder der Arbeitsbedingungen ausgetragen werden. Die Harmonisierungs- und die Koordinierungsprozesse gewinnen daher an Bedeutung, insbesondere was die derzeit erörterten Vorhaben zur Besteuerung von Sparvermögen und der Unternehmen betrifft.

4.2.2. Der verstärkte Wettbewerb wird zweifellos Produktivitätszuwächse möglich machen, die theoretisch eines der Standbeine des Wachstums und der Steigerung des Wohlstands sind. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, ob der Produktivitätszuwachs nicht zu Arbeitsplatzverlusten in Europa führt. Dieses Risiko ist nicht von der Hand zu weisen. Gelingt es den Akteuren in der Europäischen Union jedoch, die verschiedenen Wirtschaftspolitken zu koordinieren, könnte dies zu einer ausreichend starken Nachfrage führen. In diesem Fall könnten sich positive Nettoauswirkungen auf die Beschäftigung ergeben. Auch hier kommt es entscheidend auf den Erfolg des im vorstehenden Kapitel behandelten "Europäischen Beschäftigungspaktes" an.

4.3. In einer Währungsunion sind per definitionem Wechselkursstörungen, insbesondere infolge spekulativer Angriffe, ausgeschlossen. Einige Mitgliedstaaten der Union konnten sich Anfang der 90er Jahre nicht vor derartigen Angriffen schützen. Der gesamte Kontinent hatte damals unter Wettbewerbsverzerrungen zu leiden und mußte Rückschläge in bezug auf die Beschäftigung und das Wachstum hinnehmen.

4.3.1. Der Ausschuß ist daher erfreut darüber, daß die Länder der Euro-Zone 1998 vor Störungen der Wechselkursmärkte geschützt wurden. Dies ist ein erster entscheidender Fortschritt dank der Einführung des Euro.

4.3.2. Wie Wim Duisenberg, der Präsident der EZB, in seiner jüngsten Zusammenkunft mit Vertretern des WSA betonte, besteht eines der wichtigsten Ziele des Euro darin, die interne Stabilität zu fördern.

4.4. Es ist gewagt, konkrete Prognosen über die Entwicklung der Zinssätze in der Euro-Zone anstellen zu wollen. Ein Fortschritt ist jedoch bereits jetzt festzustellen. Das Fehlen von Wechselkursrisiken in der Euro-Zone wirkt sich positiv auf die öffentlichen Finanzen aus. Vor der Einführung der einheitlichen Währung wurden bestimmten Mitgliedstaaten aus Furcht vor einer Abwertung auf den Finanzmärkten besondere Risikoprämien für ihre öffentlichen Anleihen auferlegt. Seit das Wechselkursrisiko nicht mehr besteht, können diesen Länder attraktivere Finanzierungssätze geboten werden. Geht man davon aus, daß die Situation ansonsten unverändert bleibt, kommt es durch die Abschwächung der Zinsbelastung automatisch zu einer Verbesserung der Haushaltslage. Insbesondere für die stark verschuldeten Länder stellt die Abschaffung der Risikoprämien für etwaige Wechselkursschwankungen eine erhebliche Erleichterung dar.

4.5. Je näher der 1. Januar 2002 rückt (und natürlich erst recht nach diesem Datum), werden immer mehr Handelsgeschäfte in Euro abgewickelt. In der Euro-Zone wird es daher immer weniger Währungstransaktionen geben, was den Wirtschaftsteilnehmern (Unternehmen, Verbraucher) erheblichen Einsparungen an Gebühren ermöglichen muß. Die Kommission veranschlagt diese Einsparungen auf 0,5 % des BIP in den großen Ländern. In den kleineren Ländern könnten dieser Anteil sogar 1 % erreichen.

4.5.1. Diese Einsparungen werden zum Teil einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen leisten.

4.5.2. Ein weiterer Vorteil des Euro besteht darin, daß sich die europäische Währung neben dem Yen und dem Dollar immer stärker zu einer weltweiten Referenzwährung entwickelt. Ein erstes Anzeichen hierfür ist die zunehmende Ausgabe von Euro-Obligationen. Über eine weltweit geschätzte Währung zu verfügen, bietet zahlreiche Vorteile. Ein Vorteil ist zweifellos der bessere Schutz vor den Folgen der Fluktuation anderer Währungen.

4.6. Von den durch die Einführung des Euro bereits erzielten bzw. zu erwartenden Fortschritten einmal abgesehen, verlangt die einheitliche Währung von den Teilnehmerländern auch bestimmte Verhaltensänderungen. Nun, da sich die Europäische Union eine einheitliche Währung gegeben hat, muß sie unbedingt auch die Entwicklung hin zu einer wirtschaftlichen und politischen Union vollziehen. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung stellt sich eine Fülle von Frage, die der Ausschuß in anderen Stellungnahmen behandelt(4): die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, die Besteuerung usw.

4.6.1. In der vorliegenden Stellungnahme möchte der Ausschuß vor allem auf zwei Aspekte eingehen: Die Haushalts- und die Einkommenspolitik.

4.7. Was den Haushalt betrifft, so ist es von ausschlaggebender Bedeutung, daß die Mitgliedstaaten die Bestimmungen des "Stabilitäts- und Wachstumspaktes" einhalten. Mehrere Mitgliedstaaten müssen weitere Anstrengungen zur Sanierung der öffentlichen Finanzen unternehmen. Das Ziel besteht darin, daß alle Mitgliedstaaten über einen Haushaltsspielraum verfügen, der es ihnen ermöglicht, gegebenenfalls einer Konjunkturverschlechterung zu begegnen.

4.8. Auch die Einkommenspolitik erhält in der Währungsunion eine andere Dimension. Ein Wettbewerbsnachteil läßt sich nicht mehr durch eine Abwertung ausgleichen. Somit lastet mehr Verantwortung auf den Sozialpartnern, wenn es um die Lohnverhandlungen geht.

4.8.1. In einer früheren Stellungnahme(5) hat der Ausschuß die Ansicht vertreten, daß es den wirtschaftlichen und sozialen Organisationen gelingen muß, die Koordinierung zwischen den verschiedenen Ebenen, auf denen die Lohnverhandlungen stattfinden, zu verbessern. Die Sozialpartner stehen vor der Herausforderung, zur Dynamik von Wachstum und Beschäftigung beizutragen, ohne inflationären Spannungen Vorschub zu leisten.

5. Die Investitionsstandorte innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion

5.1. Die einheitliche Währung wird sich mit Sicherheit auf die Ansiedlung der Investitionen auf dem Gebiet der Union auswirken. Fest steht bereits, daß die ausländischen Direktinvestitionen in der Euro-Zone in Zukunft in keiner Weise mehr den Wechselkursschwankungen der Teilnehmerstaaten unterliegen werden und daher an Sicherheit gewinnen.

5.2. In zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wird versucht, die ausschlaggebenden Faktoren für die Ansiedlung der Investitionen aufzuzeigen. Der Ausschuß möchte in dieser Stellungnahme natürlich keine Gegenüberstellung der Ergebnisse dieser Studien vornehmen, sondern lediglich darauf hinweisen, daß Europa kein Interesse daran hat, in bezug auf die komparativen Vorteile mit den Billiglohnländern konkurrieren zu wollen. Die Studien zeigen auf, daß auch andere Faktoren durchaus Anreize für Investitionen mit hoher Wertschöpfung schaffen können, als da sind die Dynamik der Forschung, das Know-how, die Qualität der Arbeitskräfte und das soziale Klima.

5.2.1. Um den Wohlstand auf dem gesamten Gebiet der Union zu erhalten, muß Europa vor allem auf eine Strategie der Qualtitätsproduktion und hohen Produktivität der Arbeitskräfte setzen.

5.3. Neben den Privatinvestitionen spielen auch die öffentlichen Investitionen eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung einer harmonischen Entwicklung aller Regionen der Europäischen Union.

5.3.1. In einem kürzlich von der Kommission veröffentlichten Bericht(6) wird festgestellt, daß die öffentlichen Investitionen seit Anfang der 90er Jahre von 3 % auf knapp über 2 % gesunken sind. Dieser Rückgang ist in der Hauptsache auf die Bemühungen um Einhaltung des Kriteriums des öffentlichen Defizits zurückzuführen. Der zweite Grund ist die Privatisierung einer Reihe von Dienstleistungen und der Übergang der damit zusammenhängenden Investitionen auf den privaten Sektor.

5.3.2. Dieser Umstand könnte sich negativ auf die regionale Entwicklung auswirken, insbesondere was die unbedingt erforderlichen Investitionen in neue Technologien betrifft. Im übrigen muß dafür Sorge getragen werden, daß die in dem Bestreben um wirtschaftliche Rentabilität vorgenommenen Privatisierungen nicht zu einem Investitionsschwund in den weniger entwickelten Regionen führen. Dieser Aspekt muß in Zukunft aufmerksam verfolgt werden.

5.3.3. Die vom Europäischen Rat im März 1999 in Berlin vereinbarte finanzielle Vorausschau wird einen Rückgang der regionalen Investitionen der Union nach sich ziehen. Den Investitionen, die die Staaten in ihren weniger entwickelten Regionen tätigen können, kommt daher noch mehr Bedeutung zu. Der Ausschuß besteht darauf, daß den Forderungen des "Stabilitäts- und Wachstumspaktes" gebührend Rechnung getragen wird.

5.3.4. Es muß unbedingt vermieden werden, daß sich die Erfahrung der Vergangenheit wiederholt. Es wäre dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Tat abträglich, wenn im Fall einer Krise oder eines asymmetrischen Schocks als erstes die öffentlichen Investitionen zurückgingen, wie dies beim Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion der Fall war und in der Regel auch bei jeder bedeutenderen Haushaltsanpassung geschieht.

6. Asymmetrische Schocks als Bedrohung für den Zusammenhalt

6.1. Ein klassisches Problem in einer Währungsunion ist die Fähigkeit, auf einen asymmetrischen Schock zu reagieren, d. h. auf ein unvorhergesehenes Ereignis, das direkte oder indirekte Auswirkungen auf die sozioökonomischen Parameter - Beschäftigung, Produktion, Inflation - hat.

6.1.1. Mit dem Begriff "asymmetrisch" ist gemeint, daß sich der Schock nicht einheitlich auf das gesamte Gebiet der Währungsunion auswirkt.

6.2. Das Risiko eines asymmetrischen Schocks kann anhand einer Vielzahl Parameter eingeschätzt werden.

6.3. Einer dieser Parameter ist der Grad der Öffnung des Handels. Der Handel außerhalb der Eurozone macht nur etwa 13 % des BIP der Länder dieser Eurozone aus. Dies ist natürlich ein Durchschnittswert. Ist einigen Staaten ist dieser Anteil wesentlich höher. Dieser Durchschnitt zeigt jedoch, daß die Konjunkturlage innerhalb der Eurozone vor allem von internen Faktoren abhängt.

6.4. Ein zweiter Anhaltspunkt ist die Entwicklung der Konjunkturzyklen.

Tabelle 1

Korrelation zwischen BIP-Zuwachs und Euro-Zone((Es handelt sich um den Korrelationskoeffizienten des BIP-Zuwachses in allen Staaten im Verhältnis zu dem der 11 Mitgliedstaaten der WWU im Jahr 1999. Die Korrelationen werden anhand wöchentlicher Daten ermittelt.))

>PLATZ FÜR EINE TABELLE>

Quelle: OECD

6.4.1. Die Zahlen in der vorstehenden Tabelle deuten auf eine Annäherung der Konjunkturzyklen in den Ländern der Eurozone hin. Das heißt, daß die Wachstumsphasen und die Rezessionen in kürzeren Abständen aufeinander folgen. Die Wirtschaftszyklen in den 11 Ländern der Eurozone tendieren zu einer größeren Symmetrie. Es steht zu hoffen, daß sich der Trend zur Annäherung der Wirtschaftszyklen in Zukunft bestätigt. Werden Fortschritte bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken erzielt, dürfte dies der Fall sein.

6.4.2. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist natürlich Vorsicht geboten. Sie lassen sicherlich nicht den Schluß zu, daß die Gefahr asymmetrischer Schocks nicht mehr besteht, aber sie erlauben es, dieses Risiko zu relativieren.

6.5. Neuere Wirtschaftsstudien zeigen auf, daß asymmetrische Schocks häufig eher regionaler oder multiregionaler als nationaler Art sind. Eine zusammenfassende Analyse der Produktivstrukturen verschiedener Mitgliedstaaten läßt regionale Unterschiede im Produktions- und/oder Dienstleistungsgefüge erkennen.

6.6. Manche vertreten die Auffassung, die interregionalen Wanderbewegungen könnten eine Lösung im Fall spezifischer Schocks oder anhaltender Arbeitslosigkeit darstellen. Studien haben gezeigt, daß ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren diese Mobilität einschränken, insbesondere die Schwierigkeit, eine Unterkunft zu finden. Es muß betont werden, daß bei einem vorübergehenden Schock die Abwanderung eines Teils des qualifizierten Arbeitskräftepotentials aus einer Region deren wirtschaftliche Erholung eher erschwert als fördert.

6.7. Der Ausschuß möchte erneut die Notwendigkeit unterstreichen, daß die Mitgliedstaaten die Bestimmungen des "Stabilitäts- und Wachstumspakts" einhalten. Um auf unerwartete Schocks reagieren zu können, müssen die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten saniert sein. In so einem Fall muß jedes Land auf seine Eigenmittel zurückgreifen können.

6.8. Ergänzend dazu sollte auch die Gemeinschaftssolidarität zum Tragen kommen können, wie in Artikel 100 Absatz 2 des Vertrags ausdrücklich vorgesehen ist: "Ist ein Mitgliedstaat aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Gemeinschaft zu gewähren?"

6.8.1. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Europäische Union bereits jetzt einen Auffangmechanismus für den Fall eines asymmetrischen Schocks ins Auge fassen. Mehrere hochrangige Persönlichkeiten, darunter Kommissionspräsident Romano Prodi, haben bereits eine Debatte über diese Frage eingeleitet. Das Europäische Parlament hat seinerseits einen diesbezüglichen Bericht vorgelegt(7). Der Ausschuß bedauert, daß diese Problematik bislang noch nicht im ECOFIN-Rat erörtert wurde. Ziel ist es, im Vorfeld die Reaktion auf ein Ereignis festzulegen, das nicht ausgeschlossen werden kann.

6.8.2. Wie das Europäische Parlament feststellt, ist es notwendig, bereits jetzt einen Rechtsrahmen festzulegen, um damit keine Zeit zu verlieren, wenn der konkrete Fall eingetreten ist. Der Ausschuß unterstützt auch den Vorschlag, ein Frühwarnsystem einzuführen, das es ermöglicht, zweimal jährlich das Risiko eines solchen Schocks einzuschätzen.

6.8.3. Vorübergehende Finanztransfers können einer Region helfen, ihr Wachstumspotential wiederzugewinnen. Ziel eines solchen Mechanismus wäre nicht eine Umverteilung, sondern vielmehr die Unterstützung eines Staates bei der Überwindung des (nationalen oder regionalen) Schocks. Es würde sich also um eine Art Versicherung handeln.

6.8.4. Eine Quelle für die Ausstattung eines Fonds, auf den im Fall eines asymmetrischen Schocks zugegriffen werden kann, könnten u. U. nach Ansicht einiger Beobachter die bei den nationalen Zentralbanken verbliebenen Reserven sein. Diese Möglichkeit sollte näher untersucht werden.

7. Schlußfolgerungen

7.1. Die Einführung des Euro ist im Rahmen des europäischen Aufbauwerks ein Vorgang von Bedeutung. Die von dem Projekt der gemeinsamen Währung ausgelöste Dynamik muß unbedingt aufrechterhalten werden. Der Euro ist nämlich kein Selbstzweck. Er soll dazu beitragen, Fortschritte auf dem Weg zu einem stärkeren Europa zu machen, das den grundlegenden Erwartungen der Bürger gerecht werden kann.

7.2. Einige Monate nach Beginn der dritten Phase der WWU läßt der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt zwischen den Regionen der Europäischen Union noch viel zu wünschen übrig. Zwar ist in bezug auf den Wohlstand eine Annäherung zwischen reichen und armen Regionen zu verzeichnen, doch sind die Fortschritte beim Abbau der Arbeitslosigkeit noch zu gering.

7.3. Der Ausschuß setzt große Hoffnungen in den vom deutschen Ratsvorsitz mit dem "Europäischen Beschäftigungspakt" eingeleiteten Prozeß. Durch eine straffe Koordinierung der Strategien von Luxemburg (arbeitsmarktpolitische Maßnahmen), Cardiff (Maßnahmen zur Reform der Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte) und Köln (makroökonomische Maßnahmen) kann die WWU in den Dienst von Wachstum und Beschäftigung gestellt werden. Für den Erfolg dieses Prozesses ist die volle Einbeziehung der verschiedenen Akteure, insbesondere der Sozialpartner, von ausschlaggebender Bedeutung.

7.4. Die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion wird einige, teilweise noch ungewisse Umwälzungen mit sich bringen. Die einheitliche Währung eröffnet auch neue Perspektiven: Zunahme des Wettbewerbs, Sicherung der Auslandsinvestitionen, Rückgang der Gebührenbelastung, Vergrößerung der internen Stabilität usw.

7.5. Die einheitliche Währung zwingt die Teilnehmerstaaten auch zu mehr Disziplin. Dies gilt insbesondere für die Haushaltspolitik. Die Sozialpartner haben die schwere Aufgabe, die Lohnverhandlungen angemessen zu koordinieren, um die Nachfrage aufrechtzuerhalten, ohne eine Überhitzung der Wirtschaft zu bewirken und inflationären Spannungen Vorschub zu leisten.

7.6. Eine mögliche Bedrohung für den Zusammenhalt innerhalb der WWU ist nach Auffassung des Ausschusses ein asymmetrischer Schock in einem Teil des Unionsgebiets. Die Vorkehrungen für einen solchen Fall müssen sowohl auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten als auch auf Gemeinschaftsebene getroffen werden. Möglichkeiten hierfür sind vorhanden. Der Ausschuß drängt darauf, daß unverzüglich die Mechanismen geschaffen werden, die es der Union ermöglichen, einen derartigen Schock aufzufangen.

Brüssel, den 21. Oktober 1999.

Die Präsidentin

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Beatrice RANGONI MACHIAVELLI

(1) ABl. C 206 vom 7. 7.1997.

(2) ABl. C 329 vom 17.11.1999.

(3) ABl. C 209 vom 22.7.1999.

(4) Siehe insbesondere die Stellungnahmen zu dem "Jahreswirtschaftsbericht 1999", ABl. C 209 vom 22.7.1999, und zur "Steuerpolitik" (in Arbeit).

(5) ABl. C 40 vom 15.2.1999.

(6) "Öffentliche Investitionen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Strategie", KOM(1998) 682 endg. vom 2. Dezember 1998.

(7) ABl. C 98 vom 9.4.1999.

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