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Document 62004CC0053

Verbundene Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 20. September 2005.
Cristiano Marrosu und Gianluca Sardino gegen Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Genova - Italien.
Richtlinie 1999/70/EG - Paragrafen 1 Buchstabe b und 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge - Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses bei Verletzung der Bestimmungen für aufeinanderfolgende befristete Verträge - Möglichkeit einer Ausnahme für mit einer öffentlichen Verwaltung geschlossene Arbeitsverträge.
Rechtssache C-53/04.
Andrea Vassallo gegen Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Genova - Italien.
Richtlinie 1999/70/EG - Paragrafen 1 Buchstabe b und 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge - Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses bei Verletzung der Bestimmungen über aufeinanderfolgende befristete Verträge - Möglichkeit einer Ausnahme für mit einer öffentlichen Verwaltung geschlossene Arbeitsverträge.
Rechtssache C-180/04.

European Court Reports 2006 I-07213

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2005:569

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 20. September 20051(1)

Rechtssache C‑53/04

Cristiano Marrosu,

Gianluca Sardino

gegen

Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate

Rechtssache C‑180/04

Andrea Vassallo

gegen

Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Genua [Italien])

„Sozialpolitik – Richtlinie 1999/70/EG – Paragrafen 1 Buchstabe b und 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“





1.     Mit zwei Vorlagebeschlüssen hat das Tribunale Genua (Italien) den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43) ersucht.

2.     Diese Ersuchen wurden im Rahmen von Gerichtsverfahren vorgelegt, in denen sich die Kläger Marrosu, Sardino und Vassallo und ihre Arbeitgeberin, die beklagte Hazienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate (Krankenanstalt Krankenhaus San Martino in Genua und Vereinigte Universitätskliniken), wegen der Anwendung der italienischen Rechtsvorschriften über befristete Arbeitsverträge im Bereich öffentlicher Verwaltungen gegenüberstehen.

I –    Rechtlicher und tatsächlicher Rahmen

3.     Der Sachverhalt dieser beiden Rechtssachen liegt einfach. Falls überhaupt eine Schwierigkeit besteht, so liegt sie in der Ermittlung des anwendbaren Rechts.

A –    Rechtssache Marrosu und Sardino

4.     Die Kläger Marrosu und Sardino wurden von der Beklagten von 1999 bis 2002 aufgrund einer Reihe befristeter Arbeitsverträge als technische Küchenhilfen eingestellt. Ihr jeweils letzter Vertrag wurde acht Tage vor Ablauf des vorausgehenden Vertrages abgeschlossen. Kurz vor Ablauf dieses auf sechs Monate abgeschlossenen Vertrages teilte der leitende Direktor der Beklagten ihnen mit, dass die Entscheidung, die ihrer erneuten Einstellung zugrunde gelegen habe, für jedweden Zweck als Entscheidung der Verlängerung der befristeten Verträge wegen Fortbestehens der Gründe zu verstehen sei, die zu ihrem Abschluss geführt hätten. Gegen diese Entscheidung erhoben die beiden Kläger bei dem Tribunale Genua Klage mit der Begründung, sie verletze das Gesetzesdekret Nr. 368 vom 6. September 2001 zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70 in das italienische Recht (GURI Nr. 235 vom 9. Oktober 2001, S. 4).

5.     Das Dekret bestimmt einleitend (Artikel 1 Absatz 1), dass „die Befristung von Arbeitsverträgen aus technischen Gründen oder aus Gründen der Produktion, der Organisation oder der Vertretung zulässig ist“. In Bezug auf die Aufeinanderfolge mehrerer befristeter Verträge bestimmt Artikel 5 Absatz 3: „Wird der Arbeitnehmer binnen zehn Tagen nach dem Ablauf eines Vertrages auf bestimmte Zeit von bis zu sechs Monaten oder binnen zwanzig Tagen nach Ablauf eines Vertrages mit einer Laufzeit von mehr als sechs Monaten wieder auf bestimmte Zeit im Sinne von Artikel 1 eingestellt, so gilt der zweite Vertrag als Vertrag auf unbestimmte Zeit.“

6.     Auf dieser Grundlage beantragten die Kläger beim vorlegenden Gericht, das Vorliegen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses ab Beginn des ersten Arbeitsverhältnisses, das zur Zeit des Inkrafttretens des besagten Dekrets bestand, festzustellen und die Beklagte aufgrund des Gesetzes Nr. 300 vom 20. Mai 1970 über die Rechtsstellung der Arbeitnehmer (GURI Nr. 131 vom 27. Mai 1970) zur Zahlung des geschuldeten Entgelts und zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens zu verurteilen.

7.     Gegenüber diesen Klageanträgen beruft sich die Beklagte auf die Anwendung eines anderen Gesetzesdekrets, nämlich des Dekrets Nr. 165 vom 30. März 2001 über „allgemeine Vorschriften über die Organisation der Arbeit in den öffentlichen Verwaltungen“ (ordentliche Beilage zum GURI Nr. 106 vom 9. Mai 2001), und insbesondere auf dessen Artikel 36, der lautet:

„1. Die Behörden bedienen sich unter Beachtung der Bestimmungen über die Einstellung von Personal im Sinne der vorhergehenden Absätze der im Codice civile und in den Gesetzen über Arbeitsverhältnisse im Unternehmen vorgesehenen flexiblen Vertragsformen für die Einstellung und Beschäftigung von Personal. Die nationalen Tarifverträge regeln die befristeten Arbeitsverträge, die Ausbildungs- und Arbeitsverträge, die übrigen Beziehungen bei Ausbildung und bei Zeitarbeit …

2. In keinem Fall kann die Verletzung zwingender Bestimmungen betreffend die Einstellung oder die Beschäftigung von Arbeitnehmern durch öffentliche Einrichtungen zur Begründung von unbefristeten Arbeitsverhältnissen mit diesen Einrichtungen führen, unbeschadet ihrer Haftung und der für sie geltenden Sanktionen. Der betroffene Arbeitnehmer hat Anspruch auf Ersatz der Schäden, die sich bei Verstoß gegen zwingende Bestimmungen aus der Arbeitsleistung ergeben. Die Behörden sind verpflichtet, die aus diesem Grund gezahlten Beträge von den verantwortlichen leitenden Personen einzuziehen, wenn der Verstoß vorsätzlich oder grob fahrlässig erfolgt ist.“

8.     Es geht also um einen Konflikt zwischen nationalen Rechtsnormen. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist aber zugleich ein Konflikt verfassungsrechtlicher Natur zu berücksichtigen. Es stellt zum einen fest, dass die Corte costituzionale durch Urteil vom 13. März 2003 die Vereinbarkeit des Artikels 36 Absatz 2 des Dekrets Nr. 165 mit den Artikeln 3 und 97 der italienischen Verfassung bestätigt habe, die die Gleichheit vor dem Gesetz und die Unparteilichkeit der Verwaltung unter Schutz stelle. Zum anderen weist es darauf hin, dass dieses Urteil ohne Berücksichtigung der Verfassungsbestimmungen ergangen sei, die für die italienische Rechtsordnung die Beachtung der Pflichten sicherstellten, die sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung ergäben. Lasse man die Anwendung des Dekrets Nr. 165 auf den vorliegenden Sachverhalt zu, so stelle sich die Frage der Beachtung der Richtlinie 1999/70.

9.     Es sei daran erinnert, dass diese auf Artikel 139 Absatz 2 EG gestützte Richtlinie „die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (EGB, UNICE und CEEP) geschlossene Rahmenvereinbarung vom 18. März 1999 über befristete Arbeitsverträge durchführen [soll] …“. In der Erwägung, dass „die unbefristeten Arbeitsverträge die allgemeine Form der Arbeitsverhältnisse“ sind, bezweckt diese Rahmenvereinbarung insbesondere „einen Rahmen zu schaffen, um den Missbräuchen zuvorzukommen, die sich bei der Verwendung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge oder Arbeitsverhältnisse ergeben“. Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung betrifft Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch und lautet:

„1. Um Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu vermeiden, ergreifen die Mitgliedstaaten nach der gesetzlich oder tarifvertraglich vorgeschriebenen oder in dem Mitgliedstaat üblichen Anhörung der Sozialpartner und/oder die Sozialpartner, wenn keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung bestehen, unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen:

a)      sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge oder Verhältnisse rechtfertigen;

b)      die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinander folgender Arbeitsverträge oder -verhältnisse;

c)      die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge oder Verhältnisse.

2. Die Mitgliedstaten – nach Anhörung der Sozialpartner – und/oder die Sozialpartner legen gegebenenfalls fest, unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse:

a)     als ‚aufeinander folgend‘ zu betrachten sind;

b)     als unbefristete Verträge oder Verhältnisse zu gelten haben.“

10.   Somit legt das vorlegende Gericht dem Gerichtshof die folgende Frage vor:

Ist die Richtlinie 1999/70/EG (Artikel 1 und die Paragrafen 1 Buchstabe b und 5 der EGB‑UNICE‑CEEP‑Rahmenvereinbarung, die von der Richtlinie durchgeführt wird) dahin zu verstehen, dass sie einer nationalen Regelung (die bereits vor der Umsetzung der Richtlinie gegolten hat) entgegensteht, die zwischen Arbeitsverträgen mit der öffentlichen Verwaltung und solchen mit privaten Arbeitgebern unterscheidet und dabei die Erstgenannten von dem Schutz ausschließt, den die Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses als Folge eines Verstoßes gegen zwingende Bestimmungen über aufeinanderfolgende befristete Verträge darstellt?

B –    Rechtssache Vassallo

11.   Der Kläger Vassallo war angestellter Koch bei der gleichen Krankenanstalt. Dieses Arbeitsverhältnis beruhte auf zwei aufeinander folgenden befristeten Verträgen; der erste betraf den Zeitraum vom 5. Juli 2001 bis 4. Januar 2002, der zweite, der mit Wirkung ab 1. Januar 2002 abgeschlossen wurde, verlängerte diesen Zeitraum bis zum 11. Juli 2002. Nach Ablauf dieses Vertrages hat der Kläger beim Tribunale Genua Klage gegen die Beendigung seines Vertrages erhoben. Er verlangt, so behandelt zu werden, als ob er bei Ende seines ursprünglichen Vertrages einen unbefristeten Vertrag erhalten hätte. Die Klagegründe gleichen in allen Punkten denen, die in den Sachen Marrosu und Sardino vorgebracht worden sind.

12.   Die beiden Vorlagebeschlüsse lassen indessen erkennen, dass die Richter des Tribunale Genua über den Stand des anwendbaren Rechts unterschiedlicher Meinung sind. Der mit den Sachen Marruso und Sardino befasste Richter scheint davon auszugehen, dass das Dekret Nr. 368 zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70 stets den früheren Bestimmungen des Dekrets Nr. 165 vorgeht. Der Richter in der Sache Vassallo scheint hingegen anzunehmen, dass beim Stande des italienischen Rechts zur Zeit des Ausgangsverfahrens diese Richtlinie für die Arbeitsverhältnisse mit der öffentlichen Verwaltung nicht umgesetzt ist. Zur Stützung ihres jeweiligen Standpunktes berufen sich diese Richter auf verschiedene Rechtsgrundsätze: Während sich der erstere Richter auf den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts beruft, der die Nichtanwendung jeder nationalen Vorschrift gebiete, die den Bestimmungen der Richtlinie 1999/70 widerspreche, stützt sich der Letztere auf die Verfassungsrechtsprechung, die die Gültigkeit einer Sondervorschrift vertritt, die von der allgemeinen Regelung des Bereichs der befristeten Arbeitsverträge abweicht. Da er sich indessen bewusst ist, dass diese Vorschrift nach Gemeinschaftsrecht zu rechtfertigen ist, hält er es für sachdienlich, dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorzulegen:

1.      Ist die Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 (Artikel 1 und die Paragrafen 1 Buchstabe b und 5 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung, die mit der Richtlinie durchgeführt wird) unter Berücksichtigung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Effektivität und, was die Italienische Republik angeht, angesichts der Maßnahmen, die diese für die Arbeitsbeziehungen zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber außerhalb des öffentlichen Sektors getroffen hat, dahin zu verstehen, dass sie einer nationalen Regelung wie Artikel 36 des Gesetzesdekrets Nr. 165 vom 30. März 2001 entgegensteht, die nicht bestimmt, „unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse … als unbefristete Verträge oder Verhältnisse zu gelten haben“, und damit grundsätzlich und vollständig ausschließt, dass die missbräuchliche Inanspruchnahme dieser Art von Verträgen und Verhältnissen zur Begründung von unbefristeten Arbeitsverhältnissen führt?

2.      Bei Bejahung der Frage 1: Verleihen die Richtlinie 1999/70 (insbesondere ihr Paragraf 5) und die anwendbaren Grundsätze des Gemeinschaftsrechts in Anbetracht des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie – auch im Licht des Gesetzesdekrets Nr. 368/2001 und insbesondere seines Artikels 5, der als gewöhnliche Folge des Missbrauchs durch befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse die Umwandlung in unbefristete Arbeitsverhältnisse vorsieht – dem Einzelnen nach den auf den Sachverhalt am ehesten anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts (und somit nach dem Gesetzesdekret Nr. 368/2001) einen unmittelbaren und sofort durchsetzbaren Anspruch auf Anerkennung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses?

3.      Bei Bejahung der Frage 1 und Verneinung der Frage 2: Verleihen die Richtlinie 1999/70 (insbesondere ihr Paragraf 5) und die anwendbaren Grundsätze des Gemeinschaftsrechts in Anbetracht des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie dem Einzelnen ausschließlich einen Anspruch auf Ersatz des Schadens, der eventuell dadurch entstanden ist, dass die Italienische Republik keine geeigneten Maßnahmen erlassen hat, um die missbräuchliche Inanspruchnahme befristeter Arbeitsverträge bzw. ‑verhältnisse durch öffentliche Arbeitgeber zu verhindern?

II – Zu den Vorlagefragen

13.   Obwohl die in den beiden Rechtssachen vorgelegten Fragen unterschiedlich formuliert sind, betreffen sie doch die gleiche Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts: Die beiden Rechtssachen sind daher gemeinsam zu untersuchen.

A –    Zur Zulässigkeit

14.   Gegenüber den Vorabentscheidungsersuchen sind in beiden Rechtssachen Unzulässigkeitseinreden erhoben worden.

15.   Die Beklagte beruft sich, erstens, in beiden Rechtssachen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass eine Richtlinie für sich genommen keine Pflichten eines Einzelnen begründen und daher ihr gegenüber als solche nicht geltend gemacht werden könne. Da sie weder vom italienischen Staat noch von einem Ministerium abhängig sei, sei demzufolge die Richtlinie 1999/70 in den beiden Ausgangsverfahren nicht anzuwenden.

16.   Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Eine Richtlinie erschöpft ihre Wirkung nämlich nicht in der Schaffung von Rechten, die von Einzelnen unmittelbar geltend gemacht werden können. Selbst wenn sich in den betreffenden Sachen nur Einzelne gegenüberstünden, wie die Beklagte meint, folgte daraus nicht, dass der Richtlinie jede Bedeutung genommen wäre. Es ist zwar anerkannt, dass Einzelne sich gegenüber anderen Einzelpersonen nicht auf die Vorschriften einer Richtlinie berufen können, die die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllt. Es entspricht indessen ständiger Rechtsprechung, dass unter solchen Umständen das nationale Gericht das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes dieser Richtlinie auslegen muss, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen(2). Daraus ergibt sich, dass unter Umständen wie in den vorliegenden Fällen Ersuchen um Auslegung von Vorschriften der Richtlinie 1999/70 niemals der Grundlage entbehren können.

17.   Zudem lässt sich eine Unzulässigkeit der Ersuchen kaum darauf stützen, in den Ausgangsverfahren stünden sich Einzelne gegenüber, wenn zugleich die Anwendbarkeit der Richtlinie in der Sache abgelehnt wird, weil die Beklagte eine Behörde darstelle. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes lässt deutlich werden, dass diese beiden Standpunkte, die die Beklagte zur gleichen Zeit vertritt, in offensichtlichem Widerspruch zueinander stehen. Es sei nur daran erinnert, dass eine Richtlinie nicht nur gegenüber staatlichen Behörden geltend gemacht werden kann, sondern auch „gegenüber Organisationen oder Einrichtungen …, die dem Staat oder seiner Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben, [wozu] Gebietskörperschaften oder Einrichtungen [gehören], denen unabhängig von ihrer Rechtsform durch Hoheitsakt die Erbringung einer Dienstleistung im öffentlichen Interesse unter der Aufsicht des Staates übertragen worden ist“(3). Unter den Umständen des vorliegenden Falles steht fest, dass die betreffende Anstalt eine Einrichtung ist, die der öffentlichen Verwaltung angehört. Mithin steht nichts dem im Wege, dass die Richtlinie 1999/70 ihr gegenüber von Einzelnen geltend gemacht wird.

18.   Zweitens legt die italienische Regierung in ihren in der Rechtssache Vassallo eingereichten schriftlichen Erklärungen dar, dass die erste vom vorlegenden Gericht vorgelegte Frage unerheblich sei, weil sie eine Aufeinanderfolge von Verträgen betreffe, von denen der erste vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 1999/70 abgeschlossen worden sei. In der Sitzung hat die italienische Regierung diesen Einwand auch gegen das Ersuchen des Richters in der Rechtssache Marrosu und Sardino erhoben.

19.   Hierzu genügt der Hinweis, dass die begehrte Auslegung Vorschriften einer Richtlinie betrifft, die der Verlängerung von befristeten Arbeitsverträgen gilt(4). Die betreffende Verlängerung in der Rechtssache Vassallo hat am 1. Januar 2002 stattgefunden. In der Rechtssache Marrosu und Sardino ist die Verlängerung der mit den beiden Betroffenen abgeschlossenen befristeten Arbeitsverträge am 10. bzw. 11. Januar 2002 erfolgt. Zu diesen Zeitpunkten war die auf den 10. Juli 2001 festgelegte Umsetzungsfrist für die Richtlinie 1999/70 abgelaufen. Diese konnte daher die Gesamtheit ihrer Wirkungen zur Geltung bringen.

20.   Eine letzte Einrede wurde im Rahmen der Rechtssache Marrosu und Sardino erhoben. In dieser Rechtssache macht die italienische Regierung geltend, dass die vorgelegte Frage gegenstandslos sei, da sie ausschließlich das nationale Recht betreffe und insoweit keine Zweifel am anzuwendenden Recht bestünden. Daraus schließt sie, dass das Ersuchen um Vorabentscheidung rein hypothetisch sei.

21.   Es lässt sich nicht bestreiten, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 234 EG nicht zuständig ist, sich zur Auslegung nationalen Rechts oder zur Gültigkeit der nationalen Techniken zu äußern, mit denen Konflikte zwischen widersprechenden Vorschriften gelöst werden(5). Während indessen das nationale Gericht, das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasst ist, im Hinblick auf den Einzelfall allein sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat(6), ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts zu befinden, sofern dieses eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft, die nicht offensichtlich ohne Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits ist(7).

22.   Daraus folgt, dass zwar der Gerichtshof unter dem Blickwinkel des Gemeinschaftsrechts nicht über den Normenkonflikt zwischen den in den Ausgangsverfahren herangezogenen Gesetzesdekreten zu entscheiden hat, wohl aber dem vorlegenden Gericht jedwede Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu vermitteln hat, die diesem dienlich sein könnte, um die auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbare Rechtsvorschrift zu ermitteln.

23.   Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht mit einem Sachverhalt befasst, bei dem es um die Anwendung zweier offenbar einschlägiger Regelungen geht, von denen eine die Umsetzung eines Gemeinschaftsaktes bezweckt. Ganz augenscheinlich kann ein Ersuchen um Vorabentscheidung, das die Auslegung dieses Aktes betrifft, nicht als hypothetisch betrachtet werden.

24.   Ich bin daher der Auffassung, dass die in den beiden Rechtssachen vom Tribunale Genua gestellten Fragen zulässig sind.

B –    Zum Inhalt

1.      Vorbemerkung

25.   Widerlegen wir zunächst das Vorbringen der italienischen Regierung im Rahmen der Rechtssache Vassallo, die Richtlinie 1999/70 gelte nur für die Beziehungen der Arbeitnehmer zu privaten Arbeitgebern. Zur Stützung dieses Vorbringens verweist sie auf den Ursprung der Richtlinie in einer Rahmenvereinbarung zwischen gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen privater Unternehmen.

26.   Der letzte Punkt ist zwischen den Parteien umstritten. Ohne dass es sinnvoll wäre, sich über die Identität der Organisationen auszulassen, die diese Vereinbarung geschlossen haben, ist darauf hinzuweisen, dass der auszulegende Text die Rechtsnatur einer vom Rat erlassenen Richtlinie aufweist(8). Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie ist eindeutig in Paragraf 2 der Rahmenvereinbarung festgelegt, den sie zur Durchführung bringt. Nach dieser Bestimmung gilt „[d]iese Vereinbarung … für befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder -verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition“. Diese Arbeitnehmer werden im folgenden Paragrafen definiert als jede „Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder -verhältnis, dessen Ende durch objektive Bedingungen wie das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses bestimmt wird“. Entsprechend Paragraf 2 können die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie die Geltung der Rahmenvereinbarung nur für „Berufsausbildungsverhältnisse und Auszubildendensysteme/Lehrlingsausbildungssysteme“ und „Arbeitsverträge und -verhältnisse, die im Rahmen eines besonderen öffentlichen oder von der öffentlichen Hand unterstützten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungs- oder Umschulungsprogramms abgeschlossen wurden“, ausschließen. Befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse mit der öffentlichen Verwaltung sind daher nicht von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen.

2.      Zur ersten Frage

27.   Mit der ersten Frage, die in beiden Rechtssachen im Kern übereinstimmt, will das vorlegende Gericht wissen, ob die Paragrafen 1 und 5 der Rahmenvereinbarung, wie sie von der Richtlinie 1999/70 durchgeführt wurden, einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Abschluss aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge durch die öffentliche Verwaltung nicht zur Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führt, während eine solche Folge bei von privaten Arbeitgebern missbräuchlich begründeten befristeten Arbeitsverhältnissen vorgesehen ist.

28.   Bei der Festlegung von Gegenstand und Bedeutung dieser Frage ist auf den Kontext zurückzugreifen, in den sie eingebunden ist.

29.   Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung gilt der Vermeidung von „Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge oder –verhältnisse …“. Er ist im Licht des in Paragraf 1 festgelegten Zieles dieser Vereinbarung auszulegen, „einen Rahmen [zu] schaffen, der den Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse verhindert“. Dieser Rahmen umfasst zwei Arten von Maßnahmen: dem Missbrauch vorbeugende Maßnahmen gemäß Paragraf 5 Absatz 1 und Sanktionsmaßnahmen, die insbesondere in Paragraf 5 Absatz 2 Buchstabe b vorgesehen sind.

30.   Der Fassung dieser Vorschrift ist nun zu entnehmen, dass diese beiden Arten von Maßnahmen unterschiedliche Regelungen erfahren: Während Paragraf 5 Absatz 1 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten festlegt, eine oder mehrere der in Buchstaben a bis c festgelegten Maßnahmen zu ergreifen, soweit in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht bereits gleichwertige Maßnahmen gelten, gibt Paragraf 5 Absatz 2 den Mitgliedstaaten die Befugnis, anzuordnen, dass Missbräuche zu einer Neueinstufung des Arbeitsvertrags als unbefristetes Arbeitsverhältnis führen. Nur „gegebenenfalls“ nämlich gehen die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner gemäß Paragraf 5 Absatz 2 Buchstabe b vor. Die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner haben daher gemeinsam oder je für sich einen weiten Ermessensspielraum, um aufgrund des bestehenden sozialen und rechtlichen Kontextes festzulegen, ob eine Neueinstufung vorzunehmen ist.

31.   Im vorliegenden Fall steht fest, dass Italien aufgrund des Dekrets Nr. 368 Maßnahmen zur Umwandlung missbräuchlicher befristeter Arbeitsverträge in unbefristete Arbeitsverträge getroffen hat. Damit stellt sich allein die Frage, ob die Mitgliedstaaten, die solche Maßnahmen getroffen haben, berechtigt sind, von den missbräuchlich befristeten Arbeitsverhältnissen diejenigen, die die öffentliche Verwaltung betreffen, von der Möglichkeit der Neueinstufung als unbefristetes Arbeitsverhältnis auszuschließen.

a) Ist ein Mitgliedstaat befugt, bestimmte missbräuchlich befristete Arbeitsverhältnisse von der Neueinstufung auszuschließen?

32.   Bei der Beantwortung dieser Frage sollten meines Erachtens die folgenden Gesichtspunkte beachtet werden.

33.   Gemäß Paragraf 5 Absatz 2 Buchstabe b der durch die Richtlinie 1999/70 durchgeführten Rahmenvereinbarung legen die Mitgliedstaaten „fest, unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse als unbefristete Verträge oder Verhältnisse zu gelten haben“(9). Die Fassung dieses Paragrafen lässt erkennen, dass die Mitgliedstaaten sowohl bei Entscheidung darüber, ob eine Neueinstufung angebracht ist, als auch, wenn solche Maßnahmen getroffen worden sind, darüber, wie der Bereich und die Modalitäten der Neueinstufung festgelegt werden, über einen weiten Ermessensspielraum verfügen.

34.   Diese Auslegung wird durch den Kontext bestätigt, in dem diese Vorschrift steht. Nach Maßgabe ihrer Begründungserwägungen sieht die Rahmenvereinbarung vor, dass die nationalen Anwendungsmodalitäten für die Paragrafen der Vereinbarung „der jeweiligen Situation der einzelnen Mitgliedstaaten und den Umständen bestimmter Branchen und Berufe …“ Rechnung tragen dürfen. In gleichem Sinne bestimmt die Präambel der Vereinbarung, dass diese „die allgemeinen Grundsätze und Mindestvorschriften für befristete Arbeitsverträge in der Erkenntnis nieder[legt], dass bei ihrer genauen Anwendung die besonderen Gegebenheiten der jeweiligen nationalen, sektoralen und saisonalen Situation berücksichtigt werden müssen“. Erinnert sei ferner daran, dass diese Vereinbarung ausdrücklich auf das Abkommen über die Sozialpolitik gestützt ist, das dem Protokoll über die Sozialpolitik im Anhang des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist und in dem es heißt, dass „die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten Maßnahmen durch[führen], die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen … Rechnung tragen“(10). Eine entsprechende Erwägung findet sich im auszulegenden Paragrafen selbst. Paragraf 5 Absatz 1 erkennt an, dass die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch „unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien“ ergreifen. Dies muss namentlich im Rahmen des Absatzes 2 gelten, der den Mitgliedstaaten beim Erlass der genannten Maßnahmen einen breiten Ermessensspielraum einräumt.

35.   In diesem Kontext ist ein Mitgliedstaat offensichtlich berechtigt, den Besonderheiten bestimmter Branchen in der Weise Rechnung zu tragen, dass er letztlich die Möglichkeit einer Neueinstufung befristeter Arbeitsverträge als unbefristete Arbeitsverträge ausschließt. Es reicht aus, wenn für die betreffenden Branchen bezüglich der Arbeitsverhältnisse besondere Bedürfnisse oder besondere Vorschriften gelten. Es wird nicht bestritten, dass dies bei der öffentlichen Verwaltung in Italien der Fall ist.

36.   Indessen ist diese Befugnis der Mitgliedstaaten nicht schrankenlos. Sie muss vielmehr in den Grenzen ausgeübt werden, die das Gemeinschaftsrecht bei der Anwendung einer Richtlinie vorgibt. Im vorliegenden Fall sind dies Grenzen von zweierlei Art. Erstens hat der Mitgliedstaat die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Zweitens hat er die Bestimmungen der Richtlinie anzuwenden, ohne deren Integrität zu gefährden.

b) Die Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts

37.   Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen beachtet werden müssen(11). Ein solches Erfordernis ergibt sich insbesondere aus der Beachtung des Grundrechts auf Gleichbehandlung, wonach vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist(12). Folglich hat der Mitgliedstaat die Richtlinie so weit irgend möglich unter Bedingungen anzuwenden, die diesen Grundsatz nicht missachten.

38.   Nun befinden sich Arbeitnehmer, die einen befristeten Vertrag mit der öffentlichen Verwaltung geschlossen haben, auf den ersten Blick angesichts des Zieles der Richtlinie 1999/70 in einer Lage, die der von Arbeitnehmern entspricht, die unter den gleichen Bedingungen einen Vertrag mit einem privaten Arbeitnehmer geschlossen haben. Maßgeblich für die Anwendung der Richtlinie ist nämlich nicht die Natur des Arbeitgebers, sondern des Arbeitsverhältnisses, das den Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber verbindet. Da nach den Paragrafen 2 und 3 der Rahmenvereinbarung diese Beziehung auf einem Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis beruht, „dessen Ende durch objektive Bedingungen wie das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses bestimmt wird“, muss der Schutz, den die im Einklang mit der Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften einräumen, grundsätzlich Platz greifen. Eine unterschiedliche Behandlung nach der Art des Arbeitgebers ist daher nicht ohne eine weitere Rechtfertigung zulässig. Daher ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die festgestellten Unterschiede eine objektive Rechtfertigung haben.

39.   Die italienische Regierung und der in der Rechtssache Vassallo vorlegende Richter rechtfertigen diesen Unterschied damit, dass verfasssungsmäßige Erfordernisse zu beachten seien, nämlich die Bedingungen, die die Unparteilichkeit und die Effektivität der Verwaltung sicherstellen. Sie verweisen auf ein Urteil der Corte costituzionale vom 27. März 2003, das in diesem Sinne entschieden habe.

40.   Was ist von dieser Rechtfertigung zu halten? Zweifellos sind die nationalen Stellen, insbesondere die Verfassungsgerichte, dafür zuständig, die nationalen Besonderheiten zu bestimmen, die eine solche unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. Sie sind nämlich am besten in der Lage, die nationale verfassungsmäßige Identität der Mitgliedstaaten zu ermitteln, die zu achten die Europäische Union sich verpflichtet hat(13). Der Gerichtshof bleibt indessen verpflichtet zu prüfen, ob diese Ermittlung mit den Grundrechten und wesentlichen Zielen vereinbar ist, deren Beachtung er im Rahmen der Gemeinschaft sicherstellt.

41.   In ihrem Urteil Nr. 89 vom 27. März 2003 hat die Corte costituzionale sich zur Vereinbarkeit des Artikels 36 Absatz 2 des Dekrets Nr. 165 mit der italienischen Verfassung, insbesondere mit deren Artikeln 3 und 97, geäußert(14). Dieses Urteil ist im Rahmen eines Rechtsstreits ergangen, der den Auseinandersetzungen gleicht, die Gegenstand der beiden Ausgangsverfahren sind(15). Bei dieser Gelegenheit hat das Verfassungsgericht ausgeführt, dass „der elementare Grundsatz der Beschäftigung im öffentlichen Dienst – in klarem Gegensatz zur Regelung der Privatarbeit – der des Zugangs im Wege der Ausschreibung ist, wie er in Artikel 97 Absatz 3 der Verfassung festgelegt ist“. Die italienische Verfassung macht nämlich aus der Ausschreibung „das grundsätzlich geeignetste Instrument der Auswahl von Personal, um die Unparteilichkeit und die Effektivität der öffentlichen Verwaltung sicherzustellen“. Daher belegt „die Geltung dieses Prinzips, das die Erfordernisse der Unparteilichkeit und des guten Funktionierens der Verwaltung, wie sie in Artikel 97 Absatz 1 der Verfassung festgehalten sind, schützen soll, offensichtlich die fehlende Gleichartigkeit der Sachverhalte [der Angestellten der öffentlichen Verwaltungen und der des Privatsektors] und rechtfertigt die Entscheidung des Gesetzgebers, an die Verletzung zwingender Regeln bezüglich der Anstellung und der Verwendung von Arbeitnehmern in der öffentlichen Verwaltung Rechtsfolgen zu knüpfen, die ausschließlich auf Schadensersatz statt auf die Umwandlung in ein unbefristetes Verhältnis hinauslaufen“.

42.   Dieses Urteil will offensichtlich die Regelung des Zugangs zur Beschäftigung bei der italienischen öffentlichen Verwaltung schützen. Es wäre nämlich zu befürchten, dass die systematische Umwandlung bestimmter befristeter Verträge mit der öffentlichen Verwaltung in unbefristete Verträge dazu führen würde, die Bedeutung der Verfassungsregel zu schmälern, wonach der Zugang zu öffentlichen Stellen grundsätzlich aufgrund eines Auswahlverfahrens stattfindet.

43.   Mir scheint, dass das Gemeinschaftsrecht der Berücksichtigung der Regelung nicht entgegensteht. Zum einen ist es nicht berufen, sich in die Entscheidung der Mitgliedstaaten über die Auswahl- und Einstellungsverfahren der öffentlichen Verwaltung einzumischen(16). Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass eine allgemeine Neueinstufung den Grundsatz der Besetzung von Dauerstellen in der öffentlichen Verwaltung mit Beamten aufgrund eines Auswahlverfahrens gefährden könnte. Daher lässt sich die Notwendigkeit, den Weg des Auswahlverfahrens als besonderen Weg des Zugangs zur Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung zu schützen, als rechtmäßiges Ziel verstehen, das in diesem Bereich den Ausschluss der Umwandlung befristeter in unbefristete Verträge rechtfertigt.

44.   Allerdings genügt es nicht, dass die Unterschiedlichkeit der Beschäftigungsregeln ein rechtmäßiges Ziel verfolgt. Es bleibt noch festzustellen, ob die Durchführung der für die öffentliche Verwaltung geltenden Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Eine Maßnahme, mit der eine gerechtfertigte Unterscheidung eingeführt wird, ist nur dann mit dem Gemeinschaftsgrundsatz der Gleichbehandlung vereinbar, wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist(17).

45.   Es ist grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, die Beachtung dieses Grundsatzes in den bei ihnen anhängigen Verfahren zu überwachen. Der Gerichtshof ist jedoch im Vorabentscheidungsverfahren gehalten, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu geben, die diesem für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht dienlich sein können. Eine Prüfung der Gegebenheiten, wie sie sich aus den Vorlagebeschlüssen ergeben, macht folgende Klarstellung erforderlich. Die festgestellte unterschiedliche Behandlung kann nur in den Grenzen der herangezogenen Rechtfertigung zulässig sein, d. h. in den Fällen, in denen der Grundsatz des Auswahlverfahrens Geltung beansprucht. Soweit das Gesetz im Einklang mit Artikel 97 Absatz 3 der italienischen Verfassung Ausnahmen von dem besagten Grundsatz zulässt, verliert die Unterschiedlichkeit der Regelungen offensichtlich jegliche Daseinsberechtigung.

c) Die Beachtung der Richtlinie 1999/70

46.   Danach bleibt noch zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat bei der Umsetzung der Vorschrift, die eine Neueinstufung der als missbräuchlich bewerteten befristeten Verträge für möglich erklärt, die in der Richtlinie 1999/70 festgelegten Rahmen und Ziele gefährdet. Paragraf 5 Absatz 2 Buchstabe b der Rahmenvereinbarung ist nämlich als Ergänzungsklausel zu betrachten, von der Gebrauch gemacht werden kann, um den Rahmen der Maßnahmen zu ergänzen, die die missbräuchliche Verwendung aufeinander folgender befristeter Verträge oder Verhältnisse verhindern sollen. Folglich darf der Erlass von Maßnahmen, die aufgrund einer solchen Bestimmung erlassen werden, den von der Rahmenvereinbarung festgelegten Rahmen nicht beeinträchtigen.

47.   Daraus folgt, dass zwar der Ausschluss der Neueinstufung dieser Verträge im Bereich der öffentlichen Verwaltungen gerechtfertigt sein kann, jedoch zumindest festgestellt werden muss, dass vorbeugende Maßnahmen, wie sie in den Paragrafen 1 und 5 der Vereinbarung vorgeschrieben sind, ausdrücklich vorgesehen und effektiv mit Sanktionen versehen sind. Den bei der öffentlichen Verwaltung angestellten Arbeitnehmern jeden Schutz gegen missbräuchliche Verwendung befristeter Arbeitsverträge zu nehmen, würde offensichtlich über das hinausgehen, was Paragraf 5 Absatz 2 der Rahmenvereinbarung gestattet, und im Widerspruch zu dem von dieser Regelung festgelegten Rahmen stehen.

48.   Wenn nationale Eigenarten anerkannt werden, so schließt dies nicht aus, dass Mindestmaßgaben, die sich aus dem Gemeinschaftsrahmen ergeben, eingehalten werden. Dies ist meines Erachtens der Sinn des Verweises der Richtlinie 1999/70 auf die jeweiligen nationalen und sektoralen Situationen.

49.   Hierzu verweist das vorlegende Gericht auf eine nationale Regelung, nach der die öffentliche Verwaltung bei Verletzung der zwingenden Regeln für Einstellung und Beschäftigung Verantwortung trägt und Sanktionen zu erwarten hat. Allerdings wird es festzustellen haben, dass diese Regeln tatsächlich die missbräuchliche Verwendung befristeter Verträge betreffen und die angedrohten Sanktionen effektiv sind.

50.   Die Prüfung hat ergeben, dass die Richtlinie 1999/70 einer Regelung nicht entgegensteht, nach der der missbräuchliche Abschluss aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge durch die öffentliche Verwaltung – anders als bei Verträgen mit privaten Arbeitgebern – nicht zur Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führt, wenn diese Regelung durch eine Eigenart dieses Bereichs wie die Sicherstellung des Verfassungsgrundsatzes des Zugangs zur Beschäftigung in den öffentlichen Verwaltungen im Wege des Auswahlverfahrens gerechtfertigt ist und für diesen Bereich effektive vorbeugende Maßnahmen und Sanktionen für missbräuchliche Verwendungen befristeter Arbeitsverträge vorgesehen sind.

3.      Zur zweiten und zur dritten Frage in der Rechtssache Vassallo

51.   Da die zweite und die dritte Frage in der Rechtssache Vassallo dem Gerichtshof nur für den Fall vorgelegt wurden, dass die erste Frage eine bejahende Antwort erfahren sollte, bedarf es meines Erachtens einer Beantwortung nicht.

III – Ergebnis

52.   Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die in den beiden Rechtssachen vom Tribunale Genua vorgelegten Fragen die gleiche Antwort zu geben:

Die Richtlinie 1999/70/EWG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der der missbräuchliche Abschluss aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge durch die öffentliche Verwaltung – anders als bei Verträgen mit privaten Arbeitgebern – nicht zur Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führt, wenn diese Regelung durch eine Eigenart dieses Bereichs wie die Sicherstellung des Verfassungsgrundsatzes des Zugangs zur Beschäftigung in den öffentlichen Verwaltungen im Wege des Auswahlverfahrens gerechtfertigt ist und für diesen Bereich effektive vorbeugende Maßnahmen und Sanktionen für missbräuchliche Verwendungen befristeter Arbeitsverträge vorgesehen sind.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – Zuletzt Urteil vom 5. Oktober 2004 in den Rechtssachen C‑397/01 bis C‑403/01 (Pfeiffer u. a., noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 113).


3 – Vgl. insbesondere Urteil vom 4. Dezember 1997 in den Rechtssachen C‑253/96 bis C‑258/96 (Kampelmann u. a., Slg. 1997, I‑6907, Randnr. 46).


4 – Vgl. in diesem Sinne Nrn. 38 bis 40 der Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano in der zurzeit beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache C‑144/04 (Mangold).


5 – Zur Unzuständigkeit des Gerichtshofes, vorab über die Auslegung von Vorschriften des nationalen Rechts zu entscheiden, vgl. Urteil vom 19. März 1964 in der Rechtssache 75/63 (Unger, Slg. 1964, 347). Im Gegensatz hierzu ist der Gerichtshof durchaus berechtigt, den vorlegenden Gerichten ihre Pflicht nahe zu bringen, die nach nationalem Recht zulässigen Auslegungsmethoden zu verwenden, die am wirksamsten das von der Richtlinie 1999/70 verfolgte Ziel zu erreichen helfen (in diesem Sinne Urteil Pfeiffer u. a., Randnr. 116).


6 – Zuletzt Urteil vom 12. April 2005 in der Rechtssache C‑145/03 (Keller, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 33).


7 – So Urteil vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C‑415/93 (Bosman, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 59).


8 – Vgl. in analoger Anwendung Urteil des Gerichts vom 17. Juni 1998 in der Rechtssache T‑135/96 (UEAPME/Rat, Slg. 1998, II‑2335, Randnrn. 66 und 67).


9 – Hervorhebung nur hier.


10 – Worauf die erste Begründungserwägung der Richtlinie 1999/70 hinweist. Das Abkommen über die Sozialpolitik ist in die Artikel 136 EG bis 139 EG in der Fassung des Vertrages von Amsterdam eingefügt worden. Die zitierte Vorschrift ist ausdrücklich in Artikel 136 Absatz 2 EG aufgenommen worden.


11 – Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 5/88 (Wachauf, Slg. 1989, 2609, Randnr. 19).


12 – Vgl. zuletzt Urteil vom 14. Dezember 2004 in der Rechtssache C‑434/02 (Arnold André, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 68).


13 – Vgl. Artikel 6 Absatz 3 EU: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten.“


14 – Artikel 3: „Allen Bürgern wird ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion, politische Meinung, persönliche oder soziale Stellung die gleiche soziale Wertschätzung zuteil, und sie sind vor dem Gesetz gleich. Es ist Pflicht der Republik, wirtschaftliche und soziale Hindernisse zu beseitigen, die, da sie de facto Freiheit und Gleichheit der Bürger hemmen, die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die effektive Beteiligung aller Arbeitnehmer an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes verhindern.“


Artikel 97: „Der öffentliche Dienst wird nach den Vorschriften des Gesetzes organisiert, um das ordnungsgemäße Funktionieren und die Unparteilichkeit der Verwaltung sicherzustellen. Die Organisation des Dienstes umfasst die Zuständigkeit, die Aufgaben und die eigene Haftung der Beamten. Der Zugang zu den Stellungen in der öffentlichen Verwaltung findet mit Ausnahme der gesetzlich vorgesehenen Fälle aufgrund von Auswahlverfahren statt.“


15 – Es handelte sich um einen Rechtsstreit zwischen der Verwaltung und Angestellten, die eine Gleichstellung ihres Arbeitsverhältnisses mit dem von Arbeitnehmern des privaten Sektors verlangten, um gemäß Gesetz Nr. 230 vom 18. April 1962 zur Regelung des befristeten Arbeitsverhältnisses eine Umwandlung ihrer Arbeitsverträge in unbefristete Arbeitsverträge zu erlangen. Obwohl es unter der Geltung eines Gesetzes ergangen ist, das durch das Gesetzesdekret Nr. 368/2001 aufgehoben worden ist, kann dieses Urteil als immer noch gültiger Bezugspunkt betrachtet werden. In dem uns interessierenden Punkt unterschied sich nämlich das aufgehobene Gesetz nicht von dem gegenwärtig geltenden Gesetzesdekret. Es legte in im Wesentlichen identischen Wendungen den Grundsatz des unbefristeten Arbeitsvertrags fest und sah die Neueinstufung missbräuchlich verlängerter befristeter Verträge vor. Die Vereinbarkeit der Vorschriften dieses Gesetzes mit den sich aus der Richtlinie 1999/70 ergebenden Pflichten ist übrigens von der Corte costituzionale in ihrem Urteil Nr. 40 vom 7. Februar 2000 anerkannt worden, in dem sie mit dieser Begründung die Zulässigkeit einer Volksabstimmung über die Aufhebung des Gesetzes Nr. 230/1962 verneint hat.


16 – Meines Erachtens ergibt sich dieser Vorbehalt mittelbar, aber klar aus dem Urteil vom 9. September 2003 in der Rechtssache C‑285/01 (Burbaud, Slg. 2003, I‑8219), in dem der Gerichtshof darauf hinweist, dass es ihm nach den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts nicht zusteht, die Wahl und die Natur der Einstellungsverfahren zu kontrollieren, sondern er nur zu prüfen hat, ob die Modalitäten der Durchführung dieser Verfahren die vom EG-Vertrag geschützten Grundrechte nicht beeinträchtigen (Randnrn. 91 bis 101).


17 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2002 in der Rechtssache C‑476/99 (Lommers, Slg. 2002, I‑2891, Randnr. 39).

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