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Document 52004AE0964

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen und die Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene hinsichtlich der Überprüfung der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“ (KOM(2003) 843 endg.)

    ABl. C 302 vom 7.12.2004, p. 74–79 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

    7.12.2004   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 302/74


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen und die Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene hinsichtlich der Überprüfung der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“

    (KOM(2003) 843 endg.)

    (2004/C 302/17)

    Die Kommission beschloss am 5. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

    Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe „Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft“ nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr HAHR.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 154 gegen 71 Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

    1.1

    Die Mitteilung betrifft die Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 in der durch die Richtlinie 2000/34/EG geänderten Fassung; sie enthält Mindestvorschriften für die Arbeitszeitgestaltung, mit denen die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer besser geschützt werden sollen.

    1.2

    Mit dieser Mitteilung wird ein dreifacher Zweck verfolgt:

    1.2.1

    Erstens soll die Anwendung der beiden Bestimmungen bewertet werden, für die eine Überprüfung vor Ablauf von sieben Jahren ab der für die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten festgesetzten Frist, also vor dem 23. November 2003, vorgesehen ist. Es handelt sich dabei um die in Artikel 17 Absatz 4 genannten Abweichungen vom Bezugszeitraum für die Anwendung des Artikels 6 (wöchentliche Höchstarbeitszeit) und um die in Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i genannte Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Artikel 6 nicht anzuwenden, wenn erforderliche Maßnahmen sicherstellen, dass das Einverständnis der einzelnen Arbeitnehmer, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten (generell bekannt als Opt-out), gewährleistet ist.

    1.2.2

    Zweitens sollen die Auswirkungen der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs hinsichtlich der Definition der Arbeitszeit und der Anrechnung des Bereitschaftsdienstes sowie die neuen Entwicklungen zur Gewährleistung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie analysiert werden.

    1.2.3

    Schließlich sollen das Europäische Parlament und der Rat, aber auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Ausschuss der Regionen sowie die Sozialpartner zu einer möglichen Neufassung des Textes gehört werden.

    1.2.4

    Es sei darauf hingewiesen, dass das Europäische Parlament am 11. Februar 2004 eine Entschließung angenommen hat, in der die völlige Abschaffung der Opt-out-Bestimmungen gefordert wird. Am 19. Mai veröffentlichte die Kommission ein zweites Konsultationspapier. Der Kommission zufolge ist das Dokument als Verhandlungsimpuls für die Sozialpartner gedacht; kommen keine Verhandlungen zustande, werden zumindest richtungsweisende Informationen darüber erwartet, wie die später ggf. von der Kommission vorzuschlagende Rechtsetzung in groben Zügen aussehen soll.

    2.   Allgemeine Bemerkungen

    2.1

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält das Konsultationsverfahren, das die Kommission in einem Bereich anwendet, der auf einzelstaatlicher Ebene Gegenstand von Tarifverträgen ist, für unangemessen. Die Kommission hätte vorrangig die Sozialpartner konsultieren müssen, bevor sie das Verfahren zur Konsultation der europäischen Institutionen, des EWSA und des Ausschusses der Regionen einleitete.

    2.2

    Die Kommission unterbreitet somit keine konkreten Änderungsvorschläge zu der Richtlinie, sondern erwartet bei dieser Konsultation im Hinblick auf eine künftige Überarbeitung der Richtlinie Reaktionen zu fünf wesentlichen Punkten:

    Dauer des Bezugszeitraums — derzeit vier Monate, mit der Möglichkeit, unter gewissen Umständen sechs Monate oder ein Jahr zuzulassen;

    Definition der Arbeitszeit nach den jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs über Bereitschaftsdienstzeiten;

    Bedingungen für die Anwendung der Ausnahmen (Opt-out-Klausel);

    Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie;

    Möglichkeiten des optimalen Ausgleichs.

    2.2.1

    Zur erschöpfenden Beantwortung der fünf Fragen der Kommission ist neben der gründlichen Kenntnis der allgemeinen Arbeitsrichtlinie 93/104/EG auch eine Analyse darüber notwendig, wie die Umsetzung in die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften erfolgt und welche Auswirkungen sie auf das frühere einzelstaatliche Arbeitsrecht und die nationalen Branchentarifverträge hat. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass der von der Kommission veröffentlichte Bericht (1) und der Inhalt der aktuellen Mitteilung zu diesen Auswirkungen nur teilweise Klarheit schaffen. Die Bemerkungen des Ausschusses werden daher notwendigerweise eher allgemeinerer Natur sein.

    2.2.2

    Um den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer in Übereinstimmung mit den Sozialvorschriften des EG-Vertrags (Artikel 136 ff.) und mit der Richtlinie 89/391/EWG zu gewährleisten, sieht die allgemeine Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG im Einzelnen Folgendes vor:

    eine durchschnittliche Höchstarbeitszeit in einem Siebentageszeitraum von 48 Stunden einschließlich der Überstunden;

    eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum;

    eine Ruhepause bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden;

    eine Mindestruhezeit von 24 Stunden pro Siebentageszeitraum;

    einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen;

    eine durchschnittliche maximale Nachtarbeitszeit von 8 Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum.

    2.2.3

    In der Richtlinie werden auch die Bedingungen festgesetzt, unter denen die Mitgliedstaaten im Wege der Rechtsetzung und die einzelstaatlichen Sozialpartner in Tarifverträgen von den Bestimmungen der Richtlinie abweichen dürfen. Abweichungen sind nur unter der Bedingung zulässig, dass die übergeordneten Grundsätze des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer beachtet werden.

    2.2.4

    Eine erschöpfende Auswertung der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage, ob die ursprünglich angestrebten Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer in der Union erreicht werden konnten, liegt leider nicht vor. Der Ausschuss geht jedoch davon aus, dass eine solche Auswertung erfolgt ist bzw. auf längere Frist erfolgen wird. Inhaltliche Änderungen der Richtlinie müssen deshalb wohlüberlegt und gut untermauert sein und besonders die Lageeinschätzung der Sozialpartner berücksichtigen.

    2.2.5

    Gleichzeitig ist allerdings zu bedenken, dass der Inhalt der Richtlinie auf Diskussionen und Überlegungen aus einer Zeit aufbaut, die mehr als 14 Jahre zurückliegt. Die Urteile des Gerichtshofes, die die Auslegung des Arbeitszeit- und Ruhezeitbegriffs betreffen, haben etliche Mitgliedstaaten in akute Bedrängnis gebracht. Vor diesem Hintergrund nimmt der Ausschuss das nun von der Kommission eingeleitete Konsultationsverfahren mit Interesse zur Kenntnis, auch wenn er die diesbezüglich bereits geäußerten Vorbehalte betont. Hierdurch können wertvolle Anhaltspunkte in Bezug auf die Durchführung der Richtlinie und der daraus abgeleiteten Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten gewonnen werden; dies wird den eingangs erwähnten Informationsmangel beheben. In diesem Konsultationsprozess kommt den Sozialpartnern durch die Bestimmungen des EG-Vertrages eine sehr wichtige Rolle zu.

    2.2.6

    Die Arbeitszeit und ihre Gestaltung sind Faktoren, die das Verhältnis zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften sowie die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im täglichen Berufsleben entscheidend prägen. Deshalb ist die Ausgestaltung der Arbeitzeitregeln in Tarifverträgen von grundlegendem Interesse für die Sozialpartner, die in diesen Fragen große Sachkenntnis und Erfahrung besitzen.

    2.2.7

    Die einzelstaatliche Rechtsetzung im Bereich der Arbeitszeit fußt im Allgemeinen auf der gemeinsamen Verantwortung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer für eine zufrieden stellende Gestaltung der Arbeitszeit. Ausgehend von den Arbeitszeitbestimmungen und im Rahmen von Tarifverträgen obliegt den Sozialpartnern der Mitgliedstaaten auf verschiedenen Ebenen die Lösung der Arbeitszeitfragen, die sich am Arbeitsplatz ergeben.

    2.2.8

    Betrachtet man formaljuristisch die Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie über die Ruhezeiten in einem 24-Stunden-Zeitraum, die Pausen, die wöchentlichen Ruhezeiten und die Wochenarbeitszeit, so lässt sich im Vergleich mit den nach Artikel 17 zulässigen Abweichungen der Schluss ziehen, dass die Richtlinie eine flexible Lösung auf Verhandlungsbasis gestattet; bei dieser Betrachtung bleiben freilich die Folgen, die sich aus den Urteilen des Gerichtshofes in Sachen Bereitschaftsdienst ergeben, außen vor. Gleichzeitig ist allerdings festzustellen, dass die Arbeitszeitrichtlinie einen relativ komplizierten Teil des Gemeinschaftsrechts darstellt. Deshalb schlägt der Ausschuss vor, dass die Kommission im Zuge eines Vorschlags zu einer Überarbeitung der Richtlinie auch die Möglichkeiten für ihre Vereinfachung prüft und beachtet. Die Vereinfachung darf allerdings nicht auf Kosten des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer gehen.

    3.   Besondere Bemerkungen

    3.1   Bezugszeiträume

    3.1.1

    Bereits zur Zeit der Entstehung der Richtlinie setzten in Europa Überlegungen über die Jahresarbeitszeit ein. Der Begriff „Jahresarbeitszeit“ kann am einfachsten als ein System definiert werden, bei dem der Bezugszeitraum für die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ein Jahr bzw. 365 Tage beträgt.

    3.1.2

    Die Richtlinie zur Gestaltung der Arbeitszeit enthält nämlich in Artikel 6 eine Bestimmung über eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Diese kann auf vier oder aufgrund der Ausnahmebestimmungen in Artikel 17 auf sechs oder zwölf Monate (2) bezogen werden. Die Richtlinie eröffnet somit einen gewissen Ermessensspielraum beim Arbeitszeitausgleich innerhalb des Bezugszeitraums. Bei der Arbeitszeitgestaltung müssen natürlich die Bestimmungen über tägliche Ruhezeiten, wöchentliche Ruhezeiten, Nachtarbeit usw. eingehalten sowie der übergeordnete Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer beachtet werden.

    3.1.3

    Die Kommission stellt in ihrer Mitteilung fest, dass es „nicht immer einfach [ist], die nationalen Rechtsvorschriften zu analysieren, mit denen die Artikel 6 und 16 umgesetzt werden“ (3) (in denen es um die maximale Wochenarbeitszeit und den Bezugszeitraum geht), sondern dass sich „allgemein […] die Bestätigung einer Tendenz zu einem jährlichen Bezugszeitraum feststellen [lässt]“ (4).

    3.1.4

    Die Frage ist, wie viel Einfluss die Bezugszeiträume auf die Gesundheit und die Sicherheit des Arbeitnehmers haben. Die Kommission geht auf diese Frage nicht ein. Selbstverständlich ist ein erhöhtes Arbeitsaufkommen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums eine Belastung, aber da der jährliche Bezugszeitraum tatsächlich durch viele Tarifverträge in hohem Maße angewendet wird, kann davon ausgegangen werden, dass etwaige negative Auswirkungen auf Gesundheit und Sicherheit bei einem längeren Bezugszeitraum durch die Tarifpartner ausgeglichen werden, wenn gleichwertige Ausgleichruhezeiten gewährt werden.

    3.1.5

    Ein zugunsten des verlängerten Bezugszeitraumes ins Felde geführtes Argument ist die größere Flexibilität, die Unternehmen im Umgang mit der Arbeitszeit erhalten. Eine solche Flexibilität herrscht dank der Tarifverträge bereits in vielen Ländern; das Problem der geringen Flexibilität betrifft eher diejenigen Länder, in denen Tarifverträge traditionell eine untergeordnete Rolle spielen. Es wäre wichtig, auch im Bereich der Arbeitszeiten eine Stärkung des Tarifvertragssystems zu fordern, auch in den Ländern und Sektoren, in denen es nicht besonders stark ausgeprägt ist.

    3.1.6

    Der EWSA stellt fest, dass es in Artikel 137 des EG-Vertrages, der die Grundlage für die Arbeitszeitrichtlinie bildet, heißt, dass die aufgrund dieses Artikels anzunehmenden „Richtlinien […] keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben [sollen], die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen“.

    3.1.7

    Da ein Bezugszeitraum von zwölf Monaten bereits in vielen Mitgliedstaaten durch Tarifverträge angewendet wird, vertritt der EWSA die Auffassung, dass die derzeitige Regelung mit der Möglichkeit, den Bezugszeitraum durch Tarifverträge auszuweiten, den Sozialpartnern die notwendige Flexibilität gewährt, um Arbeitszeiten an die jeweilige Situation in den Mitgliedstaaten, Sektoren und Betrieben anzupassen. Diese Regelung sollte daher beibehalten werden.

    3.1.8

    In Anbetracht der besonderen Arbeitszeitverhältnisse für Führungskräfte spricht sich der Ausschuss dafür aus, dass die Verbände, die diese Kategorien von Arbeitnehmern vertreten, unmittelbar in die Verfahren und Beratungen zur Festlegung der Rahmenbedingungen für die Arbeitszeit einbezogen werden. Dies würde spezielle Bestimmungen erfordern.

    3.2   Definition der Arbeitszeit

    3.2.1

    Die Arbeitszeitrichtlinie enthält in Artikel 2 eine Definition des Arbeitszeitbegriffes. Als Arbeitszeit gilt „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Artikel 2 Absatz 2 wird im Gegenzug „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“ als Ruhezeit definiert.

    3.2.2

    Der Gerichtshof setzte sich zweimal mit der Arbeitszeitdefinition der Richtlinie auseinander. In seinem ersten Urteil (5), das die Arbeitszeit der Ärzte in medizinischen Einrichtungen betrifft, stellte der Gerichtshof fest, dass der ärztliche Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie zu betrachten ist, falls der Arzt in der betreffenden medizinischen Einrichtung physisch anwesend sein muss. „Bereitschaftszeit“ bzw. „Bereitschaftsdienst“ sind demnach als Verpflichtung zu verstehen, physisch an dem vom Arbeitgeber zugewiesenen Platz anwesend zu sein und in Erwartung von Arbeitsaufgaben zu dessen Verfügung zu stehen. In seinem Urteilsspruch in der Rechtssache Jaeger (6) bestätigte der Gerichtshof seine frühere Auslegung und stellte fest, dass während des Bereitschaftsdienstes auch die Zeiten außerhalb der tatsächlichen Inanspruchnahme als Arbeit des Arztes im Sinne der Richtlinie zu werten seien. Er entschied ferner, dass die Ruhezeit umgehend zu nehmen ist.

    3.2.3

    Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass die Gerichtsurteile, besonders im Gesundheitswesen, aber auch in anderen Branchen, weitreichende Konsequenzen für die Arbeitsorganisation haben können. Mehrere Mitgliedstaaten haben in ihrem einzelstaatlichen Recht Bestimmungen zum Bereitschaftsdienst. Diese Bestimmungen sind zwar nicht deckungsgleich, ihr gemeinsamer Nenner ist allerdings, dass der Bereitschaftsdienst überhaupt nicht oder nur in gewissem Umfang als Arbeitszeit betrachtet wird. Er wird aber auch nicht als Ruhezeit gewertet.

    3.2.4

    Beachtenswert ist, dass die Tragweite der Arbeitszeitdefinition gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie vor der Verabschiedung der Richtlinie offenbar nicht erschöpfend analysiert oder erörtert wurde. Nur so erklärt sich die Überraschung, die die Urteile bei den EU-Institutionen und in den Mitgliedstaaten hervorgerufen haben, besonders da eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten die Bereitschaftszeit in ihrem einzelstaatlichen Arbeitszeitrecht geregelt hat.

    3.2.5

    Der Ausschuss schließt sich dem Standpunkt der Kommission an, wonach das Problem auf mehrere Arten gelöst werden könnte. In der derzeitigen Situation möchte der Ausschuss keine der einzelnen Lösungen propagieren. Die gewählte Lösung sollte vor allem:

    im Zusammenhang mit der Arbeitszeit einen besseren Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleisten;

    den Unternehmen und den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung einräumen;

    eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen;

    eine unverhältnismäßige Belastung der Unternehmen, insbesondere der KMU, vermeiden.

    3.3   Anwendung von Ausnahmen gemäß Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i (Opt-out)

    3.3.1

    Artikel 18 der Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten das Recht, von Artikel 6 der Richtlinie, der die Begrenzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden vorschreibt, durch eine gesetzliche Regelung abzuweichen. Dazu müssen allerdings verschiedene Bedingungen erfüllt sein:

    a)

    Der Arbeitnehmer muss sich bereit erklärt haben, länger zu arbeiten;

    b)

    dem Arbeitnehmer dürfen keine Nachteile entstehen, wenn er nicht bereit ist, eine größere Anzahl von Arbeitsstunden zu leisten;

    c)

    der Arbeitgeber muss aktuelle Listen über alle Arbeitnehmer führen, die eine solche Arbeit leisten;

    d)

    die Listen sind den zuständigen Behörden zur Verfügung zu stellen.

    Festzustellen bleibt, dass auch Arbeitnehmer, die unter die Opt-out-Klausel gemäß Artikel 18 fallen, Anrecht auf eine tägliche ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden und eine Pause nach sechs Stunden Arbeit haben.

    3.3.2

    Die Arbeitszeitrichtlinie baut auf einigen unklaren, nicht expressis verbis vorgebrachten Annahmen auf, die als Vorstellung von einer „gesunden Arbeitszeitkultur“ gedeutet werden können. Laut Artikel 137 des EG-Vertrages „unterstützt und ergänzt die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten“ zur Verbesserung der Arbeitsumwelt und „zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer“. Die Existenz der Arbeitszeitrichtlinie und vor allem ihre praktische Umsetzung in den meisten Mitgliedstaaten beweisen, dass auf breiter Front der Wille vorhanden ist, zumindest die ungesunde Arbeitszeitkultur zu begrenzen. Die Opt-out-Möglichkeit nach Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i kann deshalb ausdrücklich nur dann zur Anwendung kommen, wenn der Mitgliedstaat die übergeordneten Prinzipien des „Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer“ respektiert.

    3.3.3

    Eine Beurteilung der Daseinsberechtigung der Opt-out-Möglichkeit muss davon abhängig gemacht werden, ob ein Zusammenhang zwischen einer Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden und der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer nachgewiesen werden kann. Die Kommission schreibt in ihrer Mitteilung, dass eine Analyse der Auswirkungen der Ausnahmeregelung auf die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer „nicht möglich zu sein [scheint], weil es an zuverlässigen Daten fehlt“ (7). Gleichzeitig erwähnt sie jedoch eine aktuelle Studie, die auf eine mögliche Verbindung zwischen langen Arbeitszeiten und körperlicher Gesundheit hinweist, besonders bei einer Arbeitszeit von mehr als 48-50 Stunden pro Woche. Der EWSA hatte sich bereits in seiner Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag von 1990 wie folgt geäußert: „Aus zahlreichen Untersuchungen geht nämlich hervor, dass überlange Arbeitszeiten ohne Ruhezeiten […] die Gesundheit der betreffenden Arbeitnehmer beeinträchtigen und für arbeitsbedingte Erkrankungen und Gesundheitsverschleiß verantwortlich sein können (8).“

    3.3.4

    Ein im Zusammenhang mit der Opt-out-Möglichkeit wichtiges Kriterium ist die Freiwilligkeit. Den Bestimmungen der Richtlinie zufolge soll dem Arbeitnehmer stets die Entscheidung überlassen sein, nicht mehr als durchschnittlich 48 Stunden pro Woche zu arbeiten. Diese Bestimmungen sind als realitätsfern kritisiert worden, da ein Arbeitnehmer z. B. bei der Einstellung die Unterschrift unter eine solche Vereinbarung kaum verweigern werde.

    3.3.5

    In der Mitteilung der Kommission wird eine Arbeitgeberuntersuchung in Großbritannien erwähnt, der zufolge 48 % der Arbeitnehmer im Baugewerbe länger als 48 Stunden pro Woche arbeiten (9). Angesichts der Tatsache, dass es sich in vielen Fällen sicherlich um Arbeiten handelt, die körperliche Belastbarkeit und Genauigkeit erfordern, ist dies ein erstaunlich hoher Wert. Der Nutzen für den Arbeitgeber aus den letzten Arbeitsstunden – in denen der Arbeitnehmer wegen der Überstundenzulagen ohnehin eine teure Arbeitskraft ist – ist relativ gering. Somit muss gefragt werden, ob die allgemein lange Arbeitszeit in Großbritannien nicht mit anderen strukturellen Problemen zusammenhängt.

    3.3.6

    Eine wichtige Frage ist, wie sich lange Arbeitszeiten auf die Familie auswirken. Wie kommen Familien mit Kindern klar, in denen beide Elternteile länger als 48 Stunden pro Woche arbeiten? Verhält es sich so, dass die allgemein lange Arbeitszeit einen Elternteil – in den meisten Fällen die Frau - ganz oder teilweise vom Arbeitsmarkt verdrängt? Trifft dies zu, wäre die Opt-out-Möglichkeit mit Blick auf die Erfüllung des Zieles der Lissabon-Strategie, der zufolge bis 2010 EU-weit 60 % der weiblichen Bevölkerung im Erwerbsleben stehen sollen, als kontraproduktiv zu betrachten. Überraschend ist die Tatsache, dass der Unterschied zwischen der Erwerbsquote britischer Männer und britischer Frauen unter dem EU-Durchschnitt liegt, während andererseits Großbritannien nach den Niederlanden das EU-Land ist, in dem relativ die meisten Frauen - etwa die Hälfte - einer Teilzeittätigkeit nachgehen (10). Laut Mitteilung der Kommission arbeiten 26,2 % der britischen Männer länger als 48 Stunden pro Woche, während der entsprechende Anteil an den Frauen bei 11,5 % liegt (11). Eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie (12) gelangt zu dem Schluss, dass eine fehlende Überstundenkontrolle für weibliche Beschäftigte ein Gesundheitsrisiko darstellt, speziell wenn die Betroffenen manuelle Tätigkeiten verrichten und Familie haben. Die Opt-out-Möglichkeit scheint somit auch einen negativen Effekt auf die Chancengleichheit von Männern und Frauen zu haben. Eine eingehendere Analyse dieses Aspekts wäre vonnöten.

    3.3.7

    Der EWSA möchte sich in diesem Stadium nicht zu der Opt-out-Möglichkeit äußern. Um Stellung zu dieser Frage zu beziehen, wäre eine tiefer gehende Analyse der Situation unter Einbeziehung der Sozialpartner notwendig.

    3.4   Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben

    3.4.1

    Was bedeutet bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für den einzelnen Arbeitnehmer? Welcher Stellenwert kommt dem Familienleben zu? Eltern von Kleinkindern dürfte die Beantwortung dieser Frage nicht schwer fallen. Stellt man dieselbe Frage einem kinderlosen Paar, fällt die Antwort sicherlich ganz anders aus. Ein alleinerziehender Vater wiederum wird mit einer dritten Antwort aufwarten. Mithin lässt sich die Frage nach der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht eindeutig beantworten.

    3.4.2

    Ganz allgemein dürfte jedoch die Aussage zutreffen, dass die Möglichkeit zur persönlichen Beeinflussung bzw. Steuerung der eigenen Arbeitssituation von den meisten Menschen als positiv empfunden und als Beitrag zu einem guten Arbeitsklima gewertet wird. Besonders gilt dies für Eltern von Kleinkindern. Das Europäische Parlament hat eine Entschließung zur Arbeitszeitgestaltung angenommen. Darin

    unterstreicht es, dass Frauen stärker negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen ausgesetzt sind, wenn sie die Doppelbelastung von Berufstätigkeit und familiären Verpflichtungen zu tragen haben;

    verweist es auf den beängstigenden Trend, dass Frauen zwei Teilzeitbeschäftigungen nachgehen, häufig mit einer kombinierten Arbeitswoche, die die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit überschreitet, um genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen;

    unterstreicht es, dass die Kultur der vielen Arbeitsstunden in höher qualifizierten Berufen und leitenden Stellungen ein Hindernis für die Mobilität von Frauen nach oben darstellt und die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz verstärkt (13).

    Der EWSA schließt sich nachdrücklich dieser Aussage an, allerdings mit dem Zusatz, dass dieses Problem nicht nur Frauen, sondern grundsätzlich Eltern betrifft, die Probleme haben, Beruf und die familiären Verpflichtungen miteinander in Einklang zu bringen. Hinzu kommt, dass mit solchen Situationen auch Gesundheitsgefahren verbunden sind können.

    3.4.3

    Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass ein wichtiger Aspekt der Arbeitszeitgestaltung sein muss, dass alle die nicht vollständig durch das Berufs- und das Familienleben gebundene Zeit für eine intensivere Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie nutzen können.

    3.4.4

    Derzeit gibt es im Gemeinschaftsrecht und im einzelstaatlichen Recht Bestimmungen, die Familienleben und Kindererziehung mit beruflicher Tätigkeit vereinbar machen sollen. So bestehen z.B. Bestimmungen über Elternurlaub, Teilzeitbeschäftigung, Telearbeit, Gleitzeit usw. Der Ausschuss würde es begrüßen, wenn eine „Bestandsaufnahme“ der bereits bestehenden Bestimmungen unter Einbeziehung der Sozialpartner durchgeführt würde, bevor neue Maßnahmen und deren Diskussion vorgeschlagen werden. Der EWSA regt an, dass die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit einer einschlägigen Studie beauftragt wird. Die Stiftung hat bereits einen Bericht vorgelegt, der teilweise auf die aktuellen Problemstellungen eingeht (14).

    Brüssel, den 30. Juni 2004

    Der Präsident

    des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Roger BRIESCH


    (1)  Bericht der Kommission — Stand der Umsetzung der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung („Arbeitszeitrichtlinie“), KOM(2000) 787 endg.

    (2)  

    1.

    von vier auf sechs Monate durch Tarifvertrag oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern (Bezugnahme auf Art. 17 (3) im ersten Satz von Art. 17 (4)).

    2.

    Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten zulassen, den Bezugszeitraum im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen der Sozialpartner auf maximal zwölf Monate auszudehnen „mit der Maßgabe, dass sie dabei die allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer wahren“ und „aus objektiven, technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen“.

    (3)  KOM(2003) 843 endg., S. 6.

    (4)  KOM(2003) 843 endg., S. 7.

    (5)  Urteil des Gerichtshofs vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-303/98 (Simap).

    (6)  Urteil des Gerichtshofs vom 9. Oktober 2003 in der Rechtssache C-151/02 (Jaeger), noch nicht veröffentlicht.

    (7)  KOM(2003) 843 endg., S. 17.

    (8)  ABl. C 60 vom 8.3.1991, S. 26.

    (9)  KOM(2003) 843 endg., S. 13.

    (10)  Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Bericht zur Gleichstellung von Frau und Mann — 2004“ (KOM(2004) 115 endg., S. 16.

    (11)  KOM(2003) 843 endg.

    (12)  ALA-Mursula et al.: „Effect of employee worktime control on health: a prospective cohort study“, Occupational and Environmental Medicine Journal, Band 61, Seite 254-261, Nr. 3, März 2004.

    (13)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Februar 2004 zur Arbeitszeitgestaltung (Revision der Richtlinie 93/104/EG), P5_TA-PROV(2004)0089, Ziffer 20-22.

    (14)  „A new organisation of time over working life“ („ Neuorganisation der Zeit im Verlauf des Arbeitslebens“), Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, 2003.


    ANHANG

    zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Folgender Änderungsantrag, der mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen erhielt, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

    Ziffer 3.1.7

    Wie folgt ersetzen:

    „In ihrer Mitteilung vom 19. Mai schlägt die Kommission eine Ausdehnung des Bezugszeitraums vor, wobei sie jedoch noch keinen konkreten Vorschlag unterbreitet. Aus diesem Grund beabsichtigt der EWSA nicht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt Stellung zu nehmen. Der Ausschuss wird sich äußern, wenn er zu dem Richtlinienentwurf gehört wird.“

    Begründung

    Zu zwei anderen Themen (Definition der Arbeitszeit, Ziffer 3.2.5, und der Opt-out-Möglichkeit, Ziffer 3.3.7) äußert sich der EWSA in Erwartung konkreterer Vorschläge nicht. Daher ist ein entsprechendes Vorgehen auch hinsichtlich des Bezugszeitraums gerechtfertigt.

    Ergebnis der Abstimmung:

    Ja-Stimmen:

    84

    Nein-Stimmen:

    135

    Stimmenthaltungen:

    7


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