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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62021CJ0069

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. November 2022.
    X gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
    Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Art. 4, 7 und 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung – Recht zum Aufenthalt aus medizinischen Gründen – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung – Im Herkunftsland nicht verfügbare Behandlung – Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung aufgeschoben werden muss.
    Rechtssache C-69/21.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2022:913

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    22. November 2022 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Art. 4, 7 und 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung – Recht zum Aufenthalt aus medizinischen Gründen – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung – Im Herkunftsland nicht verfügbare Behandlung – Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung aufgeschoben werden muss“

    In der Rechtssache C‑69/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) mit Entscheidung vom 4. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Februar 2021, in dem Verfahren

    X

    gegen

    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan, M. Safjan, P. G. Xuereb und D. Gratsias, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter J. Passer, M. Gavalec und Z. Csehi,

    Generalanwalt: P. Pikamäe,

    Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von X, vertreten durch J. W. F. Noot, Advocaat,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel, C. Cattabriga und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1, 4 und 7 sowie von Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über die Rechtmäßigkeit eines von Letzterem gegen X eingeleiteten Rückkehrverfahrens.

    Rechtlicher Rahmen

    Völkerrecht

    3

    Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung enthält einen Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“), der in Abs. 1 vorsieht:

    „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“

    Unionsrecht

    4

    Die Erwägungsgründe 2 und 4 der Richtlinie 2008/115 lauten:

    „(2)

    Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

    (4)

    Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.“

    5

    Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

    a)

    die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

    b)

    die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“

    6

    Art. 3 der Richtlinie bestimmt:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

    3.

    ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

    deren Herkunftsland oder

    ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

    ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

    …“

    7

    Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

    „Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen.“

    8

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

    „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

    a)

    das Wohl des Kindes,

    b)

    die familiären Bindungen,

    c)

    den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

    und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

    9

    Art. 6 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie lautet:

    „(1)   Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

    (4)   Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.“

    10

    Art. 8 („Abschiebung“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

    11

    In Art. 9 der Richtlinie heißt es:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,

    a)

    wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder

    b)

    solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.

    (2)   Die Mitgliedstaaten können die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere

    a)

    die körperliche oder psychische Verfassung der betreffenden Drittstaatsangehörigen;

    b)

    technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten oder Scheitern der Abschiebung aufgrund von Unklarheit über die Identität.

    …“

    Niederländisches Recht

    12

    Art. 64 der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Vreemdelingenwet 2000) (Gesetz über die vollständige Reform des Ausländergesetzes 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:

    „Die Abschiebung wird so lange aufgeschoben, wie der Gesundheitszustand des Ausländers oder eines seiner Familienangehörigen eine Reise nicht zulässt.“

    13

    Die Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrundverfügung von 2000) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländerrundverfügung) sieht vor:

    „…

    7. Keine Abschiebung aus gesundheitlichen Gründen

    7.1 Allgemeine Bestimmungen

    Der [Immigratie- en Naturalisatiedienst (IND) (Behörde für Immigration und Einbürgerung, Niederlande] kann einen Aufschub der Ausreise nach Art. 64 des Ausländergesetzes gewähren, wenn

    der Ausländer gesundheitlich nicht in der Lage ist, zu reisen; oder

    aus gesundheitlichen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] besteht.

    7.1.1 Der Ausländer ist nicht in der Lage, zu reisen

    Dem Ausländer wird gemäß Art. 64 des Ausländergesetzes ein Aufschub gewährt, wenn das [Bureau Medische Advisering (BMA) (Büro für medizinische Beratung des Ministeriums für Sicherheit und Justiz, Niederlande)] angibt, dass der Gesundheitszustand des Ausländers oder eines seiner Familienangehörigen eine Reise nicht zulässt.

    7.1.3 Tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus medizinischen Gründen

    Dem Ausländer wird gemäß Art. 64 des Ausländergesetzes ein Aufschub der Ausreise gewährt, wenn aus gesundheitlichen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten besteht.

    Eine tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten besteht nur:

    wenn aus dem Gutachten des BMA hervorgeht, dass das Ausbleiben der medizinischen Behandlung aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer medizinischen Notlage führen wird; und

    wenn die erforderliche medizinische Behandlung in seinem Herkunfts- oder Wohnsitzland nicht verfügbar ist; oder

    wenn die erforderliche medizinische Behandlung zwar verfügbar, aber nachweislich nicht zugänglich ist.

    Medizinische Notlage

    Unter einer medizinischen Notlage versteht der IND eine Situation, in der der Ausländer an einer Erkrankung leidet, von der nach dem aktuellen Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse feststeht, dass das Ausbleiben einer Behandlung innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten zum Tod, zur Invalidität oder zu einer anderen Form schwerer psychischer oder physischer Schäden führen wird.

    …“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    14

    Der 1988 geborene russische Staatsangehörige X erkrankte im Alter von 16 Jahren an einer seltenen Form von Blutkrebs, wegen der er sich derzeit in den Niederlanden in Behandlung befindet. Seine medizinische Behandlung besteht u. a. in Aderlässen und in der Verabreichung von medizinischem Cannabis zur Schmerzbekämpfung. Diese medizinische Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis ist in Russland nicht erlaubt.

    15

    Am 31. Oktober 2013 stellte X einen ersten Asylantrag in den Niederlanden. Der Staatssekretär entschied jedoch, dass das Königreich Schweden der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

    16

    Am 13. Dezember 2013 beantragte X auf der Grundlage von Art. 64 des Ausländergesetzes den Aufschub seiner Ausreise aufgrund seines Gesundheitszustands. Mit Bescheid vom 24. Dezember 2013 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag ab.

    17

    Am 19. Mai 2016 stellte X erneut einen Asylantrag in den Niederlanden, da die Frist, innerhalb derer er nach Schweden hätte überstellt werden können, zwischenzeitlich abgelaufen war. Zur Stützung dieses neuen Antrags machte X geltend, dass die medizinische Behandlung, die er in Russland zur Bekämpfung der mit seiner Krankheit verbundenen Schmerzen erhalten habe, bei ihm Nebenwirkungen verursacht habe und dass er festgestellt habe, dass die Einnahme von medizinischem Cannabis in Anbetracht seines Gesundheitszustands für ihn besser sei. Da der Gebrauch von medizinischem Cannabis in seinem Herkunftsland nicht erlaubt sei, habe er in diesem Land Cannabispflanzen zu medizinischen Zwecken angebaut, was ihn dort in derartige Schwierigkeiten gebracht habe, dass er nunmehr um internationalen Schutz nachsuche. Anlässlich dieses Asylantrags beantragte X außerdem, seine Abschiebung nach Art. 64 des Ausländergesetzes aufzuschieben.

    18

    Mit Bescheid vom 29. März 2018 lehnte der Staatssekretär den Asylantrag von X nach Stellungnahme des BMA mit der Begründung ab, dass die Probleme, die er aufgrund des Cannabisanbaus zum persönlichen Gebrauch in Russland angeblich gehabt habe, nicht glaubhaft seien. Er entschied ferner, dass X keinen weiteren Aufenthaltstitel erhalten könne, und lehnte dessen Antrag nach Art. 64 des Ausländergesetzes auf Aussetzung der Vollziehung seiner Rückkehrverpflichtung ab.

    19

    Mit Urteil vom 20. Dezember 2018 hob die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) diesen Bescheid teilweise auf. Dieses Gericht bestätigte zwar, dass X weder die Flüchtlingseigenschaft noch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten beanspruchen könne, wies den Staatssekretär jedoch an, sowohl das Vorbringen von X, er habe einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), als auch seinen auf Art. 64 des Ausländergesetzes gestützten Antrag erneut zu prüfen. Dieses Urteil wurde mit Urteil des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) vom 28. März 2019 bestätigt.

    20

    Am 19. Februar 2020 lehnte es der Staatssekretär erneut ab, X ein befristetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 8 EMRK zu erteilen und seine Abschiebung aufzuschieben. Außerdem erließ er eine Rückkehrentscheidung, mit der X angewiesen wurde, das niederländische Hoheitsgebiet binnen vier Wochen zu verlassen.

    21

    Gegen diese Rückkehrentscheidung legte X beim vorlegenden Gericht einen Rechtsbehelf ein. Er ist der Ansicht, dass ihm ein Aufenthaltstitel nach Art. 8 EMRK oder zumindest ein Aufschub der Abschiebung nach Art. 64 des Ausländergesetzes gewährt werden müsse. Insoweit macht er geltend, die schmerzlindernde Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis, die er in den Niederlanden erhalte, sei für ihn so wesentlich, dass er bei Einstellung dieser Behandlung nicht mehr auf menschenwürdige Weise leben könne. Er weist insbesondere darauf hin, dass die Schmerzen im Fall eines Abbruchs dieser Behandlung so groß wären, dass er nicht mehr schlafen und sich nicht mehr ernähren könne, was erhebliche Auswirkungen nicht nur auf seinen physischen, sondern auch auf seinen psychischen Zustand hätte, da dies bei ihm Depressionen und Suizidgedanken auslösen würde.

    22

    Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geht aus dem Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452), hervor, dass der Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen die Gewährung subsidiären Schutzes nicht rechtfertigen kann. Außerdem stehe fest, dass X die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr beantrage.

    23

    Allerdings weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass nach niederländischem Recht eine Abschiebung aufgeschoben werden könne, wenn der betroffene Ausländer aus medizinischer Sicht nicht in der Lage sei, zu reisen, oder aus medizinischen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bestehe.

    24

    Der zweite Fall würde voraussetzen, dass sich aus der Stellungnahme des BMA zum einen ergebe, dass der Abbruch der betreffenden medizinischen Behandlung für den Betroffenen aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer „medizinischen Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung führen würde, und zum anderen, dass die geeignete medizinische Behandlung im Zielland nicht verfügbar sei oder dass sie dem betroffenen Ausländer nicht zugänglich sei.

    25

    In seiner auf Ersuchen des Staatssekretärs abgegebenen Stellungnahme wies das BMA u. a. darauf hin, dass zwar vorhersehbar sei, dass X ohne die Vornahme von Aderlässen kurzfristig in eine solche „medizinische Notlage“ geraten werde, doch sei eine solche Behandlung in Russland verfügbar. Hingegen sei es nicht möglich, sich zu den medizinischen Folgen für X zu äußern, die ein Abbruch seiner schmerzlindernden Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis habe, da die medizinische Wirkung von Cannabis nicht nachgewiesen sei. Das BMA wies ferner darauf hin, dass keine schmerzbezogenen Störungen mitgeteilt worden seien, die befürchten ließen, dass X versterben oder bei der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten auf andere angewiesen sein könnte. Daher könne nicht behauptet werden, dass der Gebrauch von medizinischem Cannabis es ermögliche, den kurzfristigen Eintritt einer solchen „medizinische Notlage“ zu verhindern. Das BMA war ferner der Ansicht, dass es auf dem Markt genügend andere Schmerzmittel gebe, die X verabreicht werden könnten.

    26

    Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich jedoch aus den von X vorgelegten Informationen, dass dessen behandelnde Ärzte der Ansicht sind, dass der Gebrauch von medizinischem Cannabis die einzige geeignete Behandlung des Betroffenen gegen die Schmerzen sei. Zudem ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass X dargetan habe, dass die Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis nur verordnet und angewandt werde, wenn andere Methoden der Schmerzbekämpfung nicht nur unwirksam, sondern auch kontraindiziert seien.

    27

    Das vorlegende Gericht stellt im Übrigen fest, dass in Russland keine geeignete schmerzlindernde Behandlung zur Verfügung stehe. Würde die Abschiebung von X also nicht aufgeschoben, so würde die Schmerzbehandlung, die er erhalte, abgebrochen und die Intensität seiner Schmerzen nähme zu. Hingegen sei es nicht möglich, festzustellen, ob die Zunahme der Schmerzen von X aufgrund des Abbruchs seiner Behandlung zu einer Verschlimmerung seiner Krankheit führen würde, selbst wenn es in Anbetracht der dem vorlegenden Gericht vorliegenden Informationen wahrscheinlich sei, dass dies nicht der Fall sein werde. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es, bevor es ein medizinisches Gutachten über die Zunahme der Schmerzen einhole, der X infolge der Einstellung der Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis ausgesetzt sein könne, geboten sei, durch eine Auslegung des Unionsrechts zu bestimmen, wie ein solcher Parameter zu berücksichtigen sei.

    28

    Zweitens macht das vorlegende Gericht geltend, dass nach ständiger Rechtsprechung des Raad van State (Staatsrat), die sich auf das Erfordernis einer raschen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Betroffenen im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Dezember 2016, Paposhvili/Belgien (CE:ECHR:2016:1213JUD004173810) (im Folgenden: Urteil Paposhvili) stütze, nur die medizinischen Folgen, die innerhalb von drei Monaten nach Abbruch der medizinischen Behandlung des Betroffenen einträten, bei der Feststellung zu berücksichtigen seien, ob ein solcher Abbruch zu einer „medizinischen Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung führe.

    29

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe im Urteil Paposhvili jedoch keine ausdrückliche Frist festgelegt. Daher sei zu bestimmen, ob die Folgen des Abbruchs der medizinischen Behandlung eines schwer kranken Drittstaatsangehörigen im Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland nur dann unter Art. 4 der Charta fallen könnten, wenn sie innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten einträten, und zwar unabhängig von der Erkrankung und unabhängig von den nach dem Abbruch der Behandlung wahrscheinlich eintretenden medizinischen Folgen.

    30

    Drittens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat) entschieden habe, dass gemäß dem Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), nach Art. 64 des Ausländergesetzes auch zu prüfen sei, ob die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen, der an einer besonders schweren physischen oder psychischen Erkrankung leide, als solche die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK begründen könne. Diese Beurteilung solle jedoch nur im Rahmen der Prüfung der Bedingungen erfolgen, unter denen der betreffende Ausländer reisen könne. Daraus folge zum einen, dass das BMA niemals darum ersucht werde, zu prüfen, ob das Prozedere zur Abschiebung dieses Drittstaatsangehörigen als solches medizinische Folgen haben könne, die aufträten, nachdem er in das Zielland abgeschoben worden sei, und zum anderen, dass diese Folgen bei der Bestimmung, ob eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung einer solchen Abschiebung entgegenstehe, nicht berücksichtigt würden.

    31

    Eine solche Prüfung könne daher schwerlich dem entgegenstehen, dass die Abschiebung des Betroffenen auch dann aufgeschoben werde, wenn eine Verschlimmerung des Zustands seiner psychischen Gesundheit – wie etwa die Gefahr eines Suizids –, die durch die Abschiebung selbst hervorgerufen werde, zu befürchten sein könnte.

    32

    Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob es sich darauf beschränken kann, zu beurteilen, ob die medizinischen Folgen der Abschiebung des Betroffenen, mit bestimmten Anpassungen, während der Abschiebung begrenzt bleiben. Zudem weist es darauf hin, dass im Fall von X die Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis nicht während der Abschiebung als solcher erfolgen könne, und dass X geltend gemacht habe, dass die Zunahme seiner Schmerzen bei ihm Depressionen und Suizidgedanken auslöse.

    33

    Viertens ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zu bestimmen, ob die Schwere der Erkrankung eines Drittstaatsangehörigen und der Umstand, dass er in dem Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, medizinisch behandelt wird, Aspekte seines Privatlebens darstellen können, dessen Achtung nach Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK zu gewährleisten ist.

    34

    Konkret fragt sich das vorlegende Gericht, ob die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats prüfen müssen, ob einem Drittstaatsangehörigen aufgrund des Rechts auf Achtung des Privatlebens ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist und ob die Achtung des Privatlebens des Betroffenen einen Aspekt darstellt, der bei der Entscheidung über seinen Antrag, den Vollzug der gegen ihn erlassenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme aufzuschieben, zu berücksichtigen ist.

    35

    Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) das Verfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Kann eine erhebliche Zunahme der Schmerzintensität durch das Fehlen einer medizinischen Behandlung bei unverändertem Krankheitsbild eine Situation darstellen, die Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta zuwiderläuft, wenn die sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Ausreisepflicht nicht ausgesetzt wird?

    2.

    Ist die Festlegung einer starren Frist, innerhalb derer sich die Folgen des Fehlens einer medizinischen Behandlung zeigen müssen, um gesundheitliche Hindernisse für eine sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Rückkehrpflicht anzunehmen, mit Art. 4 der Charta in Verbindung mit Art. 1 der Charta vereinbar? Falls die Festlegung einer starren Frist dem Unionsrecht nicht zuwiderläuft, ist es einem Mitgliedstaat dann erlaubt, eine allgemeine Frist festzulegen, die für alle möglichen Erkrankungen und alle möglichen gesundheitlichen Folgen gleich ist?

    3.

    Ist eine Regelung, nach der die Folgen der Abschiebung ausschließlich im Rahmen der Frage zu beurteilen sind, ob und unter welchen Bedingungen der Ausländer reisen kann, mit Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie der Richtlinie 2008/115 vereinbar?

    4.

    Verlangt Art. 7 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass der Gesundheitszustand des Ausländers und die Behandlung, die er insoweit im Mitgliedstaat erhält, im Rahmen der Frage beurteilt wird, ob der Aufenthalt auf der Grundlage des Privatlebens zu gestatten ist? Verlangt Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass bei der Beurteilung, ob gesundheitliche Probleme als Abschiebungshindernisse angesehen werden können, auf das Privat- und Familienleben im Sinne von Art. 7 der Charta abgestellt wird?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

    36

    Die niederländische Regierung stellt erstens die Zulässigkeit der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen in Abrede, da diese verfrüht seien. Vor einer Anrufung des Gerichtshofs hätte das vorlegende Gericht nämlich den Antrag von X, ihm ein Recht auf Aufenthalt im niederländischen Hoheitsgebiet zuzuerkennen, zurückweisen müssen, da die Richtlinie 2008/115 nur dann auf diesen Drittstaatsangehörigen anwendbar sei, wenn er sich illegal in diesem Hoheitsgebiet aufhalte.

    37

    Den nationalen Gerichten steht es jedoch frei, den Gerichtshof in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, anzurufen, und zwar auch in einem frühen Stadium des Verfahrens (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov,C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26, und vom 14. November 2018, Memoria und Dall’Antonia, C‑342/17, EU:C:2018:906, Rn. 33).

    38

    Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Asylantrag von X vom Staatssekretär abgelehnt wurde, so dass er sich grundsätzlich illegal im niederländischen Hoheitsgebiet aufhält und folglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, es sei denn, er hätte Anspruch auf Gewährung eines Rechts auf Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet, u. a. nach dem Unionsrecht, was genau Gegenstand der vierten Vorlagefrage ist.

    39

    Folglich ist das Vorbringen der niederländischen Regierung, die Vorlagefragen seien verfrüht, zurückzuweisen.

    40

    Zweitens ist die niederländische Regierung der Ansicht, dass die zweite Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei, da sie im Wesentlichen darauf abziele, zu bestimmen, ob ein Mitgliedstaat verlangen könne, dass sich die im Fall der Rückkehr zu befürchtende Verschlechterung des Gesundheitszustands des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer bestimmten Frist nach der Rückkehr manifestiere. Eine solche Frist sei aber im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht entscheidend, da die Weigerung, die Abschiebung von X aufzuschieben, im Wesentlichen damit gerechtfertigt worden sei, dass in seinem Herkunftsland nicht kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung zu befürchten gewesen sei, weil die Schmerzen von X nicht mit den Symptomen seiner Krankheit zusammenhingen und es in diesem Land alternative Behandlungsmöglichkeiten gebe.

    41

    Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten des Ausgangsverfahrens die Erheblichkeit der Frage zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über eine ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft. Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine solche Vorlagefrage zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a.C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 41 und 42).

    42

    Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung steht die mit der zweiten Vorlagefrage erbetene Auslegung des Unionsrechts jedoch nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits.

    43

    Wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, steht nämlich fest, dass die gegen X ergangene Rückkehrentscheidung u. a. darauf gestützt wurde, dass bei einer Rückkehr von X in sein Herkunftsland nicht kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung eintreten würde. Aus der Vorlageentscheidung geht aber klar hervor, dass das Vorliegen einer solchen „medizinischen Notlage“ nach der niederländischen Regelung im Licht der in der Ausländerrundverfügung genannten Dreimonatsfrist zu beurteilen ist, und diese Frist ist gerade Gegenstand der zweiten Vorlagefrage.

    44

    Außerdem ergibt sich aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten Sachverhalt, dass die Schmerzen von X als durch die Krankheit, an der er leidet, verursacht anzusehen sind und dass für diese Schmerzen in seinem Herkunftsland keine alternative Behandlung zur Verfügung steht. Das vorlegende Gericht stellt die Vorlagefragen zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die zweite Vorlagefrage ist daher auf der Grundlage der Tatsachenwürdigung des vorlegenden Gerichts zu prüfen, und zwar unabhängig davon, welche Kritik die niederländische Regierung daran übt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, Caixabank, C‑385/20, EU:C:2022:278, Rn. 34 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    45

    Folglich ist die zweite Vorlagefrage zulässig.

    46

    Was drittens die vierte Vorlagefrage anbelangt, ist zum einen festzustellen, dass diese Frage entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung nicht die Auslegung von Art. 8 EMRK, sondern von Art. 7 der Charta in Verbindung mit anderen Bestimmungen der Charta sowie der Richtlinie 2008/115 betrifft.

    47

    Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung dieser Frage zuständig ist.

    48

    Zum anderen macht die niederländische Regierung geltend, dass diese Frage unzulässig sei, weil das vorlegende Gericht wissen wolle, ob Art. 7 der Charta dahin auszulegen sei, dass X ein Recht zum Aufenthalt in den Niederlanden zuzuerkennen sei, obwohl keine materiell-rechtliche Bestimmung des Unionsrechts es erlaube, ihm ein solches Aufenthaltsrecht zu gewähren.

    49

    Insoweit genügt der Hinweis, dass die Frage, ob die Auslegung der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 der Charta dazu führen kann, dass einem Drittstaatsangehörigen in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuerkannt wird, jedenfalls die inhaltliche Beurteilung dieser Frage betrifft.

    50

    Somit ist die vierte Vorlagefrage zulässig.

    Zur ersten und zur zweiten Frage

    51

    Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, der an einer schweren Krankheit leidet und in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, der Gefahr einer erheblichen Zunahme der durch diese Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat eine enge Frist vorsehen kann, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.

    52

    Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 29 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    53

    In dieser Hinsicht geht zum einen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 32 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    54

    Zum anderen darf ein Mitgliedstaat einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht nach Art. 8 der Richtlinie 2008/115 abschieben, ohne dass zuvor eine Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch diese Richtlinie eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 253).

    55

    Zweitens verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet ist. Dies gilt, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, u. a. dann, wenn diese Behörde nach Anhörung des Betroffenen beabsichtigt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 250 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    56

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115 steht daher dem entgegen, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergeht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.

    57

    Nach Art. 19 Abs. 2 der Charta darf nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, vielmehr gilt dies auch für einen Staat, in dem das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht. Das in diesem Art. 4 aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85).

    58

    Folglich darf gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta in Verbindung mit deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt wäre, keine Entscheidung über die Rückkehr in dieses Land ergehen, solange dieses Risiko fortbesteht.

    59

    Ebenso wenig darf während dieses Zeitraums gegen den Drittstaatsangehörigen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich vorgesehen ist.

    60

    Drittens haben die durch Art. 4 der Charta garantierten Rechte, da sie den durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten entsprechen, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in Art. 3 EMRK verliehen wird (Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 37).

    61

    Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK können die durch eine natürlich auftretende physische oder psychische Erkrankung entstehenden Schmerzen aber unter diesen Art. 3 fallen, wenn sie durch eine von den Behörden zu verantwortende Behandlung – die sich aus Haftbedingungen, einer Ausweisung oder anderen Maßnahmen ergeben kann – verschlimmert werden oder zu werden drohen, sofern die dadurch entstehenden Schmerzen die nach diesem Art. 3 erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 174 und 175, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 38).

    62

    Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass eine Behandlung nur dann unter Art. 3 EMRK fällt, wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht, wobei die Beurteilung dieses Mindestmaßes relativ ist und von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EGMR, Urteil vom 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien, CE:ECHR:2016:1020JUD000733413, § 97; EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    63

    Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 3 EMRK der Abschiebung einer schwer kranken Person entgegensteht, für die unmittelbare Lebensgefahr besteht oder bei der es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass sie, obwohl sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, mit der tatsächlichen Gefahr konfrontiert würde, wegen des Ausbleibens einer angemessenen Behandlung im Zielland oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung führt (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 178 und 183, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 40).

    64

    Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass das Urteil Paposhvili einen Standard aufstellt, der alle für die Zwecke von Art. 3 EMRK relevanten Erwägungen gebührend berücksichtigt, indem er das allgemeine Recht der Staaten wahrt, die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Ausländern zu kontrollieren, und gleichzeitig die absolute Natur dieser Vorschrift anerkennt (EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 133).

    65

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht die für die Anwendung von Art. 4 der Charta in diesem Bereich erforderliche Erheblichkeitsschwelle derjenigen, die unter denselben Umständen nach Art. 3 EMRK erforderlich ist (Urteile vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 67, und vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 37).

    66

    Aus den Rn. 52 bis 65 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen oder ihn abzuschieben, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen diesen aufgrund der Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Versorgung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung oder einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die mit starken Schmerzen verbunden wäre, aussetzen würde.

    67

    Zweitens ist für die Zwecke des Ausgangsverfahrens zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat davon absehen muss, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, der an einer schweren Krankheit leidet, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Drittstaatsangehörige im Fall einer Rückkehr aufgrund des Verbots der einzigen wirksamen schmerzlindernden Behandlung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, ohne dass er durch diese Rückkehr der Gefahr ausgesetzt würde, dass sich die Krankheit, an der er leidet, verschlimmert.

    68

    Insoweit kann ein Mitgliedstaat, wie in den Rn. 61, 63 und 65 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, gegen das in Art. 4 der Charta verankerte Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Schmerzen, die einem Drittstaatsangehörigen durch eine natürlich aufgetretene Krankheit entstehen, durch die von den Behörden dieses Mitgliedstaats erlassene Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme in einem solchen Maß verschlimmern, dass diese Schmerzen die in den genannten Randnummern angeführte Erheblichkeitsschwelle erreichen.

    69

    Folglich genügt der Umstand, dass die Gefahr besteht, dass sich im Fall der Rückkehr eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein die mit der schweren Krankheit dieses Drittstaatsangehörigen verbundenen Schmerzen verschlimmern, nicht, um auszuschließen, dass diese Rückkehr mit Art. 4 der Charta unvereinbar sein kann. Dies gilt umso mehr, als eine Zunahme der mit einer Krankheit verbundenen Schmerzen selbst zu einer Verschlechterung des physischen oder psychischen Gesundheitszustands als solches der betroffenen Person führen kann.

    70

    Allerdings setzt nicht jede Gefahr einer Zunahme von Schmerzen, die sich aus der Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen ergeben würde, diesen einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung aus. Entsprechend den Ausführungen in Rn. 66 des vorliegenden Urteils müssen nämlich außerdem ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt wäre, dass seine Schmerzen rasch, erheblich und unumkehrbar zunehmen.

    71

    Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass u. a. dann ernsthafte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Gefahr besteht, dass ein Drittstaatsangehöriger im Fall seiner Rückkehr einer erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt sein wird, wenn feststeht, dass die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung ihm im Zielland nicht rechtmäßig zuteilwerden kann und dass das Ausbleiben einer solchen Behandlung ihn Schmerzen von einer solchen Intensität aussetzen würde, dass es gegen die Menschenwürde verstoßen würde, weil bei ihm dadurch schwere und unumkehrbare psychische Störungen verursacht würden oder er sogar zum Selbstmord veranlasst werden könnte; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies im Licht aller maßgeblichen, insbesondere medizinischen, Umstände zu prüfen. Konkret ist die Unumkehrbarkeit der Zunahme der Schmerzen unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren, einschließlich der unmittelbaren Auswirkungen und der eher mittelbaren Folgen einer solchen Zunahme, zu beurteilen (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 138).

    72

    Was zweitens das Erfordernis anbelangt, dass die Rückkehr des betroffenen Drittstaatsangehörigen für diesen die Gefahr einer raschen Zunahme seiner Schmerzen mit sich bringt, ist zu betonen, dass diese Voraussetzung nicht so eng ausgelegt werden darf, dass sie der Rückkehr eines schwerkranken Drittstaatsangehörigen nur in den Extremfällen entgegensteht, in denen dieser gleich bei seiner Ankunft im Hoheitsgebiet des Ziellandes oder unmittelbar danach eine erhebliche und nicht unumkehrbare Zunahme seiner Schmerzen erleiden würde. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Zunahme der Schmerzen der betroffenen Person, die durch ihre Rückkehr in ein Land verursacht wird, in dem keine geeigneten Behandlungen zur Verfügung stehen, allmählich erfolgen kann und dass es eine gewisse Zeit dauern kann, bis diese Zunahme erheblich und unumkehrbar wird.

    73

    Außerdem stehen sowohl die Notwendigkeit, bei der Beurteilung der insoweit nach Art. 4 der Charta erforderlichen Erheblichkeitsschwelle alle relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, als auch der spekulative Anteil, der einer solchen prospektiven Prüfung inhärent ist, dem entgegen, dass die Zunahme der Schmerzen eines Drittstaatsangehörigen im Fall der Rückkehr nur dann als rasch angesehen wird, wenn es wahrscheinlich ist, dass sie innerhalb einer im Recht des betreffenden Mitgliedstaats im Voraus absolut festgelegten Frist eintritt.

    74

    Die zuständige nationale Behörde muss nämlich die Frage, wie rasch eine solche Zunahme im Fall einer Rückkehr wahrscheinlich eintreten wird, auf der einen und den Grad der Intensität der Zunahme der Schmerzen, die in einem solchen Fall zu befürchten ist, auf der anderen Seite nach Maßgabe der Krankheit, an der der Drittstaatsangehörige leidet, vergleichend prüfen können.

    75

    Legen die Mitgliedstaaten eine Frist fest, so darf diese nur indikativ sein und entbindet die zuständige nationale Behörde nicht von einer konkreten Prüfung der Situation des betroffenen Drittstaatsangehörigen anhand aller relevanten Umstände, insbesondere der in der vorstehenden Randnummer genannten, unter Berücksichtigung der Krankheit, an der dieser Drittstaatsangehörige leidet.

    76

    Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.

    Zur dritten Vorlagefrage

    77

    Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1, 4 und 19 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem entgegensteht, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.

    78

    Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgeht, dass die betreffende niederländische Regelung unterscheidet zwischen einerseits der Beurteilung der Gefahr, dass der durch die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen verursachte Abbruch von dessen Behandlung kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung hervorruft, und andererseits der Beurteilung der Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher, die sich in den Rahmen der Prüfung der Reisefähigkeit des Drittstaatsangehörigen einfügen muss und die daher voraussetzt, dass nur diejenigen medizinischen Folgen berücksichtigt werden, die während der Abschiebung wahrscheinlich auftreten werden, unter Ausschluss derjenigen Folgen, die sich nach deren Beendigung im Zielland manifestieren können.

    79

    Die niederländische Regierung bestreitet, dass dies die Praxis der betreffenden zuständigen nationalen Behörde sei. Gemäß der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die dritte Frage jedoch ausgehend von der Prämisse des vorlegenden Gerichts zu beantworten.

    80

    Unter Berücksichtigung dieser Klarstellung ergibt sich aus der Begründung der Antwort auf die erste und die zweite Frage, dass Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 verlangen, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen bzw. vor der Abschiebung eines solchen Drittstaatsangehörigen jeden ernsthaften Zweifel hinsichtlich der Gefahr ausschließen können, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen zu einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung dieser Krankheit oder der durch diese verursachten Schmerzen führt. Kann ein solcher Zweifel nicht ausgeräumt werden, darf die zuständige nationale Behörde weder eine Rückkehrentscheidung gegen den betreffenden Drittstaatsangehörigen erlassen noch diesen abschieben.

    81

    Dieses Verbot gilt zwar auch dann, wenn der betreffende Mitgliedstaat nicht in der Lage ist, die Abschiebung als solche des betreffenden Drittstaatsangehörigen so zu organisieren, dass namentlich gewährleistet ist, dass dieser während der Abschiebung nicht der Gefahr einer erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung seiner Krankheit oder seiner Schmerzen ausgesetzt ist, jedoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass es für den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen oder dessen Abschiebung genügt, dass dieser Mitgliedstaat garantiert, dass der Drittstaatsangehörige während der Abschiebung eine angemessene Versorgung erhält. Der betreffende Mitgliedstaat muss sich nämlich vergewissern, dass die betroffene Person, wenn ihr Gesundheitszustand es erfordert, nicht nur während der Abschiebung als solcher eine medizinische Versorgung erhält, sondern auch nach Beendigung der Abschiebung im Zielland (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 76 bis 82).

    82

    Nach alledem sind Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.

    Zur vierten Vorlagefrage

    83

    Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie mit den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Gesundheitszustand eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die dieser aufgrund der schweren Krankheit, an der er leidet, in diesem Hoheitsgebiet erhält, von diesem Mitgliedstaat bei der Beurteilung berücksichtigt werden müssen, ob dem Betroffenen aufgrund des Rechts auf Achtung seines Privatlebens ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuzuerkennen ist oder der Zeitpunkt seiner Abschiebung zu verschieben ist.

    84

    Erstens ist darauf hinzuweisen, dass sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, da diese Richtlinie nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich regelt diese Richtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 44 und 45, sowie vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 43 und 44).

    85

    Daraus folgt, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden kann, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, weil ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre.

    86

    Was insbesondere Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 anbelangt, so beschränkt sich diese Bestimmung darauf, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage ihres nationalen Rechts und nicht des Unionsrechts zu gewähren.

    87

    Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta erweitern deren Bestimmungen jedoch nicht den Geltungsbereich des Unionsrechts. Daher kann nicht angenommen werden, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 7 der Charta verpflichtet sein könnte, einem Drittstaatsangehörigen, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.

    88

    Allerdings ist zweitens darauf hinzuweisen, dass das Hauptziel der Richtlinie 2008/115 – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen besteht (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    89

    Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 – einschließlich, wenn sie beabsichtigen, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen – die Grundrechte beachten müssen, die diesem Drittstaatsangehörigen durch die Charta zuerkannt sind (Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 69).

    90

    Dies gilt insbesondere für das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Drittstaatsangehörigen, wie es in Art. 7 der Charta garantiert wird. Dieses Recht, auf das das vorlegende Gericht in seiner vierten Frage konkret Bezug nimmt, entspricht dem in Art. 8 EMRK garantierten Recht, so dass ihm die gleiche Bedeutung und Tragweite zuzuerkennen ist (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    91

    Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104).

    92

    Ferner ergibt sich, auch wenn der genannte Art. 5 das Privatleben eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen unter den Gesichtspunkten, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 zu berücksichtigen haben, nicht erwähnt, gleichwohl aus den Rn. 88 bis 90 des vorliegenden Urteils, dass eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht ergehen darf, wenn sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen verstoßen würde.

    93

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass medizinische Behandlungen, die einem Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuteilwerden, auch wenn er sich dort illegal aufhält, Teil seines Privatlebens im Sinne von Art. 7 der Charta sind.

    94

    Wie der Generalanwalt in Nr. 114 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, trägt nämlich die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person zu ihrer persönlichen Entfaltung und damit zum tatsächlichen Genuss ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens bei, das zu einem gewissen Grad auch das Recht des Einzelnen umfasst, Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen und zu entwickeln (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 8. April 2021, Vavricka u. a./Tschechische Republik, CE:ECHR:2021:0408JUD004762113, § 261).

    95

    Folglich darf die zuständige nationale Behörde, wie durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 bestätigt wird, eine Rückkehrentscheidung gegen den Drittstaatsangehörigen nur dann erlassen bzw. diesen nur dann abschieben, wenn sie dessen Gesundheitszustand berücksichtigt hat.

    96

    Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, sondern im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden muss. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieses Rechts achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    97

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik, die mit der Richtlinie 2008/115 verfolgt wird, wie in deren zweiten Erwägungsgrund hervorgehoben wird, eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung des Unionsrechts darstellt.

    98

    Allerdings verlangt Art. 52 Abs. 1 der Charta außerdem u. a. die Prüfung, ob der Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, dem im betreffenden Mitgliedstaat eine schmerzlindernde Behandlung zuteilwird, die im Zielland nicht verfügbar ist, nicht den Wesensgehalt seines Rechts auf Privatleben beeinträchtigt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

    99

    Diese Prüfung setzt die Berücksichtigung aller sozialen Bindungen voraus, die dieser Drittstaatsangehörige in dem Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, geschaffen hat, wobei die Verletzlichkeit und der Zustand einer besonderen Abhängigkeit, hervorgerufen durch seinen Gesundheitszustand, gebührend zu berücksichtigen sind. Wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, können jedoch, wenn der Drittstaatsangehörige sein Privatleben in diesem Mitgliedstaat entwickelt hat, ohne dort über einen Aufenthaltstitel zu verfügen, nur außergewöhnliche Gründe dem entgegenstehen, dass gegen ihn ein Rückkehrverfahren durchgeführt wird (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 28. Juli 2020, Pormes/Niederlande, CE:ECHR:2020:0728JUD002540214, §§ 53 und 58).

    100

    Zudem kann der Umstand, dass dem Drittstaatsangehörigen im Fall seiner Rückkehr nicht mehr die gleichen Behandlungen zur Verfügung stünden wie die, die er in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich illegal aufhält, erhält, und dass daher u. a. die Entwicklung seiner sozialen Beziehungen im Zielland beeinträchtigt werden könnte, für sich genommen nicht nach Art. 7 der Charta dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ihn entgegenstehen.

    101

    Wie in den Rn. 60 und 64 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, steht Art. 4 der Charta der Rückkehr eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, nämlich nur unter strengen Voraussetzungen entgegen.

    102

    Daraus folgt, dass Art. 7 der Charta, soll diesen Voraussetzungen nicht ihre Wirksamkeit genommen werden, einen Mitgliedstaat nicht verpflichten kann, auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den Drittstaatsangehörigen allein aufgrund der Gefahr einer Verschlechterung von dessen Gesundheitszustand im Zielland zu verzichten, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

    103

    Nach alledem ist die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen, dass

    sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,

    der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,

    der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.

    Kosten

    104

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit deren Art. 19 Abs. 2

    ist dahin auszulegen, dass

    er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.

     

    2.

    Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte sowie mit deren Art. 19 Abs. 2

    sind dahin auszulegen, dass

    sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.

     

    3.

    Die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte

    ist dahin auszulegen, dass

    sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,

    der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,

    der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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