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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62018CJ0210

    Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 10. Juli 2019.
    WESTbahn Management GmbH gegen ÖBB-Infrastruktur AG.
    Vorabentscheidungsersuchen der Schienen-Control Kommission.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Einheitlicher europäischer Eisenbahnraum – Richtlinie 2012/34/EU – Art. 3 – Begriff ‚Eisenbahninfrastruktur‘ – Anhang II – Mindestzugangspaket – Einbeziehung der Benützung von Personenbahnsteigen.
    Rechtssache C-210/18.

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2019:586

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    10. Juli 2019 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Einheitlicher europäischer Eisenbahnraum – Richtlinie 2012/34/EU – Art. 3 – Begriff ‚Eisenbahninfrastruktur‘ – Anhang II – Mindestzugangspaket – Einbeziehung der Benützung von Personenbahnsteigen“

    In der Rechtssache C‑210/18

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Schienen-Control Kommission (Österreich) mit Entscheidung vom 19. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 23. März 2018, in dem Verfahren

    WESTbahn Management GmbH

    gegen

    ÖBB‑Infrastruktur AG

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters J. Malenovský und der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2019,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der WESTbahn Management GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt R. Schender,

    der ÖBB‑Infrastruktur AG, vertreten durch Rechtsanwalt K. Retter,

    der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, I. Cohen und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte,

    der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. März 2019

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang II der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. 2012, L 343, S. 32).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der WESTbahn Management GmbH und der ÖBB‑Infrastruktur AG über die Rechtmäßigkeit des Stationsentgelts, das ÖBB‑Infrastruktur für die Benützung von Personenbahnsteigen in Bahnhöfen durch WESTbahn Management verlangt.

    Rechtlicher Rahmen

    Verordnung (EWG) Nr. 2598/70

    3

    Anlage 1 Teil A der Verordnung (EWG) Nr. 2598/70 der Kommission vom 18. Dezember 1970 zur Festlegung des Inhalts der verschiedenen Positionen der Verbuchungsschemata des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 1108/70 des Rates vom 4. Juni 1970 (ABl. 1970, L 278, S. 1) sah vor:

    „Die Verkehrswege der Eisenbahn umfassen folgende Anlagen, sofern diese zu den Haupt- und Dienstgleisen gehören, ausgenommen Gleise innerhalb der Ausbesserungswerke, Bahnbetriebswerke oder Lokomotivschuppen sowie private Gleisanschlüsse:

    … Personenbahnsteige und Laderampen;

    …“

    Richtlinie 91/440/EWG

    4

    Art. 3 der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. 1991, L 237, S. 25) bestimmte:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet

    ‚Eisenbahninfrastruktur‘ den in Anlage 1 Teil A der Verordnung … Nr. 2598/70 … definierten Gegenstand …

    …“

    Richtlinie 2001/14/EG

    5

    In Anhang II der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. 2001, L 75, S. 29) hieß es:

    „Für die Eisenbahnunternehmen zu erbringende Leistungen

    1.

    Das Mindestzugangspaket umfasst Folgendes:

    a)

    die Bearbeitung von Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität;

    b)

    das Recht zur Nutzung zugewiesener Fahrwegkapazität;

    c)

    die Nutzung von Weichen und Abzweigungen;

    d)

    die Zugsteuerung einschließlich der Signalisierung, Regelung, Abfertigung und der Übermittlung und Bereitstellung von Informationen über Zugbewegungen;

    e)

    alle anderen Informationen, die zur Durchführung oder zum Betrieb des Verkehrsdienstes, für den Kapazität zugewiesen wurde, erforderlich sind.

    2.

    Der Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen und die entsprechende Erbringung von Leistungen umfasst Folgendes:

    c)

    Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen;

    …“

    Richtlinie 2012/34

    6

    Die Erwägungsgründe 3, 7, 8, 26 und 65 der Richtlinie 2012/34 lauten:

    „(3)

    Die Leistungsfähigkeit des Eisenbahnsystems sollte unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten verbessert werden, damit es sich in einen Wettbewerbsmarkt einfügt.

    (7)

    Der Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit sollte auf den Eisenbahnverkehr unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Verkehrsträgers Anwendung finden.

    (8)

    Um den Wettbewerb im Bereich der Erbringung der Eisenbahnverkehrsleistungen zur Verbesserung von Fahrgastkomfort und ‑betreuung zu stimulieren, sollte die allgemeine Verantwortung für die Entwicklung einer angemessenen Eisenbahninfrastruktur weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegen.

    (26)

    Um einen fairen Wettbewerb zwischen Eisenbahnunternehmen sicherzustellen und um vollständige Transparenz und eine Gleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zu Serviceleistungen und auf deren Erbringung zu gewährleisten, sollte eine Trennung zwischen der Erbringung von Verkehrsdiensten und dem Betrieb von Serviceeinrichtungen vorgenommen werden. …

    (65)

    Es ist wünschenswert festzulegen, welche Bestandteile der Fahrwegbereitstellung wesentliche Voraussetzung für die Durchführung eines Verkehrsdienstes durch ein Eisenbahnunternehmen und als Gegenleistung für Mindestzugangsentgelte zu erbringen sind.“

    7

    Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2012/34 sieht in seinen Nrn. 1 bis 3 vor:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

    1.

    ‚Eisenbahnunternehmen‘ jedes nach dieser Richtlinie zugelassene öffentlich-rechtliche oder private Unternehmen, dessen Haupttätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsdiensten zur Beförderung von Gütern und/oder Personen besteht, wobei dieses Unternehmen die Traktion sicherstellen muss; dies schließt auch Unternehmen ein, die ausschließlich die Traktionsleistung erbringen;

    2.

    ‚Infrastrukturbetreiber‘ jede Stelle oder jedes Unternehmen, die bzw. das insbesondere für die Einrichtung, die Verwaltung und die Unterhaltung der Fahrwege der Eisenbahn, einschließlich Verkehrsmanagement, Zugsteuerung/Zugsicherung und Signalgebung, zuständig ist; mit den bei einem Netz oder Teilen eines Netzes wahrzunehmenden Funktionen des Infrastrukturbetreibers können verschiedene Stellen oder Unternehmen betraut werden;

    3.

    ‚Eisenbahninfrastruktur‘ die in Anhang I aufgeführten Anlagen“.

    8

    Art. 13 („Bedingungen für den Zugang zu Leistungen“) der Richtlinie 2012/34 bestimmt in den Abs. 1, 2 und 4:

    „(1)   Die Infrastrukturbetreiber erbringen für alle Eisenbahnunternehmen auf nichtdiskriminierende Weise die Leistungen des Mindestzugangspakets gemäß Anhang II Nummer 1.

    (2)   Die Betreiber von Serviceeinrichtungen ermöglichen allen Eisenbahnunternehmen unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung Zugang – einschließlich des Schienenzugangs – zu den in Anhang II Nummer 2 genannten Einrichtungen sowie zu den Leistungen, die in diesen Einrichtungen erbracht werden.

    (4)   Anträge von Eisenbahnunternehmen auf Zugang zur Serviceeinrichtung und auf dortige Erbringung von Leistungen nach Anhang II Nummer 2 werden innerhalb einer von der Regulierungsstelle gemäß Artikel 55 festgelegten angemessenen Frist beantwortet. Solche Anträge dürfen nur abgelehnt werden, wenn tragfähige Alternativen vorhanden sind, die es ermöglichen, den betreffenden Güter- oder Personenverkehrsdienst auf denselben Strecken oder Alternativstrecken unter wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen durchzuführen. …“

    9

    Art. 31 (Entgeltgrundsätze“) Abs. 3 und 7 der Richtlinie 2012/34 sieht vor:

    „(3)   Unbeschadet der Absätze 4 und 5 dieses Artikels und unbeschadet des Artikels 32 ist das Entgelt für das Mindestzugangspaket und für den Zugang zu Infrastrukturen, durch die Serviceeinrichtungen angebunden werden, in Höhe der Kosten festzulegen, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen.

    (7)   Die Entgelte für den Schienenzugang innerhalb von Serviceeinrichtungen gemäß Anhang II Nummer 2 und für die Erbringung von Leistungen in diesen Einrichtungen dürfen die Kosten für deren Erbringung, zuzüglich eines angemessenen Gewinns, nicht übersteigen.“

    10

    In Anhang I („Verzeichnis der Eisenbahninfrastrukturanlagen“) der Richtlinie 2012/34 heißt es:

    „Die Eisenbahninfrastruktur umfasst folgende Anlagen, sofern diese zu den Haupt- und Dienstgleisen gehören, ausgenommen Gleise innerhalb der Ausbesserungswerke, Bahnbetriebswerke oder Lokomotivschuppen sowie private Gleisanschlüsse:

    … Personenbahnsteige und Laderampen, auch in Personenbahnhöfen und Güterterminals …

    …“

    11

    In Anhang II („Für die Eisenbahnunternehmen zu erbringende Leistungen [gemäß Artikel 13]“) der Richtlinie 2012/34 heißt es:

    „1.   Das Mindestzugangspaket umfasst Folgendes:

    c)

    die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur einschließlich Weichen und Abzweigungen,

    2.   Der Zugang – einschließlich des Schienenzugangs – wird zu folgenden Serviceeinrichtungen, soweit vorhanden, und zu den Leistungen, die in diesen Einrichtungen erbracht werden, gewährt:

    a)

    Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen, einschließlich Einrichtungen für die Anzeige von Reiseauskünften sowie geeigneter Örtlichkeiten für den Fahrscheinverkauf,

    …“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    12

    ÖBB‑Infrastruktur ist ein „Infrastrukturbetreiber“ im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2012/34, der den größten Teil des österreichischen Schienennetzes betreibt.

    13

    WESTbahn Management, ein „Eisenbahnunternehmen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 1 dieser Richtlinie, nimmt bei ÖBB‑Infrastruktur Bestellungen für Zughalte an Bahnstationen des österreichischen Schienennetzes vor.

    14

    Da WESTbahn Management das von ÖBB‑Infrastruktur für die Nutzung dieser Bahnstationen verlangte Stationsentgelt für überhöht hielt, reichte sie bei der Schienen-Control Kommission (Österreich), der Regulierungsstelle für das österreichische Schienennetz, eine Beschwerde betreffend die Rechtmäßigkeit dieses Entgelts ein.

    15

    Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind darüber uneins, ob die Benützung von Personenbahnsteigen unter das Mindestzugangspaket und insbesondere unter die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur im Sinne von Anhang II Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2012/34 oder unter den Zugang zu den Serviceeinrichtungen im Sinne von Anhang II Nr. 2 Buchst. a dieser Richtlinie fällt.

    16

    Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist diese Frage für die Beurteilung der für die Benützung der Personenbahnsteige zulässigen Entgelthöhe entscheidend. Das Entgelt für das Mindestzugangspaket sei nämlich gemäß Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2012/34 in Höhe der Kosten festzulegen, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfielen. Hingegen dürften gemäß Art. 31 Abs. 7 dieser Richtlinie die Entgelte für den Schienenzugang innerhalb von Serviceeinrichtungen gemäß Anhang II Nr. 2 die Kosten für seine Bereitstellung, zuzüglich eines angemessenen Gewinns, nicht übersteigen.

    17

    Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass bei einer wortlautgetreuen Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2012/34 einer Auslegung der Vorzug zu geben sei, wonach die Benützung der Personenbahnsteige unter das Mindestzugangspaket und insbesondere die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur im Sinne von Anhang II Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2012/34 falle. Gemäß dieser Bestimmung zähle die „Nutzung der Eisenbahninfrastruktur“ – zu der gemäß Anhang I zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie u. a. die „Personenbahnsteige …, auch in Personenbahnhöfen“, gehörten – zum Mindestzugangspaket.

    18

    Anders verhielte es sich jedoch, wenn man die Personenbahnsteige im Wege einer systematischen Auslegung der Richtlinie 2012/34 in die Kategorie einbeziehen würde, die die „Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen“ als Serviceeinrichtungen im Sinne von Anhang II Nr. 2 Buchst. a dieser Richtlinie umfasse, womit sie aus dem in Anhang II Nr. 1 dieser Richtlinie definierten Mindestzugangspaket herausfielen.

    19

    Außerdem habe bis zum Inkrafttreten der Richtlinie 2012/34 die Richtlinie 2001/14 einen Anhang II enthalten, der dem Anhang II der Richtlinie 2012/34 entsprochen habe. Im Gegensatz zu Anhang II der Richtlinie 2012/34 habe Anhang II der Richtlinie 2001/14 jedoch die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur nicht in das Mindestzugangspaket einbezogen, so dass es offensichtlich gewesen sei, dass „Personenbahnsteige“ in die in Anhang II Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/14 angeführte Kategorie „Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen“ hätten eingeordnet werden müssen. Wenn der Unionsgesetzgeber eine Änderung des Kostengrundsatzes für die Benützung von Personenbahnsteigen beabsichtigt hätte, hätte er dies nach Ansicht des vorlegenden Gerichts in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2012/34 angekündigt, zumal eine solche Änderung bedeutende finanzielle Folgen mit sich brächte.

    20

    In diesem Kontext hat die Schienen-Control Kommission (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Anhang II Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass unter den dort benannten Tatbestand „Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen“ die Eisenbahninfrastrukturanlagen „Personenbahnsteige“ gemäß Anhang I 2. Spiegelstrich dieser Richtlinie zu subsumieren sind?

    2.

    Wenn Frage 1 verneint wird:

    Ist Anhang II Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass der dort benannte Tatbestand „die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur“ die Benützung von Personenbahnsteigen gemäß Anhang I 2. Spiegelstrich dieser Richtlinie umfasst?

    Zu den Vorlagefragen

    21

    Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Anhang II der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass die in Anhang I dieser Richtlinie genannten „Personenbahnsteige“ ein Bestandteil der Eisenbahninfrastruktur sind, deren Benützung nach Nr. 1 Buchst. c dieses Anhangs II unter das Mindestzugangspaket fällt, oder eine Serviceeinrichtung im Sinne von Nr. 2 Buchst. a dieses Anhangs II darstellen.

    22

    Zur Beantwortung dieser Fragen ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, EU:C:2010:592, Rn. 49, und vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 37).

    23

    Insoweit ist festzustellen, dass gemäß Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2012/34 unter Eisenbahninfrastruktur die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Anlagen zu verstehen sind.

    24

    Nach diesem Anhang I besteht die Eisenbahninfrastruktur u. a. aus „Personenbahnsteige[n] und Laderampen, auch in Personenbahnhöfen und Güterterminals“.

    25

    Wenn Personenbahnsteige Teil der Eisenbahninfrastruktur sind, folgt daraus zwangsläufig, dass ihre Benützung gemäß Anhang II Nr. 1 Buchst. c dieser Richtlinie unter die „Nutzung der Eisenbahninfrastruktur“ fällt.

    26

    Entsprechend der Auffassung des vorlegenden Gerichts folgt daher unmittelbar aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen der Richtlinie 2012/34, dass die Benützung der Personenbahnsteige unter das in Anhang II Nr. 1 definierte Mindestzugangspaket fällt.

    27

    Diese Auslegung wird sowohl durch den historischen Kontext der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2012/34 als auch durch die mit ihr verfolgten Ziele bestätigt.

    28

    In Bezug auf den historischen Kontext dieser Bestimmungen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass „Personenbahnsteige“ bereits vor dem Erlass der Richtlinie 2012/34 in der Definition der Eisenbahninfrastruktur enthalten waren. Art. 3 dritter Gedankenstrich der Richtlinie 91/440 definierte nämlich die „Eisenbahninfrastruktur“ unter Verweis auf den in Anlage 1 Teil A der Verordnung Nr. 2598/70 definierten Gegenstand, der u. a. „Personenbahnsteige“ enthielt.

    29

    Da unter der Geltung von Anhang II der Richtlinie 2001/14 die „Nutzung der Eisenbahninfrastruktur“ nicht zum Mindestzugangspaket zählte, konnte die Benützung der Personenbahnsteige zwar unter den Zugang zu den „Personenbahnhöfe[n], deren Gebäude[n] und sonstige[n] Einrichtungen“ im Sinne von Anhang II Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/14 fallen.

    30

    Da der Unionsgesetzgeber jedoch in Anhang II Nr. 1 der Richtlinie 2012/34 die „Nutzung der Eisenbahninfrastruktur“ in das Mindestzugangspaket aufgenommen hat, ist davon auszugehen, dass die Benützung der Personenbahnsteige nunmehr unter dieses Mindestzugangspaket fällt.

    31

    Des Weiteren zeugt der Umstand, dass der Gesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2012/34 in deren Anhang I klargestellt hat, dass sich die Eisenbahninfrastruktur u. a. aus den Personenbahnsteigen „auch in Personenbahnhöfen“ zusammensetzt, von dem Willen, zwischen Personenbahnsteigen einerseits und Personenbahnhöfen andererseits zu unterscheiden, wobei nur Letztere Serviceeinrichtungen im Sinne von Anhang II Nr. 2 Buchst. a dieser Richtlinie darstellen.

    32

    Zudem lässt die Tatsache, dass dieser Anhang II durch die Richtlinie (EU) 2016/2370 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 zur Änderung der Richtlinie 2012/34/EU bezüglich der Öffnung des Marktes für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste und der Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur (ABl. 2016, L 352, S. 1) in keiner Weise geändert wurde, den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigt hatte, das Mindestzugangspaket zu erweitern, um darin die Benützung der Personenbahnsteige als Bestandteil der Eisenbahninfrastruktur einzubeziehen.

    33

    Schließlich trifft es zu, dass, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, die mit der Richtlinie 2012/34 erfolgte Erweiterung des Mindestzugangspakets, um darin die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur einzubeziehen, in den Erwägungsgründen dieser Richtlinie nicht speziell begründet wurde. Dies kann jedoch kein Hinderungsgrund dafür sein, Anhang II dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Benützung der Personenbahnsteige unter das Mindestzugangspaket im Sinne dieses Anhangs fällt, da in der ständigen Rechtsprechung bereits klargestellt wurde, dass es, wenn aus einem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung das von dem Organ verfolgte Ziel in seinen wesentlichen Zügen hervorgeht, übertrieben wäre, eine besondere Begründung für die verschiedenen getroffenen technischen Entscheidungen zu verlangen (Urteil vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    34

    Hierzu ist festzustellen, dass die vom Unionsgesetzgeber getroffene Entscheidung mit der Erreichung der Ziele der Richtlinie 2012/34 in Einklang steht.

    35

    Insbesondere aus den Erwägungsgründen 3, 7, 8 und 26 dieser Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese darauf abzielt, die Leistungsfähigkeit des Eisenbahnsystems zu verbessern, damit es sich in einen Wettbewerbsmarkt einfügt, indem u. a. im Bereich der Erbringung der Eisenbahnverkehrsleistungen der faire Wettbewerb stimuliert wird und die Anwendung des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit auf den Eisenbahnverkehr sichergestellt wird.

    36

    Gerade zu diesem Zweck wird in der Richtlinie 2012/34 gemäß ihrem 65. Erwägungsgrund festgelegt, welche Bestandteile der Fahrwegbereitstellung wesentliche Voraussetzung für die Durchführung eines Verkehrsdiensts durch ein Eisenbahnunternehmen und als Gegenleistung für Mindestzugangsentgelte zu erbringen sind.

    37

    Die Regelung der Zugangs- und Entgeltbedingungen für das Mindestzugangspaket ist – u. a. unter Berücksichtigung des wesentlichen Charakters der entsprechenden Leistungen – besonders günstig für die Eisenbahnunternehmen, an die die Infrastrukturbetreiber diese Leistungen erbringen müssen. Art. 13 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2012/34 bestimmen nämlich, dass die Infrastrukturbetreiber für alle Eisenbahnunternehmen auf nicht diskriminierende Weise die Leistungen des Mindestzugangspakets erbringen müssen und als Gegenleistung Entgelte in Höhe der Kosten erhalten, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen.

    38

    Dagegen darf gemäß Art. 13 Abs. 2 und 4 sowie Art. 31 Abs. 7 dieser Richtlinie der Zugang zu den in Anhang II Nr. 2 dieser Richtlinie genannten Serviceeinrichtungen nur dann verweigert werden, wenn tragfähige Alternativen vorhanden sind, und das Entgelt für diesen Zugang darf die Kosten für die Erbringung der Leistung, zuzüglich eines angemessenen Gewinns, nicht übersteigen.

    39

    Daraus folgt, dass die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur und damit der Personenbahnsteige in das Mindestzugangspaket aufzunehmen, die Bedingungen für den Zugang der Eisenbahnunternehmen zum Eisenbahnverkehrsmarkt fördert und somit den Zielen dieser Richtlinie entspricht.

    40

    Folglich würde eine enge Auslegung des Wortlauts von Anhang II Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2012/34 der dadurch vorgenommenen Änderung der zuvor geltenden Rechtsvorschriften, mit der die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur in das Mindestzugangspaket einbezogen werden sollte, jede praktische Wirksamkeit nehmen.

    41

    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Anhang II der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass die in Anhang I dieser Richtlinie genannten „Personenbahnsteige“ ein Bestandteil der Eisenbahninfrastruktur sind, deren Benützung nach Nr. 1 Buchst. c dieses Anhangs II unter das Mindestzugangspaket fällt.

    Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils

    42

    In ihren schriftlichen Erklärungen beantragt ÖBB‑Infrastruktur, die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils zu begrenzen, falls Anhang II der Richtlinie 2012/34 dahin ausgelegt werden sollte, dass die Benützung von Personenbahnsteigen unter das Mindestzugangspaket im Sinne von Nr. 1 Buchst. c dieses Anhangs fällt.

    43

    Zur Stützung ihres Antrags verweist ÖBB‑Infrastruktur zum einen auf die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen, die sich aus einer auch nur teilweisen Rückabwicklung der Verträge ergäbe, die sie gutgläubig mit Eisenbahnverkehrsunternehmen geschlossen habe, und zum anderen auf die Tatsache, dass einige Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission dazu beigetragen hätten, eine objektive Ungewissheit über die Tragweite der Bestimmungen, die Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens seien, entstehen zu lassen.

    44

    Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    45

    Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    46

    Der Gerichtshof hat auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, namentlich, wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte (Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    47

    Im vorliegenden Fall genügt die Feststellung, dass ÖBB‑Infrastruktur, wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, lediglich geltend macht, dass, sollte die Benützung der Personenbahnsteige nach Anhang II Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2012/34 unter das Mindestzugangspaket fallen, dies Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse hätte, die sie gutgläubig mit Eisenbahnunternehmen eingegangen sei und deren Rückabwicklung eine übermäßige wirtschaftliche Last für sie darstellen würde. Da ÖBB‑Infrastruktur dem Gerichtshof jedoch keine genauen Angaben zur Zahl der betroffenen Rechtsverhältnisse oder der Natur oder dem Ausmaß einer solchen wirtschaftlichen Last macht, kann diese Argumentation nicht für den Nachweis des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände genügen, die eine Begrenzung der zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils rechtfertigen.

    48

    Die zeitlichen Wirkungen des Urteils sind daher nicht zu begrenzen.

    Kosten

    49

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Anhang II der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums ist dahin auszulegen, dass die in Anhang I dieser Richtlinie genannten „Personenbahnsteige “ ein Bestandteil der Eisenbahninfrastruktur sind, deren Benützung nach Nr. 1 Buchst. c dieses Anhangs II unter das Mindestzugangspaket fällt.

     

    Biltgen

    Malenovský

    Rossi

    Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Juli 2019.

    Der Kanzler

    A. Calot Escobar

    Der Präsident der Achten Kammer

    F. Biltgen


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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