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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62015CJ0161

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 17. März 2016.
    Abdelhafid Bensada Benallal gegen Belgischer Staat.
    Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Entscheidung über die Beendigung eines Aufenthaltsrechts – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Zulässigkeit von Kassationsgründen – Gesichtspunkt zwingenden Rechts.
    Rechtssache C-161/15.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2016:175

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    17. März 2016 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2004/38/EG — Entscheidung über die Beendigung eines Aufenthaltsrechts — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Recht auf Anhörung — Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten — Zulässigkeit von Kassationsgründen — Gesichtspunkt zwingenden Rechts“

    In der Rechtssache C‑161/15

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Belgien) mit Entscheidung vom 19. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2015, in dem Verfahren

    Abdelhafid Bensada Benallal

    gegen

    Belgischer Staat

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Arabadjiev, C. G. Fernlund, S. Rodin und E. Regan,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2015,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von Herrn Bensada Benallal, vertreten durch R.‑M. Sukennik und R. Fonteyn, avocats,

    der belgischen Regierung, vertreten durch S. Vanrie, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von S. Cornelis, P. Lejeune und D. Matray, avocats,

    der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Januar 2016

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte.

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Bensada Benallal und dem belgischen Staat über eine Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der das Herrn Bensada Benallal gewährte Recht, sich in Belgien aufzuhalten, beendet und er ausgewiesen wurde.

    Rechtlicher Rahmen

    3

    Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) sieht vor:

    „(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

    (2)   Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

    Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

    (3)   Um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, kann der Aufnahmemitgliedstaat bei der Ausstellung der Anmeldebescheinigung oder – wenn es kein Anmeldesystem gibt – spätestens drei Monate nach dem Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet oder nach dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet gemäß Artikel 5 Absatz 5 gemeldet hat, oder bei Ausstellung der Aufenthaltskarte den Herkunftsmitgliedstaat und erforderlichenfalls andere Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Betroffenen in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, wenn er dies für unerlässlich hält. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen.

    (4)   Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“

    4

    Art. 28 der Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

    (2)   Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

    (3)   Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

    a)

    ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder

    b)

    minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

    5

    Art. 30 dieser Richtlinie lautet:

    „(1)   Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

    (2)   Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.

    (3)   In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

    6

    Art. 31 der Richtlinie sieht vor:

    „(1)   Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.

    (2)   Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,

    die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung, oder

    die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder

    die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.

    (3)   Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.

    (4)   Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“

    7

    Art. 35 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    8

    Herr Bensada Benallal, ein spanischer Staatsangehöriger, reiste am 24. Mai 2012 nach Belgien ein. Infolge eines am 31. Mai 2012 gestellten Antrags wurde ihm mit Entscheidung vom 24. September 2012 die Erlaubnis erteilt, sich als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

    9

    Am 26. September 2013 beendete der belgische Staat, vertreten durch das Ausländeramt, das Aufenthaltsrecht von Herrn Bensada Benallal und verfügte seine Ausweisung aus dem belgischen Hoheitsgebiet. In dieser Entscheidung wird u. a. ausgeführt:

    „Es gibt Hinweise darauf, dass der Betroffene falsche Angaben gemacht hat, die für die Anerkennung seines Aufenthaltsrechts durch die Gemeindeverwaltung Berchem-Sainte-Agathe [(Belgien)] ausschlaggebend waren. [Es wurde] nämlich … festgestellt, dass die von der … [Gesellschaft] angemeldeten Personen sämtlich nicht dem allgemeinen System der sozialen Sicherheit von Arbeitnehmern angehörten: ‚Mehrere präzise und übereinstimmende Gesichtspunkte belegen nämlich in rechtlich hinreichender Weise, dass die … [Gesellschaft] keine Tätigkeit mit Beschäftigung von Arbeitnehmern ausübt und daher keine Arbeitsverträge mit den … gemeldeten Personen bestehen.‘“

    10

    Am 2. Januar 2014 erhob Herr Bensada Benallal beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) Klage auf Nichtigerklärung gegen diese Entscheidung.

    11

    Zur Stützung seiner Klage machte Herr Bensada Benallal einen einzigen Klagegrund geltend, der sich u. a. aus einem Verstoß gegen eine gesetzliche Bestimmung zur förmlichen Begründung von Verwaltungsentscheidungen, aus einem Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Grundsätze der Vorsicht und der Umsicht, den Grundsatz der sorgfältigen Verfahrensführung, den Grundsatz, nach dem die Behörde gehalten ist, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte des Einzelfalls zu entscheiden, sowie aus einem Verstoß gegen Art. 35 der Richtlinie 2004/38 herleitet.

    12

    Mit seinem Vortrag zur genaueren Darlegung des angeführten Klagegrundes macht Herr Bensada Benallal u. a. geltend, dass die Entscheidung des Ausländeramts an einem Begründungsmangel leide. In dieser Hinsicht hat er vorgetragen, dass der Bericht, auf dessen Grundlage die Entscheidung ergangen sei, dieser weder beigefügt noch ihm vor ihrer Zustellung übersandt worden sei und auch nicht in seinen Grundzügen in der Entscheidung wiedergegeben sei, so dass er nicht in der Lage gewesen sei, die Gründe der gegen ihn erlassenen Entscheidung nachzuvollziehen.

    13

    Die Klage wurde durch eine Entscheidung des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) vom 30. April 2014 abgewiesen. In seinem Urteil hat dieser u. a. Folgendes ausgeführt:

    „Der Rat [für Ausländerstreitsachen] stellt jedenfalls fest, dass zwischen der Vorlage des Arbeitsvertrags mit der Gesellschaft … durch [Herrn Bensada Benallal] und dem Bericht …, der zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat, fast ein Jahr vergangen ist, ohne dass [Herr Bensada Benallal] dem [Ausländeramt] Informationen über die in der Klage geltend gemachten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit seinem Arbeitsvertrag mit diesem Unternehmen hat zukommen lassen oder mitgeteilt hat.

    Glaubte [Herr Bensada Benallal] jedoch weitere Gesichtspunkte geltend machen zu können, die der Rücknahme seines Aufenthaltstitels entgegenständen, oblag es ihm, das [Ausländeramt] davon zu unterrichten, und nicht dieser, [Herrn Bensada Benallal] um Stellungnahme dazu zu ersuchen. Es ist nämlich Sache des Klägers, den Nachweis zu erbringen, dass er die Voraussetzungen für das beanspruchte Recht und dessen Fortbestand erfüllt. Da [Herr Bensada Benallal] einen Antrag auf Registrierung als ‚Arbeitnehmer‘ in Belgien gestellt hatte, konnte oder musste er berechtigterweise davon ausgehen, dass es sich auf seinen Aufenthalt auswirken werde, wenn sein Arbeitsvertrag (auch ohne sein Zutun) nicht vollzogen würde, und sich darüber im Klaren sein, dass dieser Umstand dem [Ausländeramt] unaufgefordert mitzuteilen war; dies ist, wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt, nicht geschehen.

    Diese Feststellung wird nicht durch den Umstand erschüttert, dass [Herr Bensada Benallal], ,wie in der Untersuchung festgestellt, kein Einschreiben erhalten hat und daher keine Möglichkeit hatte, gehört zu werden‘, da sich die von ihm erhobene Rüge auf die Anhörung durch den … Anhörungsbeamten bezieht (dieser Anhörung liegen im Übrigen nicht nur Erklärungen, sondern auch objektive Feststellungen zugrunde, die von [Herrn Bensada Benallal] sämtlich nicht bestritten werden) und die angefochtene Entscheidung nicht unmittelbar betrifft.“

    14

    Herr Bensada Benallal legte gegen dieses Urteil des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d'État (Staatsrat) Kassationsbeschwerde ein. Diese Beschwerde umfasst u. a. einen Kassationsgrund, mit dem Herr Bensada Benallal geltend macht, die Verwaltungsbehörde, d. h. das Ausländeramt, hätte ihn vor Erlass der Entscheidung vom 26. September 2013 anhören müssen. Er nimmt des Weiteren an, der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) hätte berücksichtigen müssen, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, wenn er in der Lage gewesen wäre, sein Verteidigungsvorbringen besser geltend zu machen. Zur Stützung dieses Kassationsgrundes trägt Herr Bensada Benallal nicht nur einen Verstoß gegen die Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens als Grundprinzipien des belgischen Rechts sowie gegen das Recht auf Anhörung (audi alteram partem) vor, sondern auch einen Verstoß gegen die Art. 41 und 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    15

    Der belgische Staat beruft sich auf die Unzulässigkeit dieses Kassationsgrundes, da er zum ersten Mal vor dem vorlegenden Gericht im Stadium des Kassationsverfahrens geltend gemacht worden sei und nicht auf einem Verstoß gegen eine Bestimmung zwingenden Rechts beruhe. Ferner präzisiere der Kassationsbeschwerdeführer weder, inwiefern gegen Art. 51 der Charta verstoßen worden sei, noch trage er irgendeinen Gesichtspunkt vor, der die Beurteilung erlaube, ob das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, wenn er vor der in Rede stehenden Verwaltungsentscheidung angehört worden wäre.

    16

    In der Sache trägt der belgische Staat vor, dass das in Art. 41 der Charta genannte Recht auf Anhörung nicht dazu verpflichte, mit dem Betroffenen die von diesem geltend gemachten Umstände zu erörtern. Es sei nämlich ausreichend, wenn dieser Gelegenheit gehabt habe, seinen Standpunkt darzulegen, was vorliegend, wie sich aus dem Urteil des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) ergebe, der Fall gewesen sei.

    17

    Der beim vorlegenden Gericht mit der Rechtssache befasste Berichterstatter hat in seinem Bericht vom 16. Oktober 2014 festgestellt, dass der einzige vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) geltend gemachte Klagegrund sich weder auf einen Verstoß gegen die Art. 41 und 51 der Charta noch auf einen Verstoß gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens, noch auf einen Verstoß gegen das Recht auf Anhörung (audi alteram partem) gestützt habe. Die Stellungnahme des Berichterstatters kommt unter Berücksichtigung der in dieser Hinsicht bestehenden Anforderungen des belgischen Verfahrensrechts zu dem Ergebnis, dass die erstmalige Geltendmachung eines Verstoßes gegen diese Bestimmungen und allgemeinen Rechtsgrundsätze vor dem vorlegenden, im Kassationsverfahren entscheidenden Gericht durch Herrn Bensada Benallal unzulässig sei, da diese nicht zum zwingenden Recht gehörten.

    18

    In seiner auf diesen Bericht hin eingereichten Erwiderung macht Herr Bensada Benallal geltend, dass der auf einen Verstoß gegen Grundrechte gestützte Kassationsgrund zum zwingenden Recht gehöre, da sich aus Art. 41 der Charta ergebe, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör eine Umsetzung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Verteidigungsrechte darstelle, dessen Verkennung von Amts wegen geprüft werden könne.

    19

    Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Herr Bensada Benallal den von ihm vorgebrachten Kassationsgrund, soweit er sich auf einen Verstoß gegen den in Art. 41 der Charta genannten Anspruch auf rechtliches Gehör beziehe, nicht vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) geltend gemacht habe. Nach belgischem Recht könne die Zulässigkeit eines solchen Kassationsgrundes, der zum ersten Mal vor dem Kassationsrichter geltend gemacht werde, nur dann bejaht werden, wenn dieser Kassationsgrund zwingendes Recht betreffe.

    20

    Daher hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Hat in der Unionsrechtsordnung der allgemeine Grundsatz des Rechts der Europäischen Union, in dem die Wahrung der Verteidigungsrechte verankert ist – u. a. das Recht einer Person, von einer nationalen Behörde gehört zu werden, ehe diese ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung, beispielsweise die Entscheidung über die Beendigung ihres Aufenthaltsrechts, erlässt –, dieselbe Tragweite wie im innerstaatlichen Recht die zwingenden Vorschriften des belgischen Rechts, und verlangt das Äquivalenzprinzip, dass der Kassationsgrund einer Verletzung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte wie im innerstaatlichen Recht die Kassationsgründe, die zwingendes Recht betreffen, zum ersten Mal vor dem Conseil d’État vorgebracht werden kann?

    Zur Vorlagefrage

    21

    Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalen Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist.

    22

    Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, dass der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt, wie er sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, insbesondere in den der Richtlinie 2004/38. Diese bezieht sich u. a. auf die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie auf die Beschränkungen dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit. Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält.

    23

    Diese Richtlinie sieht zwar eine gewisse Anzahl von Regelungen vor, u. a. die in ihren Art. 30 und 31 genannten, die von den Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine eventuelle Beschränkung des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers zu beachten sind. Sie enthält aber keine Regelungen über die Modalitäten für die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu einer Entscheidung, mit der der Aufenthaltstitel eines Unionsbürgers entzogen wird.

    24

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, entsprechende Regeln festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 21. Januar 2016, Eturas u. a., C‑74/14, EU:C:2016:42, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    25

    Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann.

    26

    Wie auch das vorlegende Gericht ausführt, verstößt der von Herrn Bensada Benallal geltend gemachte Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – wie er durch das Unionsrecht gewährleistet wird – durch die nationale Behörde, die die ihn beschwerende Entscheidung erlassen hat, bezieht, im Hinblick auf seine Zulässigkeit gegen die nationalen Regelungen zu dem Vorbringen, das zum ersten Mal im Kassationsverfahren geltend gemacht werden kann.

    27

    Wie sich aus Rn. 24 des vorliegenden Urteils ergibt, gestattet es das Unionsrecht den Mitgliedstaaten grundsätzlich – unter dem Vorbehalt der Wahrung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes –, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie die Kassationsgründe zu beschränken oder unter Bedingungen zu stellen, die in Kassationsverfahren geltend gemacht werden können.

    28

    Wie der Generalanwalt in den Nrn. 41 und 42 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, stellt sich die Frage der Beachtung dieser Grundsätze im Ausgangsrechtsstreit ausschließlich im Hinblick auf den Äquivalenzgrundsatz, nicht aber im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz.

    29

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Äquivalenz, dass die in Rede stehende nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung von den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben (Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 39). Die Beachtung dieses Grundsatzes verlangt somit die Gleichbehandlung auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 34).

    30

    Auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren bestehende angewandt, erfordert die Voraussetzung der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes somit, dass, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts zu Verfahrensfragen im Bereich von Kassationsbeschwerden einem Gericht, das in dieser Eigenschaft entscheidet, die Verpflichtung übertragen, einem Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen nationales Recht richtet, zu folgen oder ihn von Amts wegen zu prüfen, die gleiche Verpflichtung in gleicher Weise für einen gleichartigen Kassationsgrund gelten muss, der sich auf einen Verstoß gegen Unionsrecht stützt.

    31

    Wenn ein nationales, im Kassationsverfahren entscheidendes Gericht davon ausgeht, dass ein Kassationsgrund, der sich auf die Nichtbeachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützt, nach dem zwingenden innerstaatlichen Recht einen Kassationsgrund darstellt, der zum ersten Mal im Rahmen eines dem innerstaatlichen Recht unterfallenden Rechtsstreits vor ihm geltend gemacht werden kann, verlangt der Äquivalenzgrundsatz folglich, dass ein gleichartiger Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen Unionsrecht bezieht, im Rahmen des gleichen Rechtsstreits ebenfalls zum ersten Mal vor diesem Gericht im Stadium des Kassationsverfahrens geltend gemacht werden kann.

    32

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung nicht eindeutig, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie er vom belgischen Recht gewährleistet wird, für sich genommen einen allgemeinen Grundsatz des belgischen Rechts darstellt, der als solcher zum zwingenden innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats gehört. Das vorlegende Gericht stellt allerdings in dieser Hinsicht klar, dass die zwingenden Regelungen diejenigen sind, denen eine grundlegende Bedeutung in der belgischen Rechtsordnung zukommt, wie den Regelungen zur Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden, zur gerichtlichen Zuständigkeit, zur Wahrung der Verteidigungsrechte oder im Hinblick auf andere Grundrechte.

    33

    Um dem vorlegenden Gericht die Feststellung zu ermöglichen, ob der auf einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör im Unionsrecht gestützte Kassationsgrund von gleicher Art ist wie ein Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen ein solches Recht in der belgischen Rechtsordnung stützt, ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. Juni 2005, Spanien/Kommission (C‑287/02, EU:C:2005:368, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), entschieden hat, die Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts ist, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt in sachdienlicher Weise vorzutragen.

    34

    Es obliegt dem zuständigen nationalen Gericht, zu prüfen, ob die an den Äquivalenzgrundsatz gebundene Voraussetzung in der vor ihm anhängigen Rechtssache beachtet wurde. Im Ausgangsverfahren obliegt ihm insbesondere die Feststellung, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie er vom innerstaatlichen Recht gewährleistet wird, die vom nationalen Recht festgelegten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden.

    35

    Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalem Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist, wenn dieser Anspruch, wie er nach innerstaatlichem Recht gewährleistet ist, die von diesem Recht aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird.

    Kosten

    36

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

     

    Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalem Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist, wenn dieser Anspruch, wie er nach innerstaatlichem Recht gewährleistet ist, die von diesem Recht aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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