Wählen Sie die experimentellen Funktionen, die Sie testen möchten.

Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62014CJ0216

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. Oktober 2015.
Strafverfahren gegen Gavril Covaci.
Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Laufen.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2010/64/EU – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren – Verfahrenssprache – Strafbefehl, mit dem eine Geldstrafe verhängt wird – Einspruchsmöglichkeit in einer anderen als der Verfahrenssprache – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Zustellung eines Strafbefehls – Modalitäten – Verpflichtung des Beschuldigten zur Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten – Lauf der Einspruchsfrist ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten.
Rechtssache C-216/14.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2015:686

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. Oktober 2015 ( * )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Richtlinie 2010/64/EU — Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren — Verfahrenssprache — Strafbefehl, mit dem eine Geldstrafe verhängt wird — Einspruchsmöglichkeit in einer anderen als der Verfahrenssprache — Richtlinie 2012/13/EU — Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren — Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf — Zustellung eines Strafbefehls — Modalitäten — Verpflichtung des Beschuldigten zur Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten — Lauf der Einspruchsfrist ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten“

In der Rechtssache C‑216/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Laufen (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 30. April 2014, in dem Strafverfahren gegen

Gavril Covaci

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Covaci, vertreten durch die Rechtsanwälte U. Krause und S. Ryfisch,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis und S. Lekkou als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Salvatorelli, avvocato dello Stato,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Mai 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280, S. 1) sowie von Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Covaci wegen Verkehrsdelikten, die er begangen haben soll.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2010/64

3

In den Erwägungsgründen 12, 17 und 27 der Richtlinie 2010/64 heißt es:

„(12)

Diese Richtlinie … setzt gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten zu stärken.

(17)

Diese Richtlinie sollte gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.

(27)

Die Fürsorgepflicht für verdächtige oder beschuldigte Personen, die sich in einer potenziell schwachen Position befinden, insbesondere weil sie körperliche Gebrechen haben, die ihre Fähigkeit beeinträchtigen, sich effektiv zu verständigen, ist Grundlage einer fairen Justiz. Anklage-, Strafverfolgungs-, und Justizbehörden sollten daher sicherstellen, dass solche Personen imstande sind, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte wirksam auszuüben, zum Beispiel indem sie etwaige Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, dem Verfahren zu folgen und sich verständlich zu machen, berücksichtigen und indem sie geeignete Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass diese Rechte gewährleistet sind.“

4

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2010/64 sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:

„(1)   Diese Richtlinie regelt das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren …

(2)   Das in Absatz 1 genannte Recht gilt für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

5

Art. 2 („Recht auf Dolmetschleistungen“) der Richtlinie 2010/64 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen während der Strafverfahren bei Ermittlungs- und Justizbehörden, einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen, zur Verfügung gestellt werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen zur Verfügung stehen, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(3)   Das Recht auf Dolmetschleistungen gemäß den Absätzen 1 und 2 umfasst die angemessene Unterstützung für hör- und sprachgeschädigte Personen.

(8)   Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Dolmetschleistungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

6

Art. 3 („Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen“) der Richtlinie 2010/64 lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(2)   Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.

(3)   Die zuständigen Behörden entscheiden im konkreten Fall darüber, ob weitere Dokumente wesentlich sind. …

…“

Richtlinie 2012/13

7

Der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 lautet:

„Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.“

8

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2012/13 sieht vor:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über [ihre] Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. …“

9

Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 wird in deren Art. 2 Abs. 1 wie folgt eingegrenzt:

„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

10

Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) der Richtlinie 2012/13 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

c)

das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

…“

11

Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

Deutsches Recht

12

§ 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmt:

„Die Gerichtssprache ist [D]eutsch. …“

13

§ 187 GVG in der infolge der Umsetzung der Richtlinien 2010/64 und 2012/13 geänderten Fassung lautet:

„(1)   Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Das Gericht weist den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darauf hin, dass er insoweit für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.

(2)   Erforderlich zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen. …“

14

§ 132 der Strafprozessordnung (StPO), der die Sicherheitsleistung und die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten regelt, bestimmt in seinem Abs. 1:

„Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, angeordnet werden, dass der Beschuldigte

1.

eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und

2.

eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen bevollmächtigt.“

15

§ 410 StPO sieht in Bezug auf den Einspruch gegen den Strafbefehl und die Rechtskraft vor:

„(1)   Der Angeklagte kann gegen den Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Gericht, das den Strafbefehl erlassen hat, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen. …

(2)   Der Einspruch kann auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden.

(3)   Soweit gegen einen Strafbefehl nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Bei einer polizeilichen Kontrolle am 25. Januar 2014 wurde festgestellt, dass Herr Covaci, ein rumänischer Staatsangehöriger, in Deutschland ein Kraftfahrzeug führte, für das kein gültiger Haftpflichtversicherungsvertrag bestand, und dass die von ihm vorgewiesene grüne Versicherungskarte gefälscht war.

17

Herr Covaci wurde zu diesem Sachverhalt unter Hinzuziehung eines Dolmetschers polizeilich vernommen.

18

Da Herr Covaci keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet hatte, erteilte er drei Bediensteten des Amtsgerichts Laufen für an ihn gerichtete gerichtliche Urkunden eine unwiderrufliche schriftliche Zustellungsvollmacht. Nach deren Wortlaut beginnen Fristen für Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen mit ihrer Zustellung an die benannten Zustellungsbevollmächtigten zu laufen.

19

Nach Abschluss der Ermittlungen beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein (Deutschland) am 18. März 2014 beim Amtsgericht Laufen den Erlass eines Strafbefehls gegen Herrn Covaci, mit dem eine Geldstrafe verhängt werden soll.

20

Das Strafbefehlsverfahren ist ein vereinfachtes Verfahren ohne Verhandlung oder kontradiktorische Erörterung. Der Strafbefehl, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Gericht wegen geringfügiger Straftaten erlassen wird, stellt eine vorläufige Entscheidung dar. Er wird gemäß § 410 StPO mit Ablauf einer Zweiwochenfrist ab seiner Zustellung, gegebenenfalls an die Zustellungsbevollmächtigten der belangten Person, rechtskräftig. Letztere kann eine kontradiktorische Erörterung nur erreichen, wenn sie gegen den Strafbefehl vor Ablauf dieser Frist Einspruch einlegt. Der Einspruch, der schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden kann, führt zur Durchführung einer Gerichtsverhandlung.

21

Im vorliegenden Fall beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein die Zustellung des Strafbefehls an den Beschuldigten über seine Zustellungsbevollmächtigten und verlangte darüber hinaus, dass etwaige schriftliche Erklärungen des Betroffenen, einschließlich der Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Strafbefehl, in deutscher Sprache abgefasst werden.

22

Das mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafbefehlsantrag befasste Amtsgericht Laufen hat erstens Zweifel, ob die Verpflichtung nach § 184 GVG, einen Einspruch gegen einen Strafbefehl auf Deutsch abzufassen, mit den Bestimmungen der Richtlinie 2010/64 im Einklang steht, die für Beschuldigte in Strafverfahren eine unentgeltliche sprachliche Unterstützung vorsehen.

23

Zweitens hat das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der für den Strafbefehl vorgesehenen Zustellungsmodalitäten mit der Richtlinie 2012/13, vor allem mit deren Art. 6, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass detaillierte Informationen über den Tatvorwurf spätestens erteilt werden, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird.

24

Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Laufen das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Sind Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 2010/64 dahin gehend auszulegen, dass sie einer richterlichen Anordnung entgegenstehen, die in Anwendung des § 184 GVG von beschuldigten Personen verlangt, Rechtsmittel wirksam nur in der Gerichtssprache, hier auf Deutsch, einzulegen?

2.

Sind Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 dahin gehend auszulegen, dass sie der Anordnung zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten durch eine beschuldigte Person entgegenstehen, wenn bereits mit Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten die Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln zu laufen beginnt und es letztlich unerheblich ist, ob die beschuldigte Person überhaupt Kenntnis vom Tatvorwurf erhält?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist.

26

Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen u. a. in Strafverfahren vorsieht. Zudem stellt Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie klar, dass dieses Recht für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens gilt, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

27

Folglich fällt die Situation einer Person wie Herrn Covaci, die gegen einen an sie gerichteten, noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl Einspruch einlegen will, offensichtlich in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, so dass diese Person die Möglichkeit haben muss, das in der Richtlinie garantierte Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Anspruch zu nehmen.

28

Hinsichtlich der Frage, ob eine Person, die sich in einer Situation wie der von Herrn Covaci befindet, dieses Recht geltend machen kann, um gegen einen solchen Strafbefehl Einspruch in einer anderen Sprache als der Verfahrenssprache vor dem zuständigen nationalen Gericht einzulegen, ist auf den Inhalt der Art. 2 und 3 der Richtlinie 2010/64 zu verweisen. Diese beiden Artikel regeln nämlich das Recht auf Dolmetschleistungen bzw. das Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen, d. h. die beiden Aspekte des in Art. 1 der Richtlinie vorgesehenen und schon in deren Titel genannten Rechts.

29

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil Rosselle, C‑65/14, EU:C:2015:339, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Art. 2 der Richtlinie 2010/64, der das Recht auf Dolmetschleistungen regelt, bezieht sich nach seinem Wortlaut, anders als Art. 3 der Richtlinie, der die schriftliche Übersetzung wesentlicher Unterlagen betrifft, auf die mündliche Übersetzung mündlicher Ausführungen.

31

So haben gemäß Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie nur verdächtige oder beschuldigte Personen, die sich nicht selbst in der Verfahrenssprache ausdrücken können, weil sie diese Sprache nicht sprechen oder verstehen oder weil sie hör- oder sprachgeschädigt sind, das Recht auf Dolmetschleistungen.

32

Aus eben diesem Grund werden in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/64 bei der Aufzählung der Umstände, unter denen verdächtigen oder beschuldigten Personen Dolmetschleistungen zur Verfügung zu stellen sind, nur – wenn auch nicht erschöpfend – Sachverhalte genannt, in denen mündliche Mitteilungen erfolgen, wie z. B. polizeiliche Vernehmungen, sämtliche Gerichtsverhandlungen und alle erforderlichen Zwischenverhandlungen sowie die Verständigung mit dem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen.

33

Mit anderen Worten stellt diese Bestimmung, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und die betreffende Person in die Lage zu versetzen, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, sicher, dass sie, wenn sie selbst insbesondere im Rahmen eines Strafverfahrens entweder unmittelbar vor den zuständigen Justizbehörden oder gegenüber ihrem Rechtsbeistand mündliche Erklärungen abgeben soll, dies in ihrer eigenen Sprache tun kann.

34

Diese Auslegung wird durch die mit der Richtlinie 2010/64 verfolgten Ziele untermauert.

35

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 2 Buchst. b AEUV erlassen wurde, wonach das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, Mindestvorschriften betreffend die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren festlegen können.

36

Nach ihrem 12. Erwägungsgrund legt die Richtlinie 2010/64 daher, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten zu stärken, gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest.

37

Solche Mindestvorschriften sollten nach dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.

38

Von den Mitgliedstaaten, wie es insbesondere Herr Covaci und die deutsche Regierung befürworten, nicht nur zu verlangen, dass sie den betreffenden Personen ermöglichen, in vollem Umfang und in ihrer Sprache über den ihnen vorgeworfenen Sachverhalt in Kenntnis gesetzt zu werden und ihre eigene Version dieses Sachverhalts zu schildern, sondern auch, dass sie stets für die Übersetzung jedweden Rechtsbehelfs aufkommen, den die betreffenden Personen gegen eine an sie gerichtete gerichtliche Entscheidung einlegen, würde aber über die mit der Richtlinie 2010/64 selbst verfolgten Ziele hinausgehen.

39

Wie sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, braucht nämlich, um die Anforderungen an ein faires Verfahren zu erfüllen, lediglich sichergestellt zu werden, dass der Beschuldigte verstehen kann, was ihm vorgeworfen wird, und sich verteidigen kann; eine schriftliche Übersetzung jedes schriftlichen Beweises oder jedes Aktenstücks wird nicht verlangt (EGMR, Kamasinski/Österreich, 19. Dezember 1989, Serie A, Nr. 168, § 74).

40

Folglich bezieht sich das in Art. 2 der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen auf die Übersetzung mündlicher Mitteilungen zwischen den verdächtigen oder beschuldigten Personen und den Ermittlungs- und Justizbehörden oder gegebenenfalls dem Rechtsbeistand durch einen Dolmetscher, unter Ausschluss der schriftlichen Übersetzung von Schriftstücken, die diese verdächtigen oder beschuldigten Personen vorlegen.

41

Zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der im deutschen Recht vorgesehene Strafbefehl auf einem Verfahren sui generis beruht. In diesem Verfahren hat die beschuldigte Person, um eine kontradiktorische Erörterung zu erreichen, in der sie ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in vollem Umfang wahrnehmen kann, nur die Möglichkeit, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen. Der Einspruch kann schriftlich oder – unmittelbar zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts – mündlich eingelegt werden, bedarf keiner Begründung, ist an eine besonders kurze Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Strafbefehls gebunden und muss nicht von einem Rechtsanwalt eingelegt werden, sondern dies kann auch der Beschuldigte selbst tun.

42

Unter diesen Umständen gewährleistet Art. 2 der Richtlinie 2010/64 einer Person, die sich in einer Situation wie der von Herrn Covaci befindet, die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers, wenn diese Person selbst mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen nationalen Gerichts Einspruch gegen den an sie gerichteten Strafbefehl einlegt oder wenn sie schriftlich Einspruch einlegt und dabei einen Rechtsbeistand hinzuzieht, der die Abfassung des entsprechenden Schriftstücks in der Verfahrenssprache übernimmt.

43

Hinsichtlich der Frage, ob einer Person in der Situation von Herrn Covaci, die gegen einen Strafbefehl schriftlich Einspruch einlegen will, ohne einen Rechtsbestand hinzuzuziehen, nach Art. 3 der Richtlinie 2010/64, der das Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen regelt, Unterstützung im Bereich der Übersetzung zusteht, geht bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass dieses Recht zu dem Zweck konzipiert ist, den betreffenden Personen die Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten.

44

Folglich betrifft Art. 3, wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, grundsätzlich nur die schriftliche Übersetzung bestimmter, von den zuständigen Behörden in der Verfahrenssprache abgefasster Schriftstücke in die Sprache, die die betreffende Person versteht.

45

Diese Auslegung wird im Übrigen zum einen durch die Liste der Unterlagen bestätigt, die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 als wesentlich angesehen werden und deren Übersetzung daher notwendig ist. In dieser Liste werden nämlich, wenn auch nicht erschöpfend, jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil aufgezählt.

46

Zum anderen ist diese Auslegung auch aufgrund des Umstands gerechtfertigt, dass das Recht auf Übersetzung nach Art. 3 der Richtlinie 2010/64, wie aus Abs. 4 dieses Artikels hervorgeht, zum Ziel hat, „dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird“.

47

Folglich schließt das in Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Übersetzung grundsätzlich nicht die schriftliche Übersetzung eines Schriftstücks wie des Einspruchs gegen einen Strafbefehl, den die betreffende Person in einer Sprache verfasst hat, deren sie mächtig ist, die aber nicht die Verfahrenssprache ist, in Letztere ein.

48

Die Richtlinie 2010/64 setzt allerdings lediglich Mindestvorschriften fest und überlässt es, wie in ihrem 32. Erwägungsgrund ausgeführt, den Mitgliedstaaten, die darin niedergelegten Rechte auszuweiten, um auch in Situationen, die von der Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst werden, ein höheres Schutzniveau zu bieten.

49

Zudem erlaubt es Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64 den zuständigen Behörden ausdrücklich, im konkreten Fall darüber zu entscheiden, ob weitere als die in Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie vorgesehenen Dokumente im Sinne dieser Bestimmung wesentlich sind.

50

Es ist somit Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung insbesondere der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Merkmale des für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafbefehl geltenden Verfahrens sowie der bei ihm anhängigen Rechtssache zu bestimmen, ob der schriftlich eingelegte Einspruch gegen einen Strafbefehl als wesentliches Dokument anzusehen ist, das übersetzt werden muss.

51

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist, nicht entgegenstehen, sofern die zuständigen Behörden nicht gemäß Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie der Auffassung sind, dass der Einspruch im Hinblick auf das betreffende Verfahren und die Umstände des Einzelfalls ein wesentliches Dokument darstellt.

Zur zweiten Frage

52

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen sind, dass sie einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der ein im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss und die Frist für die Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl ab dessen Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten läuft.

53

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 der Richtlinie 2012/13 das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über ihre Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf vorsieht.

54

Wie aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 6 dieser Richtlinie hervorgeht, betrifft das in deren Art. 1 genannte Recht zumindest zwei gesonderte Rechte.

55

Zum einen müssen Verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 3 der Richtlinie 2012/13 mindestens über bestimmte Verfahrensrechte belehrt werden, die nach der in dieser Bestimmung aufgestellten Liste das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung umfassen.

56

Zum anderen enthält die Richtlinie 2012/13 in ihrem Art. 6 Bestimmungen über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf.

57

Da die Frage des vorlegenden Gerichts speziell die Tragweite des letztgenannten Rechts betrifft, ist zu prüfen, ob Art. 6 der Richtlinie 2012/13, in dem dieses Recht definiert wird, im Rahmen eines besonderen Verfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, das zum Erlass eines Strafbefehls führt.

58

Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2012/13 schon nach dem Wortlaut ihres Art. 2 ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens gilt, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

59

Da, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils festgestellt, der Strafbefehl, den das vorlegende Gericht gegen Herrn Covaci erlassen soll, nicht vor Ablauf der Einspruchsfrist rechtskräftig wird, fällt die Situation einer Person wie Herrn Covaci offensichtlich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13, so dass ihm das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf während des gesamten Verfahrens zustehen muss.

60

Zwar erfolgt die Zustellung eines Strafbefehls wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufgrund des Umstands, dass es sich um ein summarisches und vereinfachtes Verfahren handelt, erst nach der Entscheidung des Richters über die Begründetheit des Tatvorwurfs, doch hat die Entscheidung des Richters im Strafbefehl nur vorläufigen Charakter, und ihre Zustellung stellt für den Beschuldigten die erste Gelegenheit einer Unterrichtung über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf dar. Dies wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass dem Beschuldigten gegen den Strafbefehl kein Rechtsmittel zu einem anderen Gericht eröffnet ist, sondern ein Einspruch, der für ihn in ein gewöhnliches streitiges Verfahren vor demselben Richter mündet, in dem er seine Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen kann, bevor dieser Richter erneut über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf entscheidet.

61

Folglich ist die Zustellung eines Strafbefehls nach Art. 6 der Richtlinie 2012/13 als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf anzusehen, so dass sie den Anforderungen dieses Artikels genügen muss.

62

Zwar regelt, wie der Generalanwalt in Nr. 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Richtlinie 2012/13 nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf.

63

Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht das u. a. mit Art. 6 angestrebte Ziel beeinträchtigen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten.

64

Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschrift der Strafbefehl dem Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten zugestellt wird und dieser für einen Einspruch gegen den Strafbefehl über eine Frist von zwei Wochen verfügt, die ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten läuft. Nach Ablauf dieser Frist wird der Strafbefehl rechtskräftig.

65

Auch wenn es für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts keiner Beurteilung der Angemessenheit einer solchen Ausschlussfrist von zwei Wochen bedarf, ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Ziel, dem Beschuldigten die Vorbereitung seiner Verteidigung zu ermöglichen, als auch die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten – nur Letztere müssen für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Zustellungsbevollmächtigten benennen – es gebieten, dass der Beschuldigte über die volle Frist verfügt.

66

Würde die im Ausgangsverfahren fragliche Zweiwochenfrist ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem der Beschuldigte von dem Strafbefehl, der die Unterrichtung über den Tatvorwurf enthält, tatsächlich Kenntnis hatte, wäre gewährleistet, dass er über die volle Frist verfügt.

67

Läuft diese Frist dagegen wie im vorliegenden Fall ab Zustellung des Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten, kann dieser seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen, und ein faires Verfahren ist nur dann gegeben, wenn er über die volle Frist verfügt, d. h., wenn ihre Dauer nicht durch die Zeitspanne verkürzt wird, die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen.

68

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen sind, dass sie einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der ein im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, nicht entgegenstehen, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt.

Kosten

69

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist, nicht entgegenstehen, sofern die zuständigen Behörden nicht gemäß Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie der Auffassung sind, dass der Einspruch im Hinblick auf das betreffende Verfahren und die Umstände des Einzelfalls ein wesentliches Dokument darstellt.

 

2.

Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der ein im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, nicht entgegenstehen, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt.

 

Unterschriften


( * )   Verfahrenssprache: Deutsch.

nach oben