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Document 62023CJ0481
Judgment of the Court (Fifth Chamber) of 10 April 2025.#Ministerio Fiscal and Abogado del Estado v JMTB.#Request for a preliminary ruling from the Audiencia Nacional.#Reference for a preliminary ruling – Judicial cooperation in criminal matters – Framework Decision 2002/584/JHA – European arrest warrant – Article 4(4) and (6) – Grounds for optional non-execution – Condition that the acts fall within the jurisdiction of the executing Member State under its own criminal law – Conviction which is not final – European arrest warrant issued for the purposes of criminal prosecution.#Case C-481/23.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. April 2025.
JMTB.
Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4 Nrn. 4 und 6 – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Voraussetzung, dass hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand – Nichtrechtskräftige Verurteilung – Zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl.
Rechtssache C-481/23.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. April 2025.
JMTB.
Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4 Nrn. 4 und 6 – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Voraussetzung, dass hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand – Nichtrechtskräftige Verurteilung – Zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl.
Rechtssache C-481/23.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2025:259
Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
10. April 2025(*)
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4 Nrn. 4 und 6 – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Voraussetzung, dass hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand – Nichtrechtskräftige Verurteilung – Zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl “
In der Rechtssache C‑481/23 [Sangas](i)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 24. Juli 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juli 2023, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen
JMTB,
Beteiligte:
Ministerio Fiscal,
Abogado del Estado,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter D. Gratsias, E. Regan (Berichterstatter), J. Passer und B. Smulders,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. November 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Ministerio Fiscal, vertreten durch R. de Miguel Morante als Bevollmächtigte,
– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz, A. Gavela Llopis und P. Pérez Zapico als Bevollmächtigte,
– der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz, H. Leupold und J. Vondung als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nrn. 4 und 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
2 Es ergeht im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des gegen JMTB ausgestellten Europäischen Haftbefehls.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
… “
4 Art. 3 des Rahmenbeschlusses führt die Gründe auf, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist.
5 In Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) des Rahmenbeschlusses heißt es:
„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,
…
4. wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand;
…
6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;
… “
6 Art. 4a des Rahmenbeschlusses sieht weitere Umstände vor, unter denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen kann, während Art. 5 des Rahmenbeschlusses die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien betrifft.
Rumänisches Recht
7 Art. 99 Abs. 2 Buchst. c und g sowie Abs. 3 der Legea nr. 302/2004 privind cooperarea judiciară internațională în materie penală (Gesetz Nr. 302/2004 über die internationale justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 594 vom 1. Juli 2004) in der neu bekannt gemachten Fassung (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 411 vom 27. Mai 2019) bestimmt:
„(2) Die rumänische vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ablehnen,
…
c) wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, die gesuchte Person rumänischer Staatsbürger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig und ununterbrochen in Rumänien aufhält und erklärt, dass sie die Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel der Sicherung im Ausstellungsmitgliedstaat ablehnt;
…
g) wenn nach rumänischem Recht die strafrechtliche Verantwortung für die Straftat, die zur Ausstellung des Europäischen Haftbefehls geführt hat, oder die Vollstreckung der verhängten Strafe verjährt ist, wenn hinsichtlich der Handlungen Gerichtsbarkeit der rumänischen Behörden bestand;
…
(3) Findet nur der in Abs. 2 Buchst. c genannte Fall Anwendung, so fordert die rumänische vollstreckende Justizbehörde bei der ausstellenden Justizbehörde vor Erlass der in Art. 109 genannten Entscheidung eine beglaubigte Abschrift der Verurteilung und alle sonstigen erforderlichen Informationen an und teilt der ausstellenden Justizbehörde die Gründe mit, aus denen diese Unterlagen angefordert werden. Die Anerkennung der ausländischen strafrechtlichen Verurteilung erfolgt inzident durch das Gericht, bei dem das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls anhängig ist. Erkennt die rumänische vollstreckende Justizbehörde die ausländische strafrechtliche Verurteilung an, wird der Vollstreckungsbescheid zum Zeitpunkt des Erlasses der in Artikel 109 genannten Entscheidung ausgestellt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Mit Urteil vom 21. Februar 2022, das mit Beschluss vom 3. März 2022 präzisiert wurde (im Folgenden: Urteil vom 21. Februar 2022), verurteilte die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) JMTB (im Folgenden: Angeklagter), einen spanischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Rumänien, als Mittäter von drei Steuerstraftaten und einer Straftat der Geldwäsche. Der Angeklagte wurde für jede dieser drei Steuerstraftaten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie zu einer Geldbuße von 23 Mio. Euro für das Steuerjahr 2011, einer Geldbuße von 135 Mio. Euro für das Steuerjahr 2012 und einer Geldbuße von 140 Mio. Euro für das Steuerjahr 2013 zuzüglich Nebenstrafen verurteilt. Wegen der Straftat der Geldwäsche wurde er zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zu einer Geldbuße von 54 Mio. Euro verurteilt.
9 Die der Verurteilung des Angeklagten zugrunde liegenden Handlungen bestanden im Wesentlichen in der Gründung mehrerer Gesellschaften in Spanien, die von als Verwalter auftretenden Strohmännern geleitet wurden, um die Entrichtung der Mehrwertsteuer auf den Verkauf von Kohlenwasserstoffen in Spanien für die Steuerjahre 2011 bis 2013 in Höhe von insgesamt mehr als 100 Mio. Euro zu umgehen.
10 Nachdem der Angeklagte angekündigt hatte, dass er gegen das Urteil vom 21. Februar 2022 Kassationsbeschwerde einlegen werde, wurde ihm die Genehmigung für Reisen nach Rumänien verweigert. Nachdem der Angeklagte dennoch an der kroatischen Grenze in Richtung Rumänien ausfindig gemacht wurde, erließ das vorlegende Gericht am 6. April 2022 eine ihn betreffende Entscheidung, der ein Europäischer Haftbefehl und ein internationaler Haftbefehl gegen ihn beigefügt waren, mit der es seine Suche, Festnahme und Untersuchungshaft anordnete (im Folgenden: Entscheidung vom 6. April 2022).
11 Mit Schreiben vom 4. April 2023 übermittelte die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) eine Kopie des Urteils, mit dem es die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt hatte.
12 Aus diesem Urteil gehe hervor, dass zwar keiner der in Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Gründe, aus denen die Vollstreckung abzulehnen ist, auf den gegen den Angeklagten ausgestellten Europäischen Haftbefehl Anwendung finde. Hinsichtlich der in Art. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann, habe die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) jedoch zum einen festgestellt, dass der Angeklagte Nachweise für einen ununterbrochenen und rechtmäßigen Aufenthalt im rumänischen Hoheitsgebiet über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren vorgelegt habe; zum anderen habe er erklärt, dass er nicht den spanischen Justizbehörden übergeben werden wolle, was einer Ablehnung der Strafvollstreckung im Ausstellungsmitgliedstaat gleichkomme, so dass ein Grund vorliege, der es rechtfertige, die Übergabe des Betroffenen abzulehnen.
13 Im Übrigen sei die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) davon ausgegangen, dass die Straftaten, derentwegen der Angeklagte von der den Europäischen Haftbefehl ausstellenden Justizbehörde in erster Instanz verurteilt worden sei, im spanischen Recht als Straftaten der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche definiert seien, die mit Freiheitsstrafen von drei bis zehn Jahren bedroht seien, so dass die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit für ähnliche Straftaten zehn Jahre ab dem Zeitpunkt der letzten Handlung oder Unterlassung betragen hätte, wenn hinsichtlich der Handlungen Gerichtsbarkeit der rumänischen Justizbehörden bestanden hätte.
14 Aus der Feststellung, dass die drei Straftaten der Steuerhinterziehung, derentwegen der Angeklagte verurteilt worden sei, in den Steuerjahren 2011 bis 2013 begangen worden seien, habe die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) geschlossen, dass die Verjährungsfrist spätestens am 31. Dezember 2013 zu laufen begonnen habe. Da die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) außerdem der Ansicht gewesen sei, dass seit der Begehung dieser drei Straftaten kein Grund für eine Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorgelegen habe, sei sie zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Frist abgelaufen sei.
15 In Anbetracht dieses Urteils weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) die Ablehnung der Übergabe des Angeklagten auf zwei Gründe gestützt habe, aus denen die Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden könne, nämlich zum einen auf die Verjährung der Strafverfolgung nach rumänischem Recht und zum anderen auf den Wohnsitz des Angeklagten in Rumänien.
16 Zur Verjährung der Strafverfolgung nach rumänischem Recht führt das vorlegende Gericht aus, dass die Entscheidung über die Ablehnung der Übergabe des Angeklagten in Anwendung der Vorschriften über die Verjährung von Straftaten des rumänischen Rechts erlassen worden sei, obwohl alle im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handlungen in Spanien begangen worden seien und Straftaten der Steuerhinterziehung zum Nachteil der wirtschaftlichen Interessen des Königreichs Spanien darstellten; dies bedeute, dass die rumänischen Justizbehörden für die Entscheidung über diese Straftaten nicht zuständig seien und sich daher nicht auf Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 berufen könnten.
17 Was den Wohnsitz des Angeklagten in Rumänien anbelangt, führt das vorlegende Gericht aus, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 es nur erlaube, die Übergabe der gesuchten Person zu verweigern, wenn drei kumulative Voraussetzungen erfüllt seien: Erstens müsse der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden sein, zweitens müsse sich die betreffende Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben oder dessen Staatsangehöriger sein, und drittens müsse sich der Vollstreckungsstaat verpflichten, die Strafe oder Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Im vorliegenden Fall sei jedoch die erste dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, da der Angeklagte nur in erster Instanz verurteilt worden sei und gegen diese Verurteilung eine Kassationsbeschwerde anhängig sei. Außerdem sei, selbst wenn davon ausgegangen werde, dass der Angeklagte seinen Wohnsitz in Rumänien habe, mit der Verweigerung seiner Übergabe keine Verpflichtung der rumänischen Behörden einhergegangen, die Strafe, die letztlich gegen ihn verhängt werden könnte, in Rumänien zu vollstrecken.
18 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist eine solche Weigerung im Licht der auf das Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57), zurückgehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht gerechtfertigt. Wie sich nämlich im Wesentlichen aus den Rn. 75 und 76 jenes Urteils ergebe, wäre es ein Hindernis für das reibungslose Funktionieren des mit diesem Rahmenbeschluss eingeführten vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, wenn man es zuließe, dass ein Mitgliedstaat zu den in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Gründen für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls weitere, aus dem nationalen Recht abgeleitete Gründe hinzufügen könnte, die es erlauben, den Haftbefehl nicht zu vollstrecken.
19 Unter diesen Umständen hat die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gehört zu den Gründen, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, der Fall, dass der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.
a) Ist es zulässig, die Anwendung dieses fakultativen Grundes für die Verweigerung der Übergabe auf Fälle auszudehnen, in denen noch keine rechtskräftige Entscheidung gegen die gesuchte Person vorliegt?
b) Sollte diese Möglichkeit bejaht werden, darf die Übergabe dann unter Hinweis darauf, dass die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat wohnt, verweigert werden, ohne dass dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder Maßregel der Sicherung selbst nach seinem nationalen Recht zu vollstrecken?
2. Gemäß Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gehört zu den Gründen, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, der Fall, dass die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand. Ist es zulässig, die Anwendung dieses fakultativen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf Fälle auszudehnen, in denen die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist, auch wenn die Gerichte dieses Staates für die Entscheidung über die Handlungen nicht zuständig sind?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, wenn der Haftbefehl nicht zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, da der Angeklagte noch nicht rechtskräftig verurteilt wurde, und der Vollstreckungsmitgliedstaat sich nicht verpflichtet hat, die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung, die letztlich gegen den Betroffenen verhängt werden könnte, nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.
21 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass der Europäische Haftbefehl gemäß Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwei Fälle betreffen kann. So kann dieser Haftbefehl zum einen zur Strafverfolgung und zum anderen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt werden (Urteil vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 49).
22 Auch wenn der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt, bedeutet diese Anerkennung keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des ausgestellten Haftbefehls, da dieser Rahmenbeschluss ausdrücklich die Gründe nennt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a), sowie die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien (Art. 5) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 50, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Nach dem System des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie es insbesondere diesen Artikeln zu entnehmen ist, können die Mitgliedstaaten den zuständigen Justizbehörden konkret unter bestimmten Umständen erlauben, zu entscheiden, dass eine verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt werden muss (Urteile vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 51, und vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 30).
24 Insoweit bestimmt Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn dieser zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.
25 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass gegen die gesuchte Person, damit sie in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, ein Europäischer Haftbefehl „zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung“ ausgestellt worden sein muss, d. h. der zweite der oben in Rn. 21 genannten Fälle vorliegen muss. Nur in diesem Fall kann nämlich die letzte in dieser Bestimmung genannte Voraussetzung erfüllt sein.
26 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Angeklagte, auch wenn er mit dem Urteil vom 21. Februar 2022 in erster Instanz wegen dreier Steuerstraftaten und eines Straftatbestands der Geldwäsche zu mehreren Strafen verurteilt wurde, gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde eingelegt hat, so dass das diese Verurteilung betreffende Strafverfahren noch vor den spanischen Gerichten anhängig ist. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen geht hervor, dass dieses Urteil nach spanischem Recht wegen der Einlegung der Kassationsbeschwerde nicht vollstreckbar ist.
27 Im Übrigen ergibt sich aus diesen Gesichtspunkten, dass die Entscheidung des vorlegenden Gerichts, auf die sich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Europäische Haftbefehl stützt, nicht das Urteil vom 21. Februar 2022, sondern die Entscheidung vom 6. April 2022 ist, mit der die Suche, Festnahme und Untersuchungshaft des Angeklagten angeordnet wurden. Die letztgenannte Entscheidung wurde nämlich von diesem Gericht erlassen, da der Angeklagte den präventiven Maßnahmen, denen er im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens unterworfen war, nicht nachgekommen war. Insbesondere wurde der Angeklagte, während er unter Auflagen frei war, ihm ausdrücklich verboten war, das spanische Hoheitsgebiet zu verlassen und er verpflichtet war, zu den Verhandlungsterminen zu erscheinen, an der kroatischen Grenze in Richtung Rumänien ausfindig gemacht. Die Entscheidung vom 6. April 2022 und der auf ihrer Grundlage ausgestellte Europäische Haftbefehl wurden daher erlassen, um sicherzustellen, dass der Angeklagte bei der Fortsetzung dieses Verfahrens anwesend ist.
28 Folglich wurde, wie das Ministerio Fiscal (Staatsanwaltschaft, Spanien), die spanische Regierung und die Europäische Kommission vortragen und wie das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen ausführt, der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Europäische Haftbefehl nicht „zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung“ im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erlassen, sondern für die Zwecke des anderen in Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen und oben in Rn. 21 genannten Falles, nämlich der Strafverfolgung.
29 Daraus folgt, dass der Fall des Angeklagten nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, so dass eine Ablehnung der Vollstreckung des gegen ihn ausgestellten Europäischen Haftbefehls nicht auf diese Bestimmung gestützt werden kann.
30 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, wenn der Haftbefehl nicht zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist.
Zur zweiten Frage
31 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, auch wenn hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht keine Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand, weil die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung verjährt gewesen wäre, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats anwendbar gewesen wäre.
32 Gemäß Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn die Strafverfolgung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand.
33 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ gelten. Daraus folgt, dass sich die vollstreckende Justizbehörde auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, nicht berufen kann, wenn hinsichtlich der Handlungen, die Gegenstand des Strafverfahrens oder der Strafvollstreckung sind, nach seinem eigenen Strafrecht keine Gerichtsbarkeit dieses Mitgliedstaats bestand, auch wenn das Verfahren oder die Strafe verjährt gewesen wäre, wenn dieses Recht anwendbar gewesen wäre.
34 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, wenn hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht keine Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand, und zwar auch dann, wenn das Strafverfahren oder die Strafvollstreckung verjährt gewesen wäre, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats anwendbar gewesen wäre.
Kosten
35 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, wenn der Haftbefehl nicht zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist.
2. Art. 4 Nr. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung ablehnen kann, wenn hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht keine Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats bestand, und zwar auch dann, wenn das Strafverfahren oder die Strafvollstreckung verjährt gewesen wäre, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats anwendbar gewesen wäre.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Spanisch.
i Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.