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Document 62021CJ0057

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Januar 2023.
RegioJet a. s. gegen České dráhy a.s.
Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší soud.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – Richtlinie 2014/104/EU – Art. 5 und 6 – Offenlegung von Beweismitteln – Beweismittel in den Akten einer Wettbewerbsbehörde – Bei der Europäischen Kommission anhängiges Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln – Nationales Verfahren über eine Schadensersatzklage wegen derselben Zuwiderhandlung – Bedingungen für die Offenlegung von Beweismitteln.
Rechtssache C-57/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:6

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. Januar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – Richtlinie 2014/104/EU – Art. 5 und 6 – Offenlegung von Beweismitteln – Beweismittel in den Akten einer Wettbewerbsbehörde – Bei der Europäischen Kommission anhängiges Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln – Nationales Verfahren über eine Schadensersatzklage wegen derselben Zuwiderhandlung – Bedingungen für die Offenlegung von Beweismitteln“

In der Rechtssache C‑57/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 16. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2021, in dem Verfahren

RegioJet a.s.

gegen

České dráhy a.s.,

Beteiligte:

Česká republika, Ministerstvo dopravy,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der RegioJet a.s., vertreten durch O. Doležal, Advokát,

der České dráhy a.s., vertreten durch J. Kindl, S. Mikeš und K. Muzikář, Advokáti,

der griechischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits als Bevollmächtigten,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Sclafani, Avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Ernst, P. Němečková und C. Zois als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Mai 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 und 4, Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 7 und 9 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der RegioJet a.s. und der České dráhy a.s. wegen des Antrags von RegioJet auf Offenlegung von Beweismitteln im Zusammenhang mit einer Klage auf Ersatz des Schadens, der dieser Gesellschaft durch wettbewerbswidrige Handlungen von České dráhy entstanden sein soll.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 1/2003

3

In den Erwägungsgründen 7 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:

„(7)

Die einzelstaatlichen Gerichte erfüllen eine wesentliche Aufgabe bei der Anwendung der... Wettbewerbsregeln [der Union]. In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen schützen sie die sich aus dem [Unionsrecht] ergebenden subjektiven Rechte, indem sie unter anderem den durch die Zuwiderhandlung Geschädigten Schadenersatz zuerkennen. Sie ergänzen in dieser Hinsicht die Aufgaben der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden. Ihnen sollte daher gestattet werden, die Artikel [101] und [102 AEUV] in vollem Umfang anzuwenden.

(21)

Die einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln erfordert außerdem, Formen der Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und der [Europäischen] Kommission vorzusehen. Dies gilt für alle Gerichte der Mitgliedstaaten, die die Artikel [101] und [102 AEUV] zur Anwendung bringen, unabhängig davon, ob sie die betreffenden Regeln in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatparteien anzuwenden haben oder ob sie als Wettbewerbsbehörde oder als Rechtsmittelinstanz tätig werden. Insbesondere sollten die einzelstaatlichen Gerichte die Möglichkeit erhalten, sich an die Kommission zu wenden, um Informationen oder Stellungnahmen zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der [Union] zu erhalten. …“

4

Art. 2 („Beweislast“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„In allen einzelstaatlichen und [Unionsverfahren] zur Anwendung der Artikel [101 und 102 AEUV] obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] Absatz 1 oder Artikel [102 AEUV] der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. …“

5

Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel [101 und 102 AEUV] in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen

die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird,

einstweilige Maßnahmen angeordnet werden,

Verpflichtungszusagen angenommen werden oder

Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.

Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.“

6

Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 betrifft die Entscheidungen, die die Kommission gemäß den Art. 101 und 102 AEUV erlässt. Diese Entscheidungen können Folgendes zum Gegenstand haben: die Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen (Art. 7), die Anordnung einstweiliger Maßnahmen (Art. 8), Entscheidungen, mit denen Verpflichtungszusagen für bindend erklärt werden (Art. 9), und schließlich die Feststellung der Nichtanwendbarkeit der Art. 101 und 102 AEUV (Art. 10).

7

Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 sieht in seinen Abs. 1 und 6 vor:

„(1)   Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] eng zusammen.

(6)   Leitet die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III ein, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV]. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig, so leitet die Kommission ein Verfahren erst ein, nachdem sie diese Wettbewerbsbehörde konsultiert hat.“

8

Art. 16 („Einheitliche Anwendung des... Wettbewerbsrechts [der Union]“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„(1)   Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel [267 AEUV].

(2)   Wenn Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen treffen, die der von der Kommission erlassenen Entscheidung zuwiderlaufen würden.“

Verordnung (EG) Nr. 773/2004

9

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 622/2008 der Kommission vom 30. Juni 2008 (ABl. 2008, L 171, S. 3) geänderten Fassung bestimmt:

„Die Kommission kann jederzeit die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer Entscheidung gemäß Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 beschließen; dieser Beschluss muss jedoch vor der Versendung einer vorläufigen Beurteilung gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, vor der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte, vor der Aufforderung an die Parteien, ihr Interesse an der Aufnahme von Vergleichsgesprächen zu bekunden, oder vor dem Datum der Veröffentlichung einer Mitteilung gemäß Artikel 27 Absatz 4 der genannten Verordnung ergehen, je nachdem, welche Handlung früher stattfindet.“

Richtlinie 2014/104

10

In den Erwägungsgründen 6, 15, 21, 23 sowie 25 bis 28 der Richtlinie 2014/104 heißt es:

„(6)

Zur Sicherstellung wirksamer privater zivilrechtlicher Durchsetzungsmaßnahmen und einer wirksamen öffentlichen Rechtsdurchsetzung durch die Wettbewerbsbehörden müssen beide Instrumente zusammenwirken, damit die Wettbewerbsvorschriften höchstmögliche Wirkung entfalten. Es ist erforderlich, die Koordinierung zwischen den beiden Formen der Durchsetzung kohärent zu regeln, zum Beispiel in Bezug auf den Zugang zu Unterlagen, die sich im Besitz von Wettbewerbsbehörden befinden. …

(15)

Den Beweismitteln kommt bei der Erhebung von Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder nationales Wettbewerbsrecht große Bedeutung zu. Da wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten jedoch durch eine Informationsasymmetrie gekennzeichnet sind, ist es angebracht zu gewährleisten, dass die Kläger das Recht erhalten, die Offenlegung der für ihren Anspruch relevanten Beweismittel zu erwirken, ohne konkrete einzelne Beweismittel benennen zu müssen. Um den Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren, sollten diese Mittel auch den Beklagten in Verfahren über Schadensersatzklagen zur Verfügung stehen, damit diese die Offenlegung von Beweismitteln durch die Kläger beantragen können. Die nationalen Gerichte sollten auch die Offenlegung von Beweismitteln durch Dritte, einschließlich Behörden, anordnen können. Wenn ein nationales Gericht die Offenlegung von Beweismitteln durch die Kommission anordnen will, finden der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (Artikel 4 Absatz 3 EUV) und – hinsichtlich Auskunftsersuchen – Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung … Nr. 1/2003 Anwendung. Wenn nationale Gerichte die Offenlegung von Beweismitteln durch Behörden anordnen, finden die Grundsätze der Rechts- und Amtshilfe gemäß Unionsrecht oder nationalem Recht Anwendung.

(21)

Wirksamkeit und Kohärenz der Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV durch die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden setzen ein in der ganzen Union einheitliches Konzept für die Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind, voraus. Die Offenlegung von Beweismitteln sollte die Wirksamkeit der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Wettbewerbsbehörden nicht übermäßig beeinträchtigen. …

(23)

Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit sollte sorgfältig geprüft werden, wenn durch die Offenlegung die Untersuchungsstrategie einer Wettbewerbsbehörde dadurch durchkreuzt zu werden droht, dass aufgedeckt wird, welche Unterlagen Teil der Akten sind, oder dass die Zusammenarbeit von Unternehmen mit den Wettbewerbsbehörden negativ beeinflusst wird. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Verhinderung von Ausforschungsmaßnahmen gelten, d. h. einer nicht gezielten oder unnötig weit gefassten Suche nach Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind. Offenlegungsanträge sollten daher nicht als verhältnismäßig angesehen werden, wenn sie sich ganz allgemein auf die Offenlegung der Unterlagen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde zu einem bestimmten Fall oder ganz allgemein auf die Offenlegung der von einer Partei im Zusammenhang mit einem bestimmten Fall übermittelten Unterlagen beziehen. Derart weite Offenlegungsanträge wären nicht mit der Pflicht der Partei, die die Offenlegung beantragt, vereinbar, die einzelnen Beweismittel oder die Kategorien von Beweismitteln so genau wie möglich zu bezeichnen.

(25)

Eine Ausnahme von der Offenlegung sollte für den Fall gelten, dass die Offenlegung – sofern sie angeordnet wird – die laufende Untersuchung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder nationales Wettbewerbsrecht durch eine Wettbewerbsbehörde übermäßig beeinträchtigen würde. Informationen, die von einer Wettbewerbsbehörde im Laufe ihres Verfahrens zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union oder nationalen Wettbewerbsrechts erstellt und den Parteien jenes Verfahrens übermittelt wurden (beispielsweise eine Mitteilung der Beschwerdepunkte) oder von einer Partei dieses Verfahrens ausgearbeitet wurden (beispielsweise Antworten auf Auskunftsverlangen der Wettbewerbsbehörde oder Zeugenaussagen), sollten daher in Verfahren über Schadensersatzklagen erst offengelegt werden können, nachdem die Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren beendet hat, beispielsweise durch den Erlass eines Beschlusses gemäß Artikel 5 oder gemäß Kapitel III der Verordnung … Nr. 1/2003, mit Ausnahme von Beschlüssen über einstweilige Maßnahmen.

(26)

Kronzeugenprogramme und Vergleichsverfahren sind wichtige Instrumente für die öffentliche Rechtsdurchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union, da sie zur Aufdeckung und effizienten Verfolgung und Sanktionierung der schwersten Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht beitragen. … Um zu gewährleisten, dass Unternehmen dauerhaft bereit sind, freiwillig Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen bei Wettbewerbsbehörden vorzulegen, sollten diese Unterlagen von der Offenlegung ausgenommen werden. …

(27)

Mit den Vorschriften dieser Richtlinie über die Offenlegung von Unterlagen, bei denen es sich nicht um Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen handelt, wird dafür gesorgt, dass Geschädigte nach wie vor ausreichend alternative Möglichkeiten haben, Zugang zu den relevanten Beweismitteln zu erhalten, die für die Erstellung ihrer Schadensersatzklagen erforderlich sind. Die nationalen Gerichte sollten sich auf Antrag eines Klägers Zugang zu Unterlagen, in Bezug auf die die Ausnahme geltend gemacht wird, verschaffen können, um festzustellen, ob deren Inhalt nicht über die in dieser Richtlinie festgelegten Definitionen für Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen hinausgeht. Über diese Definitionen hinausgehender Inhalt sollte unter den einschlägigen Bedingungen offengelegt werden können.

(28)

Die nationalen Gerichte sollten im Zusammenhang mit Schadensersatzklagen jederzeit die Offenlegung von Beweismitteln anordnen können, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen (im Folgenden ‚bereits vorhandene Informationen‘).“

11

Nach Art. 2 Nr. 17 der Richtlinie 2014/104 bezeichnet der Ausdruck „bereits vorhandene Informationen“ Beweismittel, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen, unabhängig davon, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht.

12

Art. 5 („Offenlegung von Beweismitteln“) der Richtlinie 2014/104 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass in Verfahren über Schadensersatzklagen in der Union auf Antrag eines Klägers, der eine substantiierte Begründung vorgelegt hat, die mit zumutbarem Aufwand zugängliche Tatsachen und Beweismittel enthält, die die Plausibilität seines Schadensersatzanspruchs ausreichend stützen, die nationalen Gerichte unter den Voraussetzungen dieses Kapitels die Offenlegung von relevanten Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden, anordnen können. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte auf Antrag des Beklagten die Offenlegung von relevanten Beweismitteln durch den Kläger oder einen Dritten anordnen können.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte die Offenlegung von bestimmten einzelnen Beweismitteln oder relevanten Kategorien von Beweismitteln anordnen können, die so genau und so präzise wie möglich abgegrenzt sind, wie dies auf der Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen in der substantiierten Begründung möglich ist.

(3)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die von den nationalen Gerichten angeordnete Offenlegung von Beweismitteln verhältnismäßig ist. Bei der Prüfung, ob die von einer Partei beantragte Offenlegung verhältnismäßig ist, berücksichtigen die nationalen Gerichte die berechtigten Interessen aller Parteien und betroffenen Dritten. Insbesondere berücksichtigen sie[,]

a)

inwieweit die Klage oder die Klageerwiderung durch zugängliche Tatsachen und Beweismittel gestützt wird, die den Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln rechtfertigen;

b)

den Umfang und die Kosten der Offenlegung, insbesondere für betroffene Dritte, einschließlich zur Verhinderung einer nicht gezielten Suche nach Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind;

c)

ob die offenzulegenden Beweismittel vertrauliche Informationen – insbesondere Dritte betreffende Informationen – enthalten und welche Vorkehrungen zum Schutz dieser vertraulichen Informationen bestehen.

(4)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte befugt sind, die Offenlegung von Beweismitteln, die vertrauliche Informationen enthalten, anzuordnen, wenn sie diese als sachdienlich für die Schadensersatzklage erachten. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte bei der Anordnung der Offenlegung solcher Informationen über wirksame Maßnahmen für deren Schutz verfügen.

(5)   Das Interesse von Unternehmen, Schadensersatzklagen aufgrund von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht zu vermeiden, ist nicht schutzwürdig.

(8)   Unbeschadet der Absätze 4 und 7 sowie des Artikels 6 hindert dieser Artikel die Mitgliedstaaten nicht daran, Vorschriften beizubehalten oder einzuführen, die zu einer umfassenderen Offenlegung von Beweismitteln führen würden.“

13

Art. 6 („Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind“) der Richtlinie 2014/104 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass bei einer von den nationalen Gerichten für die Zwecke von Schadensersatzklagen angeordneten Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind, neben Artikel 5 dieser Artikel gilt.

(4)   Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Anordnung zur Offenlegung von Informationen gemäß Artikel 5 Absatz 3 berücksichtigen die nationalen Gerichte zusätzlich:

a)

ob der Antrag eigens hinsichtlich Art, Gegenstand oder Inhalt der der Wettbewerbsbehörde übermittelten oder in deren Akten enthaltenen Unterlagen und nicht unspezifisch in Bezug auf die der Wettbewerbsbehörde übermittelten Unterlagen formuliert wurde,

b)

ob die Partei, die die Offenlegung beantragt, diesen Antrag im Rahmen einer Schadensersatzklage vor einem nationalen Gericht stellt, und

c)

im Zusammenhang mit den Absätzen 5 und 10 oder auf Antrag einer Wettbewerbsbehörde nach Absatz 11 die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu wahren.

(5)   Die nationalen Gerichte dürfen die Offenlegung der folgenden Kategorien von Beweismitteln erst dann anordnen, wenn eine Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise beendet hat:

a)

Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden,

b)

Informationen, die die Wettbewerbsbehörde im Laufe ihres Verfahrens erstellt und den Parteien übermittelt hat, und

c)

Vergleichsausführungen, die zurückgezogen wurden.

(6)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte für die Zwecke von Schadensersatzklagen zu keinem Zeitpunkt die Offenlegung der folgenden Beweismittelarten durch eine Partei oder einen Dritten anordnen können:

a)

Kronzeugenerklärungen und

b)

Vergleichsausführungen.

(7)   Ein Kläger kann einen begründeten Antrag stellen, dass ein nationales Gericht die in Absatz 6 Buchstaben a und b genannten Beweismittel nur einsieht, um sich zu überzeugen, dass der Inhalt der Unterlagen den in Artikel 2 Nummern 16 und 18 enthaltenen Begriffsbestimmungen entspricht. Bei dieser Beurteilung können die nationalen Gerichte nur die zuständige Wettbewerbsbehörde um Unterstützung bitten. Die Verfasser der betreffenden Beweismittel können auch Gelegenheit zur Anhörung erhalten. Das Gericht darf auf keinen Fall den anderen Parteien oder Dritten Zugang zu diesen Beweismitteln gewähren.

(8)   Soweit nur Teile der angeforderten Beweismittel unter Absatz 6 fallen, werden die übrigen Teile je nach Kategorie gemäß den einschlägigen Absätzen dieses Artikels freigegeben.

(9)   Unbeschadet dieses Artikels kann die Offenlegung von Beweismitteln in den Akten einer Wettbewerbsbehörde, die nicht unter eine der in diesem Artikel aufgeführten Kategorien fallen, in Verfahren über Schadensersatzklagen jederzeit angeordnet werden.

(11)   Möchte eine Wettbewerbsbehörde vor Gericht ihre Ansichten über die Verhältnismäßigkeit von Offenlegungsanträgen darlegen, so kann sie von sich aus dem nationalen Gericht, bei dem um Offenlegung angesucht wird, Bemerkungen vorlegen.“

14

Art. 22 („Zeitliche Geltung“) der Richtlinie 2014/104 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden, um den materiell-rechtlichen Vorschriften dieser Richtlinie zu entsprechen, nicht rückwirkend gelten.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden und die nicht unter Absatz 1 fallen, nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26. Dezember 2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden.“

Tschechisches Recht

Gesetz Nr. 143/2001

15

Der Zákon č. 143/2001 Sb., o ochraně hospodářské soutěže (Gesetz Nr. 143/2001 über den Schutz des Wettbewerbs) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 143/2001) bestimmt in § 1 Abs. 1, dass er „den Schutz des Wettbewerbs auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen … vor jeder Behinderung, Beschränkung, sonstigen Beeinträchtigung oder Gefährdung“ regelt.

16

§ 21ca Abs. 2 des Gesetzes Nr. 143/2001 bestimmt im Wesentlichen, dass Unterlagen und Informationen, die für ein bei der nationalen Wettbewerbsbehörde anhängiges Verwaltungsverfahren erstellt und vorgelegt wurden, öffentlichen Stellen erst nach Abschluss der Ermittlungen oder nach Eintritt der Bestandskraft einer Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde zur Beendigung des Verwaltungsverfahrens offengelegt werden können.

Gesetz Nr. 262/2017

17

Der Zákon č. 262/2017 Sb., o náhradě škody v oblasti hospodářské soutěže (Gesetz Nr. 262/2017 über den Ersatz von Schäden im Bereich des Wettbewerbs, im Folgenden: Gesetz Nr. 262/2017) setzt die Richtlinie 2014/104 in tschechisches Recht um.

18

§ 2 Abs. 2 Buchst. c des Gesetzes Nr. 262/2017 bestimmt, dass als vertrauliche, durch die Verschwiegenheitspflicht geschützte Informationen u. a. „Unterlagen und Informationen [gelten], die ausdrücklich für die Zwecke eines Verwaltungsverfahrens oder der Durchführung der Aufsicht durch die [innerstaatliche] Wettbewerbsbehörde vorgelegt wurden“.

19

Aus § 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 262/2017 geht im Wesentlichen hervor, dass der Kammerpräsident vor der Einleitung eines Verfahrens auf Ersatz eines durch eine Wettbewerbsbeschränkung entstandenen Schadens auf Antrag des Antragstellers, mit dem die Plausibilität seines Anspruchs auf Ersatz des durch die Wettbewerbsbeschränkung entstandenen Schadens mit der den zugänglichen Tatsachen entsprechenden Sicherheit belegt wird, gegenüber demjenigen, der bestimmte Dokumente besitzt, mit denen die Sachlage festgestellt werden kann, ihre Offenlegung anordnen kann, sofern dies zur Geltendmachung des Anspruchs des Antragstellers auf Ersatz des Schadens erforderlich und verhältnismäßig ist.

20

Gemäß § 15 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 262/2017 kann „[d]ie Verpflichtung zur Vorlage vertraulicher Informationen im Sinne von § 2 Abs. 2 Buchst. c … erst nach Eintritt der Bestandskraft einer Entscheidung der Wettbewerbsbehörde zur Beendigung des Verwaltungsverfahrens auferlegt werden“.

21

§ 16 Abs. 1 Buchst. c des Gesetzes Nr. 262/2017 sieht im Wesentlichen vor, dass der Kammerpräsident im Fall eines Antrags auf Zugang zu Dokumenten, die vertrauliche Informationen enthalten und sich in den Akten der nationalen Wettbewerbsbehörde befinden, prüft, ob ihre Offenlegung nicht die wirksame Durchsetzung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften gefährden würde. Gemäß § 16 Abs. 3 können Dokumente mit vertraulichen Informationen erst nach Beendigung der Ermittlungen oder nach Eintritt der Bestandskraft einer Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde zur Beendigung des Verwaltungsverfahrens offengelegt werden.

22

Nach § 18 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 262/2017 kann der Kammerpräsident unter den in den §§ 10 und 16 dieses Gesetzes vorgesehenen Voraussetzungen die Offenlegung von Beweismitteln auch nach der Eröffnung des Hauptsacheverfahrens anordnen.

23

§ 27 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 262/2017 sieht vor, dass das Gericht in einem Verfahren auf Schadensersatz an die Entscheidung eines anderen Gerichts, des Úřad pro ochranu hospodářské soutěže (Amt für Wettbewerbsschutz, im Folgenden: ÚOHS) und der Kommission gebunden ist, soweit darin festgestellt wird, dass eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt und wer sie begangen hat.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

24

Am 25. Januar 2012 leitete der ÚOHS von Amts wegen ein Verwaltungsverfahren ein, das einen möglichen Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch České dráhy, ein nationales Eisenbahnunternehmen im Eigentum des tschechischen Staates, betraf.

25

Im Jahr 2015 erhob RegioJet, ein Unternehmen, das u. a. Schienenpersonenverkehrsdienste auf der Strecke Prag‑Ostrava (Ostrau) (Tschechische Republik) anbietet, beim Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) eine Schadensersatzklage gegen České dráhy auf Ersatz eines Schadens, der durch gegen die Wettbewerbsregeln verstoßende Handlungen von České dráhy verursacht worden sein soll.

26

Am 10. November 2016 beschloss die Kommission, ein förmliches Prüfverfahren nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 einzuleiten, um zu beurteilen, ob České dráhy bei der Erbringung von Schienenpersonenverkehrsdiensten in der Tschechischen Republik und insbesondere auf der Linie Prag‑Ostrava (Ostrau) Verdrängungspreise angewandt hat (Sache Nr. AT.40156 – Czech Rail).

27

Am 14. November 2016 setzte der ÚOHS das Verwaltungsverfahren aus, ohne es jedoch förmlich zu beenden, da die Kommission ihrerseits ein Verfahren eingeleitet hatte, das in der Sache gerade die Handlungen betraf, die Gegenstand des Verwaltungsverfahrens waren.

28

Am 11. Oktober 2017 stellte RegioJet im Rahmen ihrer Schadensersatzklage einen Antrag auf Offenlegung von Dokumenten gemäß den Bestimmungen des Gesetzes Nr. 262/2017. RegioJet beantragte u. a. die Offenlegung von Dokumenten, bei denen sie davon ausging, dass sie im Besitz von České dráhy seien, insbesondere Einzelaufstellungen und Aufstellungen über den öffentlichen Schienenverkehr sowie die Buchhaltung des kommerziellen Segments von České dráhy.

29

Unter Berufung auf § 21ca Abs. 2 des Gesetzes Nr. 143/2001 wies der ÚOHS darauf hin, dass die angeforderten Dokumente, über die er im Rahmen des Verwaltungsverfahrens verfüge, bis zur endgültigen Beendigung des Verwaltungsverfahrens nicht offengelegt werden könnten. Er erklärte außerdem, dass die anderen angeforderten Dokumente zu der Kategorie von Dokumenten gehörten, die einen geschlossenen Komplex von Dokumenten bildeten, und lehnte ihre Offenlegung mit der Begründung ab, dass dadurch die Wirksamkeit der Politik der Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht verringert werden könne.

30

Am 26. Februar 2018 wies die Kommission in Beantwortung einer Frage des Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) vom 12. Januar 2018 darauf hin, dass das Gericht bei seiner Entscheidung über die Offenlegung von Beweismitteln im Interesse des Schutzes der berechtigten Interessen aller Verfahrensbeteiligten und Dritter u. a. den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anwenden und Maßnahmen zum Schutz solcher Informationen treffen müsse. Außerdem wies sie darauf hin, dass die nationalen Gerichte, wenn sie über Fragen nach den Art. 101 und 102 AEUV zu entscheiden hätten, nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 keine Entscheidungen erlassen dürften, die den von der Kommission erlassenen Entscheidungen zuwiderliefen. Die nationalen Gerichte müssten es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderliefen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtige. Zu diesem Zweck wurde das nationale Gericht aufgefordert, zu prüfen, ob eine Aussetzung des bei ihm anhängigen Verfahrens notwendig war.

31

Am 14. März 2018 gab das nationale Gericht České dráhy auf, im Wege der Einreichung zur Akte eine Reihe von Dokumenten offenzulegen. Diese Dokumente enthielten zum einen Informationen, die České dráhy eigens für das Verfahren vor dem ÚOHS erstellt hatte, und zum anderen Informationen, die außerhalb des Verfahrens obligatorisch erstellt und aufbewahrt worden waren, beispielsweise Einzelaufstellungen von Zugverbindungen, vierteljährliche Aufstellungen über den öffentlichen Schienenverkehr sowie ein Verzeichnis der von České dráhy betriebenen Verbindungen. Dagegen lehnte das Gericht den Antrag von RegioJet auf Offenlegung der Buchhaltung des kommerziellen Segments von České dráhy, einschließlich der Codes für die einzelnen Zugverbindungen und ‑typen, und auf Offenlegung der Protokolle der Vorstandssitzungen von České dráhy für die Monate September und Oktober 2011 ab.

32

Mit Beschluss vom 19. Dezember 2018 entschied dieses Gericht gemäß § 27 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 262/2017, das Hauptsacheverfahren über die Schadensersatzklage bis zum Abschluss des in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Verfahrens auszusetzen.

33

RegioJet und České dráhy legten beide gegen den Beschluss vom 14. März 2018 Beschwerde beim Vrchní soud v Praze (Obergericht Prag, Tschechische Republik) ein. Dieses Gericht bestätigte mit Beschluss vom 29. November 2019 den Beschluss vom 14. März 2018 und erließ, um den Schutz der vorgelegten Beweismittel zu gewährleisten, Maßnahmen dahin gehend, dass die Beweismittel bei Gericht aufbewahrt und nur den Parteien, ihren Vertretern und Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden, und zwar, in jedem einzelnen Fall, immer auf begründeten schriftlichen Antrag und nach vorheriger Zustimmung des gemäß der Geschäftsverteilung zuständigen Richters.

34

České dráhy legte gegen diesen Beschluss vom 29. November 2019 Kassationsbeschwerde bei dem vorlegenden Gericht, dem Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik), ein.

35

Vor diesem Hintergrund hat der Nejvyšší soud (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Entspricht der Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 ein Vorgehen dahin gehend, dass ein Gericht über die Auferlegung einer Verpflichtung zur Offenlegung von Beweismitteln entscheidet, obwohl gleichzeitig ein von der Kommission eingeleitetes Verfahren zum Erlass eines Beschlusses nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 geführt wird, weshalb das Verfahren über die Klage auf Ersatz eines durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schadens vom Gericht aus diesem Grund ausgesetzt wurde?

2.

Steht die Auslegung von Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104 einer nationalen Regelung entgegen, die die Offenlegung aller Informationen, die im Rahmen eines Verfahrens auf Ersuchen der Wettbewerbsbehörde vorgelegt wurden, beschränkt, und zwar auch dann, wenn es sich um Informationen handelt, die eine Partei aufgrund anderer Rechtsvorschriften zu erstellen und aufzubewahren hat (bzw. erstellt und aufbewahrt), unabhängig von einem Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht?

3.

Kann als Beendigung des Verfahrens in anderer Weise im Sinne von Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 auch die Tatsache angesehen werden, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde das Verfahren ausgesetzt hat, sowie die Kommission ein Verfahren im Hinblick auf den Erlass eines Beschlusses nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet hat?

4.

Ist mit Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 unter Berücksichtigung des Zwecks und der Ziele der Richtlinie ein Vorgehen des nationalen Gerichts vereinbar, durch das es eine nationale Regelung zur Umsetzung von Art. 6 Abs. 7 der Richtlinie analog auf Kategorien von Informationen im Sinne von Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie anwendet, also über die Offenlegung von Beweismitteln entscheidet, wobei es sich mit der Frage, ob die Beweismittel Informationen enthalten, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden (im Sinne von Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104), erst nach der Offenlegung der Beweismittel gegenüber dem Gericht befasst?

5.

Falls die vorstehende Frage bejaht wird: Ist Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen, dass von einem Gericht getroffene wirksame Maßnahmen zum Schutz vertraulicher Informationen vor der von dem Gericht vorgenommenen endgültigen Beurteilung der Frage, ob alle oder einige der offengelegten Informationen in die Kategorie der Beweismittel im Sinne von Art. 6 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie fallen, den Zugang des Klägers oder anderer Verfahrensbeteiligter und ihrer Vertreter zu den offengelegten Beweisen ausschließen können?

Zu den Vorlagefragen

Zur zeitlichen Anwendbarkeit der Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104

36

Eingangs ist zur zeitlichen Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/104 darauf hinzuweisen, dass diese eine Sonderbestimmung enthält, die die Voraussetzungen für die zeitliche Geltung ihrer materiell-rechtlichen und nicht materiell-rechtlichen Vorschriften ausdrücklich regelt (Urteil vom 10. November 2022, PACCAR u. a.,C‑163/21, EU:C:2022:863, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Zum einen müssen die Mitgliedstaaten nämlich nach Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Art. 21 dieser Richtlinie erlassen werden, um deren materiell-rechtlichen Vorschriften zu entsprechen, nicht rückwirkend gelten.

38

Zum anderen müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104 gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nicht unter Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie fallen, nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26. Dezember 2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden.

39

Um die Frage der zeitlichen Anwendbarkeit der Vorschriften der Richtlinie 2014/104 zu klären, ist daher als Erstes zu prüfen, ob die betreffende Vorschrift eine materiell-rechtliche Vorschrift darstellt oder nicht, wobei diese Frage, da es in Art. 22 der Richtlinie an einer Verweisung auf das nationale Recht fehlt, nach Unionsrecht und nicht nach dem anwendbaren nationalen Recht zu beurteilen ist (Urteil vom 10. November 2022, PACCAR u. a., C‑163/21, EU:C:2022:863, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 den nationalen Gerichten die Möglichkeit geben sollen, unter bestimmten Voraussetzungen dem Beklagten oder einem Dritten aufzugeben, relevante Beweismittel, die sich in ihrer Verfügungsgewalt befinden, offenzulegen, und damit den Ablauf des Verfahrens über eine Schadensersatzklage bestimmen.

41

Indem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, diese Gerichte im Rahmen der Prüfung von Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzklagen auf Ersatz des wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht erlittenen Schadens mit besonderen Befugnissen auszustatten, sollen diese Vorschriften der Informationsasymmetrie abhelfen, die diese Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich zum Nachteil des Geschädigten kennzeichnet, worauf im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 hingewiesen wird, und die es für den Geschädigten schwieriger macht, die für die Erhebung einer Schadensersatzklage unerlässlichen Informationen zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2022, PACCAR u. a., C‑163/21, EU:C:2022:863, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Zweitens führen die Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104, da sie gerade bezwecken, es dem Kläger in solchen Rechtsstreitigkeiten zu ermöglichen, sein Informationsdefizit auszugleichen, zwar dazu, dass dem Kläger, wenn er sich hierzu an das nationale Gericht wendet, ein Trumpf bereitgestellt wird, über den er nicht verfügt hat. Gleichwohl bezieht sich der Gegenstand dieser Artikel nur auf die vor den nationalen Gerichten geltenden prozessualen Maßnahmen, mit denen diesen besondere Befugnisse eingeräumt werden, um die Tatsachen festzustellen, die die Parteien im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzklagen wegen solcher Zuwiderhandlungen geltend machen, und betrifft daher die Rechtsstellung dieser Beteiligten nicht unmittelbar, da sich diese Vorschriften nicht auf die Tatbestandsmerkmale der außervertraglichen Haftung beziehen.

43

Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 der einen oder der anderen Partei von derartigen Rechtsstreitigkeiten neue materiell-rechtliche Verpflichtungen auferlegen, was es erlauben würde, diese Vorschriften als materiell-rechtlich im Sinne von Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie anzusehen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2022, PACCAR u. a., C‑163/21, EU:C:2022:863, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Daher ist festzustellen, dass die Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 nicht zu den materiell-rechtlichen Vorschriften dieser Richtlinie im Sinne von deren Art. 22 Abs. 1 zählen und folglich zu den anderen, in Art. 22 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Vorschriften gehören. Es handelt sich hier um Verfahrensvorschriften, wie der Generalanwalt in den Nrn. 29 und 34 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat.

45

Als Zweites ergibt sich aus Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie über ein Ermessen verfügten, um zu entscheiden, ob die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der Richtlinie für Schadensersatzklagen gelten, die nach dem 26. Dezember 2014, aber vor dem Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie oder spätestens vor dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist, d. h. vor dem 27. Dezember 2016, erhoben wurden (Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 28).

46

Im vorliegenden Fall geht aus dem Gesetz Nr. 262/2017 hervor, dass der tschechische Gesetzgeber entschieden hat, dass die nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der Richtlinie 2014/104 unmittelbar und unbedingt auch für Klagen gelten, die vor dem Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie, aber nach dem 26. Dezember 2014 erhoben wurden. Die Schadensersatzklage, für deren Zwecke der Antrag auf Offenlegung von Dokumenten gestellt wurde, wurde am 25. November 2015 erhoben.

47

Nach alledem sind die Art. 5 und 6 im Ausgangsverfahren zeitlich anwendbar, so dass die Vorlagefragen, die sich auf diese Bestimmungen beziehen, zu beantworten sind.

Zur Beantwortung der Fragen

Einleitende Bemerkungen

48

Zur vollen Wirksamkeit der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln und insbesondere der praktischen Wirksamkeit der in diesen Vorschriften ausgesprochenen Verbote trägt die jedermann offenstehende Möglichkeit bei, Ersatz des Schadens zu verlangen, der ihm durch eine Vereinbarung oder eine Verhaltensweise, die den Wettbewerb einschränken oder verfälschen kann, im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV oder durch ein missbräuchliches Verhalten eines Unternehmens mit marktbeherrschender Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 26, und vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 33).

49

Wie es im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 heißt, erfüllen die einzelstaatlichen Gerichte bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln eine wesentliche Funktion. In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen schützen sie die sich aus dem Unionsrecht ergebenden subjektiven Rechte, indem sie u. a. den durch die Zuwiderhandlung Geschädigten Schadensersatz zuerkennen. Sie ergänzen in dieser Hinsicht die Aufgaben der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden.

50

Wenn diese Gerichte über Schadensersatzklagen entscheiden, in einem Kontext, in dem es keine endgültige Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde über denselben Sachverhalt gibt (sogenannte „Stand-alone“-Klagen), müssen sie grundsätzlich inzident über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln entscheiden, d. h. über das Vorliegen von Vereinbarungen, Beschlüssen oder Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV. Zivilklagen können allerdings die öffentlichen nationalen Verfahren und Unionsverfahren zur Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV nicht ersetzen, bei denen, wie es in Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 heißt, insbesondere vorgesehen ist, dass die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 oder Art. 102 AEUV der Partei oder der Behörde obliegt, die diesen Vorwurf erhebt.

51

Daher darf die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2014/104 über die Offenlegung von Beweismitteln nicht dazu führen, dass die Grundsätze über die Beweislast für das Vorliegen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen umgangen werden, wenn sich zeigt, dass die in Rede stehende Klage nicht rein auf Schadensersatz gerichtet ist.

52

Beim Erlass der Richtlinie 2014/104 ist der Unionsgesetzgeber nämlich gerade von der – im sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie angeführten – Feststellung ausgegangen, dass die beiden Instrumente, mit denen eine wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln gewährleistet werden soll, nämlich die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der Union durch die Behörden („public enforcement“) und die privaten Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlung gegen diese Regeln („private enforcement“), kohärent zusammenwirken müssen, insbesondere in Bezug auf die Modalitäten des Zugangs zu Unterlagen, die sich im Besitz von Wettbewerbsbehörden befinden.

53

Was private Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln betrifft, spiegeln die Vorschriften über die Offenlegung von Unterlagen in Kapitel II (Art. 5 bis 8) der Richtlinie 2014/104 eine Abwägung zwischen zum einen der Wirksamkeit der Maßnahmen der Wettbewerbsbehörden und zum anderen der Wirksamkeit der Schadensersatzklagen von Personen, die sich durch wettbewerbswidrige Praktiken für geschädigt halten, wider.

54

Folglich wird der Zugang der durch wettbewerbswidrige Verhaltensweisen Geschädigten zu Beweismitteln, die sie zwangsläufig benötigen, um die Begründetheit ihrer Schadensersatzklagen zu belegen – auch wenn er durch die Richtlinie 2014/104 angesichts der Informationsasymmetrie, die Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzklagen auf Ersatz des durch Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schadens oft kennzeichnet, verbessert werden soll –, durch diese Richtlinie auch eng begrenzt.

55

Erstens enthält Art. 5 der Richtlinie 2014/104 eine Reihe allgemeiner Regeln über die Offenlegung von Beweismitteln in Verfahren über Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht.

56

Zweitens sieht Art. 6 der Richtlinie 2014/104 besondere Regeln für die Offenlegung von Beweismitteln vor, die in der Akte einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind. Diese Regeln zeugen u. a. von einem unterschiedlichen Schutzniveau je nach den angeforderten Informationen und der Notwendigkeit, die Wirksamkeit der öffentlichen Verfahren zu wahren. Diese Vorschrift unterscheidet nämlich zwischen mehreren Kategorien von Beweismitteln.

57

Was zunächst die Beweismittel betreffend Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen anbelangt (im Folgenden: Beweismittel der schwarzen Liste), bestimmt Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2014/104, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte zu keinem Zeitpunkt die Offenlegung dieser Beweismittel durch eine Partei oder einen Dritten anordnen können.

58

Sodann bestimmt Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 in Bezug auf Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden, Informationen, die die Wettbewerbsbehörde im Laufe ihres Verfahrens erstellt und den Parteien übermittelt hat, und Vergleichsausführungen, die zurückgezogen wurden, dass die nationalen Gerichte die Offenlegung von Beweismitteln, die in diese Kategorien fallen (im Folgenden: Beweismittel der grauen Liste), erst dann anordnen dürfen, wenn eine Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise beendet hat.

59

Schließlich kann nach Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104 die Offenlegung von Beweismitteln in den Akten einer Wettbewerbsbehörde, die nicht unter eine der vorstehend genannten Kategorien fallen (im Folgenden: Beweise der weißen Liste), unbeschadet dieses Artikels in Verfahren über Schadensersatzklagen jederzeit angeordnet werden.

60

Drittens ist festzustellen, dass die Richtlinie 2014/104, wie aus ihrem Art. 5 Abs. 3 und ihrem Art. 6 Abs. 4 hervorgeht, somit eine Sonderregelung für Anträge auf Offenlegung von Beweismitteln vorsieht, in deren Rahmen diesen Anträgen nicht automatisch stattgegeben wird, sondern sie unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung der Umstände und der betroffenen berechtigten Interessen beurteilt werden. Das angerufene nationale Gericht hat daher eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen und dabei gegebenenfalls die Ansicht zu berücksichtigen, die die betreffende Wettbewerbsbehörde nach Art. 6 Abs. 11 der Richtlinie 2014/104 bei diesem Gericht vortragen kann.

61

Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser einleitenden Bemerkungen zu beantworten.

Zur ersten Frage

62

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass er es einem nationalen Gericht verwehrt, die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines vor diesem Gericht eingeleiteten nationalen Verfahrens über eine Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht anzuordnen, obwohl bei der Kommission ein Verfahren wegen derselben Zuwiderhandlung mit dem Ziel, einen Beschluss nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zu erlassen, anhängig ist, das das nationale Gericht dazu veranlasst hat, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen.

63

Gemäß Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 führt die Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission dazu, dass die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV in Bezug auf dieselben Zuwiderhandlungen entfällt.

64

Dagegen verliert nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ein mit einer Schadensersatzklage befasstes nationales Gericht durch die Einleitung des Verfahrens durch die Kommission nicht automatisch seine Zuständigkeit für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV und für die Entscheidung über die von der Kommission geprüften Zuwiderhandlungen. Nach dieser Bestimmung müssen die nationalen Gerichte nämlich nur zum einen davon absehen, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen, und zum anderen den Erlass von Entscheidungen vermeiden, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt, und zu diesem Zweck beurteilen, ob es notwendig ist, das Verfahren auszusetzen.

65

Außerdem ergibt sich aus einer Gesamtschau der Bestimmungen der Richtlinie 2014/104, dass diese die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten auch nicht verpflichtet, bei ihnen anhängige Verfahren über Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln aufgrund der Einleitung eines Verfahrens vor der Kommission in Bezug auf dieselben Zuwiderhandlungen auszusetzen.

66

Wie in Rn. 52 des vorliegenden Urteils ausgeführt, müssen zwar die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der Union durch die Behörden („public enforcement“) und die privaten Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlung gegen diese Regeln („private enforcement“) kohärent zusammenwirken, insbesondere in Bezug auf die Modalitäten des Zugangs zu Unterlagen, die sich im Besitz der Wettbewerbsbehörden befinden, doch können sie grundsätzlich nebeneinander geführt werden.

67

Insoweit belegen die Bestimmungen von Art. 6 Abs. 5 und 9 der Richtlinie 2014/104, dass ein Verfahren wegen einer Schadensersatzklage fortgeführt werden kann, obwohl bei einer Wettbewerbsbehörde ein Verfahren anhängig ist. Während nämlich die nationalen Gerichte die Offenlegung von Beweismitteln der grauen Liste erst anordnen dürfen, wenn eine solche Behörde ihr Verfahren beendet hat (Art. 6 Abs. 5 dieser Richtlinie), kann die Offenlegung von Beweismitteln der weißen Liste „in Verfahren über Schadensersatzklagen jederzeit“ angeordnet werden (Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie).

68

In diesem Zusammenhang stellt sich somit die Frage, ob die Richtlinie 2014/104 es einem nationalen Gericht verwehrt, die Offenlegung von Beweismitteln gemäß den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Art. 5 und 6 dieser Richtlinie anzuordnen, obwohl das im Rahmen einer Schadensersatzklage eingeleitete nationale Verfahren wegen eines bei der Kommission eingeleiteten Verfahrens ausgesetzt wurde.

69

Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinie 2014/104 ein nationales Gericht nicht automatisch daran hindert, im Rahmen einer anhängigen Klage auf Schadensersatz wegen einer geltend gemachten Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln die Offenlegung von Beweismitteln anzuordnen, obwohl gleichzeitig von der Kommission ein Verfahren wegen derselben Zuwiderhandlung geführt wird und das nationale Gericht das Verfahren über die Schadensersatzklage bis zum Abschluss des Verfahrens der Kommission ausgesetzt hat.

70

Bei der Entscheidung eines nationalen Gerichts, die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines Schadensersatzverfahrens anzuordnen, das aufgrund der Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission ausgesetzt wurde, handelt es sich nämlich grundsätzlich nicht um eine Entscheidung, die im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 geeignet ist, der Entscheidung zuwiderzulaufen, die die Kommission im Rahmen dieses Verfahrens zu erlassen beabsichtigt.

71

Wenn die nationalen Gerichte in der Lage sind, dem Beklagten oder einem Dritten aufzugeben, in ihrer Verfügungsgewalt befindliche relevante Beweismittel offenzulegen, müssen sie dies jedoch unter dem Vorbehalt tun, dass die sich aus der Richtlinie 2014/104 ergebenden Anforderungen gewahrt werden.

72

So müssen die angerufenen nationalen Gerichte, die die Offenlegung von Beweismitteln auf das strikt relevante, verhältnismäßige und erforderliche Maß beschränken müssen, dafür sorgen, dass eine Entscheidung über die Offenlegung von Beweismitteln eine von einer Wettbewerbsbehörde wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht durchgeführte laufende Untersuchung nicht übermäßig beeinträchtigt. Diese Gerichte müssen daher eine anspruchsvolle Prüfung des bei ihnen gestellten Antrags in Bezug auf die Relevanz der angeforderten Beweismittel, den Zusammenhang zwischen diesen Beweismitteln und dem gestellten Schadensersatzantrag, die ausreichend genaue Bezeichnung der Beweismittel und deren Verhältnismäßigkeit vornehmen.

73

Wie im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 ausgeführt wird, sollte das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit sorgfältig geprüft werden, wenn durch die Offenlegung die Untersuchungsstrategie einer Wettbewerbsbehörde dadurch durchkreuzt zu werden droht, dass aufgedeckt wird, welche Unterlagen Teil der Akten sind, oder dass die Zusammenarbeit von Unternehmen mit den Wettbewerbsbehörden negativ beeinflusst wird. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Verhinderung von Ausforschungsmaßnahmen gelten, d. h. einer nicht gezielten oder unnötig weit gefassten Suche nach Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind.

74

Insoweit bestimmt Art. 6 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2014/104, dass die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Anordnung zur Offenlegung von Informationen auch berücksichtigen, „ob die Partei, die die Offenlegung beantragt, diesen Antrag im Rahmen einer Schadensersatzklage vor einem nationalen Gericht stellt“.

75

Daraus lässt sich ableiten, dass ein nationales Gericht im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Anordnung zur Offenlegung von Beweismitteln, die sorgfältig zu erfolgen hat, vor allem dann, wenn es sich um Beweismittel handelt, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind, auch berücksichtigen muss, dass das Verfahren über die Schadensersatzklage ausgesetzt wurde.

76

Obwohl eine Anordnung zur Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines Verfahrens über eine Schadensersatzklage a priori nicht unter die „Entscheidungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 fällt, gebieten nämlich sowohl der in Art. 4 Abs. 3 EUV aufgestellte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit als auch das Ziel einer wirksamen und einheitlichen Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union, dass ein nationales Gericht das bei der Kommission anhängige Verfahren bei jeder Entscheidung oder Maßnahme berücksichtigt, die es im Laufe eines Verfahrens über eine Schadensersatzklage trifft, insbesondere wenn diese Entscheidung oder Maßnahme die Feststellung betrifft, dass eine identische oder ähnliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht vorliegt.

77

Wenn ein Gericht im Rahmen eines Verfahrens über eine Schadensersatzklage, das wegen der Einleitung eines Untersuchungsverfahrens durch die Kommission ausgesetzt wurde, die Offenlegung von Beweismitteln durch die Parteien oder Dritte anordnet, muss es sich daher vergewissern, dass diese Offenlegung, die auf einen hinreichend abgegrenzten und substantiierten Antrag hin erfolgen muss, für die Zwecke der Weiterbetreibung dieser Klage erforderlich und verhältnismäßig ist.

78

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass er es einem nationalen Gericht nicht verwehrt, die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines vor diesem Gericht eingeleiteten nationalen Verfahrens über eine Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht anzuordnen, obwohl bei der Kommission ein Verfahren wegen derselben Zuwiderhandlung mit dem Ziel, einen Beschluss nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zu erlassen, anhängig ist, das das nationale Gericht dazu veranlasst hat, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Das nationale Gericht hat sich jedoch zu vergewissern, dass die in diesem Stadium des Verfahrens begehrte Offenlegung von Beweismitteln, die die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 genannten Voraussetzungen erfüllen muss, nicht über das hinausgeht, was im Hinblick auf den bei ihm gestellten Schadensersatzantrag erforderlich ist.

Zur dritten Frage

79

Mit seiner dritten Frage, die vor der zweiten Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass die Aussetzung des von einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verwaltungsverfahrens durch diese Behörde aus dem Grund, dass die Kommission ein Verfahren nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet hat, einer Beendigung dieses Verwaltungsverfahrens durch die Behörde „durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise“ im Sinne dieser Bestimmung gleichgestellt werden kann.

80

Nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 dürfen die nationalen Gerichte die Offenlegung von Beweismitteln der grauen Liste „erst dann anordnen, wenn eine Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise beendet hat“.

81

Eine wörtliche Auslegung dieser Bestimmung, ihr Kontext und die mit ihr verfolgten Ziele lassen erkennen, dass eine Aussetzung des Verfahrens über eine Schadensersatzklage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einer Beendigung des Verfahrens nicht gleichgestellt werden kann.

82

Zunächst bezeichnet „Aussetzung“ im Wortsinn eine vorübergehende Einstellung des jeweiligen Verfahrens. Das Verfahren ist somit nicht beendet, da es wieder aufgenommen wird, sobald der Grund für die Aussetzung wegfällt.

83

Dies wird durch den 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 bestätigt, der Beispiele für verfahrensbeendende Entscheidungen nennt, und zwar unter Bezugnahme auf u. a. die Beschlüsse, die die Kommission gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen kann. In diesem Erwägungsgrund heißt es, dass ein Verfahren beispielsweise durch den Erlass eines Beschlusses gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 beendet wird, „mit Ausnahme von Beschlüssen über einstweilige Maßnahmen“.

84

Wenn sich die Richtlinie 2014/104 im Übrigen auf die Beendigung des Verfahrens durch Erlass einer Entscheidung oder „in anderer Weise“ bezieht, handelt es sich um Maßnahmen, die, was ihren Wesensgehalt und ihren Zweck betrifft, erlassen werden, wenn eine nationale Wettbewerbsbehörde entscheidet, dass es angesichts der im Verfahren eingeholten Informationen möglich oder sogar notwendig ist, zu entscheiden und das Verfahren zu beenden.

85

Daher kann der Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde ihr Verwaltungsverfahren aussetzt, auch wenn die Aussetzung mit der Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission begründet worden sein sollte, nicht mit einer Beendigung dieses Verwaltungsverfahrens durch diese Behörde „in anderer Weise“ gleichgesetzt werden.

86

Sodann ist die von einer nationalen Wettbewerbsbehörde nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 beschlossene Aussetzung des Verwaltungsverfahrens im Kontext der Vorschriften über die parallelen Zuständigkeiten der Kommission einerseits und der nationalen Wettbewerbsbehörden andererseits zu beurteilen.

87

Wie der Gerichtshof entschieden hat, nimmt die Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission den nationalen Wettbewerbsbehörden nicht dauerhaft und endgültig ihre Zuständigkeit für die Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts, da die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden wieder auflebt, sobald das von der Kommission eingeleitete Verfahren beendet ist (Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 79 und 80).

88

Im Übrigen behalten die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ihre Befugnis zum Tätigwerden sowohl im Rahmen des Unionsrechts als auch im Rahmen des nationalen Wettbewerbsrechts selbst dann, wenn die Kommission ihrerseits bereits eine Entscheidung getroffen hat, sofern sie keine Entscheidungen treffen, die der von der Kommission erlassenen Entscheidung zuwiderlaufen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 84 bis 86).

89

Eine Aussetzung des Verwaltungsverfahrens bis zum Abschluss der Untersuchung in der betreffenden Sache durch die Kommission stellt daher keine Beendigung dieses Verfahrens in dem Sinne dar, dass ein endgültiger Rechtsakt in Bezug auf die fragliche Zuwiderhandlung erlassen wurde, sondern ist als eine einstweilige Maßnahme anzusehen. Beschließt die Kommission, ihr Verfahren zu beenden, ohne eine Entscheidung über die Zuwiderhandlung zu erlassen, kann die betreffende nationale Wettbewerbsbehörde daher grundsätzlich beschließen, das Verfahren wieder aufzunehmen.

90

Was schließlich die mit Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 verfolgten Ziele angeht, ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus dem 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, der Schutz der Beweismittel der grauen Liste gewährleisten soll, dass eine von einer nationalen Wettbewerbsbehörde durchgeführte laufende Untersuchung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder gegen das nationale Wettbewerbsrecht durch die Offenlegung von Dokumenten nicht übermäßig beeinträchtigt wird. Ließe man die Offenlegung von Beweismitteln der grauen Liste nach einer von einer nationalen Wettbewerbsbehörde angeordneten Aussetzung des Verfahrens, aber während einer laufenden Untersuchung der Kommission zu, so könnte dies die Wirksamkeit dieser Untersuchung der Kommission und damit die Ziele dieser Richtlinie – auch ernsthaft – beeinträchtigen.

91

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass die Aussetzung des von einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verwaltungsverfahrens durch diese Behörde aus dem Grund, dass die Kommission ein Verfahren nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet hat, einer Beendigung dieses Verwaltungsverfahrens durch die Behörde „durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise“ im Sinne dieser Bestimmung nicht gleichgestellt werden kann.

Zur zweiten Frage

92

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren, aber auch unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 13. Oktober 2022, Herios, C‑593/21, EU:C:2022:784, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93

Zwar bezieht sich die zweite Vorlagefrage, so wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurde, ausdrücklich nur auf die Auslegung von Art. 6 Abs. 5 und 9 der Richtlinie 2014/104, doch möchte dieses Gericht, wie sich aus dem Text seines Vorabentscheidungsersuchens ergibt, wissen, ob diese Richtlinie dem Erlass einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Bereich der Informationen erweitert, die während der Dauer des Verfahrens vor der Wettbewerbsbehörde von der Offenlegung ausgeschlossen sind. Da der Spielraum, über den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Art. 5 und 6 dieser Richtlinie verfügen, durch ihren Art. 5 Abs. 8 begrenzt wird, ist die zweite Vorlagefrage so umzuformulieren, dass sie sich auch auf die letztgenannte Bestimmung bezieht.

94

Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 5 Abs. 8, Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nach Art. 6 Abs. 5 dieser Richtlinie vorübergehend nicht nur die Offenlegung von Informationen beschränkt, die eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren „erstellt“ wurden, sondern auch die Offenlegung aller hierfür „vorgelegten“ Informationen.

95

Insoweit ist erstens über die – von České dráhy in Zweifel gezogene – Zulässigkeit dieser zweiten Frage zu entscheiden. České dráhy macht nämlich geltend, dass diese Frage verfrüht und hypothetisch sei, da sich die tschechischen innerstaatlichen Gerichte bislang noch nicht zu der Frage geäußert hätten, ob die Dokumente, deren Offenlegung als Beweismittel durch České dráhy begehrt worden sei, eigens für das vom ÚOHS eingeleitete oder das von der Kommission geführte Verfahren erstellt worden seien.

96

Hierzu genügt der Hinweis, dass für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 27 und 28).

97

Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Antwort auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts soll es diesem erleichtern, die Beweismittel zu identifizieren, die nicht zur grauen, sondern zur weißen Liste gehören und die gegebenenfalls, ungeachtet des Umstands, dass die Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren nicht beendet hat, Gegenstand eines Antrags auf Offenlegung von Unterlagen nach den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2014/104 sein können.

98

Folglich ist die zweite Vorlagefrage zulässig.

99

Zweitens ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof in der Sache, sich zum Umfang der Informationen zu äußern, denen der in Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 vorgesehene vorübergehende Schutz in Bezug auf Beweismittel der grauen Liste zugutekommt.

100

Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich aus dem Wortlaut von § 16 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 262/2017 in Verbindung mit dessen § 2 Abs. 2 Buchst. c ergebe, dass die zeitliche Beschränkung für die Offenlegung von Beweismitteln während des Zeitraums, in dem ein wettbewerbsbehördliches Verfahren durchgeführt werde, für alle Informationen gelte, die der Wettbewerbsbehörde für die Zwecke dieses Verfahrens vorgelegt worden seien, und nicht nur für Informationen, die „eigens“ für die Zwecke dieses Verfahrens „erstellt“ worden seien.

101

Insoweit geht aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 im Licht ihres 25. Erwägungsgrundes eindeutig hervor, dass der durch diese Bestimmung gewährte vorübergehende Schutz nicht für alle Informationen gilt, die eigens, aus eigenem Antrieb oder auf Ersuchen der Wettbewerbsbehörde, für die Zwecke des entsprechenden Verfahrens vorgelegt wurden, sondern nur für Informationen, die speziell für ein wettbewerbsbehördliches Verfahren erstellt wurden.

102

Dieses Ergebnis wird durch eine systematische Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung bestätigt.

103

Insoweit ist erstens darauf zu verweisen, dass nach Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104, der die Beweismittel der weißen Liste betrifft, die Offenlegung von Beweismitteln in den Akten einer Wettbewerbsbehörde, die nicht zur grauen oder zur schwarzen Liste gehören, in Verfahren über Schadensersatzklagen jederzeit angeordnet werden kann. Im 28. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird die Tragweite dieser Bestimmung erläutert, indem dort der Ausdruck „[Beweismittel], die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen (im Folgenden ‚bereits vorhandene Informationen‘)“ zur Veranschaulichung von Beweismitteln verwendet wird, deren Offenlegung nach der Richtlinie nicht automatisch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur grauen oder zur schwarzen Liste verboten ist.

104

Zweitens ist auch darauf hinzuweisen, dass in Art. 2 Nr. 17 der Richtlinie 2014/104 der Begriff „bereits vorhandene Informationen“ definiert wird als „Beweismittel, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen, unabhängig davon, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht“.

105

Aus dieser Definition ergibt sich, dass auch Beweismittel, die in solchen Akten enthalten sind, zur weißen Liste gehören können. Insbesondere bei Informationen, die eine Partei des Verfahrens aufgrund anderer Rechtsvorschriften und unabhängig von einem Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zu erstellen und aufzubewahren hat (bzw. erstellt und aufbewahrt), handelt es sich um bereits vorhandene Informationen, deren Offenlegung die nationalen Gerichte grundsätzlich jederzeit anordnen können, da es sich um Beweismittel der weißen Liste handelt.

106

Drittens ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie 2014/104 Ausdruck der Vorstellung ist, dass zum einen der Schutz von Beweismitteln der grauen und der schwarzen Liste auf Fälle, in denen dieser Schutz tatsächlich notwendig und deshalb im Hinblick auf die mit der Richtlinie verfolgten Ziele angemessen ist, zu beschränken ist und zum anderen ein angemessen weitreichender Zugang zu Beweismitteln zu erlauben ist, und insoweit vorsieht, dass, soweit nur bestimmte Teile der angeforderten Beweismittel zur schwarzen Liste gehören, die übrigen Teile je nach der Kategorie, zu der sie gehören, gemäß den einschlägigen Absätzen von Art. 6 der Richtlinie offengelegt werden.

107

Viertens ergibt sich aus Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 2014/104, wonach die Mitgliedstaaten unbeschadet der Abs. 4 und 7 dieses Artikels sowie des Art. 6 der Richtlinie 2014/104 Vorschriften erlassen dürfen, die zu einer umfassenderen Offenlegung von Beweismitteln führen würden, und aus Art. 6 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, bei der Umsetzung der Richtlinie 2014/104 die Bedingungen zu nuancieren, nach denen Beweismittel der grauen, der schwarzen oder der weißen Liste zugeordnet werden.

108

Insbesondere würde eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten, den Bereich der Informationen, die zur grauen Liste gehören, zu erweitern, zu einer begrenzteren Offenlegung von Beweismitteln führen, was der Logik von Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 2014/104 widerspräche. Das Harmonisierungsziel der Richtlinie wäre demnach gefährdet, wenn die Mitgliedstaaten im Bereich der Offenlegung von Beweismitteln die Möglichkeit hätten, restriktivere Vorschriften als die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie niedergelegten einzuführen.

109

Somit stehen nationale Rechtsvorschriften, die die Offenlegung aller in einem Verfahren auf Ersuchen einer Wettbewerbsbehörde oder aus eigenem Antrieb vorgelegten Informationen einschließlich der bereits vorhandenen Informationen vorübergehend beschränken, nicht mit Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104 im Einklang.

110

Dieses Ergebnis bedeutet nicht, dass das Gericht, das mit einem Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln im Rahmen eines Verfahrens über eine Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln befasst ist, zwingend verpflichtet wäre, die Vorlage aller Dokumente anzuordnen, die nicht eigens für das bei der Wettbewerbsbehörde anhängige Verfahren erstellt worden sind.

111

Es ist nämlich in allen Fällen – und erst recht dann, wenn das Verfahren bis zum Abschluss eines von einer Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verwaltungsverfahrens ausgesetzt worden ist – Sache des nationalen Gerichts, sich zu vergewissern, dass die in diesem Stadium des Verfahrens begehrte Offenlegung von Beweismitteln, die die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 genannten Voraussetzungen erfüllen muss, nicht über das hinausgeht, was im Hinblick auf den bei ihm gestellten Schadensersatzantrag erforderlich ist.

112

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 8, Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nach Art. 6 Abs. 5 dieser Richtlinie vorübergehend nicht nur die Offenlegung von Informationen beschränkt, die eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren „erstellt“ wurden, sondern auch die Offenlegung aller hierfür „vorgelegten“ Informationen.

Zur vierten Frage

113

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 5 Buchst. a dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmungen es einem nationalen Gericht nicht verwehren, über einen Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln zu entscheiden, ihre Aufbewahrung bei Gericht anzuordnen und die Prüfung der Frage, ob die Beweismittel zur grauen Liste gehören, da sie „Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung enthalten, auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem das Gericht Zugang zu diesen Beweismitteln erhält.

114

Ungeachtet der Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 7 der Richtlinie 2014/104 möchte das vorlegende Gericht nämlich letztlich wissen, ob ein Gericht die Offenlegung von Beweismitteln – die in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie geregelt ist – anordnen kann, um zu beurteilen, ob die betreffenden Beweismittel „Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, im Sinne von Art. 6 Abs. 5 Buchst. a dieser Richtlinie enthalten.

115

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 7 der Richtlinie 2014/104 in Bezug auf Beweismittel der schwarzen Liste einen Mechanismus der vorherigen Prüfung vorgesehen hat, der darauf abzielt, dass ein nationales Gericht solche Beweismittel nur einsieht, um sich zu überzeugen, dass ihr Inhalt einer „Kronzeugenerklärung“ oder „Vergleichsausführungen“ im Sinne der Definitionen in Art. 2 Nrn. 16 und 18 der Richtlinie entspricht und es sich somit tatsächlich um Beweismittel der schwarzen Liste handelt.

116

Ein solcher Prüfungsmechanismus ist jedoch nicht für Beweismittel der grauen Liste vorgesehen, die in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104 fallen. Der Grund dafür liegt darin, dass Beweismittel der grauen Liste im Unterschied zu Beweismitteln der schwarzen Liste nur einen vorübergehenden Schutz genießen.

117

Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die Richtlinie 2014/104 dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht auf der Grundlage einer nach dem anwendbaren nationalen Verfahrensrecht gebotenen Möglichkeit – was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist – Maßnahmen ergreifen kann, um zu beurteilen, ob die Beweismittel, deren Offenlegung zur Stützung einer Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln begehrt wird, obwohl das von der Wettbewerbsbehörde geführte Verfahren noch anhängig ist, tatsächlich zur grauen Liste gehören.

118

Im Ausgangsverfahren zeigt sich, dass das zweitinstanzliche Gericht die Offenlegung von Beweismitteln angeordnet hat, wobei es von sich aus vorgesehen hat, dass nach der Offenlegung der Beweismittel gegenüber dem Gericht, aber vor einer gegenüber dem Antragsteller auf dessen begründeten Antrag hin vorzunehmenden Offenlegung die Frage geprüft wird, ob sich unter diesen Beweismitteln Beweismittel der grauen Liste befinden.

119

Insoweit ist hervorzuheben, dass, wie sich auch aus dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 ergibt, mit der in Art. 6 Abs. 5 dieser Richtlinie vorgesehenen Regelung über Beweismittel der grauen Liste verhindert werden soll, dass eine Entscheidung über die Offenlegung von Beweismitteln eine laufende Untersuchung, die eine Wettbewerbsbehörde wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union oder gegen das nationale Wettbewerbsrecht durchführt, übermäßig beeinträchtigt.

120

Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber die in dieser Bestimmung vorgesehene abschließende Harmonisierung hauptsächlich zugunsten des Interesses an der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts vorgenommen hat.

121

Die Verfolgung dieses Ziels bedeutet, dass Antragstellern und anderen Dritten kein Zugang zu Beweismitteln der grauen Liste gewährt wird, solange die Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren nicht beendet hat.

122

Dagegen steht dieses Ziel dem nicht entgegen, dass ein nationales Gericht durch die Anwendung eines nationalen Verfahrensinstruments die Offenlegung von Beweismitteln, die zur grauen Liste gehören könnten, allein zu dem Zweck anordnet, die betreffenden Dokumente bei Gericht aufzubewahren und sie gegenüber dem Antragsteller erst dann auf Antrag offenzulegen, wenn das Gericht überprüft hat, ob diese Dokumente tatsächlich Beweismittel enthalten, die zu dieser Liste gehören.

123

In Anbetracht der dem Erlass der Richtlinie 2014/104 zugrunde liegenden Notwendigkeit, der Informationsasymmetrie abzuhelfen und die Wirksamkeit der privaten Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten, erlaubt diese Richtlinie es einem nationalen Gericht nämlich grundsätzlich, nach dem anwendbaren nationalen Verfahrensrecht von einem solchen nationalen Instrument Gebrauch zu machen, um u. a. eine übermäßige Inanspruchnahme der in Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme zu verhindern.

124

Dieses Verfahrensinstrument kann zur Wirksamkeit von privaten Schadensersatzanträgen beitragen und zugleich den Schutz wahren, der Beweismitteln der grauen Liste zukommen muss, solange die Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren nicht auf die eine oder andere Weise beendet hat.

125

Allerdings muss der Rückgriff auf ein solches Instrument den Anforderungen genügen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, wie sie in Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2014/104 präzisiert werden.

126

Insbesondere sind der Umfang und die Kosten der Offenlegung von Beweismitteln, die Relevanz der Beweismittel, deren Offenlegung begehrt wurde, um die Begründetheit des Schadensersatzantrags zu untermauern, oder auch die Frage zu berücksichtigen, ob der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln in den Akten der Wettbewerbsbehörde eigens hinsichtlich Art, Gegenstand oder Inhalt der betreffenden Dokumente formuliert wurde.

127

Wie es im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 heißt, sollte vermieden werden, dass nicht gezielten oder unnötig weit gefassten Anträgen auf Informationen, die für die Verfahrensbeteiligten wahrscheinlich nicht relevant sind, stattgegeben wird. Besondere Aufmerksamkeit sollte daher Offenlegungsanträgen gelten – und sie sollten demnach nicht als verhältnismäßig angesehen werden –, wenn sie sich ganz allgemein auf die Offenlegung der Unterlagen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde zu einem bestimmten Fall oder ganz allgemein auf die Offenlegung der von einer Partei im Zusammenhang mit einem bestimmten Fall übermittelten Unterlagen beziehen.

128

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 5 Buchst. a dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmungen es einem nationalen Gericht nicht verwehren, in Anwendung eines Verfahrensinstruments nach nationalem Recht über die Offenlegung von Beweismitteln zu entscheiden, ihre Aufbewahrung bei Gericht anzuordnen und die Prüfung der Frage, ob die Beweismittel „Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung enthalten, auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem das Gericht Zugang zu diesen Beweismitteln erhält. Der Rückgriff auf ein solches Instrument muss jedoch den Anforderungen genügen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, wie sie in Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2014/104 präzisiert werden.

Zur fünften Frage

129

Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es die Prüfung der Frage aufschiebt, ob die Beweismittel, deren Offenlegung beantragt wird, „Informationen [enthalten], die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, dem Antragsteller oder anderen Verfahrensbeteiligten sowie ihren Vertretern nach Art. 5 Abs. 4 dieser Richtlinie den Zugang verweigern darf.

130

Insoweit genügt der Hinweis, dass die nationalen Gerichte nach Art. 6 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2014/104 nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, sicherzustellen, dass ein anderer Verfahrensbeteiligter während der Dauer eines wettbewerbsbehördlichen Verfahrens keinen Zugang zu Informationen hat, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für dieses Verfahren erstellt wurden.

131

Daher hat ein nationales Gericht, wenn es in Anwendung eines Verfahrensinstruments nach nationalem Recht die Offenlegung von Beweismitteln, die zur grauen Liste gehören könnten, anordnet, um zu prüfen, ob dies der Fall ist, dafür Sorge zu tragen – unabhängig davon, ob die betreffenden Dokumente vertrauliche Informationen enthalten oder nicht –, dass ein anderer Verfahrensbeteiligter vor dem Abschluss dieser Prüfung – wenn die Beweismittel zur weißen Liste gehören – bzw. vor der Beendigung des wettbewerbsbehördlichen Verfahrens durch die Wettbewerbsbehörde – wenn die betreffenden Beweismittel zur grauen Liste gehören – keinen Zugang zu diesen Beweismitteln hat.

132

Daher ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2014/104 dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es in Anwendung eines Verfahrensinstruments nach nationalen Recht die Prüfung der Frage aufschiebt, ob die Beweismittel, deren Offenlegung beantragt wird, „Informationen [enthalten], die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, darauf achten muss, dass der Antragsteller oder andere Verfahrensbeteiligte sowie ihre Vertreter vor dem Abschluss dieser Prüfung – wenn die Beweismittel zur weißen Liste gehören – bzw. vor der Beendigung des wettbewerbsbehördlichen Verfahrens durch die Wettbewerbsbehörde – wenn die betreffenden Beweismittel zur grauen Liste gehören – keinen Zugang zu diesen Beweismitteln haben.

Kosten

133

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er es einem nationalen Gericht nicht verwehrt, die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines vor diesem Gericht eingeleiteten nationalen Verfahrens über eine Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht anzuordnen, obwohl bei der Europäischen Kommission ein Verfahren wegen derselben Zuwiderhandlung mit dem Ziel, einen Beschluss nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln zu erlassen, anhängig ist, das das nationale Gericht dazu veranlasst hat, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Das nationale Gericht hat sich jedoch zu vergewissern, dass die in diesem Stadium des Verfahrens begehrte Offenlegung von Beweismitteln, die die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie 2014/104 genannten Voraussetzungen erfüllen muss, nicht über das hinausgeht, was im Hinblick auf den bei ihm gestellten Schadensersatzantrag erforderlich ist.

 

2.

Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2014/104

ist dahin auszulegen, dass

die Aussetzung des von einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verwaltungsverfahrens durch diese Behörde aus dem Grund, dass die Europäische Kommission ein Verfahren nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet hat, einer Beendigung dieses Verwaltungsverfahrens durch die Behörde „durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise“ im Sinne dieser Bestimmung nicht gleichgestellt werden kann.

 

3.

Art. 5 Abs. 8, Art. 6 Abs. 5 Buchst. a und Art. 6 Abs. 9 der Richtlinie 2014/104

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nach Art. 6 Abs. 5 dieser Richtlinie vorübergehend nicht nur die Offenlegung von Informationen beschränkt, die eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren „erstellt“ wurden, sondern auch die Offenlegung aller hierfür „vorgelegten“ Informationen.

 

4.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 5 Buchst. a dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

diese Bestimmungen es einem nationalen Gericht nicht verwehren, in Anwendung eines Verfahrensinstruments nach nationalem Recht über die Offenlegung von Beweismitteln zu entscheiden, ihre Aufbewahrung bei Gericht anzuordnen und die Prüfung der Frage, ob die Beweismittel „Informationen, die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung enthalten, auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem das Gericht Zugang zu diesen Beweismitteln erhält. Der Rückgriff auf ein solches Instrument muss jedoch den Anforderungen genügen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, wie sie in Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2014/104 präzisiert werden.

 

5.

Art. 6 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2014/104

ist dahin auszulegen, dass

ein nationales Gericht, wenn es in Anwendung eines Verfahrensinstruments nach nationalem Recht die Prüfung der Frage aufschiebt, ob die Beweismittel, deren Offenlegung beantragt wird, „Informationen [enthalten], die von einer natürlichen oder juristischen Person eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden“, darauf achten muss, dass der Antragsteller oder andere Verfahrensbeteiligte sowie ihre Vertreter vor dem Abschluss dieser Überprüfung – wenn die Beweismittel zur weißen Liste gehören – bzw. vor der Beendigung des wettbewerbsbehördlichen Verfahrens durch die Wettbewerbsbehörde – wenn die betreffenden Beweismittel zur grauen Liste gehören – keinen Zugang zu diesen Beweismitteln haben.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Tschechisch.

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