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Document 62005CC0303

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 12. September 2006.
Advocaten voor de Wereld VZW gegen Leden van de Ministerraad.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Arbitragehof - Belgien.
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen - Art. 6 Abs. 2 und Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU - Rahmenbeschluss 2002/584/JI - Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten - Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften - Abschaffung der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit - Gültigkeit.
Rechtssache C-303/05.

European Court Reports 2007 I-03633

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:552

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

DÁMASO RUIZ-JARABO COLOMER

vom 12. September 20061(1)

Rechtssache C‑303/05

Advocaten voor de Wereld VZW

gegen

Leden van de Ministerraad

(Vorabentscheidungsersuchen des Arbitragehof [Belgien])

„Europäische Union – Dritter Pfeiler – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Rechtsgrundlage – Artikel 2 Absatz 2 – Aufhebung der Regel der beiderseitigen Strafbarkeit – Gleichheitsgrundsatz und Legalitätsprinzip im Strafrecht“





I –    Einleitung

1.        Les connaissances sur les règles les plus sûres que l’on puisse tenir dans les jugements criminels intéressent le genre humain plus qu’aucune chose qu’il y ait au monde(2).

2.        Der belgische Arbitragehof (Schiedshof, Cour d’arbitrage; Rechtsprechungsorgan mit der Aufgabe, die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung zu kontrollieren) bittet den Gerichtshof auf der Grundlage von Artikel 35 EU(3), zur Gültigkeit des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(4) Stellung zu nehmen.

3.        Er hegt sowohl in formeller wie materieller Hinsicht Zweifel an der Vereinbarkeit des Rahmenbeschlusses mit dem Vertrag über die Europäische Union. In formeller Hinsicht stellt er vor dem Hintergrund des Artikels 34 Absatz 2 Buchstabe b EU die Rechtsgrundlage, auf die sich der Rat stützte, in Frage und fragt nach der Eignung des gewählten Instruments.

4.        Diese Frage zwingt den Gerichtshof, das System der Rechtsquellen im dritten Pfeiler der Union und die Rechtsnatur der Rahmenbeschlüsse zu untersuchen, die den Richtlinien des Gemeinschaftspfeilers nachgebildet sind. Für diese Untersuchung stellt das Urteil Pupino(5) einen geeigneten Ausgangspunkt dar.

5.        In materiell‑rechtlicher Hinsicht stellt das vorlegende Gericht eine der Neuerungen – vielleicht die wichtigste – dieser Art der Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten bei der Festnahme und der Übergabe von Personen in Frage: das Verbot, in bestimmten Fällen die Erfüllung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung zu knüpfen, dass die seinem Erlass zugrunde liegende Handlung auch in dem Staat, in dem er vollstreckt werden soll, strafbar ist. Der Arbitragehof möchte wissen, ob diese Neuerung mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Legalität im Strafrecht im Einklang steht und demzufolge mit Artikel 6 Absatz 2 EU vereinbar ist.

6.        Die Beantwortung dieser Fragen macht es erforderlich, sich mit der Rolle der Grundrechte in einem so sensiblen Bereich wie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach der Proklamation der Grundrechtscharta der Europäischen Union(6) auseinanderzusetzen.

7.        Es handelt sich hierbei um eine nicht unerhebliche Herausforderung, denn in einigen Mitgliedstaaten ist die Umsetzung des Rahmenbeschlusses wegen der Verletzung von Grundrechten ins Abseits geraten. In Polen hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht), das für die Prüfung von Gesetzen im Licht der Verfassung zuständig ist, in seinem Urteil vom 27. April 2005(7) festgestellt, dass Artikel 607t Absatz 1 der Strafprozessordnung gegen Artikel 55 Absatz 1 der Verfassung verstößt(8), da er auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls die Auslieferung eines Staatsangehörigen an einen anderen Mitgliedstaat ermöglichte. Nur drei Monate später kam das deutsche Bundesverfassungsgericht aus ähnlichen Gründen(9) zu vergleichbaren Ergebnissen(10) hinsichtlich des Umsetzungsgesetzes zum Rahmenbeschluss(11). Der Oberste Gerichtshof von Zypern schloss sich dieser Rechtsprechung an(12), da die Festnahme zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Artikel 11 der Verfassung nicht vorgesehen ist. Im Gegensatz hierzu hat der tschechische Ústavní soud in seinem Urteil vom 3. Mai 2006(13) die Verfassungsbeschwerde einer Gruppe von Senatoren und Abgeordneten gegen das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zurückgewiesen, die die Auffassung vertraten, es verletze die Verfassung, da es die Auslieferung von Staatsangehörigen ermögliche und die dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit innewohnende Kontrolle außer Kraft setze.

8.        Es handelt sich also um eine Diskussion von großer Tragweite über die möglichen Kollisionen zwischen den Verfassungen und dem Recht der Union, an der sich der Gerichtshof zu beteiligen und dabei die ihm zukommende herausragende Rolle auszufüllen hat, um bei der Auslegung der Werte und der Leitprinzipien seiner Rechtsordnung Maßstäbe anzulegen, die denen, die die nationalen Rechtsordnungen leiten, vergleichbar sind(14).

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Der Vertrag über die Europäische Union

9.        Die Union, die eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Integration der Völker Europas darstellt, hat ihre Wurzeln in den Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit (Artikel 1 EU). Sie beruht auf allen Europäern gemeinsamen Werten wie der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (Artikel 6 Absatz 1 EU).

10.      Nach der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK) werden diese Rechte, so wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, zu allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Schutz im Bereich der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und des EU-Vertrags dem Gerichtshof obliegt (Artikel 6 Absatz 2 EU in Verbindung mit Artikel 46 Buchstabe d EU).

11.      Zu den Zielen der Union innerhalb des so genannten dritten Pfeilers, der die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft (Titel VI EU), gehören die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem in Verbindung mit den geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Artikel 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU).

12.      Durch diesen dritten Pfeiler soll für die Bürger ein hohes Maß an Sicherheit geschaffen werden, indem Politiken zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität durch eine erhöhte Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden und gegebenenfalls der Annäherung der nationalen Strafvorschriften entwickelt werden (Artikel 31 EU und 32 EU).

13.      Das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit schließt z. B. ein: a) die Intensivierung der Zusammenarbeit bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen, b) die Erleichterung der Auslieferung, c) die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, d) die Vermeidung von Kompetenzkonflikten, e) die schrittweise Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel (Artikel 31 Absatz 1 EU).

14.      Hierzu kann der Rat einstimmig beschließen (Artikel 34 Absatz 2 Buchstaben a bis c EU):

1.         Gemeinsame Standpunkte, durch die das Vorgehen in der Union in einer gegebenen Frage bestimmt wird;

2.         Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten. Sie sind ebenso wie die Richtlinien des ersten Pfeilers hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlassenen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel und sind nicht unmittelbar wirksam;

3.         nicht der Angleichung dienende Beschlüsse für jeden anderen Zweck, der mit den Zielen des dritten Pfeilers im Einklang steht, die verbindlich und nicht unmittelbar wirksam sind.

15.      Ebenso kann er internationale Übereinkommen erstellen, die er den Mitgliedstaaten zur Annahme empfiehlt und die in Kraft treten, sobald sie von der Hälfte der Mitgliedstaaten angenommen werden (Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe d EU).

B –    Der Rahmenbeschluss 2002/584

16.      Der auf der Grundlage der Artikel 31 Absatz 1 Buchstaben a und b EU und 34 Absatz 2 Buchstabe b EU angenommene Rahmenbeschluss entspricht dem Wunsch, innerhalb der Union das förmliche Verfahren zur Auslieferung abzuschaffen(15) und es durch ein vereinfachtes System der Übergabe zwischen Justizbehörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung zu ersetzen (erste und fünfte Begründungserwägung). In Übereinstimmung mit diesem Vorhaben ersetzt er die in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten geltenden, vor oder nach ihm unterzeichneten Übereinkommen (Artikel 31 Absatz 21)(16), die jedoch weiterhin angewendet werden, wenn sie über die Ziele des Rahmenbeschlusses hinausgehen, und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt (Artikel 31 Absatz 2).

17.      Damit erfolgte eine Abkehr von der zwischenstaatlichen Rechtshilfe zugunsten einer Regelung des freien Verkehrs justizieller Entscheidungen auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung (fünfte, sechste und zehnte Begründungserwägung; Artikel 1 Absatz 2).

18.      Der Rat der Union erließ den Rahmenbeschluss unter Berücksichtigung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Absicht, die Grundrechte und Artikel 6 EU zu achten (siebte und zwölfte Begründungserwägung; Artikel 1 Absatz 3), und ging dabei so weit, dass die Übergabe einer Person abzulehnen ist(17), wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Haftbefehl zum Zwecke ihrer Verfolgung, Bestrafung oder Beeinträchtigung aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder für sie das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Darüber hinaus ruft er die Mitgliedstaaten zur Anwendung ihrer verfassungsmäßigen Regelungen des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren(18), der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung auf (zwölfte und dreizehnte Begründungserwägung). Ebenso beinhaltet er die Verpflichtung, die bei der Durchführung des Rahmenbeschlusses zu verarbeitenden personenbezogenen Daten zu schützen (vierzehnte Begründungserwägung).

19.      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt (Artikel 1 Absatz 1).

20.      Er ist rein richterlicher Natur. Es handelt sich um einen Mechanismus der richterlichen Zusammenarbeit (Artikel 1 und 3 bis 6), unbeschadet der rein praktischen und administrativen Unterstützung, die die Exekutive leisten kann (neunte Begründungserwägung und Artikel 7).

21.      Er wird zur Verfolgung von Straftaten erlassen, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt (Artikel 2 Absatz 1). Der ersuchte Staat kann die Übergabe davon abhängig machen, dass die ihm zugrunde liegenden Handlungen auch nach seinem Recht strafbar sind (Artikel 2 Absatz 4).

22.      Diese Regel, die als beiderseitige Strafbarkeit bezeichnet wird, tritt nach Artikel 2 Absatz 2 bei 32 Deliktsgruppen zurück, sofern sie im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht sind. Die Liste umfasst folgende Straftaten:

–        Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung,

–        Terrorismus,

–        Menschenhandel,

–        sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie,

–        illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen,

–        illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen,

–        Korruption,

–        Betrugsdelikte, einschließlich Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften,

–        Wäsche von Erträgen aus Straftaten,

–        Geldfälschung, einschließlich der Euro-Fälschung,

–        Cyberkriminalität,

–        Umweltkriminalität, einschließlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten,

–        Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt,

–        vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung,

–        illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe,

–        Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme,

–        Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,

–        Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen,

–        illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen,

–        Betrug,

–        Erpressung und Schutzgelderpressung,

–        Nachahmung und Produktpiraterie,

–        Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit,

–        Fälschung von Zahlungsmitteln,

–        illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern,

–        illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen,

–        Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen,

–        Vergewaltigung,

–        Brandstiftung,

–        Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen,

–        Flugzeug- und Schiffsentführung,

–        Sabotage.

23.      Artikel 3 regelt drei Gründe, aus denen die Vollstreckung des Haftbefehls abzulehnen ist, und Artikel 4 sieben weitere, aus denen sie abgelehnt werden kann. Hierzu gehören die Fälle, in denen der Vollstreckungsmitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Verurteilte ist oder in dem er seinen Wohnsitz hat, sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken (Artikel 4 Nr. 6). Auf derselben Linie liegt Artikel 5 Nummer 3, der es unter diesen Voraussetzungen erlaubt, die Übergabe davon abhängig zu machen, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird, sofern der Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist.

24.      In dem Verfahren, das als Eilsache und innerhalb von Ausschlussfristen erledigt wird (Artikel 17 und 23), hat der Betroffene einen Anspruch darauf, vernommen zu werden (Artikel 14 und 19), einen Rechtsbeistand und einen Dolmetscher hinzuzuziehen (Artikel 11 Absatz 2), sowie auf die Inanspruchnahme der Garantien eines Inhaftierten und gegebenenfalls auf eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats (Artikel 12).

25.      Der Haftbefehl enthält die für seine Vollstreckung erforderlichen Angaben, insbesondere zur Identität der gesuchten Person und zur Art und rechtlichen Würdigung der Straftat (Artikel 8 Absatz 1). Die Schwierigkeiten in Verbindung mit seiner Erledigung werden unmittelbar zwischen den beteiligten Gerichten, gegebenenfalls unter Einschaltung der sie unterstützenden Behörden, behoben (Artikel 10 Absatz 5).

26.      Die Frist für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses endete am 31. Dezember 2003 (Artikel 34 Absatz 1).

III – Ausgangsverfahren und Vorabentscheidungsfragen

27.      Advocaten voor de Wereld, eine Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht, erhob beim Arbitragehof Klage gegen die Wet betreffende het Europees aanhoudingsbevel (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl) vom 19. Dezember 2003(19), durch die der Rahmenbeschluss in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde, da sie der Ansicht ist, sie verstoße gegen Artikel 10 und 11 in Verbindung mit den Artikeln 36, 167 Absatz 2 und 168 der Grondwet (belgisches Grundgesetz). Sie bringt vor, der Europäische Haftbefehl hätte in einem Übereinkommen geregelt werden müssen, und Artikel 5 Absatz 5 des Gesetzes, durch den Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses umgesetzt wurde, verletze den Grundsatz der Gleichheit und das Legalitätsprinzip in Strafsachen.

28.      Angesichts der Problematik des Rechtsstreits beschloss der Arbitragehof(20), vor Erlass eines Urteils dem Gerichtshof folgende Fragen zu stellen:

1.      Ist der Rahmenbeschluss 2002/584 vereinbar mit Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU, wonach Rahmenbeschlüsse nur zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten angenommen werden können?

2.      Ist Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 insofern, als er bei den darin aufgeführten Straftaten die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit abschafft, vereinbar mit Artikel 6 Absatz 2 EU, und zwar insbesondere mit dem durch diese Bestimmung gewährleisteten Legalitätsprinzip in Strafsachen sowie dem Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

29.      Das Vorabentscheidungsersuchen des Arbitragehof ist am 2. August 2005 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen. Advocaten voor de Wereld, die Kommission, der Rat der Europäischen Union sowie die belgische, die tschechische, die spanische, die finnische, die französische, die britische, die lettische, die litauische, die niederländische und die polnische Regierung haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 11. Juli 2006 haben die Vertreter von Advocaten voor de Wereld, der belgischen, der tschechischen, der spanischen, der französischen, der niederländischen und der britischen Regierung sowie der Rat der Europäischen Union und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften mündliche Ausführungen gemacht.

V –    Untersuchung der Vorlagefragen

A –    Die Rechtsgrundlage (erste Frage)

30.      Dass durch den Rahmenbeschluss eine Materie geregelt wird, die dem dritten Pfeiler der Europäischen Union zuzuordnen ist, und damit der Rat für ihre Regelung zuständig ist, steht nicht in Frage(21). Der Streit konzentriert sich auf die gewählte Rechtsquelle, denn im Ausgangsverfahren wird aus zwei Gründen angezweifelt, dass ein Rahmenbeschluss das geeignete Instrument sei. Einerseits gehe es nicht um die Angleichung bestehender nationaler Vorschriften, denn mit dem Europäischen Haftbefehl sei eine neue Rechtsfigur geschaffen worden; andererseits könnten durch einen Rahmenbeschluss bereits bestehende internationale Auslieferungsübereinkommen nicht außer Kraft gesetzt werden.

31.      Nachdem der Inhalt der Diskussion eingegrenzt ist, sind zunächst die Einzelheiten des Europäischen Haftbefehls zu untersuchen, um seine Rechtsnatur zu bestimmen und festzustellen, ob er die für einen Rahmenbeschluss charakteristischen Regelungen zur Rechtsangleichung aufweist. Sollte dies bejaht werden, wäre zu prüfen, ob dieser Bereich wegen des Actus-contrarius-Grundsatzes für diese Art von Rechtshandlungen nicht zugänglich ist, da in der Vergangenheit seine Regelung im Wege zwischenstaatlicher Übereinkommen erfolgte.

32.      Bevor ich aber in derartige Überlegungen eintrete, muss ich eine Lösung für das Begehren der tschechischen Regierung, diese Eingangsfrage nicht zuzulassen, voranschicken.

1.      Zur Zulässigkeit

33.      Die tschechische Regierung vertritt die Ansicht, dass der Gerichtshof als Voraussetzung für die Prüfung, ob ein Rahmenbeschluss zur Regelung des Europäischen Haftbefehls geeignet ist, eine Vorschrift des Primärrechts (den Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU) untersuchen müsse, das aber nicht seiner Kontrolle unterliege, so dass er für die Entscheidung nicht zuständig sei. Diese Sichtweise ist von Grund auf irrig, denn gerade in der Auslegung der Verträge und ihrer Verteidigung gegenüber dem abgeleiteten Recht, mithin Aufgaben von ausgesprochen verfassungsrechtlichem Charakter, besteht eine der Kernzuständigkeiten dieses Organs(22).

34.      Sämtliche Gewalten der Union sind an die Vorgaben des „europäischen Verfassungsgebers“ gebunden und ihnen unterworfen, aber dem Gerichtshof kommt zudem die Aufgabe zu, ihre Integrität zu wahren und ihre Wirksamkeit sicherzustellen, indem er sie vor Missbrauch der anderen Organe der Gemeinschaft schützt. Der Arbitragehof bittet ihn um nichts Außergewöhnliches, sondern darum, in Ausübung seiner Aufgaben zu prüfen, ob eine Regelung des Unionsgesetzgebers mit einer Vorschrift des Vertrages vereinbar ist(23); hierzu hat er im Wege der Vorabentscheidung zwingend die streitige Bestimmung auszulegen und ihre Reichweite zu bestimmen.

35.      Der genannte Mitgliedstaat hält jedoch an der Unzulässigkeit der ersten Frage fest und führt hierzu an, dass dem Vorlagebeschluss nicht zu entnehmen sei, aus welchen Gründen der Rahmenbeschluss unwirksam sein solle. Da die klagende Vereinigung beantrage, das belgische Umsetzungsgesetz mit dem Argument, der Rahmenbeschluss sei nicht das zur Angleichung der nationalen Regelungen geeignete Instrument, für verfassungswidrig zu erklären, hätte sie ihr Begehren mit den einschlägigen Argumenten begründen müssen, und das vorlegende Gericht hätte diese in dem Vorlagebeschluss wiedergeben müssen.

36.      Die Angaben der nationalen Gerichte sollen es den Verfahrensbeteiligten ermöglichen, Erklärungen einzureichen, die dem Gerichtshof Anhaltspunkte für eine sachdienliche Antwort geben(24). Im vorliegenden Fall ist dies erfolgt, denn es ist klar, dass es bei dem Streit darum geht, ob ein Rahmenbeschluss geeignet ist, den Europäischen Haftbefehl im Wege der Angleichung der innerstaatlichen Rechtsordnungen zu regeln. So haben es die zwölf weiteren Beteiligten dieses Verfahrens auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit wie auch die tschechische Regierung selbst verstanden, die sich, obgleich sie die Undeutlichkeit des Arbitragehof rügt, nicht daran gehindert sah, in der Sache selbst Stellung zu nehmen(25).

37.      Da der Weg zur Prüfung der materiell‑rechtlichen Frage damit frei ist, ist dieses neue Instrument der strafrechtlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu untersuchen.

2.      Europäischer Haftbefehl und Auslieferung

38.      Es wurde die Ansicht vertreten, der Europäische Haftbefehl sei eine neue Art der Gattung Auslieferung. Die Lehre hat den Rahmenbeschluss als einen Versuch, die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten zu „erleichtern“(26), eine moderne Version(27), sui generis(28) unter anderem Namen(29) bezeichnet. Der Gemeinschaftsgesetzgeber trug zu der Verwirrung bei, als er sich auf Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe b EU berief. Auch einige hohe nationale Rechtsprechungsorgane leisten einen Beitrag zur Zweideutigkeit, wie das Trybunał Konstytucyjny, das die Übergabe zur Erledigung eines Europäischen Haftbefehls als Variante der Auslieferung einstufte(30); allerdings tat es dies, um ihn unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der in der polnischen Verfassung garantierten Grundrechte denselben Bedingungen zu unterwerfen. Ähnlich ging das Bundesverfassungsgericht vor, das beide Figuren stillschweigend gleichstellte(31).

39.      Es wurden jedoch auf der Ebene der Gesetzgebung(32), der Lehre(33) und der Rechtsprechung auch die Unterschiede hervorgehoben(34).

40.      Doch liegen die Ansichten gar nicht so weit auseinander, denn sie hängen von der jeweiligen Perspektive ab. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Ergebnis, zeigen sich die Übereinstimmungen; hingegen treten die Unterschiede hervor, wenn das Augenmerk auf die Grundlagen dieser Art der Zusammenarbeit und die Form ihrer Ausübung gerichtet wird.

41.      Der Schritt von der Auslieferung zum Europäischen Haftbefehl stellt eine kopernikanische Wende dar. Es ist offenkundig, dass beide demselben Zweck, nämlich der Übergabe eines Beschuldigten oder Verurteilten an die Behörden eines anderen Staates zum Zweck der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung dienen; an dieser Stelle enden aber die Übereinstimmungen.

42.      Bei der Auslieferung treten zwei souveräne Staaten miteinander in Kontakt, der ersuchende und der ersuchte, die von eigenständigen Positionen aus handeln: der eine bittet um die Hilfe des anderen, der in jedem Einzelfall entscheidet, ob er sie leistet, und hierbei Umstände in Erwägung zieht, die über den rein juristischen Bereich hinausgehen und in den Bereich der internationalen Beziehungen reichen, in denen das Opportunitätsprinzip eine wichtige Rolle spielt. Die abschließende Intervention politischer Verantwortungsträger und Gesichtspunkte wie die Gegenseitigkeit oder die beiderseitige Strafbarkeit sind dabei gerechtfertigt, da sie anderen Sphären zugehören.

43.      Die Situation stellt sich anders dar, wenn die Hilfe innerhalb eines supranationalen Systems der Integration, in dem die Staaten unter teilweisem Verzicht auf ihre Souveränität Zuständigkeiten auf fremde Instanzen mit Rechtssetzungsbefugnissen übertragen haben, erbeten und geleistet wird. Diese Angleichung, die für den ersten Pfeiler der Union charakteristisch ist(35), wirkt auch im dritten, der zwar auf Regierungsebene angesiedelt ist, aber eine klare „gemeinschaftliche“ Tendenz aufweist, wie im Urteil Pupino aufgezeigt wurde(36), das den Rahmenbeschlüssen Kategorien des ersten Pfeilers und einige der für die Richtlinien charakteristischen Merkmale zuwies(37).

44.      Die Verbindung wird nicht hergestellt zwischen voneinander abgeschotteten Räumen, bei denen eine Einzelfallprüfung zur Feststellung erforderlich ist, dass bei der Hilfe nicht die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung außer Acht gelassen werden. Im Gegenteil, es wird angestrebt, jemandem Hilfe zu leisten, mit dem Grundsätze, Werte und Anstrengungen geteilt werden(38), indem eine institutionelle Struktur mit besonderen Rechtsquellen geschaffen wird, die zwar unterschiedliches Gewicht haben, aber letztlich bindend sind, und die der Verbrechensbekämpfung und -verhütung in einem einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dienen sollen, indem sie die Zusammenarbeit zwischen den Staaten erleichtert oder ihre Strafrechtsordnungen angleichen.

45.      In diesem Zusammenhang, gestützt auf das gegenseitige Vertrauen, geht die Förderung der Zusammenarbeit nicht von der Zusammenführung von Absichten unterschiedlichen Ursprungs aus, sondern von einer gemeinsamen Regelung – dem Rahmenbeschluss –, in der die Handlungsweisen, die eine Zusammenarbeit erforderlich machen, beschrieben sind. Die Sichtweisen, nach denen aus Gründen der Gegenseitigkeit eine Einzelfallprüfung stattzufinden hat(39) oder der beiderseitigen Strafbarkeit ein absoluter Wert zukommt, erscheinen daher überholt zu sein, denn unter den möglichen Beteiligten gilt die Handlung, die dem Antrag zugrunde liegt, als in gleichem Maße verwerflich, und ein Ersuchen in umgekehrter Richtung würde in der gleichen Weise erledigt. Angesichts dieses Geistes erscheint jede Opportunitätserwägung unangebracht, und die Kontrolle reduziert sich auf das rein Rechtliche. Mit anderen Worten, die politischen Institutionen haben das Handeln den Gerichten zu überlassen, und die Einzelfallbeurteilung hat hinter der allgemeinen zurückzustehen, denn diese gemeinsame Regelung geht von der Jurisdiktion der nationalen Gerichte bei der Verfolgung der in ihr aufgezählten Straftaten aus. Um es zusammenzufassen: Es gibt keine souveränen Staaten mehr, die in Einzelfällen zusammenarbeiten, sondern Mitglieder der Europäischen Union, die verpflichtet sind, sich gegenseitig Hilfe zu leisten, wenn Straftaten begangen werden, deren Verfolgung im allgemeinen Interessen liegt(40).

46.      Ich glaube daher, dass die Auslieferung und der Europäische Haftbefehl Wertvorstellungen entsprechen, die lediglich hinsichtlich ihres Zieles übereinstimmen. Der Rahmenbeschluss liegt auf dieser Linie, wenn er die Auslieferung abschafft und sie durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden ersetzt, das auf der gegenseitigen Anerkennung(41) und dem freien Verkehr ihrer Entscheidungen auf der Grundlage eines hohen Maßes an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht (erste, fünfte, sechste und siebte Begründungserwägung). Aus diesem Grund werden die Gegenseitigkeit und die beiderseitige Strafbarkeit bei bestimmten besonders verwerflichen Straftaten vorausgesetzt und die Gründe für die Verweigerung der Hilfe abschließend festgelegt, ohne dass Raum für politisches Ermessen bleibt (Artikel 3 und 4)(42).

47.      Dieses Ergebnis scheint die These derjenigen zu stützen, die die Ansicht vertreten, dass es nichts anzugleichen gibt, da es sich um ein neues Verfahren handelt, so dass der Europäische Haftbefehl nicht in einem Rahmenbeschluss geregelt werden konnte. Diese grob vereinfachende Schlussfolgerung verkennt jedoch die Rechtsnatur dieser Rechtsquelle und das Wesen des Mechanismus.

3.      Der Rahmenbeschluss als Quelle der Rechtsangleichung

48.      Diese Sichtweise fällt wegen der übergeordneten Prämisse in sich zusammen, denn der Umstand, dass der Europäische Haftbefehl sich mit Ausnahme des Zweckes von der Auslieferung unterscheidet, bedeutet nicht, dass er aus dem Nichts entstanden wäre und dass er in den nationalen Rechtsordnungen, die angeglichen werden sollten, keine Vorläufer gehabt hätte.

49.      Der Europäische Haftbefehl, der ein unverzichtbares Mittel bei der Einrichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist (Artikel 2 EU und 29 EU), ist ein Mittel der Rechtshilfe. Es handelt sich bei ihm um eine justizielle Entscheidung, mit der die Festnahme und Übergabe einer Person durch eine ausländische Behörde zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Strafe bezweckt wird (Artikel 1 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses). Es handelt sich mithin um einen Beschluss, der sich nach dem Prozessrecht des ersuchenden Mitgliedstaats richtet, und gemäß dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in den anderen Mitgliedstaaten den eigenen Beschlüssen gleichgestellt wird, so dass sich die normative Angleichung als unentbehrlich erweist. Haftbefehle haben in den nationalen Strafprozessordnungen eine lange Tradition, und der Rahmenbeschluss verleiht ihnen unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen Rechtswirkungen über die Grenzen hinaus; hierzu bedarf es der Übereinstimmung zwischen den einzelstaatlichen Regelungen. Er dient diesem Ziel, indem er die Art und Weise, den Inhalt der Entscheidung, die Form und die Fristen für die Übersendung und die Erledigung, die Gründe, aus denen seine Vollstreckung abzulehnen ist, sowie die Verfahrensgarantien des Betroffenen und die Wirkungen der Übergabe in Übereinstimmung bringt.

50.      Es wird also weder ein zuvor nicht existierendes Rechtsinstitut erfunden, noch werden die Regelungen über die Auslieferung angeglichen; es werden vielmehr die Rechtsfiguren der Festnahme und der Übergabe im Rahmen der Rechtshilfe zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten harmonisiert(43).

51.      In diesem Vorlageverfahren wird nicht das Harmonisierungspotenzial des Rahmenbeschlusses in Frage gestellt, sondern die ihm innewohnende Schöpfungskraft. Dem liegt jedoch ein Irrtum zugrunde, denn wie ich soeben festgestellt habe, ist der Europäische Haftbefehl, wenngleich er sich gegenüber der Auslieferung als eigenständig erweist, keine Neuschöpfung ohne Beispiel in den nationalen Rechtsordnungen(44). Jedenfalls würde, auch wenn man diese Meinung aufrechterhält, nichts daran hindern, auf diese Art von Vorschriften zurückzugreifen, wenn die Notwendigkeit einer gesetzlichen Angleichung besteht; der EU-Vertrag steht dem in solchen Fällen nicht entgegen.

4.      Das System der Rechtsquellen des dritten Pfeilers: das Verhältnis zwischen dem Rahmenbeschluss und den Übereinkommen

52.      Artikel 32 Absatz 2 EU zählt vier Rechtsquellen des dritten Pfeilers auf und begründet, wie der Rat, die Kommission, die Niederlande und Belgien feststellen, weder eine Hierarchie zwischen ihnen, noch unterteilt er sie durch die jeweilige Zuweisung einer bestimmten Materie an eine bestimmte Normenkategorie. Alles ist grundsätzlich auf alles anwendbar, unbeschadet der Grenzen, die die Rechtsnatur des Instruments und der angestrebte Zweck setzen, und innerhalb deren der Gesetzgeber die freie Wahl hat.

53.      Dieser Ermessensraum bleibt der gerichtlichen Kontrolle unzugänglich, so dass jede Entscheidung, die nicht über die genannten Grenzen hinausgeht, unabhängig von ihrem Inhalt juristisch korrekt ist.

54.      Der Rat hat sich in diesem Fall für einen Rahmenbeschluss entschieden, so dass die Untersuchung mit der Prüfung eingeleitet werden sollte, ob er sich angesichts des angestrebten Zweckes und des zu seiner Erreichung abgesteckten Weges einer anderen Normenkategorie hätte bedienen können. Ein Gemeinsamer Standpunkt, der auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen der Union und der Mitgliedstaaten zur Festlegung ihrer Position zu einer bestimmten Angelegenheit zur Verfügung steht (Artikel 37 EU) und auf den auch ganz selbstverständlich im Bereich des zweiten Pfeilers gemeinsam mit der Gemeinsamen Aktion (Artikel 12 EU) zurückgegriffen wurde(45), wäre nicht statthaft gewesen.

55.      Die sonstigen Rechtsquellen – Rahmenbeschlüsse, Entscheidungen und Übereinkommen – sind für Maßnahmen geeignet, die einer Umsetzung innerhalb der nationalen Rechtsordnungen bedürfen(46), doch in diesem Fall kommen die Entscheidungen im Sinne des Artikels 34 Absatz 2 Buchstabe c nicht in Betracht, denn sie schließen jeden Harmonisierungsgedanken, der aber für das Funktionieren des Europäischen Haftbefehls unverzichtbar ist, aus.

56.      Aufgrund dessen wäre als einzige Alternative zum Rahmenbeschluss ein Übereinkommen in Betracht gekommen. Bei der Wahl zwischen beiden Kategorien ist der Beurteilungsspielraum erweitert. Dabei ist die auf eine angebliche „Einfrierung des Rangs“ der Vorschrift auf der Grundlage des Actus-contrarius-Grundsatzes gestützte These, der Europäische Haftbefehl hätte als „Nachfolger“ der Auslieferung, die zwischen den Mitgliedstaaten traditionell durch internationale Übereinkommen geregelt wurde, auf dieselbe Weise geregelt werden müssen, abzulehnen.

a)      Unanwendbarkeit des Actus-contrarius-Grundsatzes

57.      Die Regel, dass eine Materie, die einmal in einer Rechtsquelle geregelt wurde, immer in Rechtsquellen desselben Ranges zu regeln sei, ohne dass die Möglichkeit einer Regelung niedrigeren Ranges bestünde, ist keineswegs absolut, denn sie ist Ausdruck einer Schutzvorschrift zugunsten des Bürgers innerhalb der Beziehungen zwischen einer souveränen Gewalt – der Legislative – und einer anderen, ihr im Wesentlichen untergeordneten – der Exekutive – und deren jeweiligen Produkten – Gesetz und Verordnung. Wenn das Parlament einen Bereich regelt, hat sich die Regierung herauszuhalten und darf nur in dem Maße intervenieren, in dem das Parlament es ihr zur Vervollständigung oder Umsetzung seiner Entscheidungen gestattet, ohne dass die Regierung durch irgendeine Handlung intervenieren und den Willen des „Inhabers der Gewalt“ durch ihren eigenen ersetzen dürfte, außer wenn dieser es ihr nach einer „Deregulierung“ erlaubt und die Verfassung keinen Gesetzesvorbehalt vorsieht(47).

58.      An diesem Punkt hat die Diskussion keinen Sinn, denn die Rechtsquellen haben denselben Ursprung und bewegen sich in denselben Bahnen, sowohl die Rahmenbeschlüsse als auch die internationalen Übereinkommen, über die der Rat auf Vorschlag eines Mitgliedstaats oder der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig beschließt (Artikel 34 Absatz 2 EU in Verbindung mit Artikel 39 Absatz 1 EU)(48).

59.      In der Praxis zeigt sich dasselbe Ergebnis wie bei der dogmatischen Untersuchung, denn die Mitgliedstaaten haben häufig Verträge durch andere Mittel ersetzt, die für integrierende Strukturen charakteristisch sind. Ein paradigmatisches Beispiel ist das als Brüsseler Übereinkommen bekannte Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(49), das durch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rats vom 22. Dezember 2000 ersetzt wurde (Artikel 68)(50).

60.      Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Formel des internationalen Übereinkommens die Beachtung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips erleichtert und dadurch den Gemeinschaftsgesetzgeber zwingt, sich ihrer zu bedienen.

b)      Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

61.      Diese beiden Grundsätze, die in Artikel 5 EG verankert sind, haben innerhalb des dritten Pfeilers Geltung: das Subsidiaritätsprinzip gemäß Artikel 2 EU a. E.; das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Werkzeug im Dienst der Subsidiarität(51).

62.      In der siebten Begründungserwägung des Rahmenbeschlusses wird die Beachtung dieser Prinzipien proklamiert, und dies zu Recht, denn da es um die Vollstreckung ausländischer Haftbefehle auf dem eigenen Territorium geht, lässt sich in einem gemeinsamen Raum auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen die Aufgabe besser ganzheitlich und ausgehend von den Strukturen der Union angehen, als für jeden Mitgliedstaat getrennt, wenn auch koordiniert, so dass sich die Vereinheitlichung aufdrängte und damit das Subsidiaritätsprinzip beachtet wurde.

63.      Es wäre ebenfalls beachtet worden, wenn man auf ein internationales Übereinkommen zurückgegriffen hätte, aber das Ermessen des Unionsgesetzgebers erlaubte es ihm, sich für einen Rahmenbeschluss zu entscheiden, ohne dass die gebotene Verhältnismäßigkeit eine andere Rechtsform gefordert hätte, da, wie ich im Folgenden darlegen werde, die Erfahrung wegen des Scheiterns der in der Vergangenheit getroffenen Übereinkommen dazu riet. Wenn die Angemessenheit des Zweckes und der Mittel es erforderlich macht, dass sich die Intervention der Union auf die angegebenen Zielsetzungen beschränkt, erscheint der Rückgriff auf ein Instrument, das die Staaten verpflichtet, die Ergebnisse in einer vorgegebenen Frist zu erreichen, unerlässlich.

64.      Das heißt, weder ein vermeintliches Einfrieren des Ranges der Norm, die traditionell die Übergabe eines Bürgers durch einen Staat an einen anderen zum Zwecke der Aburteilung oder der Verbüßung einer Strafe regelte, noch das Subsidiaritätsprinzip schränken den Handlungsspielraum des europäischen Gesetzgebers ein; aber selbst wenn man eine Beschränkung dieses Handlungsspielraums annähme, wäre der Rahmenbeschluss wegen dem wiederholt genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip und der praktischen Wirksamkeit des europäischen Rechts, die auch im Bereich des dritten Pfeilers gilt, das geeignete Mittel, wie sich aus dem zitierten Urteil Pupino ergibt.

c)      Die Forderung nach größerer Effizienz

65.      Der streitige Rahmenbeschluss stellt nicht den ersten Versuch einer Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts in der Union dar. Die Übereinkommen von 1995 und 1996 sind seine unmittelbaren, wenngleich gescheiterten, Vorgänger. Beide wurden auf der Grundlage des Artikels K.3 des Vertrages über die Europäische Union erlassen, aber bis heute werden sie nicht in allen Mitgliedstaaten angewendet, da sie von einigen bisher noch nicht ratifiziert wurden(52).

66.      Gerade die den internationalen Übereinkommen innewohnenden Beschränkungen förderten die Aufnahme einer neuen Kategorie in den Rechtsquellenkatalog, durch die die Schwierigkeiten aufgrund des freien Ermessens der Staaten bei ihrer Annahme vermieden werden(53). Der Rat von Tampere brachte das Ziel zum Ausdruck, die Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln „und dabei die im Vertrag von Amsterdam vorgesehenen Möglichkeiten umfassend zu nutzen“(54); der Vorschlag der Kommission ist sehr aufschlussreich angesichts des Hinweises, dass man sich für einen Rahmenbeschlusses aus Gründen der Effizienz und angesichts der spärlichen Früchte der vorausgegangenen Übereinkommen entschied(55).

67.      Die Mitgliedstaaten und die Organe sind verpflichtet, die Ziele des Artikels 2 EU umzusetzen, und haben deshalb den wiederholt genannten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufrechtzuerhalten und zu entwickeln. Bei diesem Bemühen müssen sie die geeigneten Werkzeuge einsetzen. Sie sind dabei der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts im Allgemeinen(56) und der der Union im Besonderen verpflichtet(57), so dass der Rat das System des Europäischen Haftbefehls durch einen Rahmenbeschluss(58) nicht nur einrichten konnte, sondern musste und ihm seine Wahl daher nicht zum Vorwurf gemacht werden kann(59).

68.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nicht gegen Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU verstößt.

B –    Der Rahmenbeschluss 2002/584 und die Grundrechte (zweite Frage)

69.      Der Rahmenbeschluss berücksichtigt die Freiheitsrechte einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergeht, und bringt das Ziel, ihre Grundrechte zu schützen, zum Ausdruck. In den Nummern 18 und 24 dieser Schlussanträge habe ich dieses Bestreben der Norm dargestellt, die einen Gradmesser bei der Annäherung an eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts darstellt, die über eine rein zweiseitige Staatenbeziehung hinausgeht, um eine dritte Dimension, nämlich die der Grundrechte des Betroffenen, zu berücksichtigen(60).

70.      Artikel 1 Absatz 3 enthält hierzu eine feierliche Erklärung, die, wenn sie nicht in den Text aufgenommen worden wäre, sich von selbst verstünde, denn die Union beruht auf der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 6 Absatz 1 EU) im Rahmen der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Artikel 6 Absatz 2 EU)(61).

71.      Diese Überlegung führt zur Frage des Schutzes dieser Rechte in der Union und der Rolle, die dabei dem Gerichtshof zukommt.

1.      Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union

72.      Das Fehlen eines Katalogs von Grundrechten in den ursprünglichen Verträgen bedeutete nicht deren Verbannung aus der Rechtsordnung. Die Gemeinschaften als Ergebnis eines Paktes zwischen um ein demokratisches System strukturierten Staaten entstanden mit dem Willen, sich zu Organisationen zu entwickeln, die vom Recht beherrscht werden. Der Samen wurde auf fruchtbarem Boden gesät, und mit der Zeit gediehen dank der Rechtsprechung des Gerichtshofes die grundlegenden subjektiven Rechte.

73.      Diese richterliche Arbeit trug ihre Früchte in ausdrücklich anerkannten Rechten wie dem Verbot der Diskriminierung beim Arbeitsentgelt aufgrund des Geschlechts im jetzigen Artikel 141 EG(62), aber auch anderen ohne direkte Verankerung im Gemeinschaftsrecht wie der Unverletzlichkeit der Wohnung(63), der Meinungsfreiheit(64) oder – mit einer größeren Nähe zu diesem Vorabentscheidungsersuchen – dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege(65).

74.      Der Gerichtshof bediente sich eines einfachen und logischen Syllogismus: Die den nationalen Rechtsordnungen gemeinsamen Regeln sind die allgemeinen Grundsätze der Rechtsordnung der Gemeinschaft und sind als solche zu respektieren, so dass die Grundrechte als von allen geteilte Garantien Teil dieser Grundsätze sind und geschützt werden müssen(66). Die Integrationsaufgabe erscheint in dieser Hinsicht unbestreitbar und nährt sich aus außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegenden Quellen(67): den von den Mitgliedstaaten geteilten allgemeinen Grundsätzen(68), ihren gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen(69) sowie den internationalen Instrumenten des Rechtsschutzes(70), insbesondere der EMRK(71).

75.      Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat diese Anregung aufgegriffen, diese Rechtsprechung seit dem Vertrag von Amsterdam in den Artikel 6 EU integriert und dem Gerichtshof den Schutz der Grundrechte übertragen (Artikel 46 Buchstabe d EG).

76.      Im Jahr 2000 kam es zu einem Ereignis, das kaum außer Acht gelassen werden kann: der Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dieses Dokument hat mangels einer rechtswirksamen Erklärung zur Übernahme seines Inhalts keine Bindungswirkung(72). Es stellt nichts anderes als eine bloße politische Erklärung ohne juristischen Wert dar(73).

77.      Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass sich nichts geändert hätte, so als wäre die Charta nur ein Fetzen Papier. Erstens kommt sie nicht aus dem leeren Raum, ohne Verbindung zu ihrem Umfeld; sie ist vielmehr Teil eines Abschnitts des von mir dargestellte Entwicklungsprozesses und kodifiziert und bekräftigt, wie in ihrer Präambel zum Ausdruck kommt(74), Rechte, die dem den Mitgliedstaaten gemeinsamen Besitzstand entstammen, auf nationaler und internationaler Ebene(75), so dass die Union sie zu beachten und der Gerichtshof sie gemäß den Artikeln 6 EU und 46 Buchstabe d EU zu schützen hat, unabhängig von ihrer Rechtsnatur und der Wirkung des im Jahr 2000 verabschiedeten Texts(76).

78.      Zweitens taucht die Charta in der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf, denn die Generalanwälte haben sie ausgelegt und sind dabei über ihren rein programmatischen und deklaratorischen Charakter hinausgegangen(77). Darüber hinaus hat das Gericht erster Instanz sie in einigen seiner Entscheidungen angewendet(78). In den Urteilen des Gerichtshofes taucht die Charta jedoch nur sehr selten auf(79), nicht einmal, um die Auffassungen der Generalanwälte zu widerlegen, und erst in jüngster Zeit, vor kaum zwei Monaten, kündigte sich durch das Urteil Parlament/Rat(80) ein Richtungswechsel an, als festgestellt wurde, dass es sich zwar nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handelt, ihre Bedeutung aber anzuerkennen ist (Randnr. 38).

79.      Dieses Schweigen ist daher aufzugeben, und die Charta hat sich als Auslegungsinstrument ersten Ranges bei der Verteidigung der Garantien der Bürger, die zum Erbe der Mitgliedstaaten gehören, durchzusetzen. Dieser Herausforderung hat man sich mit Vorsicht, aber nachdrücklich und in der vollen Überzeugung zu stellen, dass, wenn der Grundrechtsschutz im Rahmen des Gemeinschaftspfeilers unerlässlich ist, er dies auch im Rahmen des dritten Pfeilers ist, und ihm die Fähigkeit zukommt, sich aufgrund der Natur seines Inhalts auf den Kern der persönlichen Freiheit, die Voraussetzung für die übrigen Freiheiten ist, auszuwirken.

80.      Möglicherweise kann also eine Neuauflage der früheren Meinungsverschiedenheiten mit den nationalen Gerichten vermieden werden, die der Fähigkeit der Organe der Gemeinschaft, die Grundrechte zu schützen, misstrauisch gegenüberstehen(81).

81.      Diese Schutzaufgabe wird auf drei verschiedenen Ebenen erfüllt(82), der nationalen, der des Europarats und der der Europäischen Union, teilweise mit derselben Reichweite und, was das Wichtigste ist, durchdrungen von denselben Werten. Berührungen sind häufig und Überschneidungen möglich, aber es gibt kein unüberwindbares Hindernis für die Beachtung fremder Kompetenzen, in dem Vertrauen, dass sie von allen mit umfassenden Garantien für das System des Zusammenlebens ausgeübt werden. Der Dialog zwischen den europäischen Verfassungsgerichten ermöglicht es, einen gemeinsamen Standpunkt festzulegen.

82.      Demnach hat der Gerichtshof im vorliegenden Fall den Geist der Artikel 20 und 49 der Charta zu berücksichtigen, die den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz bzw. das Legalitätsprinzip in Strafsachen beinhalten, die in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten weitreichend anerkannt sind, und hierzu erforderlichenfalls auf die Rechtsprechung der nationalen Gerichte und die Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Artikeln 14 und 7 EMRK zurückzugreifen.

2.      Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und der Gleichheitssatz

a)      Die Gleichheit vor dem Gesetz

83.      Der Arbitragehof möchte wissen, ob die Vorschrift, die vorsieht, dass bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen einer der in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses aufgezählten Straftaten anders als bei anderen Rechtsverstößen nicht zu prüfen ist, ob sie in beiden betroffenen Mitgliedstaaten mit Strafe bedroht ist, dieses Grundrecht beachtet.

84.      Für die Untersuchung dieses Teils der Vorlage erscheint es angebracht, zunächst auf die Struktur des Artikels 2 des Rahmenbeschlusses einzugehen, um einen Irrtum aufzuklären, der sowohl in der Vorlage selbst als auch in einigen der in diesem Vorabentscheidungsverfahren eingereichten Erklärungen erkennbar ist. Damit ein Europäischer Haftbefehl funktioniert, reicht es, dass die Handlung im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Strafe von einer bestimmten Dauer bedroht ist (Absatz 1), wenngleich die Möglichkeit besteht, die Übergabe davon abhängig zu machen, dass sie im Vollstreckungsmitgliedstaat eine Straftat darstellt (Absatz 4). Diese Möglichkeit entfällt jedoch bei den 32 Handlungen, die in Absatz 2 genannt sind(83).

85.      Folglich erscheint mir die Ansicht, das System des Europäischen Haftbefehls stütze sich mit Ausnahme der in Artikel 2 Absatz 2 genannten Handlungen auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit, nicht zutreffend. Im Gegenteil, die Verfolgung im ersuchenden Staat ist die einzige Voraussetzung, die verlangt wird, auch wenn die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses(84) oder ihre Gerichte bei der Vollstreckung eines Haftbefehls(85) die Vollstreckung von der Tatbestandsmäßigkeit in ihrer Rechtsordnung abhängig machen können, eine Option, die in Bezug auf die in Absatz 2 genannten Rechtsverstöße nicht besteht(86).

86.      Insoweit ist die Frage des Arbitragehof an das falsche Gericht gerichtet, denn die gerügte Ungleichbehandlung kann nicht dem Unionsgesetzgeber, sondern nur der staatlichen Norm bzw. der nationalen Gerichtsentscheidung zum Vorwurf gemacht werden; deren Kontrolle obliegt aber nicht dem Gerichtshof.

87.      Geht man davon aus, dass der entfernte Grund für die Verletzung jedenfalls seinen Ursprung in dem Rahmenbeschluss habe, da dieser eine unterschiedliche Regelung nach Maßgabe der Art des Sachverhalts treffe, entbehrt diese Frage ebenfalls der Konsistenz.

88.      Derart umschrieben beschränken sich die Zweifel auf die abstrakte Gleichheit vor dem Gesetz. Die Zweifel, die seine Anwendbarkeit betreffen, sowie das Verbot der Diskriminierung aus persönlichen oder sozialen Gründen sind vorläufig nicht Bestandteil der Diskussion(87).

89.      Das Gesetz hat die Bürger gleichzubehandeln; es darf nicht gleichartige Sachverhalte unterschiedlichen Regelungen oder unterschiedliche Sachverhalte der gleichen Regelung unterstellen. Dessen ungeachtet hat es einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Unterscheidung ähnlicher Sachverhalte, sofern es dafür eine objektive und angemessene Erklärung liefert. Eine Rechtfertigung liegt vor, wenn der Zweck und die angestrebten Wirkungen legitim sind und beide in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, das besonders belastende oder unverhältnismäßige Lösungen ausschließt(88).

90.      Ich bin daher der Ansicht, dass in dieser Rechtssache die gegenübergestellten Begriffe nicht vergleichbar sind. Zum einen stehen sich Tatsachen gegenüber; es wird nicht auf das Personalstatut abgestellt, sondern auf die Natur des Verstoßes, so dass keine subjektive Diskriminierung vorliegt. Zum anderen gibt es keine vergleichbare Strafverfolgungsperspektive bei den Personen, die verschiedenartige Straftaten von unterschiedlicher Relevanz und unterschiedlicher Vorwerfbarkeit begehen; die ungleiche Schwere des Rechtsverstoßes verhindert ihre Gleichstellung.

91.      Meine Ansicht ändert sich auch nicht, wenn man bei der Beurteilung der Folgen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Verhaftung, Übergabe, Unterwerfung unter ein Strafverfahren, Verbüßung eines Urteils) zu dem Ergebnis kommt, dass die Betroffenen sich unabhängig von dem Verstoß, der zu ihrer Inhaftierung geführt hat, in einer vergleichbaren Situation befinden, denn die Unterscheidung erweist sich als objektiv, vernünftig, billig und verhältnismäßig.

92.      Sie ist objektiv, da sie unter Ausschluss jedes selektiven Voluntarismus autonomen, mit abstrakten und allgemeinen Maßstäben messbaren Kriterien folgt, die außerhalb des Einzelnen liegen: der Natur des Verstoßes und der hierfür bestimmten Strafe.

93.      Sie ist auch vernünftig und gerechtfertigt, denn sie ist auf eines der Ziele der Europäischen Union gerichtet: den Kampf gegen die Kriminalität in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Artikel 2 vierter Gedankenstrich EU in Verbindung mit Artikel 29 EU). Die Auflistung in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses beinhaltet Delikte, die, worauf die spanische Regierung in ihrem beachtenswerten Schriftsatz hinweist (Nr. 121), Rechtsgüter, die in Europa eines besonderen Schutzes bedürfen, schwer beeinträchtigen und für die verlangt wird, dass sie in dem um die Festnahme ersuchenden Mitgliedstaat mit Strafen von gewisser Schwere bedroht sind(89). Es geht um Handlungen, bei denen die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit überflüssig erscheint, denn sie stoßen in allen Mitgliedstaaten auf Ablehnung(90).

94.      Abschließend ist auszuführen, dass die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme außer Zweifel steht, denn die unterschiedliche Regelung soll nur sicherstellen, dass die Übergabe eines wegen einer schweren Straftat Verfolgten oder Verurteilten an die Behörden eines dem eigenen entsprechenden Rechtssystems, das die rechtsstaatlichen Grundsätze respektiert und die Grundrechte des Betroffenen garantiert, einschließlich derer, die im Rahmen eines Strafprozesses wirksam sind, erfolgt.

95.      Ich schließe dieses Kapitel der Schlussanträge an dem Punkt ab, an dem die klagende Vereinigung im Ausgangsverfahren mit ihren Ausführungen beginnt und auf diejenigen – wirklich außergewöhnlichen(91) – Fälle Bezug nimmt, in denen ein Mitgliedstaat eine Person gemäß Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses wegen einer Handlung, die auf seinem Territorium nicht unter Strafe gestellt ist, übergibt(92). Dieser Sachverhalt betrifft nicht den Gleichheitsgrundsatz, denn es gibt keine Diskriminierung gegenüber sich selbst, und es ist erneut festzustellen, dass nach diesem Grundsatz jeder Europäische Haftbefehl, der zur Festnahme einer Person erlassen wird, die in einem Land der Union wegen einer der in Artikel 2 Absatz 2 genannten und mit einer in der Vorschrift selbst angegebenen schwerwiegenden Sanktion bedrohten Verstöße verdächtigt wird oder verurteilt ist, unter Außerachtlassung der persönlichen und sozialen Umstände vollstreckt wird.

b)      Die Gleichheit bei der Anwendung des Gesetzes

96.      Im Vorlagebeschluss wird auf eine weitere Dimension dieser Rüge Bezug genommen, wenn das Risiko einer von Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses abweichenden Auslegung wegen der Unbestimmtheit der in ihm enthaltenen Definitionen angesprochen wird.

97.      So wie die Frage gestellt ist, erscheint offenkundig, dass diese Möglichkeit so unwahrscheinlich ist, dass sie nicht geeignet ist, die Korrektheit der Norm, die nicht für zukünftige und hypothetische Diskriminierungen bei ihrer Anwendung verantwortlich ist, in Frage zu stellen. Ihr liegt eine Verwechslung der Gleichheit vor dem Gesetz mit der Gleichheit bei seiner Anwendung zugrunde. Die erste, materiellen Charakters und gerichtet auf die Sicherstellung der identischen Behandlung Gleicher, ist einschlägig, wenn die Norm sie ohne vernünftigen Grund unterschiedlichen Regelungen unterwirft, während die zweite, die formeller Art ist, relevant wird, wenn ein zu ihrer Vollstreckung berufenes Organ sie in einem Einzelfall anders auslegt als zuvor bei ähnlichen Sachverhalten. Es gibt demzufolge keine Ungleichheit bei der Anwendung des Gesetzes, wenn die voneinander abweichenden Entscheidungen von verschiedenen Gerichten stammen, die in der legitimen Ausübung ihrer Rechtsprechungsbefugnis handeln; Gleichheit bedeutet nicht, dass unabhängige Organe eine übereinstimmende Hermeneutik wahren. Es wäre sarkastisch, ein Gesetz als diskriminierend zu beanstanden, weil es unterschiedliche Auslegungen erfahren kann, die über die jeweiligen Rechtsmittelzüge vereinheitlicht werden können.

98.      In jedem Fall ist abzuwarten, ob die angekündigten Störungen trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die das System zu ihrer Vermeidung getroffen hat, eintreten. Der Rahmenbeschluss selbst stellt hierzu brauchbare Werkzeuge zur Verfügung, indem er den notwendigen Austausch von Informationen und die unmittelbare Konsultation zwischen den beteiligten Richtern regelt(93); darüber hinaus eröffnet die Vorabentscheidungsfrage des Artikels 35 EU bei Zweifeln hinsichtlich der Bedeutung eines in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses verwendeten Begriffs den geeigneten Weg für eine einheitliche Auslegung innerhalb der Union.

99.      Das prophezeite Risiko als Folge der fehlenden Angleichung der nationalen Strafrechte betrifft nicht den Gleichheitsgrundsatz, sondern steht mit der Forderung nach Sicherheit in den Rechtsbeziehungen im Zusammenhang, insbesondere in denen, die durch Zwang zwischen der öffentlichen Gewalt und den Bürgern begründet werden. Diese Feststellung führt mich zu einem weiteren Aspekt der Vorabentscheidungsfrage.

3.      Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses und das Legalitätsprinzip in Strafsachen

100. Dieses Prinzip(94), das in dem lateinischen Rechtssatz nullum crimen, nulla poena sine lege zum Ausdruck kommt und in Artikel 7 Absatz 1 EMRK sowie Artikel 49 Absatz 1 der Grundrechtscharta der Europäischen Union seinen Niederschlag gefunden hat, beinhaltet nach der bereits klassischen Formulierung des spanischen Verfassungsgerichts(95) eine zweifache Garantie: die erste, materieller Ordnung und von absoluter Reichweite, beinhaltet das unabdingbare Erfordernis der vorherigen Festlegung der verbotenen Handlungen und der entsprechenden Sanktionen; die zweite, formeller Art, folgt aus dem Rang der Normen, die diese Handlungen typifizieren und die Sanktionen regeln. Im spanischen System(96) wie auch in den meisten anderen Mitgliedstaaten handelt es sich dabei um das von der Legislative als Trägerin der Volkssouveränität beschlossene Gesetz.

101. Zur Beantwortung der These der im Ausgangsverfahren klagenden Vereinigung will der Arbitragehof wissen, ob die Aufzählung der Handlungen in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses angesichts ihrer Unbestimmtheit und Ungenauigkeit die materiell‑rechtliche Garantie erfüllt.

102. In dieser Garantie kommt die Rechtssicherheit im Strafrecht zum Ausdruck(97). Sie ist von großer Bedeutung, da sie Grundwerte wie die persönliche Freiheit berührt. Ihr Ziel liegt darin, den Bürger im Voraus wissen zu lassen, von welchen Handlungen er Abstand nehmen muss und welche Folgen ihre Begehung hat (lex previa)(98), was zu einer strikten und unzweideutigen Definition der Straftatbestände führt (lex certa), so dass der Bürger anhand ihrer Formulierung und wenn nötig mit Hilfe der Gerichte(99) in angemessen vorhersehbarer Art und Weise die mit Strafe bewehrten Handlungen oder Unterlassungen kennen kann, wobei analoge oder extensive Auslegungen in peius sowie eine rückwirkende Anwendung(100) verboten sind.

103. Deshalb äußert sich das Legalitätsprinzip im materiellen Strafrecht als bei der Beschreibung der Delikte und der Strafen an den Gesetzgeber bzw. bei der Untersuchung und Anwendung in einem Strafprozess an den Richter gerichtetes Mandat(101). Mit anderen Worten, es findet Anwendung bei der Ausübung des ius puniendi des Staates oder bei der Vollstreckung von Entscheidungen, durch die Sanktionen auferlegt werden, so dass es der Rahmenbeschluss schwerlich verletzen kann, da er keine Strafen einführt(102) und nicht einmal bezweckt, die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, sondern sich darauf beschränkt, einen Mechanismus der Hilfe unter Richtern der verschiedenen Länder in einem Prozess einzurichten, der der Feststellung des eines Delikts Beschuldigten oder der Verbüßung einer Strafe dient. Dieses Instrument der Zusammenarbeit unterliegt einer Reihe von Bedingungen, denn die Strafen oder zu verhängenden Maßnahmen müssen von einer gewissen Schwere sein. Darüber hinaus kann verlangt werden, dass die fraglichen Handlungen in dem Staat des mitwirkenden Richters strafbar sind, mit Ausnahme der in Artikel 2 Absatz 2 genannten Straftaten, so wie sie „im Ausstellungsmitgliedstaat … in dessen Recht“ ausgestaltet sind.

104. Folglich ist die Bestimmtheit, die dieses Prinzip verlangt, vom materiellen Strafrecht des Ausstellungsmitgliedstaats zu fordern, und damit von dessen Gesetzgeber und dessen Richtern bei der Einleitung und dem Abschluss eines gegebenenfalls mit einer Verurteilung endenden Strafprozesses. Es ist offenkundig, dass ein korrekt erlassener Europäischer Haftbefehl auf einen Sachverhalt gestützt wird, den das Gesetz in diesem Staat als Straftat betrachtet. Die Strafrechtsordnung des den Haftbefehl vollstreckenden Landes hat nur die beantragte Zusammenarbeit zu leisten und, wenn es die Umsetzungsvorschriften zum Rahmenbeschluss so vorsehen, die Übergabe davon abhängig zu machen, dass die Verhaltensweisen auch in seiner eigenen Rechtsordnung mit Strafe bedroht sind, mit Ausnahme des wiederholt genannten Artikels 2 Absatz 2; in diesem Fall ist das Legalitätsprinzip in gleicher Weise zu beachten.

105. Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen ist anzufügen, dass die Festnahme und die Übergabe, zu denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führt, keinen Sanktionscharakter haben. Der mit seinem Erlass befasste Richter prüft, ob die Voraussetzungen für die Überstellung einer Person, die sich innerhalb seiner Jurisdiktion befindet, an den ausstellenden Richter vorliegen, aber er enthält sich einer Entscheidung in der Sache – außer im Rahmen des Übergabeverfahrens – einer Würdigung der Beweismittel und eines Ausspruchs über die Schuld. So sah es auch die Europäische Menschenrechtskommission in Bezug auf die Auslieferung, als sie sie vom Begriff der Verurteilung des Artikels 7 EMRK ausnahm(103).

106. Die vom Arbitragehof gestellte Frage hat wenig mit dem Legalitätsprinzip in Strafsachen und viel mit der Furcht davor zu tun, dass Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses in jedem Mitgliedstaat ein anderer Sinn beigemessen wird, mit dem Risiko voneinander abweichender Anwendungen. Auf diese Möglichkeit, die jeder Norm innewohnt, habe ich in den Nummern 96 bis 99 dieser Schlussanträge Bezug genommen. Jetzt bleibt mir nur noch anzufügen, dass der den Europäischen Haftbefehl vollstreckende Richter, dem nach dem Rückgriff auf die Mittel, die der Rahmenbeschluss zur Lösung von Schwierigkeiten und zur Erlangung einer einheitlichen Auslegung über die Vorabentscheidung zur Verfügung stellt, Zweifel hinsichtlich der juristischen Beurteilung des ihm zugrunde liegenden Sachverhalts und ihre Subsumtion unter einige der 32 Verhaltensweisen des wiederholt genannten Artikels 2 Absatz 2 verbleiben, auf die Regelung in Artikel 2 Absätze 1 und 4 zurückzugreifen hat.

107. Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses Artikel 6 Absatz 2 EU nicht verletzt, da er mit dem Gleichheitsgrundsatz und dem Legalitätsprinzip in Strafsachen vereinbar ist.

VI – Ergebnis

108. Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Arbitragehof vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten verstößt nicht gegen Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU.

2.      Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses verletzt durch die Abschaffung der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit der in ihm genannten strafrechtlich relevanten Handlungen weder das Legalitätsprinzip in Strafsachen noch den Grundsatz der Gleichheit und ist daher mit Artikel 6 Absatz 2 EU vereinbar.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Montesquieu, „L’esprit des lois“, Zwölftes Buch, Kapitel II, Ed. Gallimard, La Pléiade, Œuvres complètes, Paris, 1951, Bd. II, S. 432.


3 – Belgien hat die Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofes anerkannt und allen Richtern und Gerichten die Befugnis eingeräumt, Fragen an ihn zu richten (ABl. 1999, C 120, S. 24).


4 – ABl. L 190, S. 1.


5 – Urteil vom 16. Juni 2005 in der Rechtssache C‑105/03 (Slg. 2005, I‑5285).


6 – ABl. 2000, C 364, S. 1.


7 – P 1/05. Zu diesem Urteil Komárek, J., „Pluralismo constitucional europeo tras la ampliación – Un análisis de la jurisprudencia comunitaria del Tribunal Constitucional polaco“, Revista Española de Derecho Europeo, Nr. 16, 2005, S. 627 bis 657.


8 – Diese Bestimmung lautet: „Polnische Staatsangehörige dürfen nicht ausgeliefert werden.“


9 – Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verbot die Auslieferung eines Deutschen an das Ausland. Diese Bestimmung wurde am 29. Dezember 2000 geändert, um das Recht in bestimmten durch Gesetz bestimmten Fällen zu beschränken.


10 – Urteil vom 18. Juli 2005 (2 BvR 2236/04), in dem festgestellt wurde, dass der Wesensgehalt des Grundrechts aus Artikel 16 Absatz 2 des Bonner Grundgesetzes verletzt wurde.


11 – Europäisches Haftbefehlgesetz – EuHbG. Das polnische Verfassungsgericht schob unter Rückgriff auf Artikel 190 der Verfassung die Wirkungen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit um 18 Monate auf, da „der Europäische Haftbefehl von entscheidender Bedeutung ist für das Funktionieren der Justizverwaltung, im Wesentlichen – als Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Verbrechensbekämpfung – zur Verbesserung der Sicherheit“. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte hingegen unmittelbare Wirkung. Aufgrund dessen betrachtet die Strafkammer der Audiencia Nacional, die in dieser Rechtsmaterie zuständige spanische Behörde (Artikel 6 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit der Ley Orgánica 2/2003 vom 14. März zur Ergänzung des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl, Boletín Oficial del Estado [im Folgenden: BOE] Nr. 65 vom 17. März 2003, S. 10244), die aufgrund deutscher Haftbefehle eingeleiteten Übergabeverfahren als nichtig (Beschluss vom 20. September 2005); eine ähnliche Reaktion deutet sich in dem Urteil des Areios Pagos (griechischer Kassationsgerichtshof) vom 20. Dezember 2005 (Rechtssache 2483/2005) an.


12 – Urteil vom 7. November 2005 (Rechtssache 294/2005).


13 – Rechtssache 66/04.


14 – Alonso García, R., Justicia constitucional y Unión Europea, Madrid 2005, S. 41, greift diese Notwendigkeit auf.


15 – So die Empfehlung des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 (Nr. 35 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes).


16 – Es handelt sich um folgende: a) das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 und dessen Zusatzprotokolle vom 15. Oktober 1975 und vom 17. März 1978 sowie das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977, b) Titel III Kapitel IV des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), c) das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung. und Modernisierung der Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 1989, d) das Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 10. März 1995 und e) das Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 1996. Die beiden letztgenannten wurden auf der Grundlage von Artikel K.3 Absatz 2 Buchstabe c des Vertrages über die Europäische Union, dem unmittelbaren Vorgänger von Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe d EU, geschlossen.


17 – Die spanische Fassung lautet: „Nada de lo dispuesto en la presente Decisión marco podrá interpretarse en el sentido de que impide la entrega de una persona contra la que se ha dictado una orden de detención europea cuando existan razones objetivas …“, aber der Wille des Gesetzgebers war genau entgegensetzt, wie u. a. aus der französischen („Rien dans la présente décision-cadre ne peut être interprété comme une interdiction de refuser la remise d'une personne qui fait l'objet d'un mandat d'arrêt européen s'il y a des raisons de croire, sur la base d'éléments objectifs …“), der englischen („Nothing in this Framework Decision may be interpreted as prohibiting refusal to surrender a person for whom a European arrest warrant has been issued when there are reasons to believe, on the basis of objective elements …“), der deutschen („Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen …“) oder der niederländischen („Niets in dit kaderbesluit staat eraan in de weg dat de overlevering kan worden geweigerd van een persoon tegen wie een Europees aanhoudingsbevel is uitgevaardigd, indien er objectieve redenen bestaan om aan te nehmen …“) Fassung hervorgeht.


18 – Nr. 24 dieser Schlussanträge.


19 – Moniteur belge vom 22. Dezember 2003, 2. Auflage, S. 60075.


20 – Ich hege die Hoffnung, dass das Beispiel Schule macht und andere Verfassungsgerichte, die nicht dazu neigen, ihre Aufgaben als Gemeinschaftsrichter wahrzunehmen, mit dem Gerichtshof einen Dialog aufnehmen, der für den Aufbau eines vereinten Europas unverzichtbar ist. In „Reflexiones sobre el Tribunal Constitucional español como juez comunitario“, einem Beitrag zum Runden Tisch mit dem Titel Los tribunales constitucionales ante el derecho comunitario im Rahmen des vom spanischen Consejo General del Poder Judicial (Allgemeiner Richterrat) in Murcia am 25. November 2005 organisierten Kolloquiums La articulación entre el derecho comunitario y los derechos nacionales: algunas zonas de fricción habe ich die Vorbehalte des spanischen Verfassungsgerichts kritisiert, das sich am Rande der in der Gemeinschaft geführten Diskussion hält.


21 – Der Europäische Haftbefehl gibt eine Antwort auf die Besorgnis, die aus den Artikeln 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU, 29 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich und 31 Absatz 1 Buchstaben a und b EU durchscheint. Er zeichnet sich dadurch aus, dass die Richter eines Mitgliedstaats den Haftbefehlen, die von Richtern in anderen Mitgliedstaaten erlassen wurden, Rechtsgültigkeit beimessen und dadurch zur Vertiefung und Effektivierung der gerichtlichen Zusammenarbeit beitragen (Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a EU). Wird er als Modalität der Auslieferung betrachtet (eine Ansicht, die ich nicht teile, wie ich weiter unten ausführe), unterliegt er der Kompetenz aus Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe b EU. In jedem Fall ist die Liste in Artikel 31 nicht abschließend (es wird die Formulierung „schließt ein“ verwendet), weshalb ein Verfahren, das die Verhaftung und die Übergabe von Personen zum Zwecke ihrer Aburteilung oder zur Verbüßung einer Strafe ermöglicht, den Grad an Sicherheit der Unionsbürger verbessert, und vollständig im Einklang mit Artikel 29 EU steht.


22 – Rodríguez-Iglesias, G. C., hat die Rolle des Gerichtshofes als Verfassungsgericht hervorgehoben, „El poder judicial en la Unión Europea“, La Unión Europea tras la Reforma, Universidad de Cantabria 1998, S. 22 ff. Ich selbst habe diesen Gedanken wiederholt geäußert (Ruiz-Jarabo, D., „La vinculación a la jurisprudencia del Tribunal de Justicia de las Comunidades Europeas“ [I], Estudios de Derecho Judicial, Nr. 34, Consejo General del Poder Judicial 2001, S. 287 bis 291).


23 – Die Vorlagefrage nach der Gültigkeit eröffnet einen Weg zur indirekten Überprüfung der „Verfassungsmäßigkeit“ des abgeleiteten Rechts bei seiner Anwendung.


24 – Beschlüsse vom 8. Juli 1998 in der Rechtssache C‑9/98 (Agostini, Slg. 1998, I‑4261, Randnr. 5) und vom 2. März 1999 in der Rechtssache C‑422/98 (Colonia Versicherung u. a., Slg. 1999, I‑1279, Randnr. 5).


25 – Die Lösung der Frage, wie die fehlende Eignung des Rahmensbeschlusses zur Verfassungswidrigkeit seines Umsetzungsgesetzes führt, ist nicht Aufgabe des Gerichtshofes, wenngleich man, wenn man die Ansicht vertritt, dass ein internationales Übereinkommen erforderlich gewesen wäre, vermuten kann, dass Artikel 36 in Verbindung mit den Artikeln 167 und 168 der Grondwet verletzt wäre.


26 – Flore, D., „L’accueil de la Décision cadre relative au mandat d’arrêt européen en Belgique“, Le mandat d’arrêt européen, Brüssel 2005, S. 137. Conway, G., „Judicial Interpretation and the Third Pillar“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 2005, S. 255, hält sie für gleichwertig.


27 – Tomuschat C., „Ungereimtes – Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 über den Europäischen Haftbefehl“, Europäische Zeitschrift für Grundrechte, 2005, S. 456.


28 – Keijzer, N., „The double criminality requirement“, Handbook on the European arrest warrant, Tob Blekxtoon, Wouter van Ballegooij (Hrsg.), Den Haag 2005, S. 139.


29 – Plachta, M., „European Arrest Warrant: Revolution in Extradition“, Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 2003, S. 193.


30 – 3. Urteilsgrund des in Nr. 7 zitierten Urteils.


31 – In Fußnote 10 zitiertes Urteil.


32 – Die Begründungserwägungen des spanischen Gesetzes 3/2003 vom 14. März über den Europäischen Haftbefehl (BOE Nr. 65 vom 17. März 2003, S. 10244) unterstreichen, dass hierdurch „derart substanzielle Änderungen des klassischen Auslieferungsverfahrens [eingeführt werden], dass ohne Umschweife gesagt werden kann, dass es aus den internationalen Rechtshilfebeziehungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union verschwunden ist“ (letzter Absatz).


33 – Plachta, M., a. a. O., Fußnote 29, S. 191, betont die Unterschiede. Lagodny, O., „‚Extradition‘ without a granting procedure: the concept of ‚surrender‘“, Handbook on the European arrest warrant, Tob Blekxtoon, Wouter van Ballegooij (Hrsg.), Den Haag 2005, S. 41 und 42, hebt den justiziellen Charakter des Europäischen Haftbefehls hervor. Jégouzo, I., „Le mandat d’arrêt européen ou la première concrétisation de l’espace judiciaire européen“, Gazette du Palais – Recueil, Juli-August 2004, S. 2311, führt aus, dass der Rahmenbeschluss innovativ sei und die Prärogative der Politik durch einen rein prozessualen Mechanismus ersetze.


34 – Das Bundesverfassungsgericht weist, ohne sie ausdrücklich festzustellen, auf die Unterschiede hin, wenn es ausführt, dass der Rahmenbeschluss lediglich das Muster einer gerichtlich nicht kontrollierbaren politischen Entscheidung hin zu einer juristischen Abwägung verschoben hat (Absatz Nr. 88, a. E.).


35 – Seit den Urteilen vom 5. Februar 1964 in der Rechtssache 26/62 (Van Gend & Loos, Slg. 1964, 1) und vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64 (Costa/ENEL Slg. 1964, 1141), bestreitet niemand, dass das Gemeinschaftsrecht eine eigene Rechtsordnung darstellt, die in den spezifischen Materien, die ihren Besitzstand bilden, Vorrang vor den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hat.


36 – In Randnr. 36 des Urteils Pupino heißt es: „Unabhängig von dem durch den Vertrag von Amsterdam angestrebten Integrationsgrad bei der Verwirklichung einer immer engeren Union zwischen den Völkern Europas im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 EU ist es nämlich völlig verständlich, dass die Verfasser des Vertrages über die Europäische Union es für angebracht hielten, im Rahmen von Titel VI dieses Vertrages den Rückgriff auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag vorzusehen, um einen wirksamen Beitrag zur Verfolgung der Ziele der Union zu leisten.“ Sarmiento, D., „Un paso más en la constitucionalización del tercer pilar de la Unión Europea. La sentencia María Pupino y el efecto directo de la decisiones marco“, Revista Electrónica de Estudios Internacionales, Nr. 10, 2005 (http://www.reei.org), vertritt die Auffassung, dass dieses Urteil des Gerichtshofes die Türen zu einer schrittweisen „Vergemeinschaftung“ der zwischenstaatlichen Bereiche des EU-Vertrags öffnet. Alonso García, R., a. a. O., Fußnote 14, S. 36 bis 38, weist nach, dass der dritte Pfeiler ein tertium genus, ist, „von stark zwischenstaatlichem Charakter, jedoch bei gleichzeitiger Anwesenheit von supranationalen Merkmalen bei den Eingriffsinstrumenten und den Mechanismen der gerichtlichen Kontrolle“.


37 – Die Grundsätze der konformen Auslegung (Randnrn. 34, 43 und 47) und der loyalen Zusammenarbeit (Randnr. 42)


38 – Weigend, T., „Grundsätze und Probleme des deutschen Auslieferungsrechts“, Juristische Schulung, 2000, S. 110, vertritt die Ansicht, dass die Bekämpfung der internationalen Kriminalität daran zweifeln lässt, ob es angezeigt ist, weiter an herkömmlichen Vorstellungen festzuhalten, die von einem bedingungslosen Vorrang der staatlichen Souveränität sowie dem Misstrauen gegenüber der ausländischen Strafjustiz ausgehen, und fügt an, dass viele Länder auf diese traditionelle Vorstellung gegenüber den Staaten, mit denen sie sich durch eine gemeinsame Rechtskultur und die Achtung der Menschenrechte verbunden wissen, verzichten würden.


39 – Schon 1880 vertrat das Institut für internationales Recht in Oxford die Auffassung, dass die Gegenseitigkeit auf dem Gebiet der Auslieferung zwar von der Politik gefordert werden kann, aber keine Forderung der Justiz ist (Artikel 5 der Resolution vom 9. September 1880 [Jahrbuch des Instituts, 9. abgekürzte Aufl., Band I, S. 733]). Ich übernehme das Zitat von Schultz, H., „Rapport général provisoire sur la question IV pour le Xe Congrès international de droit pénal du 29 septembre au 5 octobre 1969 à Rome“, Revue Internationale de Droit Pénal, 1968, Nr. 3-4, S. 795.


40 – Niemand würde die Rechtshilfe bei der Übergabe eines Angeschuldigten zwischen einem Richter im Land Bayern und einem Richter in Niedersachsen oder zwischen einem Richter in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien und einem anderen in Andalusien der Kategorie Auslieferung zuweisen, so dass sie auch nicht anzuwenden ist, wenn die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union erfolgt. Dagegen könnte argumentiert werden, dass die Richter eines Landes (Deutschland oder Spanien) unabhängig von ihrem Sitz dasselbe Strafrecht anwenden, die Richter der verschiedenen Mitgliedstaaten jedoch unterschiedliche Strafgesetzbücher, so sehr diese auch identische Grundsätze und Werte teilen mögen. Doch ist diese Feststellung nicht ganz richtig: Einerseits gibt es harmonisierte Bereiche in der Union, während andererseits Blankettstrafvorschriften existieren (z. B. die Umweltstraftatbestände, die in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind) und die durch technische Vorschriften ergänzt werden, für deren Erlass die Länder oder Autonomen Gemeinschaften zuständig sind, was zu gewissen Unterschieden bei der Tatbestandsmäßigkeit innerhalb desselben Mitgliedstaats führt.


41 – Der Europäische Rat von Tampere erhob den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der gerichtlichen Entscheidungen zur Grundlage der gerichtlichen Zusammenarbeit in der Union (Punkt 33 der Schlussfolgerungen des Präsidiums). Dieser Grundsatz wird untersucht von Sanz Morán, A. J., „La orden europea de detención y entrega: algunas consideraciones de carácter jurídico-material“, Cooperación Judicial Penal en la Unión Europea: la orden europea de detención y entrega, Valladolid 2005, S. 81 bis 90, der die Argumente seiner Gegner wiedergibt.


42 – Der Rahmenbeschluss fügt sich ein in einen Entwicklungsprozess, der von dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 (Artikel 28 Absatz 3) ausging und mit dem von 1996 (Artikel 1 Absatz 2) fortgesetzt wurde und die Tür offen ließ für Bestimmungen in gemeinsamen oder bilateralen Regelungen über die Vollstreckung auf dem Territorium eines Staates von in anderen Staaten erlassenen Haftbefehlen, die für die Zusammenarbeit günstiger sind. Ein Beispiel für diese Art von Instrumenten ist das Übereinkommen zwischen dem Königreich Spanien und der Italienischen Republik über die Verfolgung von schweren Straftaten durch die Abschaffung der Auslieferung in einem gemeinsamen Rechtsraum, unterzeichnet in Rom am 28. November 2000, das nie in Kraft getreten ist, da das Verfahren für die Verabschiedung des Rahmenbeschlusses eingeleitet wurde, und den der Rat der Union als einheitliche Regelung im Sinne des genannten Artikels 28 Absatz 3 des Übereinkommens von 1957 ansah (Schlussfolgerungen über die Anwendung des Europäischen Haftbefehls und sein Verhältnis zu den Rechtsinstrumenten des Europarates, Brüssel, 11. September 2003, Dok. 12413/03).


43 – In Spanien sind z. B. die Artikel 273 bis 278 der Ley Orgánica 6/1985 vom 1. Juli über den Allgemeinen Richterrat und die Artikel 183 bis 196 der Strafprozessordnung vom 14. September 1882 betroffen.


44 – Das Vereinigte Königreich und Frankreich vertreten die Ansicht (Nrn. 28 bis 32 bzw. 10 bis 13 ihrer Erklärungen), dass sich nach den Artikeln 94 EG, 95 EG und 308 EG jede Neuerung auf die letztgenannte dieser Bestimmungen stützen muss, während die Harmonisierung der bereits bestehenden Strukturen oder die Koordinierung der Grundregeln für künftige Rechte auf der Grundlage der beiden anderen erfolgen müssen. So wurde im Gutachten 1/94 vom 15. November 1994 (Slg. 1994, I‑5267) festgestellt, dass die Gemeinschaft im Bereich des geistigen Eigentums gemäß den Artikeln 94 EGund 95 EG über eine Zuständigkeit zur Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften verfügt und auf der Grundlage von Artikel 308 EG neue Titel schaffen kann, die dann die nationalen Titel überlagern (Randnr. 59), wie im Falle des ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (Verordnung [EWG] Nr. 1768/92 des Rates vom 18. Juni 1992 [ABl. L 182, S. 1]), woran im Urteil vom 13. Juli 1995 in der Rechtssache C‑350/92 (Spanien/Rat, Slg. 1995, I‑1985, Randnr. 23) erinnert wurde. Im Urteil vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C‑377/98 (Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I‑7079) wurde darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. L 213, S. 13) harmonisierenden Charakter hat, denn sie schafft kein Recht, das seine Wurzeln in der Gemeinschaft hat, sondern stützt sich auf nationale Rechtsinstitute wie die Patente, die nach den nationalen Vorschriften erteilt werden, ohne dass dem entgegensteht, dass die fraglichen Erfindungen in manchen Mitgliedstaaten bisher nicht patentierbar waren oder dass die Richtlinie einige Klarstellungen vornimmt und bestimmte Ausnahmen vom geltenden Patentrecht bezüglich der Reichweite des gewährten Schutzes vorsieht (Randnr. 25).


45 – Simon, D., Le système juridique communautaire, Presses Universitaires de France, 2. Aufl., November 1998, S. 238, bezeichnet diese als „atypische Handlungen“. Beispielhaft erwähnt seien der Gemeinsame Standpunkt des Rates vom 31. Januar 2000 zum in Ergänzung des geplanten Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität geplanten Protokoll gegen die illegale Herstellung von Feuerwaffen, ihren Teilen und Bestandteilen sowie ihrer Munition und den illegalen Handel damit (ABl. L 37, S. 1) oder die Gemeinsame Maßnahme 96/443/JI vom 15. Juli 1996 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrages über die Europäische Union angenommen – betreffend die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (ABl. L 185, S. 5).


46 – Brechmann, W., Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Artikel 34, Randnr. 6, S. 267.


47 – Die Hochschullehrer García de Enterría, E., und Fernández, T. R., erklären dieses Prinzip in Curso de Derecho Administrativo, Band I, 10. Aufl., Madrid 2000, S. 247 und 248.


48 – Ich sehe mich veranlasst, auf das angebliche demokratische Defizit bei der Regelung durch Rahmenbeschlüsse Bezug zu nehmen, das die klagende Vereinigung im Ausgangsverfahren anführt, die argumentiert, dass für ihre Wirksamkeit im Gegensatz zu internationalen Verträgen keine Beteiligung der nationalen Parlamente erforderlich ist. Zum einen ist diese Art von Vorschriften und die Art und Weise ihrer Ausarbeitung in einem von den Mitgliedstaaten frei abgeschlossenen Vertrag geregelt, bei dem den jeweiligen Volksvertretungen eine entscheidende Rolle zukam; zum anderen habe ich bereits darauf hingewiesen, dass in dem Verfahren zu seinem Erlass das Europäische Parlament angehört wird, und dass dessen nationale Pendants Vorbehalte anmelden können, und die Kompetenz zum Erlass von nationalen Anwendungs- und Durchführungsvorschriften haben, wenn ihr Verfassungssystem verlangt, dass sie Gesetzesrang haben.


49 – ABl. 1972, L. 299, S. 32; konsolidierte Fassung ABl. 1998, C 27, S. 1.


50 – ABl. L 12, S. 1. Weitere Beispiele sind die Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Beweisaufnahme (ABl. L 174, S. 1, Artikel 21), die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, Artikel 44) und die Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke (ABl. L 160, S. 37, Artikel 20).


51 – Die enge Verbindung zwischen den beiden Prinzipien ist in Artikel 5 EG erkennbar, nach dem die Gemeinschaft nur tätig wird, sofern die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht erreicht werden können (Subsidiarität), wobei ihre Maßnahmen nicht über das zur Erreichung der Ziele dieses Vertrages Erforderliche hinausgehen (Verhältnismäßigkeit).


52 – Die Kommission erinnert daran (Randnr. 22 ihrer Erklärungen), dass die auf der Grundlage des Vertrages von Maastricht geschlossenen Verträge nicht vor dem Vertrag von Amsterdam in Kraft traten, da sie nicht in ausreichender Zahl ratifiziert worden waren. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Rahmenbeschlusses hatten sie zwölf der damals fünfzehn Mitgliedstaaten ratifiziert.


53 – Der Rat empfiehlt nur ihre Annahme (Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe d EU).


54 – Einleitung der Schlussfolgerungen der Präsidentschaft des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999.


55 – KOM(2001) 522 endg./2, S. 4, Randnr. 4.3.


56 – Der Grundsatz der Effizienz schränkt sogar die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich des Prozessrechts ein, da er von ihnen verlangt, dass sie in der Praxis die Geltendmachung der aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Ansprüche nicht exzessiv erschweren oder unmöglich machen. Mit dem Urteil vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76 (Rewe, Slg. 1976, 1989) beginnt eine lange Reihe von Entscheidungen auf dieser Linie, von denen die Urteile vom 24. September 2002 in der Rechtssache C‑255/00 (Grunding Italiana, Slg. 2002, I‑8003) und vom 17. Juni 2004 in der Rechtssache C‑30/02 (Recheio – Cash & Carry, Slg. 2004, I‑6051) zu den neuesten gehören.


57 – Ich habe in diesen Schlussanträgen bereits ausgeführt, dass der Effizienzgrundsatz das Urteil Pupino inspiriert und in dessen Randnrn. 38 und 42 konkretisiert wird.


58 – Die britische Regierung hält den Rahmenbeschluss für „unerlässlich“ (Randnr. 37 a. E. ihrer Erklärungen).


59 – Diese Sorge um den Nutzen inspiriert Artikel 31 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses, der den Mitgliedstaaten gestattet, bilaterale oder multilaterale Abkommen oder Übereinkünfte anzuwenden, die über die Ziele des Beschlusses hinausgehen und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Übergabeverfahren beitragen.


60 – Vennemann, N., „The European Arrest Warrant and its Human Rights Implications“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 2003, S. 113 und 114.


61 – Das zitierte Urteil Pupino erinnerte daran, dass die Rahmenbeschlüsse so auszulegen sind, dass die EMRK beachtet wird (Randnr. 59).


62 – Paradigmatisch ist der Fall Frau Defrenne. Die Urteile vom 25. Mai 1971 in der Rechtssache 80/70 (Defrenne I, Slg. 1971, 445), vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75 (Defrenne II, Slg. 1976, 455) und vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77 (Defrenne III, Slg. 1978, 1365) veranschaulichen die Entwicklung innerhalb des Gerichtshofes.


63 – Urteile vom 14. April 1960 in der Rechtssache 31/59 (Acciaieria e tubificio di Brescia/Hohe Behörde, Slg. 1960, 151), vom 26. Juni 1980 in der Rechtssache 136/79 (National Panasonic/Kommission, Slg. 1980, 2033), vom 21. September 1989 in den verbundenen Rechtssachen 46/87 und 227/87 (Hoechst, Slg. 1989, 2859) und vom 22. Oktober 2002 in der Rechtssache C‑94/00 (Roquette Frères, Slg. 2002, I‑9011).


64 – Urteile vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C‑260/89 (ERT, Slg. 1991, I‑2925), vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C‑112/00 (Schmidberger, Slg. 2003, I‑5659) und vom 6. November 2003 in der Rechtssache C‑101/01 (Lindqvist, Slg. 2003, I‑12971). Zur Meinungsfreiheit der Beamten kann das Urteil vom 6. März 2001 in der Rechtssache C‑274/99 P (Connolly/Kommission, Slg. 2001, I‑1611) herangezogen werden.


65 – Urteile vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86 (Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545), vom 8. Oktober 1987 in der Rechtssache 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969), vom 26. September 1996 in der Rechtssache C‑168/95 (Arcaro, Slg. 1996, I‑4705) und vom 12. Dezember 1996 in den verbundenen Rechtssachen C‑74/95 und C‑129/95 (Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, I‑6609).


66 – Diese Formulierung taucht erstmals im Urteil vom 14. Mai 1974 in der Rechtssache 4/73 (Nold KG/Kommission, Slg. 1974, 491, Randnr. 13) auf.


67 – Rubio Llorente, F., hat diesen Prozess in „Mostrar los derechos sin destruir la Unión“, La estructura constitucional de la Unión Europea, Madrid 2002, S. 113 bis 150, eingehend untersucht.


68 – Pescatore P., „Los principios generales del derecho como fuentes del derecho comunitario“, Noticias C.E.E., 1988, Nr. 40, S. 39 bis 54.


69 – Im Urteil Nold/Kommission, das ich bereits erwähnt habe, stellte er fest, „dass er bei der Gewährleistung dieser Rechte [er bezieht sich auf die Grundrechte] von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. Hiernach kann er keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten“ (Randnr. 13). Später präzisierte er im Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH, Slg. 1970, 1125): „Die Gewährleistung dieser Rechte muss zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muss sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“ (Randnr. 4).


70 – Im Urteil Nold/Kommission stellten die internationalen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte ein fernes Echo dar, die lediglich „Hinweise geben [können], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“ (Randnr. 13). Wenige Jahre später jedoch erfolgte eine ausdrückliche Berufung auf diese Übereinkommen (Urteil vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1219, Randnr. 32), und sie wurden am Ende entscheidend (Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnrn. 18 ff.).


71 – Urteil in der Rechtssache Strafverfahren gegen X, a. a. O., Randnr. 25. Es können das ebenfalls bereits zitierte Urteil ERT, a. a. O., Randnr. 41, sowie die in ihm zitierten Urteile herangezogen werden. Auf derselben Linie liegt das Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, erstattet gemäß Artikel 228 EG-Vertrag (jetzt Artikel 300 EG) (Slg. 1996, I‑1759, Randnr. 33).


72 – Die Situation würde sich ändern, wenn der Vertrag über eine Verfassung für Europa ratifiziert und in Kraft treten würde, in dessen Teil II die Charta aufgenommen wurde.


73 – Díez-Picazo, J. M., „Carta de derechos fundamentales de la Unión Europea“, Constitucionalismo de la Unión Europea, Madrid 2002, S. 21 bis 42, insbesondere S. 39.


74 – „Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Gemeinschaft und der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“


75 – Auch wenn es in dem Vorlagebeschluss nicht angesprochen wird, ist das Fehlen eines allgemein anerkannten Rechts auf Nichtauslieferung zu unterstreichen. Einige Staaten wie Deutschland, Zypern, Finnland oder Polen erkennen es ihren Staatsangehörigen zu, aber die Rechtsordnungen vieler anderer messen diesem Recht keinen Grundrechtscharakter bei, so dass es am Rande der gemeinsamen Verfassungstraditionen bleibt. Österreich, Portugal und Slowenien modifizierten ihre Verfassungen, um die Übergabe ihrer Staatsangehörigen zu ermöglichen.


76 – Alonso García, R., „Las cláusulas horizontales de la Carta de los derechos fundamentales de la Unión Europea“, La Encrucijada constitucional de la Unión Europea, Madrid 2002, S. 151, stellt klar, dass die fehlende Bindungswirkung nicht zur Wirkungslosigkeit führt, wie es die von der EMRK ausgeübte Rolle beweist, die, obgleich sie nicht rechtlich bindend für die Gemeinschaft ist, als wesentliche Inspirationsquelle bei der Ausgestaltung der Grundrechte durch den Gerichtshof gedient hat. Carrillo Salcedo, J. A., „Notas sobre el significado político y jurídico de la Carta de derechos fundamentales de la Unión Europea“, Revista de derecho comunitario, 2001, S. 7, vertritt die Meinung, dass dieses Dokument die Festlegung der Kriterien für die Beurteilung der Legitimität des Handels der öffentlichen Gewalt in der Union ermöglicht. Rodríguez Bereijo, A., „El valor jurídico de la Carta de los derechos fundamentales de la Unión Europea después del Tratado de Niza“, Encrucijada…., S. 220, paraphrasiert den früheren Kommissar Antonio Vittorino und sagt vorher, dass die Charta durch ihre Auslegung durch den Gerichtshof hinsichtlich der Synthese und des Ausdrucks der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechtsnormcharakter erlangen wird.


77 – Generalanwalt Tizzano führt in seinen Schlussanträgen vom 18. Februar 2001 in der Rechtssache C‑173/99 (BECTU, Slg. 2001, I‑4881) aus, dass trotz ihrer fehlenden Bindungswirkung „in einem Rechtsstreit über die Natur und Tragweite eines Grundrechts die entsprechenden Feststellungen in der Charta und erst recht ihre offensichtliche Bestimmung, als wesentlicher Maßstab für alle in der Gemeinschaft Handelnden … zu dienen, … nicht ignoriert werden können“ (Nr. 28). Einige Monate später, am 10. Juli 2001, schlug Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑353/99 P (Rat/Hautala, Slg. 2001, I‑9565) vor, dass „die Charta privilegierter Rechtstext für die Identifikation von Grundrechten sein“ sollte (Nr. 83), da sie Werte verkündet, denen es „gemeinsam [ist], von den Mitgliedstaaten einmütig geteilt zu werden … Die Charta hat die Rechte, die ihren Gegenstand bilden, unbestreitbar auf der höchsten Ebene der den Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte angesiedelt“. Ich selbst habe in den Schlussanträgen vom 4. Dezember 2001 in der Rechtssache C‑208/00 (Überseering, Slg. 2002, I‑9919), die Ansicht vertreten, dass die Charta „zwar kein ius cogens im eigentlichen Sinn ist … in [ihr] jedoch die rechtlichen Grundwerte der Mitgliedstaaten dargelegt werden, aus denen sich wiederum die allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze ergeben“ (Nr. 59). Andere Generalanwälte haben sich dieser Ansicht angeschlossen.


78 – Im Urteil des Gerichts erster Instanz vom 30. Januar 2002 in der Rechtssache T‑54/99 (max.mobil/Kommission, Slg. 2002, II‑313) wurde Artikel 47 der Charta indirekt angewendet, indem festgestellt wurde, dass die gerichtliche Kontrolle der Tätigkeit der Kommission und damit das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz „zu den den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen“ gehören (Randnr. 57). Ebenso wurde in den Urteilen vom 3. Mai 2002 in der Rechtssache T‑177/01 (Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2002, II‑2365, Randnrn. 42 und 47), vom 15. Januar 2003 in den verbundenen Rechtssachen T‑377/00, T‑379/00, T‑380/00, T‑260/01 und T‑272/01 (Philip Morris u. a./Kommission, Slg. 2003, II‑1, Randnr. 122) und vom 5. August 2003 in den verbundenen Rechtssachen T‑116/01 und T‑118/01 (P & O European Feries [Vizcaya] u. a./Kommission, Slg. 2003, II‑2957) entschieden.


79 – Das Urteil vom 23. Oktober 2003 in der Rechtssache C‑245/01 (RTL, Slg. 2003, I‑12489) nahm rhetorisch Bezug auf Artikel 11 Absatz 2 der Charta, in dem die Meinungsfreiheit verankert ist (Randnr. 38). Im Urteil vom 12. Mai 2005 in der Rechtssache C‑347/03 (Regione autonoma Friuli-Venezia Giulia und ERSA, Slg. 2005, I‑3785) erfolgte eine ähnliche Bezugnahme auf Artikel 17 der Charta (Randnr. 118).


80 – Urteil vom 27. Juni 2006 in der Rechtssache C‑540/03, Slg. 2006, I‑0000.


81 – Das Bundesverfassungsgericht zog im Solange‑I‑Beschluss vom 29. Mai 1974 (2 BvL 52/71) die Eignung der Organe der Gemeinschaft zum Schutz der Grundrechte in Zweifel und bejahte seine Zuständigkeit, solange dieser Schutz nicht dem innerstaatlichen entsprach. Der Beschluss verursachte einen wahren Aufruhr, der bald seinen Niederschlag in der Sammlung der Rechtsprechung der Gemeinschaft fand, bis schließlich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1986 im Solange‑II‑Beschluss vom 22. Oktober 1986 (2 BvR 197/83) feststellte, dass die Gemeinschaften über ein dem Bonner Grundgesetz vergleichbares Rechtsschutzsystem verfügten und es sich künftig der Kontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts enthalten werde, selbst wenn seine Unvereinbarkeit mit den Grundrechten gerügt werde (Rodríguez Iglesias, G. C., und Woelker, U., „Derecho comunitario, derechos fundamentales y control de constitucionalidad [La decisión del Tribunal Constitucional Federal alemán de 22 de Octubre de 1986]“, Revista de Instituciones Europeas, 1987, Band 14/1987, Nr. 3, S. 667 bis 685). Der gleiche Geist wie dem Solange‑II‑Beschluss liegt dem Urteil des Trybunał Konstytucyjny über den Vertrag über den Beitritt Polens vom 11. Mai 2005 (Rechtssache K 18/04) und der neuesten Entscheidung des bereits zitierten tschechischen Ústavní Soud vom 8. März 2006 zugrunde. Dessen ungeachtet fürchte ich, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutschen Gesetz über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses sich aus diesem alten Misstrauen nährt und eine Reaktion auf die Beschränkungen der richterlichen Kontrolle im dritten Pfeiler darstellt (dispositiver Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens, Einschränkung der Legitimation für die Einlegung des Rechtsmittels wegen Nichtigkeit und Fehlen eines Rechtsmittels wegen Nichterfüllung). Es ist paradox, dass dort, wo das Eingreifen der Union in die unverletzliche Sphäre der Person die größte Intensität aufweist, eine gewisse „Einschränkung der Gerichtsbarkeit“ erfolgt, ein Begriff, den Alonso García, R., und Sarmiento Ramírez-Escudero, D., „Los efectos colaterales de la Convención sobre el futuro de Europa en la arquitectura judicial de la Unión: ¿hacia una jurisdicción auténticamente constitucional europea?“, Revista de Estudios Políticos, Nr. 119, Januar-März 2003, S. 136, verwenden.


82 – Capotosti, P. A., „Quelles perspectives pour les rapports entre la Cour constitutionnelle et la Cour de Justice des Communautés européennes?“, ein Gutachten für das Kolloquium über die Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, veranstaltet in Luxemburg am 3. Dezember 2002 anlässlich des 50. Jahrestags des Gerichtshofes, weist auf einen „Konstitutionalismus auf mehrfacher Ebene“ hin (S. 6).


83 – Absatz 3 räumt dem Rat die Befugnis ein, die Liste einstimmig zu erweitern.


84 – So Belgien, denn Artikel 5 Absatz 1 des bereits zitierten Gesetzes vom 19. Dezember 2003 verbietet die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn der Sachverhalt nach belgischem Recht keinen Straftatbestand erfüllt.


85 – Das spanische Gesetz 3/2003 vom 14. März, a. a. O., Fußnote 32, zieht diese Alternative vor und überlässt die Entscheidung dem Richter (Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe a in Verbindung mit Artikel 9 Absatz 2).


86 – In Wirklichkeit wird nicht die beiderseitige Strafbarkeit abgeschafft, sondern ihre Feststellung, da die aufgezählten Handlungen angesichts ihrer Natur in allen Mitgliedstaaten strafbar sind, wie Totschlag, schwere Körperverletzung, Entführung, Freiheitsberaubung, Geiselnahme, Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen oder Vergewaltigung. Ein anderes Problem, zu dem ich weiter unten Stellung nehmen werde, besteht in dem Inhalt, den jedes nationale System diesen Rechtsfiguren zuweist (Nrn. 96 ff.). In jedem Fall beschreibt die Liste in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses Handlungen, die als Straftaten harmonisiert sind oder es gerade werden. So die Entschließung des Rates vom 21. Dezember 1998 zur Prävention organisierter Kriminalität im Hinblick auf die Ausarbeitung einer umfassenden Strategie zu deren Bekämpfung (ABl. C 408, S. 1) und das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. November 2000 mit seinen Zusatzprotokollen. Zum Terrorismus kann der Rahmenbeschluss 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164, S. 3) und zum Menschenhandel der Rahmenbeschluss 2002/629/JI vom 19. Juli 2002 (ABl. L 203, S. 1) herangezogen werden. Zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie der Rahmenbeschluss 2004/68/JI vom 22. Dezember 2003 (ABl. 2004, L 13, S. 44). Zum unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988. Zur Wirtschaftskriminalität der Rahmenbeschluss 2000/383/JI vom 29. Mai 2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro (ABl. L 140, S. 1), geändert durch den Rahmenbeschluss 2001/888/JI vom 6. Dezember 2001 (ABl. L 329, S. 3), der Rahmenbeschluss 2001/413/JI vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (ABl. L 149, S. 1) und der Rahmenbeschluss 2001/500/JI vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 182, S. 1). Zur Korruption das Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 Absatz 2 Buchstabe c des Vertrages über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (ABl. 1997, C 195, S. 2) und der Rahmenbeschluss 2003/568/JI vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192, S. 54). Zur Computerkriminalität der Rahmenbeschluss 2005/222/JI vom 24. Februar 2005 über Angriffe auf Informationssysteme (ABl. L 69, S. 67). Zum Schutz der Umwelt durch das Strafrecht der Rahmenbeschluss 2003/80/JI vom 27. Januar 2003 (ABl. L 29, S. 55), den der Gerichtshof mit Urteil vom 13. September 2005 in der Rechtssache C-176/93 (Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879) für nichtig erklärte, da er der Ansicht war, dass diese Materie im Gemeinschaftspfeiler durch eine Richtlinie zu regeln sei. Zum Opferschutz bei illegaler Einwanderung der Rahmenbeschluss 2002/946/JI vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328, S. 1). Schließlich die in Fußnote 45 zitierte Gemeinsame Maßnahme vom 15. Juli 1996 betreffend die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.


87 – In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wäre Artikel 20 einschlägig: „Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.“ Artikel 14 EMRK stellt die Gleichheit bei der Wahrnehmung der in ihr proklamierten Rechte und Freiheiten sicher, während das am 1. April 2005 in Kraft getretene Protkoll Nummer 12 vom 4. November 2000 ein allgemeines Diskriminierungsverbot enthält.


88 – Urteile des Gerichtshofes vom 19. Oktober 1977 in den verbundenen Rechtssachen 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel u. a., Slg. 1977, 1753, Randnr. 7), vom 13. Juni 1978 in der Rechtssache 139/77 (Denkavit, Slg. 1978, 1317, Randnr. 15), vom 14. April 2005 in der Rechtssache C‑110/03 (Belgien/Kommission, Slg. 2005, I‑2801). Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. Februar 2002 (Fretté/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 2002‑I, Randnr. 34) und vom 13. Juli 2004 (Pla und Puncernau/Andorra, Recueil des arrêts et décisions 2004-VIII, Randnr. 61). Urteile des spanischen Verfassungsgerichts 75/1983 (Suplemento del BOE Nr. 197 vom 18. August 1983, 3. Urteilsgrund), 46/1999 (Suplemento del BOE Nr. 100 vom 27. April 1999, 2. Urteilsgrund) und 39/2002 (Suplemento del BOE Nr. 63 vom 14. März 2002, 4. Urteilsgrund).


89 – Es sind die Straftaten aufgenommen, die in Artikel 29 EU ausdrücklich genannt sind, die, die der Zuständigkeit von Europol im Anhang des Übereinkommens des Rates vom 26. Juli 1995 über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts (ABl. 1995, C 316, S. 2) zugewiesen sind, sowie die, bei denen eine allgemeine Pflicht zur Verfolgung aufgrund internationalen Rechts besteht.


90 – Einige Autoren vertreten die Ansicht, dass in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses der „Konsens“ der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts zum Ausdruck komme (Von Bubnoff, E., „Institutionelle Kriminalitätsbekämpfung in der EU – Schritte auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungs- und Verfolgungsraum“, Zeitschrift für europarechtliche Studien, 2002, S. 226; Combeaud, S., „Premier bilan du mandat d’arrêt européen“, Revue du Marché commun et de l’Union européenne, Nr. 495, 2006, S. 116, und Hecker, B., Europäisches Strafrecht, Berlin, 2005, S. 433).


91 – Es handelt sich um außergewöhnliche Fälle, da das angewendete zweifache Kriterium (die Natur der Rechtsverletzung und die Bedeutung der Sanktion) normalerweise verhindern, dass ein Mitgliedstaat einen Haftbefehl wegen einer in seiner Rechtsordnung nicht mit Strafe bedrohten Handlung erlässt. Es fällt mir schwer, mir eine Handlung vorzustellen, die in einem Land der Union mit einer Strafe oder einer Sicherungsmaßregel von höchstens drei Jahren bedroht ist, in einem anderen aber legal ist.


92 – Die finnische Regierung erinnert daran (Randnr. 49 ihrer Erklärungen), dass auf dem Gebiet des Strafrechts das Territorialitätsprinzip gilt, so dass ein Ausländer, der in Finnland eine Straftat begangen hat, seiner Verantwortung nicht entkommen kann, indem er vorbringt, dass das ihm vorgeworfene Verhalten in seinem Herkunftsland nicht strafbar ist. In Bezug auf die extraterritoriale Ausübung des ius puniendi erlaubt der Rahmenbeschluss (Artikel 4 Absatz 7), dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert wegen einer Straftat, die ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet oder sogar außerhalb von diesem begangen wurde, wenn seine Rechtsvorschriften ihre Verfolgung nicht zulassen.


93 – Artikel 8 des Rahmenbeschlusses regelt detailliert die Angaben, die der Haftbefehl enthalten muss und sieht in dem vorgesehenen Formular einen Abschnitt „e“ zur Beschreibung der Tatumstände mit ihrer rechtlichen Würdigung vor. Jede Information, die für den Richter im Ausführungsmitgliedstaat von Interesse ist, wird im Wege der unmittelbaren Konsultierung des ersuchenden Richters eingeholt.


94 – Rolland, P., La Convention européenne des droits de l’homme (commentaire article par article), 2. Aufl., Paris 1999, S. 293, hat es als Fundament der europäischen Rechtszivilisation bezeichnet.


95 – Urteile 42/1987 (Suplemento del BOE Nr. 107 vom 5. Mai 1987, 2. Urteilsgrund), 22/1990 (Suplemento del BOE Nr. 53 vom 2. März 1990, 7. Urteilsgrund) und 276/2000 (Suplemento del BOE Nr. 299 vom 14. Dezember 2000, 6. Urteilsgrund).


96 – Das Legalitätsprinzip bildete sich im frühen Mittelalter im Bereich des „Strafrechts“ und des „Steuerrechts“ als Begrenzung der Rechte des Herrschers heraus. In Spanien machten die Gemeinden, selbständigen Ortschaften und Städte die Zustimmung zu Abgaben an die Krone und die Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen von der Zustimmung repräsentativer Versammlungen (Cortes) abhängig. Die Entstehung eines Systems von Pakten zwischen Monarchie und „politischer Gesellschaft“, das die politische Ständeordnung stabilisierte und eine Ausdehnung der königlichen Autorität verhinderte, ist bei der Bildung der Königreiche im Spanien des Mittelalters eine Konstante, wenn auch mit bedeutenden Unterschieden und Nuancierungen. In Aragonien und Navarra erlangten die Cortes zwischen Ende des 13. und Mitte des 14. Jahrhunderts Kontrollbefugnisse im Bereich der Gesetzgebung und des Steuerwesens (Ladero Quesada. M. A., „España: reinos y señoríos medievales“, in España. Reflexiones sobre el ser de España, Real Academia de la Historia, 2. Aufl., Madrid 1998, S. 95 bis 129). In Kastilien war diese Institution, die ihre Blütezeit im 14. und 15. Jahrhundert hatte, immer von geringerer Bedeutung, und obwohl sie eine herausragende Rolle im politischen Leben spielte, waren ihre Kompetenzen weniger weitgehend (Valdeón, J., „Los reinos cristianos a fines de la Edad Media“, Historia de España, Madrid 1986, S. 391 bis 455, insbesondere S. 414 bis 423).


97 – Generalanwältin Kokott wählte eine ähnliche Formulierung in Nr. 41 a. E. ihrer Schlussanträge in der bereits erwähnten Rechtssache Pupino.


98 – Nach dem bereits zitierten Urteil vom 12. Dezember 1996 in der Rechtssache Strafverfahren gegen X verbietet es das Legalitätsprinzip, „die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt“ (Randnr. 25). In den Schlussanträgen in dieser Rechtssache habe ich die Auffassung vertreten, dass dieses Prinzip „allen die Rechtssicherheit verschafft, dass ihr Verhalten nur dann strafbar ist, wenn es eine nationale Vorschrift verletzt, die zuvor als Verletzung dieser Art typifiziert war“ (Nr. 53).


99 – Und sogar durch fachkundigen Rechtsrat (Urteil des Gerichtshofes vom 28. Juni 2005 in den verbundenen Rechtssachen C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Dansk Rørindustri u. a., Slg. 2005, I‑5425, Randnr. 219).


100 – Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. Mai 1993 (Kokkinakis/Griechenland, Rechtssache 14307/77, A 260-A, Randnr. 52), vom 22. November 1995 (S.W./Vereinigtes Königreich, Rechtssache 20166/92, A 335-B, Randnr. 35) und vom 22. März 2001 (Rechtssachen 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Recueil des arrêts et décisions 2001-II, Randnr. 50), greifen diese Dimension des Legalitätsprinzips im Strafrecht auf. Ebenso das spanische Verfassungsgericht (z. B. in den Urteilen 75/1984, Suplemento del BOE Nr. 181 vom 30. Juli 1984, 5. Urteilsgrund, und 95/1992, Suplemento del BOE Nr. 169 vom 15. Juli 1992, 3. Urteilsgrund).


101 – Das spanische Verfassungsgericht vertrat die Ansicht, dass dieses Bürgerrecht die richterliche Rechtsschöpfung und nicht vorhersehbare Auslegungen ausschließt, die mit dem Tenor der Normen unvereinbar oder gegenüber den Werten, die sie schützen sollen, nicht verhältnismäßig sind (Urteil 25/1999, Suplemento del BOE Nr. 89 vom 14. April 1989, 3. Urteilsgrund), so dass bei der Auslegung eines Straftatbestands die Begriffe der Vorschrift, die axiologischen Regeln, die die Verfassungsordnung bilden, die Mindestkriterien, die die juristische Logik auferlegt sowie die Argumentationsmodelle, die die Gemeinschaft angenommen hat, zu beachten sind (Urteil 42/1999, Suplemento del BOE Nr. 100 vom 27. April 1999, 4. Urteilsgrund).


102 – Die Lehre vertritt die Ansicht, dass Artikel 2 Absatz 2 keine Straftatbestände enthält, denn in der Liste fehlen die charakteristischen Bestandteile strafbaren Verhaltens (Flore, D., „Le mandat d’arrêt européen: première mise en oeuvre d’un nouveau paradigme de la Justice pénale européenne“, Journal des Tribunaux, 2002, S. 276, und Unger, E. M., Schutzlos ausgeliefert? – Der Europäische Haftbefehl, Frankfurt am Main 2005, S. 100). Selbst wenn man die gegenteilige Ansicht vertritt, ist zu berücksichtigen, dass Rahmenbeschlüsse keine unmittelbare Wirkung haben (Artikel 32 Absatz 2 Buchstabe b EU), unbeschadet des Prinzips der Auslegung der nationalen Rechtsordnung im Sinne der Effektivität des Rechts der Union, wie in dem mehrfach zitierten Urteil Pupino zum Ausdruck gebracht wird (Randnrn. 43 bis 47). In diesem Fall wäre eine Anpassung der internen Vorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses an das Legalitätsprinzip zu verlangen.


103 – Entscheidungen vom 6. Juli 1976 (X/Niederlande, Rechtssache 7512/76, D. R. 6, S. 184), vom 6. März 1991 (Polley/Belgien, Rechtssache 12192/86) und vom 18. Januar 1996 (Bakhtiar/Schweiz, Rechtssache 27292/95). Das spanische Verfassungsgericht folgt demselben Kriterium (Urteile 102/1997 [Suplemento del BOE Nr. 137 vom 9. Juni 1997, 6. Urteilsgrund] und 32/2003 [Suplemento del BOE Nr. 55 vom 5. März 2003, 2. Urteilsgrund]).

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