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Document 62022CO0289

    Beschluss des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 9. Januar 2023.
    A.T.S. 2003 Vagyonvédelmi és Szolgáltató Zrt., "f.a." gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.
    Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167, 168 und 178 – Recht auf Vorsteuerabzug – Steuerhinterziehung – Beweis – Sorgfaltspflicht des Steuerpflichtigen – Berücksichtigung der Verletzung nationaler Vorschriften über die Erbringung der fraglichen Dienstleistungen.
    Rechtssache C-289/22.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:26

     BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    9. Januar 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167, 168 und 178 – Recht auf Vorsteuerabzug – Steuerhinterziehung – Beweis – Sorgfaltspflicht des Steuerpflichtigen – Berücksichtigung der Verletzung nationaler Vorschriften über die Erbringung der fraglichen Dienstleistungen“

    In der Rechtssache C‑289/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 28. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Mai 2022, in dem Verfahren

    A.T.S. 2003 Vagyonvédelmi és Szolgáltató Zrt., „f.a.“, in Liquidation,

    gegen

    Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič, I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,

    Generalanwalt: P. Pikamäe,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

    folgenden

    Beschluss

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in Verbindung mit den Grundsätzen der Steuerneutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit sowie mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der A.T.S. 2003 Vagyonvédelmi és Szolgáltató Zrt., „f.a.“, in Liquidation (im Folgenden: A.T.S. 2003), und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) über den Betrag der Mehrwertsteuer auf quittierte Rechnungen im Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 30. September 2013.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In Anbetracht des Zeitraums, in dem sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ereignet hat, ist festzustellen, dass in zeitlicher Hinsicht die Richtlinie 2006/112 in der ab dem 1. Januar 2013 geltenden Fassung der Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) auf Teile dieses Sachverhalts anwendbar ist. Da die Änderungen durch die zuletzt genannte Richtlinie für die vorliegende Rechtssache nicht maßgeblich sind, werden jedoch nur die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 in ihrer ursprünglichen Fassung erwähnt.

    4

    Art. 167 der Richtlinie 2006/112 sieht vor, dass das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

    5

    Art. 168 dieser Richtlinie bestimmt:

    „Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

    a)

    die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

    …“

    6

    Art. 178 der Richtlinie 2006/112 lautet:

    „Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

    a)

    für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;

    …“

    Ungarisches Recht

    7

    § 1 Abs. 7 des adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung) (Magyar Közlöny 2003/131, im Folgenden: Besteuerungsordnung) sieht vor:

    „Verträge, Geschäfte und andere ähnliche Handlungen sind nach ihrem wirklichen Inhalt zu bewerten. Ungültige Verträge oder andere Rechtsgeschäfte besitzen vom Aspekt der Steuerzahlung eine Bedeutung, wenn ein kaufmännisches Ergebnis ausgewiesen werden kann.“

    8

    § 2 Abs. 1 der Besteuerungsordnung bestimmt:

    „In den Steuerrechtsverhältnissen müssen die Rechte bestimmungsgemäß ausgeübt werden. Bei der Anwendung der Steuergesetze wird ein Vertrag oder ein anderes Rechtsgeschäft nicht als bestimmungsgemäße Rechtsausübung angesehen, dessen Ziel die Umgehung der im Steuergesetz festgehaltenen Bestimmungen ist.“

    9

    In § 97 Abs. 4 und 6 der Besteuerungsordnung heißt es:

    „(4)   Bei der Prüfung muss die Steuerbehörde den Sachverhalt klären und beweisen, es sei denn, ein Gesetz verpflichtet den Steuerzahler zur Beweisführung.

    (6)   Die Steuerbehörde muss bei der Klärung des Sachverhalts auch die zu Gunsten des Steuerzahlers dienenden Fakten erschließen. Nicht bewiesene Fakten und Umstände dürfen – mit Ausnahme des Schätzungsverfahrens – nicht zu Lasten des Steuerzahlers gewertet werden.“

    10

    § 119 Abs. 1 des általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (Magyar Közlöny 2007/155) sieht vor:

    „Das Steuerabzugsrecht entsteht – sofern dieses Gesetz nichts anderes verfügt –, wenn eine der Vorsteuer (§ 120) entsprechende, zu zahlende Steuer zu bestimmen ist.“

    11

    In § 120 Buchst. a dieses Gesetzes heißt es:

    „In dem Umfang, wie der Steuerpflichtige – in dieser Eigenschaft – die Gegenstände und Dienstleistungen für steuerpflichtige Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen verwendet bzw. auf andere Art und Weise verwertet, wird er berechtigt, von der von ihm zu zahlenden Steuer die Steuer abzuziehen,

    a)

    die ein anderer Steuerpflichtiger – einschließlich der unter das EVA-Steuergesetz fallenden Person bzw. Organisation – in Verbindung mit dem Erwerb von Gegenständen bzw. der Inanspruchnahme von Dienstleistungen an ihn weitergegeben hat“.

    12

    § 127 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

    „Eine objektive Bedingung für die Ausübung des Steuerabzugsrechts ist, dass dem Steuerpflichtigen Folgendes persönlich zur Verfügung steht:

    a)

    in den in § 120 Buchstabe a erwähnten Fällen die auf seinen Namen lautende Rechnung zum Nachweis der Erfüllung des Geschäfts;

    …“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    13

    A.T.S. 2003 erbrachte im Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 30. September 2013 Objektschutz- und Reinigungsdienstleistungen. Die Durchführung der Dienstleistungen erfolgte durch ihre Angestellten sowie durch Subunternehmer und Arbeitskräfte, die von einem Leiharbeitsunternehmen vermittelt wurden. Das Leiharbeitsunternehmen wurde später zu einem Subunternehmen von A.T.S. 2003 und setzte in dieser Eigenschaft selbst Leiharbeitskräfte ein.

    14

    Die Steuerverwaltung stellte fest, dass A.T.S. 2003 einen Betrag in Höhe von 141457000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 345155 Euro) schulde, der sich aus Mehrwertsteuer, Einkommensteuer, Sozialversicherungsbeträgen und anderen Abgaben für den Zeitraum von Dezember 2010 bis September 2013 zusammensetze. Sie verhängte u. a. ein Steuerbußgeld und Verspätungszuschläge gegen das Unternehmen.

    15

    Im Hinblick auf die abzugsfähige Mehrwertsteuer stellte die Steuerverwaltung fest, dass A.T.S. 2003 wegen Steuerhinterziehung verfolgt werde, da bei einer Untersuchung der Steuerverwaltungsdirektion für Strafsachen eine fiktive Fakturierungskette aufgedeckt worden sei und sich herausgestellt habe, dass auf Leiharbeitsfirmen zurückgegriffen worden sei, die keine echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübten und nicht die Voraussetzungen erfüllten, die die nationalen Rechtsvorschriften für die Ausübung dieser Tätigkeit vorsähen. Angesichts dieser Gegebenheiten und der im Rahmen der Untersuchung eingeholten Informationen war die Steuerverwaltung der Ansicht, dass A.T.S. 2003 nicht nur ohne die gebotene Sorgfalt gehandelt habe, sondern auch an der Bildung einer künstlichen Dienstleistungskette beteiligt gewesen sei, indem sie u. a. Verträge über die Überlassung von Arbeitskräften mit Unternehmen geschlossen habe, die nicht über die notwendigen Mittel zur Durchführung der vereinbarten Dienstleistungen verfügt hätten oder keine echte wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hätten. Unter diesen Umständen hätten die von diesen Unternehmen ausgestellten Rechnungen keine Aussagekraft.

    16

    Nach der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung bestätigte die Rechtsbehelfsdirektion die Entscheidung in Bezug auf die Mehrwertsteuer. A.T.S. 2003 legte daraufhin Klage vor dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, ein, mit der sie den ihr angelasteten Sachverhalt bestreitet und im Wesentlichen geltend macht, sie habe nachgewiesen, dass sie alle Sorgfaltspflichten eingehalten habe, die vernünftigerweise für die Zwecke der Überprüfung, dass die fraglichen Rechnungen nicht mit Steuerhinterziehung verbunden seien, von ihr erwartet werden könnten.

    17

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 bereits in zahlreichen, Ungarn betreffenden Rechtssachen ausgelegt habe, insbesondere in den Rechtssachen, in denen die Beschlüsse vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673), und vom 3. September 2020, Crewprint (C‑611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674), ergangen seien, und trägt vor, dass Unstimmigkeiten zwischen den Lösungen der nationalen Gerichte zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sowie zur Auslegung der Entscheidungen des Gerichtshofs hinsichtlich der dem Steuerpflichtigen bzw. der Steuerverwaltung obliegenden Beweislast bestünden. Angesichts dieser Situation ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass es zur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe in der vorliegenden Rechtssache Hinweise vom Gerichtshof zu der Frage benötige, wie die von der Steuerverwaltung angeführten Beweise zu würdigen seien.

    18

    Das vorlegende Gericht trägt vor, im Ausgangsverfahren müsse beurteilt werden, ob die von der Rechtsbehelfsdirektion geltend gemachten Umstände, d. h. die Tatsache, dass die an der Kette für Eingangsleistungen beteiligten Akteure nicht über eigenes Personal verfügten und ihren steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen seien, als objektive Sachlage angesehen werden könnten, die es rechtfertige, den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen, obwohl der Gerichtshof bereits entschieden habe, dass solche Umstände für sich genommen keine solche objektive Sachlage darstellten.

    19

    Konkret müsse das vorlegende Gericht beurteilen, ob die Steuerverwaltung auf der Grundlage dieser Umstände habe feststellen können, dass die Rechnungen nicht echt seien und somit ein Betrug vorliege, obwohl zum einen A.T.S. 2003 die ihr vom nationalen Recht eingeräumte Möglichkeit genutzt habe, kein Personal anzustellen und auf Leiharbeitskräfte sowie Subunternehmer zurückzugreifen, und zum anderen sowohl die materiellen als auch die formellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vorgelegen hätten.

    20

    Das vorlegende Gericht fragt sich insbesondere, ob der Umstand, dass die Steuerverwaltung weder das Vorliegen eines Vertrags zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Rechnungsaussteller noch die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, die Gegenstand der Rechnung seien, anerkenne und gleichzeitig vom Steuerpflichtigen verlange, dass er nicht nur in Bezug auf seinen unmittelbaren Vertragspartner, sondern auch in Bezug auf alle Akteure der Dienstleistungskette Überprüfungen vornehme, die insbesondere die Rechtmäßigkeit ihrer Tätigkeit beträfen, nicht eine Erweiterung der Sorgfaltspflicht darstelle, die der Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs walten lassen müsse, um sich davon zu überzeugen, dass der zur Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug geltend gemachte Umsatz nicht in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen sei.

    21

    Insofern bezweifelt das vorlegende Gericht, dass das Erfordernis solcher Überprüfungen mit den Grundsätzen der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, und es möchte konkret wissen, ob der Umstand, dass der Steuerpflichtige feststelle, dass in der Dienstleistungskette vorgelagerte Akteure gegen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen verstoßen hätten, ohne dass der Verstoß die Durchführung der Dienstleistungen beeinträchtige, dazu führen könne, dass die Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Mehrwertsteuerhinterziehung festgestellt werde und ihm der Vorsteuerabzug versagt werde.

    22

    Die Praxis der Steuerverwaltung, die Rationalität der geschäftlichen Entscheidungen der Steuerpflichtigen in Frage zu stellen, ohne die Vertragsfreiheit und die Besonderheiten des Wirtschaftslebens zu berücksichtigen, ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts problematisch. Das Gericht bezweifelt insoweit, dass die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug als bestimmungswidrige Rechtsausübung und somit als Betrug angesehen werden könne, wenn der Steuerpflichtige das Recht im Rahmen einer Fallgestaltung ausübe, die ihm ermögliche, seine Kosten zu senken, einschließlich der Kosten im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer.

    23

    Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob angesichts der Tatsache, dass die im Rahmen von Dienstleistungsketten begangene Steuerhinterziehung im Bereich der Leiharbeit weit verbreitet sei, die Steuerverwaltung in jedem einzelnen Fall die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung benennen und ihr Vorliegen nachweisen müsse.

    24

    Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Sind Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass im Fall der Feststellung der Steuerbehörde, dass ein Mitglied einer Dienstleistungskette die im Rahmen eines Vertrags mit dem Steuerpflichtigen oder einer Vereinbarung der Mitglieder der Kette vereinbarten spezifischen Vorschriften oder sonstige Vorschriften in Bezug auf die Dienstleistung verletzt, allein der Sachverhalt dieser Pflichtverletzung als objektiver Umstand für den Nachweis eines Steuerbetrugs ausreichend ist, wobei die Tätigkeit der Mitglieder der Kette in jeder anderen Hinsicht rechtmäßig ist, oder muss die Steuerbehörde auch in diesem Fall konkret angeben, worin der Steuerbetrug besteht, welches Mitglied der Kette diesen begangen hat und durch welche Handlung? Muss die Steuerbehörde in diesem Zusammenhang im Fall der Feststellung einer Pflichtverletzung den Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen Verpflichtungen aus einer die wirtschaftliche Tätigkeit regelnden Rechtsvorschrift und dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug prüfen, und kann sie nur im Falle seines Nachweises das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug verweigern?

    2.

    Kann im Zusammenhang mit den genannten Artikeln der Richtlinie 2006/112, mit dem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit vom Steuerpflichtigen im Rahmen seiner allgemeinen Kontrollpflichten in Bezug auf vorgeschaltete Mitglieder der Kette verlangt werden, zu prüfen, ob die für die in der Rechnung angegebene Erbringung der Dienstleistung durch spezifische Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Verpflichtungen bzw. die Voraussetzungen ihrer rechtmäßigen Ausübung eingehalten werden? Falls diese Frage bejaht wird: Muss der Steuerpflichtige während der Dauer des Rechtsverhältnisses dieser Verpflichtung fortlaufend nachkommen bzw. in welchen Abständen kann dies erwartet werden?

    3.

    Sind Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass im Falle eines durch den Steuerpflichtigen bei einem vorgeschalteten Mitglied der Kette festgestellten Pflichtverstoßes die Verpflichtung des Steuerpflichtigen entsteht, in diesem Fall sein Recht auf Abzug der an ihn weitergegebenen Mehrwertsteuer nicht geltend zu machen, andernfalls nämlich die Geltendmachung des Mehrwertsteuerabzugs als Steuerhinterziehung zu betrachten ist?

    4.

    Sind die genannten Artikel der Richtlinie 2006/112 im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Steuerneutralität dahin auszulegen, dass die Steuerbehörde bei der Prüfung und Qualifizierung des betrügerischen Charakters der Kette sowie bei der Feststellung des einschlägigen Sachverhalts bzw. bei der Würdigung der zu dessen Stützung dienenden Beweise nicht die für die in der Rechnung angegebene Dienstleistung geltenden Bestimmungen spezifischer Rechtsvorschriften außer Acht lassen kann, insbesondere die Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Parteien?

    5.

    Ist eine steuerbehördliche Praxis mit den oben genannten Artikeln der Richtlinie 2006/112 und mit dem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar, bei der während der Prüfung des Rechts auf Vorsteuerabzug, welches auf einen durch Dienstleistungsaktivitäten zustande kommenden Wirtschaftsvorgang gestützt wird, das tatsächliche Stattfinden des mit Rechnungen, Verträgen und sonstigen Rechnungsprüfungsbelegen dokumentierten Wirtschaftsvorgangs widerlegt werden kann, und zwar durch Feststellungen der Ermittlungsbehörden im Zuge der Ermittlungen, durch während der Ermittlungen eingeholte Aussagen von Verdächtigen oder Zeugen bzw. der von der Leiharbeit betroffenen Arbeitnehmer dazu, was sie über ihr Arbeitsverhältnis denken, wie sie dieses rechtlich bewerten bzw. wen sie als denjenigen betrachten, der das Recht des Arbeitgebers ausübt?

    6.

    Ist eine steuerbehördliche Praxis mit den oben genannten Artikeln der Richtlinie 2006/112 und mit dem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar, bei der die Steuerbehörde dann, wenn der Steuerpflichtige eine Form der wirtschaftlichen Tätigkeit wählt, mit der er seine Kosten am meisten reduziert, dies als bestimmungswidrige Rechtspraxis wertet und unter Bezugnahme darauf ihr Recht auf Umqualifizierung der Verträge so ausübt, dass infolgedessen ein Vertrag zwischen Parteien zustande kommt, zwischen denen bisher kein Vertrag bestand?

    Zu den Vorlagefragen

    25

    Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, u. a. wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

    26

    Im vorliegenden Fall können die Antworten auf die Fragen des vorlegenden Gerichts klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden.

    27

    Zwar bezieht sich das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen auf anhaltende Unstimmigkeiten zwischen den Lösungen der nationalen Gerichte zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sowie zur Auslegung der Entscheidungen des Gerichtshofs hinsichtlich der Beweislast für den Nachweis eines Mehrwertsteuerbetrugs und der Beteiligung des Steuerpflichtigen an einem solchen Betrug, der zu erbringen ist, um dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen. Das vorlegende Gericht weist insoweit u. a. darauf hin, dass die Entscheidungen, die es infolge der Beschlüsse vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673), und vom 3. September 2020, Crewprint (C‑611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674), getroffen habe, von der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) aufgehoben worden seien und es aufgrund der unterschiedlichen Auslegungen des zuletzt genannten Beschlusses seine Vorlagefragen in Bezug auf die Würdigung der von der Steuerverwaltung angeführten Beweise konkreter formulieren müsse, um die Möglichkeit der unterschiedlichen Auslegung zu begrenzen.

    28

    Das vorlegende Gericht macht jedoch keine näheren Angaben zu den von ihm angeführten unterschiedlichen Auslegungen des Unionsrechts oder der Entscheidungen des Gerichtshofs, und seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass sich die Unterschiede eher auf die Würdigung von Beweisen unter bestimmten Umständen zu beziehen scheinen.

    29

    Insoweit ist festzustellen, dass im Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist. Der Gerichtshof ist für die Anwendung der Rechtsnormen auf einen bestimmten Sachverhalt nicht zuständig, da Art. 267 AEUV ihm nur die Befugnis verleiht, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern (Urteil vom 16. Juni 2022, DuoDecad, C‑596/20, EU:C:2022:474, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Insoweit wird in den Nrn. 8 und 11 der Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) darauf hingewiesen, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen nicht auf Tatsachenfragen beziehen darf, die im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits aufgeworfen werden, und dass der Gerichtshof das Unionsrecht nicht selbst auf diesen Rechtsstreit anwendet.

    31

    Der Gerichtshof kann allenfalls in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV und im Geist der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht die Hinweise geben, die er für erforderlich hält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juli 2008, MOTOE, C‑49/07, EU:C:2008:376, Rn. 30, und vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 46).

    32

    Somit obliegt es im Bereich der Mehrwertsteuer, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug aufgrund des Vorliegens eines Betrugs versagt wird, den nationalen Gerichten, zu überprüfen, ob die Steuerbehörde die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige einen Betrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen Betrug einbezogen war, rechtlich hinreichend nachgewiesen hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 57, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bei der Auslegung der Richtlinie 2006/112 bereits vielfach an die Grundsätze erinnert, die sich aus der Richtlinie in Bezug auf die Beweislast ergeben, und Hinweise für die Beurteilung der Relevanz bestimmter Tatsachen erteilt. Entsprechend ist der Gerichtshof u. a. in den Beschlüssen vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673), und vom 3. September 2020, Crewprint (C‑611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674), sowie im Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com (C‑512/21, EU:C:2022:950), bei der Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts verfahren, die große Ähnlichkeit mit den Fragen aufweisen, die das gleiche Gericht in der vorliegenden Rechtssache stellt.

    34

    Somit stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht bereits vor Einreichen seines Vorabentscheidungsersuchens über die Auslegungshinweise und einen Großteil der Hinweise verfügte, die ihm die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ermöglichen sollten. Im Übrigen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die gewünschten Hinweise keinen Raum für vernünftige Zweifel lassen.

    35

    Folglich ist Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

    36

    Da das vorlegende Gericht außerdem nicht dargelegt hat, warum es den Gerichtshof um Auslegung von Art. 47 der Charta und des Grundsatzes der Rechtssicherheit ersucht, erfüllen die zweite, vierte, fünfte und sechste Frage insoweit nicht die Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung, so dass sie unzulässig sind, soweit sie auf diese Bestimmung der Charta oder diesen Grundsatz gerichtet sind.

    Zur sechsten Frage

    37

    Mit der sechsten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, die darin besteht, die Entscheidung eines Steuerpflichtigen, eine wirtschaftliche Tätigkeit in der Form auszuüben, die ihm eine Senkung seiner wirtschaftlichen Kosten ermöglicht, als „bestimmungswidrige Rechtspraxis“ zu werten und ihm aus diesem Grund das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.

    38

    Da das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zur Erläuterung des in seiner Frage beschriebenen Falls auf einen möglichen Rechtsmissbrauch hingewiesen hat, ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie anerkannt und gefördert wird, und dass nach dem Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, das im Bereich der Mehrwertsteuer Anwendung findet, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a.,C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 70 und 71, sowie vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 35).

    39

    Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer setzt jedoch zum einen voraus, dass die fraglichen Umsätze trotz formeller Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 74 und 75, sowie vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 36).

    40

    Was die Frage anbelangt, ob das wesentliche Ziel eines Vorgangs nur in der Erlangung des Steuervorteils besteht, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Bereich der Mehrwertsteuer bereits entschieden hat, dass der Steuerpflichtige bei einer Wahlmöglichkeit zwischen zwei Umsätzen nicht verpflichtet ist, den Umsatz zu wählen, der die höhere Mehrwertsteuerzahlung nach sich zieht, sondern das Recht hat, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält. Die Steuerpflichtigen können nämlich die Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung ihrer Steuerlast am besten geeignet erachten, im Allgemeinen frei wählen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 73, sowie vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 42).

    41

    Wie der Gerichtshof zudem in Rn. 41 des Beschlusses vom 3. September 2020, Crewprint (C‑611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674), ausgeführt hat, verbietet der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken somit nur rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, dessen Gewährung den Zielen der Richtlinie 2006/112 zuwiderliefe.

    42

    Angesichts dieser Erwägungen ist auf die sechste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, die darin besteht, die Entscheidung eines Steuerpflichtigen, eine wirtschaftliche Tätigkeit in der Form auszuüben, die ihm eine Senkung seiner wirtschaftlichen Kosten ermöglicht, als „bestimmungswidrige Rechtspraxis“ zu werten und ihm aus diesem Grund das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn nicht feststeht, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung vorliegt, die allein oder zumindest im Wesentlichen zu dem Zweck erfolgt, einen Steuervorteil zu erlangen, dessen Gewährung den Zielen der Richtlinie zuwiderliefe.

    Zur fünften Frage

    43

    Angesichts des im Vorabentscheidungsersuchen dargelegten Sachverhalts ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner fünften Frage, die als Zweites zu prüfen ist, im Wesentlichen wissen möchte, ob die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass es mit ihr nicht vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der auf eine Dienstleistung entfallenden Mehrwertsteuer aufgrund von Feststellungen versagt, die sich auf Zeugenaussagen stützen, in Anbetracht deren die Steuerverwaltung das tatsächliche Erbringen der Dienstleistung in Frage gestellt hat oder der Auffassung war, dass sie in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war.

    44

    Es ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug der Einhaltung sowohl materieller als auch formeller Anforderungen oder Voraussetzungen unterliegt.

    45

    Hinsichtlich der materiellen Anforderungen oder Voraussetzungen ist es für das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie von Bedeutung, dass der Betreffende „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie ist und dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen von ihm auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sind.

    46

    Diese zweite materielle Anforderung oder Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug impliziert, dass die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen, auf die sich die Rechnung bezieht, tatsächlich bewirkt wurden. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Prüfung steuerpflichtiger Umsätze gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts anhand einer umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    47

    Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die formellen Anforderungen und Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 ausgestellte Rechnung besitzen muss (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    48

    Der Gerichtshof hat außerdem in Bezug auf die Beweislast festgestellt, dass der Steuerpflichtige, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, nachweisen muss, dass er die hierfür vorgesehenen Bedingungen erfüllt. Der Steuerpflichtige muss also durch objektive Nachweise belegen, dass ihm ein Steuerpflichtiger auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat, die seinen der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätzen dienten und für die er tatsächlich Mehrwertsteuer entrichtet hat (Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    49

    Überdies hat der Gerichtshof mehrfach festgestellt, dass die Tatsache, dass die betreffende Dienstleistung nicht konkret von dem auf den Rechnungen genannten Dienstleister erbracht wurde, insbesondere weil er nicht über die notwendigen personellen, materiellen und finanziellen Mittel verfügte, für sich genommen nicht für den Ausschluss des Rechts auf Vorsteuerabzug ausreicht, da die genannte Tatsache sowohl auf eine betrügerische Verschleierung der Leistenden als auch auf die schlichte Inanspruchnahme von Subunternehmen zurückgeführt werden kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    50

    Daraus folgt, wie vom vorlegenden Gericht festgestellt, dass, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungen tatsächlich erbracht und von A.T.S. 2003 auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet wurden, ihr das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht versagt werden kann (vgl. entsprechend Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    51

    Doch auch wenn die materiellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vorliegen, haben die nationalen Behörden und Gerichte das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C‑439/04 und C‑440/04, EU:C:2006:446, Rn. 54 und 55, sowie vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    52

    In Bezug auf die Hinterziehung ist das Recht auf Vorsteuerabzug nach ständiger Rechtsprechung nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst einen Mehrwertsteuerbetrug begeht, sondern auch, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit dem Erwerb der Gegenstände oder Dienstleistungen, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, an einem Umsatz teilnahm, der in eine solche vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 46 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    53

    Da nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es den Steuerbehörden, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen Betrug einbezogen war. Es obliegt sodann den nationalen Gerichten, zu prüfen, ob die betreffenden Steuerbehörden diese objektiven Umstände nachgewiesen haben (Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    54

    Da das Unionsrecht keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    55

    Aus der in den Rn. 52 bis 54 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung folgt, dass einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann versagt werden kann, wenn nach einer gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts vorgenommenen umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls erwiesen ist, dass der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war. Das Recht auf Vorsteuerabzug kann nur versagt werden, sofern diese Tatsachen auf andere Weise als durch Vermutungen rechtlich hinreichend nachgewiesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    56

    Im vorliegenden Fall war die Steuerverwaltung dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge der Auffassung, dass A.T.S. 2003 und andere Wirtschaftsteilnehmer eine fiktive Fakturierungskette gebildet hätten, indem sie sich auf fingierte Leiharbeitskräfte und falsche Subunternehmerrechnungen gestützt hätten, um insbesondere ihre Mehrwertsteuerschuld zu reduzieren. Der Steuerverwaltung zufolge hätten Aussagen verdächtiger Personen, die im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung befragt worden seien, sowie Erklärungen von Leiharbeitskräften ergeben, dass die betroffenen Leiharbeitsunternehmen keine echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübten. Diese Umstände, die den Tatbestand eines Betrugs erfüllen, wenn sie gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts nachgewiesen werden, können es rechtfertigen, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.

    57

    Dagegen vermag der Umstand, dass das Reihengeschäft, das zu diesen Dienstleistungen geführt hat, keinen wirtschaftlichen Nutzen zu haben oder nicht angemessen gerechtfertigt zu sein scheint, für sich genommen nicht als Betrug angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 63, und vom 3. September 2020, Crewprint, C‑611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674, Rn. 42).

    58

    Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass es mit ihr vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der auf eine Dienstleistung entfallenden Mehrwertsteuer aufgrund von Feststellungen versagt, die sich auf Zeugenaussagen stützen, in Anbetracht deren die Steuerverwaltung das tatsächliche Erbringen der Dienstleistung in Frage gestellt hat oder der Auffassung war, dass sie in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war, wenn im ersten Fall der Steuerpflichtige nicht nachgewiesen hat, dass die Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde, oder im zweiten Fall die Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts nachgewiesen hat, dass der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war.

    Zur ersten und zur vierten Frage

    59

    Mit der ersten und der vierten Frage, die gemeinsam und als Drittes zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass es mit ihr nicht vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, weil sie den Umstand, dass der Steuerpflichtige oder andere in der Dienstleistungskette vorgelagerte Akteure gegen nationale Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen verstoßen haben, als ausreichenden Beweis für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs ansieht, ohne dass ein Zusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Recht auf Vorsteuerabzug nachgewiesen ist.

    60

    In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob die Steuerverwaltung die Tatbestandsmerkmale des Betrugs bestimmen muss und die Urheber des Betrugs sowie deren jeweilige Handlungen benennen muss.

    61

    Der Verstoß gegen nationale Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen, der vom Steuerpflichtigen oder einem anderen Akteur der Dienstleistungskette begangen wird, ist für sich genommen kein Beweis dafür, dass der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder an einem solchen Betrug beteiligt war. Ein solcher Verstoß kann aber, je nach den Umständen des Einzelfalls, neben anderen ein Indiz für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs sein und einen Beweis darstellen, der im Rahmen einer umfassenden Beurteilung all dieser Umstände herangezogen werden kann, um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige der Urheber des Mehrwertsteuerbetrugs ist oder an ihm aktiv beteiligt war, oder um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Oktober 2019, Altic, C‑329/18, EU:C:2019:831, Rn. 41, und vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 58).

    62

    Zudem obliegt es der Steuerbehörde, die die Beweislast trägt, die Tatbestandsmerkmale des Mehrwertsteuerbetrugs zu bestimmen, den Nachweis betrügerischer Handlungen zu führen und nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige Urheber des Betrugs ist oder aktiv an ihm beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diesen Betrug einbezogen war. Diese Anforderung bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass alle am Betrug beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären. Es ist Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob die Steuerbehörden diesen Beweis rechtlich hinreichend erbracht haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 36).

    63

    In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist auf die erste und die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass

    es mit ihr nicht vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, weil sie den Umstand, dass der Steuerpflichtige oder andere in der Dienstleistungskette vorgelagerte Akteure gegen nationale Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen verstoßen haben, als ausreichenden Beweis für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs ansieht, ohne dass ein Zusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Recht auf Vorsteuerabzug nachgewiesen ist;

    ein solcher Verstoß aber, je nach den Umständen des Einzelfalls, neben anderen ein Indiz für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs sein und einen Beweis darstellen kann, der im Rahmen der umfassenden Beurteilung all dieser Umstände herangezogen werden kann, um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige der Urheber des Mehrwertsteuerbetrugs ist oder an ihm beteiligt war, oder um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war;

    es der Steuerbehörde obliegt, die Tatbestandsmerkmale des Mehrwertsteuerbetrugs zu bestimmen, den Nachweis betrügerischer Handlungen zu führen und nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige Urheber des Betrugs ist oder aktiv an ihm beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diesen Betrug einbezogen war;

    diese Anforderung nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle am Betrug beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.

    Zur zweiten und zur dritten Frage

    64

    Mit seiner zweiten und dritten Frage, die gemeinsam und zuletzt zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass es dem Steuerpflichtigen obliegt, zu überprüfen, ob der Leistende und die anderen vorgeschalteten Mitglieder der Dienstleistungskette die nationalen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen sowie die anderen nationalen Vorschriften, die für ihre Tätigkeit gelten, eingehalten haben.

    65

    Aus der oben in Rn. 52 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass das Recht auf Vorsteuerabzug dem Steuerpflichtigen zu versagen ist, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen an einem Umsatz beteiligt hat, der in einen vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war.

    66

    Der Gerichtshof hat mehrfach festgestellt, dass es nicht gegen das Unionsrecht verstößt, wenn von einem Wirtschaftsteilnehmer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt, wobei es wesentlich von den jeweiligen Umständen abhängt, welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass dessen Umsätze nicht in eine von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C‑80/11 und C‑142/11, EU:C:2012:373, Rn. 54 und 59; sowie vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn. 52, und Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C‑108/20, EU:C:2021:266, Rn. 28).

    67

    Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein kann, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C‑80/11 und C‑142/11, EU:C:2012:373, Rn. 60; Beschlüsse vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 55, und vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C‑108/20, EU:C:2021:266, Rn. 29).

    68

    Die Steuerverwaltung darf jedoch vom Steuerpflichtigen nicht die Durchführung komplexer und umfassender Überprüfungen seines Lieferanten bzw. Leistenden verlangen und ihm faktisch die ihr obliegende Kontrolle übertragen (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn. 51).

    69

    Der Gerichtshof hat insbesondere bereits entschieden, dass die Steuerverwaltung von dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen kann, zum einen zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Steuerpflichtiger ist, über die fraglichen Gegenstände verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen, oder zum anderen entsprechende Unterlagen vorzulegen (Urteile vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C‑80/11 und C‑142/11, EU:C:2012:373, Rn. 61, sowie vom 4. Juni 2020, C.F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 47).

    70

    Daraus folgt, dass die vom Steuerpflichtigen verlangte Sorgfalt und die Maßnahmen, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seinem Erwerb nicht an einem Umsatz beteiligt, der in eine von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen ist, von den tatsächlichen Umständen abhängen und insbesondere davon, ob für den Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt des von ihm getätigten Erwerbs Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen. Bei Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Steuerhinterziehung kann vom Steuerpflichtigen eine erhöhte Sorgfalt erwartet werden. Es kann jedoch nicht von ihm verlangt werden, dass er komplexe und umfassende Überprüfungen durchführt, wie sie von der Steuerverwaltung vorgenommen werden können (Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 52).

    71

    Was die Einhaltung der nationalen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen betrifft, kann, wie oben in Rn. 61 des vorliegenden Beschlusses dargelegt, ein Verstoß gegen diese Vorschriften, je nach den Umständen des Einzelfalls, neben anderen ein Indiz für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs sein und einen Beweis darstellen, der im Rahmen der umfassenden Beurteilung all dieser Umstände herangezogen werden kann, um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige der Urheber des Mehrwertsteuerbetrugs ist oder an ihm aktiv beteiligt war, oder um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war. Gleiches gilt für einen Verstoß gegen andere nationale Vorschriften, die die Ausübung der Tätigkeit des Leistenden und der anderen vorgeschalteten Mitglieder der Dienstleistungskette regeln.

    72

    Aus alledem ergibt sich, dass vom Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht verlangt werden kann, dass er zu dem Zeitpunkt seiner Inanspruchnahme der Dienstleistung oder später überprüft, ob der Leistende und die anderen vorgeschalteten Mitglieder der Dienstleistungskette die nationalen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen sowie die anderen nationalen Vorschriften, die für ihre Tätigkeit gelten, eingehalten haben. Bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf einem Verstoß gegen diese Vorschriften beruhen und geeignet sind, beim Steuerpflichtigen zu dem Zeitpunkt, an dem er die Dienstleistung in Anspruch nimmt, den Verdacht aufkommen zu lassen, dass Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen, kann jedoch von dem Steuerpflichtigen verlangt werden, dass er eine erhöhte Sorgfalt an den Tag legt und die Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seiner Inanspruchnahme nicht an einem Umsatz beteiligt, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen ist.

    73

    Folglich ist auf die zweite und dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass es dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, grundsätzlich nicht obliegt, zu überprüfen, ob der Leistende und die anderen vorgeschalteten Mitglieder der Dienstleistungskette die nationalen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen sowie die anderen nationalen Vorschriften, die für ihre Tätigkeit gelten, eingehalten haben. Bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf einem Verstoß gegen diese Vorschriften beruhen und geeignet sind, beim Steuerpflichtigen zu dem Zeitpunkt, an dem er die Dienstleistung in Anspruch nimmt, den Verdacht aufkommen zu lassen, dass Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen, kann jedoch von dem Steuerpflichtigen verlangt werden, dass er eine erhöhte Sorgfalt an den Tag legt und die Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seiner Inanspruchnahme nicht an einem Umsatz beteiligt, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen ist.

    Kosten

    74

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

    ist dahin auszulegen, dass

    sie einer nationalen Praxis entgegensteht, die darin besteht, die Entscheidung eines Steuerpflichtigen, eine wirtschaftliche Tätigkeit in der Form auszuüben, die ihm eine Senkung seiner wirtschaftlichen Kosten ermöglicht, als „bestimmungswidrige Rechtspraxis“ zu werten und ihm aus diesem Grund das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn nicht feststeht, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung vorliegt, die allein oder zumindest im Wesentlichen zu dem Zweck erfolgt, einen Steuervorteil zu erlangen, dessen Gewährung den Zielen der Richtlinie zuwiderliefe.

     

    2.

    Die Richtlinie 2006/112

    ist dahin auszulegen, dass

    es mit ihr vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der auf eine Dienstleistung entfallenden Mehrwertsteuer aufgrund von Feststellungen versagt, die sich auf Zeugenaussagen stützen, in Anbetracht deren die Steuerverwaltung das tatsächliche Erbringen der Dienstleistung in Frage gestellt hat oder der Auffassung war, dass sie in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war, wenn im ersten Fall der Steuerpflichtige nicht nachgewiesen hat, dass die Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde, oder im zweiten Fall die Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts nachgewiesen hat, dass der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war.

     

    3.

    Die Richtlinie 2006/112

    ist dahin auszulegen, dass

    es mit ihr nicht vereinbar ist, wenn die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, weil sie den Umstand, dass der Steuerpflichtige oder andere in der Dienstleistungskette vorgelagerte Akteure gegen nationale Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen verstoßen haben, als ausreichenden Beweis für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs ansieht, ohne dass ein Zusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Recht auf Vorsteuerabzug nachgewiesen ist;

    ein solcher Verstoß aber, je nach den Umständen des Einzelfalls, neben anderen ein Indiz für das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs sein und einen Beweis darstellen kann, der im Rahmen der umfassenden Beurteilung all dieser Umstände herangezogen werden kann, um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige der Urheber des Mehrwertsteuerbetrugs ist oder an ihm aktiv beteiligt war, oder um nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war;

    es der Steuerbehörde obliegt, die Tatbestandsmerkmale des Mehrwertsteuerbetrugs zu bestimmen, den Nachweis betrügerischer Handlungen zu führen und nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige Urheber des Betrugs ist oder aktiv an ihm beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diesen Betrug einbezogen war;

    diese Anforderung nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle am Betrug beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.

     

    4.

    Die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

    ist dahin auszulegen, dass

    es dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, grundsätzlich nicht obliegt, zu überprüfen, ob der Lieferer bzw. Leistende und die anderen vorgeschalteten Mitglieder der Dienstleistungskette die nationalen Vorschriften über die fraglichen Dienstleistungen sowie die anderen nationalen Vorschriften, die für ihre Tätigkeit gelten, eingehalten haben. Bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf einem Verstoß gegen diese Vorschriften beruhen und geeignet sind, beim Steuerpflichtigen zu dem Zeitpunkt, an dem er die Dienstleistung in Anspruch nimmt, den Verdacht aufkommen zu lassen, dass Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen, kann jedoch von dem Steuerpflichtigen verlangt werden, dass er eine erhöhte Sorgfalt an den Tag legt und die Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seiner Inanspruchnahme nicht an einem Umsatz beteiligt, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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