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Document 61962CC0026

    Schlussanträge des Generalanwalts Roemer vom 12. Dezember 1962.
    NV Algemene Transport- en Expeditie Onderneming van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Tariefcommissie - Niederlande.
    Rechtssache 26-62.

    Englische Sonderausgabe 1963 00003

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1962:42

    Schlußanträge des Generalanwalts

    HERRN KARL ROEMER

    12. Dezember 1962

    GLIEDERUNG

    Seite
     

    Einleitung

     

    Rechtliche Beurteilung

     

    I — Reihenfolge der Untersuchung

     

    II — Frage 1

     

    1. Zur Zulässigkeit

     

    2. Untersuchung der Frage 1

     

    III — Frage 2

     

    1. Zur Zulässigkeit

     

    2. Untersuchung der Frage 2

     

    IV — Ergebnis

    Herr Präsident, meine Herren Richter!

    Anlaß für das gegenwärtige Verfahren ist ein Rechtsstreit, der vor der Tariefcommissie, einem niederländischen Verwaltungsgericht, schwebt. In diesem Rechtsstreit wird ein Einspruchsbescheid die niederländischen Finanzverwaltung vom 6. März 1961 angefochten, der sich ausspricht über die Anwendung eines bestimmten Zollsatzes auf die Einfuhr von Harnstoff-Formaldehyd aus der Bundesrepublik Deutschland. Der Bescheid beruht auf dem am 1. März 1960 in Kraft getretenen neuen niederländischen Zolltarif, der im Brüsseler Protokoll vom 25. Juli 1958 durch das Königreich Belgien, das Großherzogtum Luxemburg und das Königreich der Niederlande festgesetzt und für die Niederlande durch Gesetz vom 16. Dezember 1959 ratifiziert worden ist.

    Die Parteien des Verfahrens sind sich mit der Tariefcommissie einig darüber, daß im Augenblick der Einfuhr (9. September 1960) die Einordnung der importierten Ware unter eine bestimmte Tarifnummer des geltenden Zolltarifs in korrekter Weise erfolgt ist. Dieser Tarif aber ist abweichend von dem früher geltenden ( 1 ); nach der Brüsseler Nomenklatur ( 2 ) aufgestellt, was eine Veränderung bisheriger Zollpositionen mit sich brachte.

    Während die fragliche Ware — wie aus zwei Entscheidungen der Tariefcommissie zu entnehmen ist — vor dem 1. März 1960 nach dem niederländischen Zolltarif (Tariefbesluit 1947) in eine Kategorie mit einem Zollsatz von 3 o/o fiel, wird sie nach Einführung der Brüsseler Nomenklatur infolge Aufteilung früherer Tarifnummern mit einem höheren Zoll belegt.

    Es wurde deshalb von der klägerischen Partei die Ansicht geäußert, diese Änderung des Zolltarifs durch das Brüsseler Protokoll verstoße gegen Artikel 12 des EWG-Vertrages und der erlassene Zollbescheid müsse im Hinblick auf die Bestimmungen des EWG-Vertrages aufgehoben werden.

    Die Tariefcommissie hat dieses Problem nicht entschieden, sondern dem Gerichtshof am 16. August 1962 nach Artikel 177 des Vertrages mit zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Sie möchte wissen,

    „1.

    ob Artikel 12 des EWG-Vertrages die durch die Klägerin erwähnte interne Wirkung 'hat, mit anderen Worten, ob die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten aus diesem Artikel unmittelbar Rechte herleiten können, die der Richter zu wahren hat;

    2.

    falls diese Frage bejaht wird, ob insoweit eine unerlaubte Erhöhung eines Einfuhrzolls vorliegt, oder ob es sich hier nur um eine selbstverständliche Abweichung von dem vor dem 1. März 1960 geltenden Zollsatz handelt, die, obwohl sie rein rechnerisch eine Erhöhung bedeutet, nicht den Charakter einer durch den genannten Artikel 12 verbotenen Erhöhung hat.“

    Wie in Artikel 20 der EWG-Satzung des Gerichtshofes vor-geschrieben, hat der Kanzler das Vorlagegesuch den Parteien des nationalen Verfahrens, den Mitgliedstaaten und der Kommission zugestellt. Schriftliche Erklärungen sind eingegangen von den Parteien des Rechtsstreits, von den Regierungen des Königreichs der Niederlande, des Königreichs Belgien, der Bundesrepublik Deutschland und von der Kommission der EWG. In der mündlichen Verhandlung haben sich nur die Klägerin und die Kommission der EWG zu Wort gemeldet. Auf den Inhalt aller dieser Bemerkungen wird im Verlauf der Prüfung des Vorlagegesuchs eingegangen.

    Rechtliche Beurteilung

    I — REIHENFOLGE DER UNTERSUCHUNG

    In der schriftlichen Erörterung wurde dem Gerichtshof die Anregung unterbreitet, die Frage 2 an erster Stelle zu beantworten.

    Nach Auffassung der niederländischen Regierung beruht die Frage 2 auf der Ansicht, daß zwischen Artikel 12 des EWG-Vertrages und dem Benelux-Protokoll von Brüssel (das die Grundlage für den kritisierten Zolltarif bildet) ein Konflikt bestehe. Diese Ansicht stütze sich auf eine falsche Interpretation des EWG-Vertrages. Das Benelux-Abkommen habe indessen den EWG-Vertrag nicht unerlaubterweise außer Kraft setzen wollen. Wenn man die Frage 2 so beantworte, werde die Frage 1 gegenstandslos.

    Es erscheint mir angebracht, aus prozeß-ökonomischen Gründen zunächst einen Augenblick bei dieser Überlegung zu verweilen.

    Grundsätzlich bin ich der Auffassung, daß der Gerichtshof an die vom vorlegenden Gericht gewählte Reihenfolge in der Beantwortung von Auslegungsfragen gebunden ist. Dies gilt zumindest dann, wenn die Reihenfolge sich bestimmt nach dem Grad der Bedeutung der zu entscheidenden Fragen für das nationale Verfahren und wenn die vorgelegten Fragen nach dem System des Gemeinschaftsrechts in einem sachlichen und logischen Zusammenhang stehen, der die gewählte Ordnung erlaubt. Wir werden aber das Problem im vorliegenden Fall nicht zu vertiefen haben.

    An eine Umkehrung der Reihenfolge könnte nur gedacht werden, wenn sich auf den ersten Blick, vor Eintritt in die eigentliche Prüfung, zeigen würde, daß die zweite Frage einfacher und in einem Sinn zu beantworten wäre, der die Untersuchung der ersten Frage mit Sicherheit erübrigt. Im vorliegenden Fall ist aber nach meiner Auffassung nicht mit Deutlichkeit zu erkennen, daß die zweite Frage nur den von der niederländischen Regierung erwähnten Aspekt hat, daß sie einen geringeren Grad an Schwierigkeit aufweist, daß sie weniger umfangreiche Nachprüfungen erfordert und daß sie mit Wahrscheinlichkeit in der von der niederländischen Regierung angedeuteten Richtung zu beantworten ist. Diese Überlegung genügt, um die von der Tariefcommissie gewählte Reihenfolge der Prüfung beizubehalten, die übrigens — wie mir scheint — auch der Logik der Sache angemessen ist. Denn eine Interpretation des Inhalts von Artikel 12 kann den niederländischen Richter erst dann interessieren, wenn er weiß, daß er die Vorschrift anzuwenden hat.

    II — FRAGE 1

    1. Zur Zulässigkeit

    Ob das Gesuch der Tariefcommissie zulässig ist im Sinne von Artikel 177 des Vertrages, muß von Amts wegen geprüft werden. Es handelt sich um eine Frage, die der Disposition der Beteiligten entzogen ist, denn wir befinden uns in einem objektiven Verfahren zur Interpretation des Vertrages. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Beteiligten Zulässigkeitsfragen aufwerfen. So haben die niederländische Regierung und die belgische Regierung hinsichtlich der ersten Frage auf folgende Punkte hingewiesen:

    1.

    Sie betreffe nicht die Auslegung eines Vertragsartikels, sondern sie beziehe sich auf ein Problem des niederländischen Verfassungsrechts.

    2.

    Die Beantwortung der ersten Frage habe keinen Einfluß auf die Lösung der wirklichen Schwierigkeiten des niederländischen Rechtsstreits. Selbst wenn die Frage bejaht werde, bleibe für den niederländischen Richter das Problem, welches Ratifizierungsgesetz (das zum EWG-Vertrag oder das zum Brüsseler Protokoll der Benelux) für ihn den Vorrang habe.

    Diese Bemerkungen sind vor der Lösung der gestellten Auslegungsprobleme einer Prüfung zu unterziehen.

    Zu 1)

    Was die Frage angeht, ob die Tariefcommissie dem Gerichtshof ein Problem des niederländischen Verfassungsrechts unterbreitet habe, so ist folgendes zu bemerken: Es erscheint mir sicher, daß der Wortlaut der Frage 1 („ob Artikel 12… interne Wirkung hat“) den Eindruck erweckt, dem Gerichtshof werde eine Aufgabe gestellt, die über seine Kompetenzen nach Artikel 177 hinausreicht. Welche Rechtswirkungen eine zwischenstaatliche Vereinbarung für die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates in Wirklichkeit hat, kann erschöpfend ohne Beachtung des nationalen Verfassungsrechts nicht geklärt werden.

    Es ist aber andererseits klar, daß sich die Frage nicht in einer verfassungsrechtlichen Problematik erschöpft. Die Auswirkung eines internationalen Vertrages hängt in erster Linie davon ab, welche rechtliche Kraft nach dem Willen seiner Autoren den einzelnen Bestimmungen innewohnt, ob sie nur Programme, Bereitschaftserklärungen, Handlungspflichten auf der internationalen Ebene enthalten oder ob ein Teil von ihnen eine unmittelbare Einwirkung auf die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten haben soll. Beschränkt sich die Untersuchung auf diesen Aspekt, ohne ein Urteil darüber abzugeben, wie das nationale Verfassungsrecht die gewollten Vertragswirkungen in die nationale Rechtsordnung einfügt, so bewegt sie sich im Bereiche einer Vertragsauslegung. Trotz der wenig glücklichen Formulierung von Frage 1 ist demnach ein zulässiges Interpretationsbegehren zu erkennen, das der Gerichtshof ohne Schwierigkeiten aus dem vorgelegten Sachverhalt herausschälen und nach Artikel 177 behandeln kann.

    Zu 2)

    Der zweite Einwand betrifft die sog. „Entscheidungserheblichkeit“, d. h. die Frage, ob die Lösung eines bestimmten Problems aus dem Gemeinschaftsrecht für die Entscheidung des nationalen Verfahrens überhaupt von Bedeutung ist.

    Nach meiner Auffassung hat der Gerichtshof grundsätzlich keine Kompetenz, diese Vorfrage nachzuprüfen. Wie der Wortlaut von Artikel 177 Absatz 2, der auch für eine Vorlage nach Absatz 3 gelten muß, zeigt („… hält dieses Gericht eine Entscheidung … für erforderlich …“), steht den nationalen Gerichten insofern ein Beurteilungsermessen zu. Sie bilden sich eine Vorstellung von der Lösung des nationalen Rechtsstreits und überlegen sich, an welcher Stelle ihr rechtlicher und tatsächlicher Gedankengang mit Hilfe einer verbindlichen Vertragsinterpretation nach Artikel 177 zu ergänzen ist. Der Gerichtshof, der grundsätzlich nationales Recht nicht anzuwenden hat, kann die auf nationalem Recht basierenden Erwägungen nicht nachprüfen und korrigieren, will er sich nicht einer Kompetenzüberschreitung schuldig machen. Er muß deshalb das Urteil des nationalen Richters über die ihm notwendig erscheinenden Entscheidungselemente akzeptieren.

    Etwas anderes kann allenfalls in Ausnahmefällen gelten bei offensichtlichen Beurteilungsfehlern (etwa bei Verstößen gegen Denkgesetze, gegen allgemeine Rechtsprinzipien oder bei Verkennung eindeutig gelöster nationaler Rechtsfragen, die die Einleitung des Vorlageverfahrens als rechtsmißbräuchlich erscheinen lassen würden).

    Was unseren konkreten Fall angeht, so darf nicht übersehen werden, daß nach einer positiven Beantwortung der ersten Frage eine zweite Frage sich anschließt. Es ist denkbar, daß ihre Behandlung zu einer Auslegung von Artikel 12 führt, nach der ein Konflikt zwischen EWG-Vertrag und Brüsseler Protokoll gar nicht existiert, etwa weil im Rahmen des Artikels 12 Spielraum sein könnte für eine abweichende Behandlung von Sonderfällen. Wir können außerdem nicht beurteilen, welche Bedeutung der niederländische Richter einem eventuell doch vorhandenen Konflikt beimessen und wie er ihn lösen würde. Aus allen diesen Gründen ist es nicht angängig, die Entscheidungserheblichkeit zu verneinen und die Beantwortung der ersten Frage zu verweigern.

    Da weitere Probleme im Rahmen der Zulässigkeit für die erste Frage nicht zu erkennen sind, kann der Gerichtshof ohne weiteres in ihre sachliche Prüfung eintreten.

    2. Untersuchung der Frage 1

    Ich habe schon erwähnt, daß die Frage nicht glücklich formuliert ist. Ihr Sinn erscheint aber klar, wenn man sie im Lichte des niederländischen Verfassungsrechts sieht.

    Artikel 66 der niederländischen Verfassung gibt — nach der Interpretation, die er in der Rechtsprechung gefunden hat — internationalen Vereinbarungen Vorrang vor dem nationalen Recht, wenn die Vorschriften der Vereinbarungen allgemein verbindliche Wirkung haben, d. h. unmittelbar anwendbar („self executing“) sind. Es ist also die Frage, ob aus dem EWG-Vertrag für Artikel 12 dieser Rechtscharakter zu entnehmen ist oder ob Artikel 12 nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, entgegenstehendes Recht nicht zu erlassen, eine Verpflichtung, deren Verletzung nicht die Unwirksamkeit des nationalen Rechts zur Folge haben könnte.

    Die im Verfahren geäußerten Meinungen sind nicht einhellig. Die Klägerin des niederländischen Rechtsstreits und die Kommission der EWG vertreten den Standpunkt, Artikel 12 habe direkte interne Wirkung, die dahin zu verstehen sei, daß Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten ihn unmittelbar zu beachten haben. Nach dieser Ansicht wäre die Frage 1 zu bejahen. Die niederländische Regierung, die belgische Regierung und die Regierung der Bundesrepublik dagegen sehen in Artikel 12 nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten.

    Die Kommission hat in der schriftlichen Stellungnahme und in der mündlichen Verhandlung den Versuch unternommen, ihre Auffassung durch eine eingehende Charakterisierung der Struktur der Gemeinschaft zu fundieren. Sie hat in eindrucksvoller Weise klargemacht, daß die europäischen Vertragswerke, gemessen am Vertragsrecht des Völkerrechts, an der allgemeinen zwischenstaatlichen Rechtspraxis eine tiefgreifende Neuerung darstellen und daß es verfehlt wäre, die Verträge nur nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts zu behandeln.

    Diese Erkenntnisse werden mit Recht hervorgehoben in einem Verfahren, das grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht zu innerstaatlichem Recht aufwirft.

    Wer das Gemeinschaftsrecht kennt, weiß in der Tat, daß es sich nicht erschöpft in vertraglichen Beziehungen zwischen mehreren Staaten als Völkerrechtssubjekten. Die Gemeinschaft hat eigene, von den Mitgliedstaaten unabhängige Organe, versehen mit der Befugnis, Verwaltungsakte und Rechtsnormen zu setzen, die nicht nur die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, sondern auch die Bürger der Mitgliedstaaten unmittelbar berechtigen und verpflichten. Wir entnehmen das mit Klarheit aus den Vertragsartikeln 187, 189, 191 und 192.

    Der EWG-Vertrag enthält außerdem Bestimmungen, von denen sicher ist, daß sie unmittelbar in das nationale Recht einzugreifen und dieses zu ändern oder zu ergänzen bestimmt sind. Man] denke an die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Artikel 85 und 86 (Verbot bestimmter Vereinbarungen, Verbot mißbräuchlicher Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt), an die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften durch die Behörden der Mitgliedstaaten (Artikel 88) sowie an die Verpflichtung nationaler Instanzen, mit den Gemeinschaftsorganen auf dem Gebiete der Rechtsprechung und der Vollstreckung zusammenzuarbeiten (Artikel 177, 192 des Vertrages; Artikel 26, 27 der Satzung des Gerichtshofes). Es ließen sich in diesem Zusammenhang auch Bestimmungen anführen, die erst in einem späteren Zeitpunkt unmittelbare Rechtswirkungen zu entfalten geeignet sind, etwa Vorschriften aus dem Titel Freizügigkeit, freier Dienstleistungsverkehr und Kapitalverkehr (Artikel 48, 60).

    Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß in einer Vielzahl von Vertragsbestimmungen expressis verbis von Verpflichtungen der Mitgliedstaaten die Rede ist.

    Ich erwähne aus dem ersten Teil über die Grundsätze der Gemeinschaft den Artikel 5 mit dem Befehl an die Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus dem Vertrag ergeben, oder Artikel 8, nach dem die Feststellung zu treffen ist, daß die für die erste Stufe festgelegten Ziele erreicht und daß bestimmte Verpflichtungen eingehalten worden sind. Aus dem Titel über den freien Warenverkehr können angeführt werden Artikel 11 (Verpflichtungen auf dem Gebiete der Zölle) und Artikel 37 (Verpflichtungen in bezug auf staatliche Handelsmonopole).

    Schließlich nenne ich noch, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, Artikel 106, in dem die Mitgliedstaaten sich verpflichten, Zahlungen in bestimmter Währung zu genehmigen.

    Daß diese Vorschriften tatsächlich nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten normieren, darf nach der nuancierten Terminologie des Vertrages, aber auch nach ihrem sachlichen Gehalt und nach dem Sachzusammenhang als sicher gelten.

    Darüber hinaus treffen wir eine Reihe von Bestimmungen an, die zwar in einer feststellenden Aussageform abgefaßt sind, die aber nach ihrem Inhalt und Sachzusammenhang offenbar nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, nicht dagegen unmittelbare interne Rechtswirkungen bezwecken.

    Es handelt sich um die Vorschriften über die Abschaffung der Einfuhrzölle, Aufhebung der Ausfuhrzölle, Senkung der Finanzzölle (Artikel 13, 16, 17), über die schrittweise Einführung des gemeinsamen Zolltarifs (Artikel 23), über die Aufhebung von Einfuhrkontingenten (Artikel 32), über die Zusammenfassung der Kontingente zu Globalkontingenten und die Erhöhung der Globalkontingente (Artikel 33), über die Umformung der staatlichen Handelsmonopole (Artikel 37), über die schrittweise Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Artikel 52), über die Beseitigung der Beschränkungen des Kapitalverkehrs (Artikel 67) und über die Beseitigung von Diskriminierungen im Verkehr (Artikel 79).

    Verglichen damit sind verhältnismäßig selten in der Terminologie des Vertrages die Begriffe „Verbot“ oder „verboten“ anzutreffen, wie etwa in den Artikeln 7, 9, 30, 34, 80, 85, 86. — Auch für einen Teil dieser Vorschriften, vor allem soweit sie sich nicht an die Bürger wenden, macht aber der Text oder der Sachzusammenhang durch Verweisung auf noch zu erlassende Regelungen oder auf andere Durchführungsbestimmungen deutlich, daß eine unmittelbare Rechtswirkung von ihnen nicht ausgehen kann (Artikel 9, 30, 34).

    Auffällig ist, daß selbst in Bestimmungen, welche die Wendung „unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt“ enthalten (Artikel 92 für staatliche Beihilfen), an eine unmittelbare Anwendung nicht gedacht sein kann; denn nach Artikel 93 hat die Kommission die Befugnis, bei Feststellung der Unvereinbarkeit solcher Beihilferegelungen zu entscheiden, daß der betreffende Staat sie in einer bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.

    Wir können aus dieser Analyse einen ersten Schluß dahingehend ziehen, daß weite Teile des Vertrages mit Sicherheit nur Vertragspflichten der Mitgliedstaaten, nicht dagegen Vorschriften mit unmittelbarer interner Wirkung enthalten.

    Entsprechend ist im Rahmen der supranationalen Gerichtsbarkeit die Verfolgung von Vertragsverstößen ausgestaltet. Nach Artikel 169 setzt die Kommission dem Mitgliedstaat, der seine Verpflichtungen aus dem Vertrage nicht erfüllt, eine Frist, in der er der Stellungnahme der Kommission nachkommen kann. Artikel 171 bestimmt, daß ein solcher Staat die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergeben. Wäre für das Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Vertrags-vorschriften im Sinne eines Vorrangs gegenüber dem nationalen Recht als Regel gewollt, so könnte sich das Sanktionsverfahren mit der Feststellung der Nichtigkeit vertragswidriger Maßnahmen begnügen. Zumindest die Vorschrift des Artikels 171, wenn nicht auch die Fristsetzung nach Artikel 169, wäre überflüssig.

    Wenn wir uns überlegen, welchen Platz in diesem System, in dieser Skala rechtlicher Möglichkeiten, der Artikel 12 beanspruchen kann, so empfiehlt es sich, zunächst seinen Wortlaut in Erinnerung zu bringen. Er ist so abgefaßt:

    „Die Mitgliedstaaten werden untereinander wieder neue Einfuhr- oder Ausfuhrzölle oder Abgaben gleicher Wirkung einführen noch die in ihren gegenseitigen Handelsbeziehungen angewandten erhöhen.“

    Es erscheint mir sicher, daß die gewählte Aussageform — was übrigens von keiner Seite in Zweifel gezogen wird — die Annahme einer rechtlichen Verpflichtung ebensowenig ausschließt wie für andere Vertragsartikel mit der gleichen Formulierung. Die Zuweisung eines minderen Rechtsranges würde der Bedeutung nicht entsprechen, die Artikel 12 im Rahmen des Vertrages hat. — Ich bin darüber hinaus auch der Meinung, daß die Vollziehbarkeit der Verpflichtung nicht abhängt von weiteren Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane, was uns erlaubt, in einem bestimmten Sinn von direkten Rechtswirkungen des Artikels 12 zu sprechen.

    Das Entscheidende nach der Frage der Tariefcommissie ist jedoch, ob diese Wirkung bei den Regierungen der Mitgliedstaaten endet oder ob sie in den nationalen Rechtsbereich hineinreichen und dort zu einer unmittelbaren Anwendung der Vorschrift durch die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten führen soll. Hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten der Interpretation.

    Auffällig ist zunächst, daß als Adressaten die Mitgliedstaaten genannt sind, ebenso wie in anderen Vorschriften, die offensichtlich nur Staatenverpflichtungen bezwecken (Artikel 13, 14, 16, 17 etc.). Sie, nämlich die Mitgliedstaaten, werden nicht neue Zölle einführen oder die angewandten Zölle erhöhen. Daraus ist zu schließen, daß Artikel 12 nicht die Verwaltungs-praxis, das Verhalten der nationalen Verwaltungsbehörden, im Auge hat.

    Auch abgesehen von der Adressierung erinnert Artikel 12 an die Formulierung anderer Vorschriften, von denen mir sicher scheint, daß sie lediglich Verpflichtungen der Mitgliedstaaten normieren sollen, da sie, wenn auch nur in weiteren Absätzen, ausdrücklich von „Verpflichtungen“ sprechen (vgl. etwa Artikel 31, 37).

    Hier wäre zusätzlich Artikel 95 zu erwähnen, der bestimmt, daß die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art erheben, als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben, um dann in Absatz 3 fortzufahren: „Spätestens mit Beginn der zweiten Stufe werden die Mitgliedstaaten die bei Inkrafttreten dieses Vertrags geltenden Bestimmungen aufheben oder berichtigen, die den obengenannten Vorschriften entgegenstehen.“

    Zu beachten ist ferner in der Formulierung von Artikel 12, daß Begriffe wie „Verbot“, „verboten“, „unzulässig“, „unwirksam“, wie sie in anderen Bestimmungen des Vertrages auftauchen, hier nicht verwendet wurden. Gerade wenn eine Vorschrift für die unmittelbare Anwendung, also für die Anwendung durch die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten, bestimmt sein soll, kann auf eine präzise Angabe der beabsichtigten Rechtswirkungen nicht verzichtet werden.

    Vor allem aber ist zu überlegen, ob Artikel 12 seinem Inhalt nach für eine unmittelbare Anwendung geeignet erscheint. Wir müssen bedenken, daß zumindest vorläufig noch rechtsetzende Befugnisse auf dem Gebiete des Zollwesens in großem Umfang bei den Mitgliedstaaten liegen. In einigen Mitgliedstaaten schlagen sie sich nieder in formellen Gesetzen. Die unmittelbare Anwendung von Artikel 12 würde also vielfach eine Überprüfung legislativer Akte durch die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten anhand der Bestimmungen des Artikels 12 bedeuten.

    Sieht man sich den Gegenstand der Vorschrift an, so zeigt sich, daß er entgegen dem ersten Anschein recht komplexer Natur ist. Eine unproblematische Anwendung in jedem Falle ist damit kaum möglich.

    Artikel 12 gilt u. a. für Abgaben mit zollgleicher Wirkung. Wir haben vor kurzem in einem anderen Verfahren gesehen, welche Schwierigkeiten die genaue Umgrenzung dieses Begriffs mit sich bringen kann. Artikel 12 stellt weiterhin ab auf die in einem bestimmten Zeitpunkt angewandten Zölle oder Abgaben gleicher Wirkung. In der Praxis unseres Gerichtshofes haben wir erfahren, daß auch der Begriff „angewandt“ in der Auslegung beträchtliche Schwierigkeiten bieten kann. — Schließlich zeigt das vorliegende Verfahren selbst, wie problematisch die Feststellung einer Erhöhung angewandter Tarife sein kann, die auf einer Änderung der Zollnomenklatur beruhen soll.

    Diese Schwierigkeiten treten noch deutlicher hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Staaten im Zollrecht nicht nur eine Unterlassungspflicht trifft. Sie sind nach dem Vertrage gehalten, durch ständige Maßnahmen ihre zollrechtlichen Vorschriften der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes anzupassen. Wenn sich aber das zollrechtliche System laufend verändert, ist die Kontrolle der Einhaltung der zusätzlichen Standstill-Vorschrift des Artikels 12 gewiß nicht leicht.

    Es ist mir schlecht verständlich, wie angesichts dieser Tatsache die Kommission von der unmittelbaren Anwendung des Artikels 12 eine Erhöhung der Rechtssicherheit erwarten kann.

    Soll man wirklich annehmen, daß sich die Unternehmen in ihren geschäftlichen Dispositionen auf eine bestimmte Auslegung und Anwendung einzelner Vertragsvorschriften verlassen, oder werden sie sich nicht zuverlässiger an den positiven nationalen Zollbestimmungen orientieren?

    Geben alle diese Überlegungen Anlaß genug, für Artikel 12 eine unmittelbare interne Anwendung abzulehnen, so kommt noch folgendes hinzu:

    Die verfassungsrechtliche Situation in den Mitgliedstaaten ist nicht einheitlich, vor allem nicht die Beurteilung des Verhältnisses von supranationalem oder internationalem Recht zu später ergangenen nationalen Gesetzen.

    Bei Anerkennung einer unmittelbaren internen Wirkung von Artikel 12 ergäbe sich die Situation, daß nur in einem Teil der Mitgliedstaaten Verstöße gegen Artikel 12 zur Unwirksamkeit und Unanwendbarkeit der nationalen Zollgesetze führen würden. Das scheint mir der Fall zu sein in den Niederlanden, deren Verfassung (Artikel 66) internationalen Vereinbarungen mit allgemein-verbindlichen, direkt anwendbaren Vorschriften einen höheren Rang als nationalen Gesetzen einräumt, in Luxemburg (wo die Rechtsprechung ohne ausdrückliche Verfassungsbestimmung im wesentlichen zu denselben Ergebnissen gekommen ist ( 3 )) und vielleicht in Frankreich (vielleicht, weil der einschlägige Artikel 55 der Verfassung vom 4. Oktober 1958 hinsichtlich der leges posteriores nicht ganz eindeutig ist und überdies einen Vorbehalt der Gegenseitigkeit enthält ( 4 )

    Auf der anderen Seite ist sicher, daß die belgische Verfassung keine Bestimmung über die rechtliche Kraft internationaler Verträge im Verhältnis zum nationalen Recht kennt. Sie scheinen von der Rechtsprechung als dem nationalen Recht gleichrangig behandelt zu werden.

    Auch im Text der italienischen Verfassung findet sich keine Vorschrift, aus der auf den Vorrang internationaler Verträge vor dem nationalen Recht geschlossen werden könnte. Die Rechtsprechung und die herrschende Rechtslehre weisen den Verträgen zumindest gegenüber späteren nationalen Ge- setzen keinen höheren Rang zu.

    Was schließlich das deutsche Verfassungsrecht angeht, so bestimmt Artikel 24 des Grundgesetzes, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Artikel 25 ordnet an, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind, die den Gesetzen vorgehen und Rechte und. Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets erzeugen. Die Rechtsprechung leitet daraus jedoch im Gegensatz zu einigen Autoren nicht einen Vorrang internationaler Verträge gegenüber später erlassenen nationalen Gesetzen ab ab ( 5 ).

    Diese verfassungsrechtliche Situation stand den Vertrags-autoren bei der Abfassung des Gemeinschaftsrechts vor Augen. Sie läßt es nach meiner Überzeugung zweifelhaft erscheinen, daß gerade in Ansehung einer für das Zollrecht sehr bedeutsamen Vorschrift die mit dem Prinzip der unmittelbaren direkten Anwendung verbundenen Konsequenzen einer ungleich mäßigen Rechtsentwicklung gewollt sein sollen, Konsequenzen, die mit einem wesentlichen Ziel der Gemeinschaft nicht in Einklang stehen.

    Eine einheitliche Rechtsentwicklung wäre aber auch in den Staaten nicht gewährleistet, deren Verfassungsrecht internationalen Vereinbarungen einen Vorrang gibt vor nationalem Recht.

    Der Vertrag kennt kein sicheres Instrument zur Abwendung dieser Gefahr. Artikel 177 sieht nur ein Vorlagerecht und eine Vorlagepflicht vor, wenn eine Frage der Vertragsinterpretation ansteht, nicht dagegen, wenn das Problem der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht auftaucht. Es wäre also vorstellbar, daß nationale Gerichte die Vorlegung an den Gerichtshof unterlassen, weil sie Interpretationsschwierigkeiten nicht sehen, daß sie aber in der eigenständigen Interpretierung des Vertrages zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Auf diese Weise könnten sich Unterschiede in der Rechtsanwendung zwischen den Gerichten verschiedener Staaten, aber auch Unterschiede zwischen den Gerichten ein und desselben Staates ergeben.

    Nach allen diesen Untersuchungen, die sich stützen auf die Betrachtung des Gesamtsystems des Vertrages, auf den Wortlaut, auf den Sachverhalt und den Sachzusammenhang der zu interpretierenden Bestimmung, komme ich zu dem Ergebnis, daß Artikel 12 in gleicher Weise rechtlich zu qualifizieren ist wie die anderen Vorschriften über die Zollunion. Für sie alle hat Artikel 11 grundsätzliche Bedeutung, der ausdrücklich von „Verpflichtungen auf dem Gebiet der Zölle“ spricht, was eine unmittelbare interne Wirkung im Sinne der Frage 1 ausschließt. Nach meiner Überzeugung ist demnach die Frage 1 der Tariefcommissie zu verneinen.

    III — FRAGE 2

    Dieser Vorschlag bedeutet, daß die zweite Frage der Vorlage in Ihrem Urteil ebenso wie in diesen Konklusionen nicht zu behandeln ist. Das vorlegende Gericht hat die zweite Frage ausdrücklich eventualiter gestellt für den Fall, daß der Gerichtshof dahin erkenne, Artikel 12 des Vertrages sei vom nationalen Richter unmittelbar anzuwenden. Die zweite Frage verliert aber auch ohne den Vorbehalt des vorlegenden Richters nach Verneinung der ersten Frage ihre Erheblichkeit.

    Indessen bin ich mir bewußt, daß der Versuch der Lösung der Probleme, die in diesem Rechtsstreit berührt werden, Antworten auslösen kann, die in ihrem Inhalt in erheblichem Widerstreit stehen. Dabei denke ich nicht nur an die Verschiedenartigkeit im Vorbringen der am Verfahren Beteiligten, sondern an die Mannigfaltigkeit der Meinungen, denen wir in Ansehung der Probleme dieses Verfahrens in Theorie und Praxis des Staats- und Völkerrechts begegnen. Aus diesen Gründen werde ich die zweite Frage der Tariefcommissie subsidiär einer Prüfung unterziehen, bei der ich von der Hypothese ausgehe, daß Sie zur ersten Frage die Bindung des nationalen Richters an Artikel 12 feststellen.

    Zu Frage 2 haben sich mit eigenen Bemerkungen nur geäußert die niederländische Regierung, die belgische Regierung, die Kommission der EWG und die Klägerin des niederländischen Verfahrens.

    1. Zur Zulässigkeit

    Ebenso wie bei der ersten Frage ergeben sich zunächst einige Zulässigkeitsprobleme, die von der belgischen Regierung und von der niederländischen Regierung aufgeworfen wurden. Sie machen insbesondere geltend:

    1.

    Die zweite Frage sei unzulässig, weil sie eine Vertrags-anwendung und nicht eine Vertragsinterpretation betreffe.

    2.

    Die zweite Frage erstrebe eine Umgehung des Verfahrens nach Artikel 169/Artikel 170 des Vertrages; Privatpersonen könnten nicht indirekt das Verhalten der Mitgliedstaaten rügen; es sei nicht zulässig, eine angeblich begangene Vertragsverletzung nach Artikel 177 vor den Gerichtshof zu bringen.

    Zu 1)

    Liest man den Wortlaut der zweiten Frage, so läßt sich der Eindruck nicht verhehlen, es werde vom Gerichtshof eine Vertragsanwendung erwartet.

    Artikel 177 des Vertrages — soweit er hier von Interesse ist — spricht nur von Vertragsauslegung. Unter Auslegung versteht man die allgemeine Deutung des Sinnes einer Bestim-mung, wenn Sinn und Zweck nach dem Wortlaut nicht klar sind. Davon zu unterscheiden ist die Anwendung einer Vorschrift auf einen konkreten Fall, die Subsumtion eines Sachverhalts unter eine gesetzliche Bestimmung und die daraus resultierende Beurteilung des Sachverhalts. Die Grenzen zwischen Interpretation und Anwendung sind mitunter schwer zu erkennen, vor allem dann, wenn sich die Auslegung auf einen Teilaspekt beschränkt und wenn — was zur Erleichterung der Aufgabe des Gerichtshofes nützlich erscheinen mag — das Interpretationsproblem vom vorlegenden Gericht durch die Darstellung des Subsumtionstatbestands verdeutlicht wird. Ich möchte dennoch nicht annehmen, daß im vorliegenden Fall das Begehren des niederländischen Gerichts auf eine Prüfung der Vertragsanwendung durch den Gerichtshof zielt. Es kann hier an das erste Vorlageverfahren erinnert werden (13/61), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, es sei dem innerstaatlichen Gericht gestattet, die den Gegenstand der Vorlage bildenden Fragen in konkreter und einfacher Weise zu formulieren (Rechtsprechungssammlung Band VIII, Seite 110).

    Der Gerichtshof hat die Möglichkeit, auf Grund des gesamten Inhalts der Vorlageentscheidung den wesentlichen Gehalt und das Ziel der gestellten Frage abzuleiten und im Rahmen seiner Kompetenzen in einer generalisierenden Weise zu beantworten. In jedem Fall werden wir uns in den Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofes halten und uns über die unmittelbare Anwendung auf einen konkreten Fall nicht auslassen. Tatsachenfeststellungen sind zu diesem Zweck nicht erforderlich. Sie wären aber, anders als die niederländische Regierung annimmt, auch in einem Vorlageverfahren nicht ausgeschlossen (vgl. Artikel 103 § 2 der Verfahrensordnung, der auf die Artikel 44 ff. der Verfahrensordnung verweist). In vollem Umfang ist daher die zweite Frage sicher nicht unzulässig.

    Zu 2)

    Zu den Bedenken, die sich beziehen auf das Verhältnis des vorliegenden Verfahrens zu dem Verfahren nach Artikel 169/ Artikel 170 des Vertrages und auf die Gefahr einer Umgehung dieses Verfahrens ist folgendes zu bemerken:

    Artikel 169 regelt die gerichtliche Feststellung von Vertragsverletzungen, die von den Mitgliedstaaten begangen sein sollen. Sie kann beantragt werden von der Kommission, wenn der betroffene Mitgliedstaat der Stellungnahme der Kommission nicht nachkommt. Artikel 170 sieht ein entsprechendes Verfahren vor, das mit der Klage eines anderen Mitgliedstaates, und zwar unter Umständen ohne vorhergehende Stellungnahme der Kommission, eingeleitet wird.

    Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof, wenn er die Frage 2 in den Grenzen seiner Kompetenzen behandelt, nur eine allgemeine Auslegung von Artikel 12, von dessen Sinn und Zweck, zu geben und die Folgerung dem nationalen Richter zu überlassen. Mit keinem Wort ist im Tenor seines Urteils und in den Entscheidungsgründen über das Verhalten eines Mitgliedstaates zu befinden und die Feststellung zu treffen, ob dieses Verhalten mit dem Vertrag zu vereinbaren ist oder eine Verletzung des Vertrages darstellt. Der Gerichtshof hat demnach nicht eine Beurteilung abzugeben, die nur im Verfahren nach Artikel 169/Artikel 170 getroffen werden könnte.

    Wollte man die Meinung vertreten, Artikel 169/Artikel 170 schlössen auch aus, daß nationale Gerichte feststellen, bestimmte Maßnahmen des Mitgliedstaates, dem sie angehören, seien wegen Verstoßes gegen Vertragsvorschriften unwirksam, so würde man damit die Existenz von Vertragsnormen bestreiten, die von den nationalen Gerichten unmittelbar angewandt werden können. Denn eine unmittelbare Anwendbarkeit muß dazu führen, daß die mit dieser Qualität ausgestatteten Normen ihre Wirkungen ungehindert entfalten können, und zwar u. U. auch gegenüber widersprechendem nationalen Recht. Sie fehlt, wenn eine vorhergehende Feststellung unseres Gerichtshofs erforderlich ist.

    Artikel 169 und Artikel 170 — so müssen wir demnach folgern — betreffen in erster Linie solche Fälle, in denen eine Vertragsnorm nicht unmittelbar anwendbar ist, sondern nur ein Gebot an die Adresse der Mitgliedstaaten enthält. Hier ist rechtslogisch Raum für ein Erzwingungsverfahren, d. h. für ein Verfahren mit dem sachlichen Ziel der Änderung der Rechtslage, nicht dagegen bei einer Konfliktssituation, in der das Gemeinschaftsrecht kraft seiner unmittelbaren Anwendbarkeit sich von selbst gegenüber dem nationalen Recht durchsetzen kann.

    Da die zweite Frage nur gestellt ist für den Fall der positiven Beantwortung der ersten Frage, also bei Anerkennung einer unmittelbaren internen Wirkung von Artikel 12, kann somit in ihrer Beantwortung nicht eine unzulässige Umgehung des Artikels 169 durch unseren Gerichtshof gesehen werden.

    Weitere Probleme im Rahmen der Zulässigkeit sehe ich nicht. Wir können uns daher sofort der eigentlichen Untersuchung der zweiten Frage zuwenden.

    2. Untersuchung der Frage 2

    Sie muß mit Rücksicht auf die Bemerkungen zur Zulässigkeit dergestalt umgedeutet werden, daß die reinen Interpretationsprobleme allein hervortreten.

    Nach dem vorgetragenen Sachverhalt bedeutet dies: der Gerichtshof hat die Kriterien zu definieren, nach denen sich bestimmt, ob eine nach Artikel 12 relevante Zollerhöhung gegeben ist. Ausgehend vom Wortlaut des Artikels 12 kommt es für das niederländische Verfahren vor allem an auf eine Interpretation der Begriffe „angewandt“ und „erhöhen“.

    Die Kommission war in ihrer schriftlichen Stellungnahme bemüht, eine systematische Ordnung für die zahlreichen Unterfragen herzustellen, in die sich die zweite Frage aufgliedern läßt.

    Hinsichtlich des Verbots, die Einfuhrzölle zu erhöhen, werden folgende Einzelprobleme erkennbar:

    1.

    Gilt das Verbot für jede einzelne Ware oder bezieht es sich auf das allgemeine Niveau der Einfuhrzölle?

    2.

    Gilt das Verbot absolut oder läßt es gewisse Ausnahmen zu, die sich nach dem Sinn und Zweck von Artikel 12. selbst oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vertragsbestimmungen ergeben?

    Hinsichtlich des Begriffs „angewandt“ sind gleichfalls einige Unterfragen auseinanderzuhalten:

    1.

    Kommt es darauf an, welche Sätze in der Zollpraxis tatsächlich angewandt werden?

    2.

    Ist eine Zollpraxis zu berücksichtigen, die ausgelöst wurde durch unkorrekte Zollerklärungen?

    3.

    Wie sind in der Beurteilung der Zollpraxis die Entscheidungen der Tariefcommissie zu werten?

    4.

    Muß auf die Zollpraxis in den Niederlanden oder auf die Zollpraxis in den Beneluxländern insgesamt abgestellt werden?

    Zum ersten Fragenkomplex unterstreicht die Kommission zunächst, was übrigens von keiner Seite in Zweifel gezogen wird, daß das Verbot des Artikels 12 für jede einzelne Ware gilt. Aus dem Text ergibt sich kein Indiz für die gegenteilige Auffassung; insbesondere ist die Verwendung des Plurals (Zölle) aufschlußreich. Auch aus den anderen Zollvorschriften dieses Kapitels ist zu entnehmen, daß sie für jede Ware Geltung beanspruchen (Artikel 14), soweit nicht ausdrücklich eine Zusammenrechnung der Zollmaßnahmen (Gesamtzollbelastung) erwähnt wird (Artikel 14).

    Darüber hinaus ist nicht zu leugnen, daß Artikel 12 absolute Wirkung hat, die keine Ausnahmen duldet. Seine Funktion auf dem Gebiete der Zölle entspricht derjenigen des Artikels 31 für die mengenmäßigen Beschränkungen. Zu Artikel 31 hat sich der Gerichtshof in dem Verfahren 7/61 geäußert und mit Nachdruck seine absolute Wirkung hervorgehoben, die irgendeine Ausnahme nicht zulasse.

    Aus dieser Erkenntnis leitet die Kommission, wie ich meine, zu Recht, die Schlußfolgerung ab, daß auch die Schwierigkeiten, die mit einer Umstellung der Zollnomenklatur verbunden sein können, grundsätzlich keine Möglichkeit geben, von dem Verbot des Artikels 12 abzugehen. Die Kommission weist darauf hin, daß sich die Mitgliedstaaten schon vor dem Abschluß des Vertrages mit den Problemen der Transposition der Zolltarife auf die Brüsseler Nomenklatur beschäftigt haben. Sie waren folglich mit ihren Schwierigkeiten vertraut. Wenn sie es dennoch unterlassen haben, in Artikel 12 einen entsprechenden Vorbehalt aufzunehmen, so kann darin nur ein Indiz für die absolute Wirkung dieses Artikels gesehen werden.

    Wie sich aus dem Text der Brüsseler Konvention zur Vereinheitlichung des Zolltarifschemas (vom 15. Dezember 1950) ergibt, haben die vertragschließenden Teile die Möglichkeit, innerhalb der Positionen des Zolltarifschemas Unterpositionen für die Einreihung von Waren zu schaffen und dadurch eine Differenzierung der Zollsätze aufrechtzuerhalten. Die Brüsseler Nomenklatur hat also nicht notwendig die Unterdrückung einzelner Zollsätze zur Folge.

    Die Mitgliedstaaten der EWG können außerdem gewisse Schwierigkeiten aus der Umstellung der Nomenklatur dadurch ausräumen, daß sie ihre innergemeinschaftlichen Zölle für bestimmte Positionen unter das vom Vertrag vorgeschriebene Maß herabsetzen und so eine Verletzung der Vorschrift des Artikels 12 vermeiden.

    Wenn man sich vorstellen könnte, daß dennoch in manchen Fällen unüberwindliche Schwierigkeiten übrigblieben, so müßten wir bemerken, daß die generellen, wenig substantiierten Ausführungen der beteiligten niederländischen Regierung und der belgischen Regierung derartige Schwierigkeiten nicht erkennen lassen. Sie werden in ihrer Überzeugungskraft zudem abgeschwächt durch die Erklärungen des niederländischen Staatssekretärs für Finanzen in der parlamentarischen Debatte über das Benelux-Protokoll ( 6 ), die durchblicken lassen, daß für die hier interessierende Ware schon nach dem alten Zollgesetz von 1947 gewisse zollverwaltungstechnische Schwierigkeiten bestanden haben, die mit der genauen Ermittlung der Zusammensetzung der Ware und ihrer Verwendungsmöglichkeit verbunden waren. Man könnte daraus den Eindruck gewinnen, daß nicht die mit der Zollumstellung verbundenen Schwierigkeiten ausschlaggebend waren für die Zollbehandlung nach dem Brüsseler Protokoll.

    Letzten Endes können diese tatsächlichen Fragen aber offenbleiben. Wir stellen lediglich fest, daß eine rechtliche Möglichkeit, von dem absolut wirkenden Verbot des Artikels 12 mit Rücksicht auf die Umstellung der Zollnomenklatur abzuweichen, zumindest was die Gegebenheiten des vorliegenden Sachverhalts angeht, nicht zu erkennen ist.

    Auch Artikel 233, der ausdrücklich bestimmt, daß der Vertrag dem Bestehen und der Durchführung der regionalen Zusammenschlüsse zwischen Belgien und Luxemburg sowie zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden nicht entgegensteht, erlaubt keine Auflockerung der Standstill-Vor-schrift des Artikels 12. Wie der Zusatz „soweit die Ziele dieser Zusammenschlüsse durch Anwendung dieses Vertrages nicht erreicht sind“, erkennen läßt, ist das Hauptanliegen der Vorschrift darin zu sehen, den Beneluxstaaten eine vom Vertrag unabhängige erhöhte Beschleunigung und Intensivierung der regionalen Integration zu gestatten. Sie kann aber nicht dazu dienen, eine Durchbrechung der elementaren Grundbestimmungen des Gemeinschaftsvertrages zu rechtfertigen, die allen Mitgliedstaaten gleichermaßen auferlegt sind und die eingehalten werden können, ohne daß die Ziele der regionalen Union, die schon vor Inkrafttreten des EWG-Vertrages einen gemeinsamen Außentarif kannte, in Frage gestellt werden.

    Im zweiten Fragenkomplex steht der Begriff „angewandter Zollsatz“ im Mittelpunkt.

    Auch hier kann zunächst auf eine Entscheidung des Gerichtshofes verwiesen werden. In dem Verfahren 10/61 wurde festgestellt, für Artikel 12 sei ebenso wie für Artikel 14 der tatsächlich angewandte, nicht dagegen der gesetzlich anwendbare Zollsatz entscheidend. Diese Auffassung stützt sich auf die Erkenntnis, daß für den Gerichtshof die Nachprüfung des nationalen Rechtes (Legalität der bestehenden Zollpraxis) schwierig wäre, sowie auf die Tatsache, daß dem Vertrag der Unterschied zwischen „gesetzlich anwendbaren“ und „tatsächlich angewandten“ Tarifen geläufig ist, wie Artikel 19 zeigt.

    Ich sehe keinen Anlaß, das Prinzip dieser Entscheidung in Frage zu stellen. Im gegenwärtigen Verfahren sind aber noch einige besondere Aspekte des Problems zutage getreten, die es verdienen, bedacht zu werden.

    Es wurde ausgeführt, in einigen Fällen sei auf Waren der Art, die in dem streitigen Zollbescheid behandelt wird, auf Grund unkorrekter Zollerklärungen ein Zollsatz von nur 3 % angewandt worden. Diese Fälle bieten keine Schwierigkeiten. Es scheint mir selbstverständlich, daß eine solche Praxis in jedem Fall außer Betracht bleiben muß, auch wenn nicht auf den gesetzlich anzuwendenden Zollsatz, sondern auf die tatsächliche Praxis abzustellen ist, denn die ratio legis, nach welcher für wirtschaftliche Dispositionen die Praxis der Zollverwaltung entscheidend ist, kann nicht den Schutz des Vertrauens solcher Personen decken, welche die unkorrekte Anwendung des Zolltarifs durch ihr Verhalten verursacht haben. Unrichtige Zollerklärungen können also niemals eine für das Zollrecht des Vertrages maßgebliche Praxis begründen.

    Es ist ferner die Frage aufgetaucht, welche Bedeutung den nach Inkrafttreten des Vertrages ergangenen Entscheidungen der Tariefcommissie beizumessen ist, die auf Waren der hier interessierenden Art einen Zollsatz von 3 % und nicht von 10 % für anwendbar und damit die Praxis der niederländischen Finanzverwaltung für rechtswidrig erklärt haben. Zur Verdeutlichung des Problems ließ sich der Gerichtshof von den an der mündlichen Verhandlung Beteiligten schriftliche Erläuterungen geben. Da deren Inhalt Bedenken nicht begegnet, spricht nichts gegen ihre Verwendung im vorliegenden Verfahren. Sie vermitteln uns folgendes Bild:

    Nach den Erklärungen der Klägerin des niederländischen Rechtsstreits wurde die Einfuhr von reinem Ureumformaldehyd (also der hier in Frage stehenden Ware) bis September 1956 mit 3 o/o belegt. Ab September 1956 hat die Zollverwaltung auf die gleiche Ware 10 % Zoll erhoben. Die erste Änderung der Zollpraxis nahm die Klägerin zum Anlaß, einen Verwaltungsprozeß einzuleiten, der am 6. Mai 1958 zu der erwähnten Entscheidung der Tariefcommissie führte. Die Entscheidung hatte zur Folge, daß für Einfuhren, die ab September 1956 stattfanden, der entrichtete höhere Zollbetrag teilweise zurückerstattet wurde, so daß nur eine Belastung von 3 o/o übrigblieb. Sie hatte weiterhin zur Folge, daß bis September 1959 ein Satz von 3 % angewandt wurde. Zu dieser Zeit fand aufs neue eine Änderung der Zollpraxis statt mit der Anwendung eines Satzes von 10 %, was abermals ein Verwaltungsstreitverfahren auslöste. Es kam am 2. Mai 1960 zu einer zweiten Entscheidung der Tariefcommissie, die den gleichen Inhalt hat wie die Entscheidung vom 6. Mai 1958. Sie bewirkte, daß für die Einfuhren, die zwischen September 1959 und dem 1. März 1960 (Inkrafttreten des neuen Zolltarifs) durchgeführt wurden, eine teilweise Rückerstattung der entrichteten Zölle vorgenommen wurde.

    Wenn alle diese Angaben zutreffend sind, woran zu zweifeln kein Anlaß besteht, ist festzustellen, daß auf die von der Klägerin durchgeführten Importe von Ureumformaldehyd, die nach ihren eigenen Bekundungen den größten Teil derartiger Importe in den Niederlanden ausgemacht haben sollen, zwar vorübergehend eine Zollpraxis mit einer Belastung von 10 o/o bestanden hat, daß aber durch gerichtliche Urteile eine Korrektur erreicht wurde, die bis zum 1. März 1960 zu einer faktischen Zollbelastung von 3 o/o geführt hat.

    Es ist nun zu überlegen, ob der Gerichtshof in konsequenter Anwendung der im Urteil 10/61 niedergelegten Prinzipien nur die bis zum 1. Januar 1958 tatsächlich geübte Zollpraxis berücksichtigen kann. Nach meiner Ansicht ist das nicht der Fall. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die Betonung der Rolle der Zollpraxis vor allem darauf zurückzuführen ist, daß der Gerichtshof eine Überprüfung der Legalität der geübten Praxis nicht vornehmen wollte.

    Im vorliegenden Fall ist eine gerichtliche Klärung durch eine nationale Instanz effektiv erfolgt, und zwar kurze Zeit nach dem Inkrafttreten des Vertrages. Anstoß zu der Klärung gab eine Klage, die mehrere Monate vor dem Inkrafttreten des Vertrages erhoben wurde, und als Endresultat ist eine rückwirkende, den Stichtag des 1. Januar 1958 erfassende Korrektur der Zollpraxis zugunsten der beteiligten Wirtschaftskreise zu verzeichnen.

    Damit ist ein Unterschied im Sachverhalt aufgezeigt, an dem wir nicht vorübergehen können. — Wesentlicher Zweck der Standstill-Vorschrift des Artikels 12 ist es, eine Erschwerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern. Die Vorschrift stellt ab auf die Praxis, weil sich wirtschaftliche Dispositionen im allgemeinen nach der Verwaltungspraxis auszulichten pflegen. In unserem Fall war die Zollpraxis während eines längeren Zeitraums streitig. Der Streit endete aber zugunsten der Importeure. Die Korrektur der Praxis auf Grund der Rechtslage konnte also wirtschaftliche Dispositionen überhaupt nicht beeinträchtigen.

    Wenn demnach für die Anwendung von Artikel 12 eine rückwirkende Änderung der tatsächlichen Zollpraxis berücksichtigt wird, die kurze Zeit nach Inkrafttreten des Vertrages durch Gerichtsurteil veranlaßt wurde, so ist darin eine Verletzung der Stillhaltevorschrift nicht zu sehen, sondern eine Anwendung, die dem allgemeinen Geist des Vertrages entspricht.

    Schließlich ist noch die Frage aufgetaucht, welche Zollpraxis als maßgebliche Richtschnur anzusehen sei, diejenige in den Niederlanden oder die in den Beneluxländern insgesamt am 1. Januar 1958 vorherrschende. — Für die Lösung dieser Frage kann es m. E. dahingestellt bleiben, ob in der Zollunion der Beneluxstaaten ein Instrument zur Gewährleistung einer einheitlichen Zollpraxis in Ansehung des gemeinsamen Außentarifs überhaupt vorhanden war. Desgleichen kann offenbleiben, ob sich außerhalb der Niederlande in den Beneluxländern für die hier in Frage stehende Ware eine Praxis überhaupt und gegebenenfalls in einer abweichenden Weise entwickelt hat oder ob die Einfuhren auf die Niederlande beschränkt blieben. — Denn in der rechtlichen Beurteilung bleibt uns, wie ich glaube, kein Spielraum. Anders als in Artikel 19, der von vier Zollgebieten spricht, also den Beneluxraum zusammenfaßt, ist in Artikel 12 von den Mitgliedstaaten die Rede. Wir müssen daraus den Schluß ziehen, daß für die Standstill-Vorschrift des Artikels 12, die ohnehin die Zollpraxis und nicht die Rechtslage in den Vordergrund rückt, die tatsächliche Situation in jedem einzelnen Mitgliedstaat maßgeblich ist. Jeder der Mitgliedstaaten des Vertrages hat gegenüber allen Partnern und den Organen der Gemeinschaft für die Erfüllung des Vertrages einzustehen.

    Mehr als diese Auslegungsrichtlinien kann der Gerichtshof im Rahmen des Artikels 177 zu der zweiten Frage m. E. nicht geben. Sie sind aber auch ausreichend, um dem niederländischen Richter — vorausgesetzt, daß eine unmittelbare Anwendung von Artikel 12 für ihn in Betracht kommt — eine korrekte Anwendung der Vertragsvorschriften auf seinen Fall zu erlauben.

    Zusammenfassend ist für die Frage 2 festzuhalten:

    Artikel 12 hat absolute Wirkung für jede einzelne Ware; er duldet eine Ausnahme weder zur Behebung von Schwierigkeiten, die mit der Umstellung der Nomenklatur verbunden sind, noch zugunsten regionaler Zusammenschlüsse innerhalb der Gemeinschaft. — Ob mit der Einführung eines neuen Zolltarifs Zollerhöhungen verbunden sind, ist zu messen an dem für jede einzelne Ware am 1. Januar 1958 tatsächlich angewandten Zollsatz. Die maßgebliche Zollpraxis ist zu ermitteln ohne Berücksichtigung der Fälle einer unkorrekten Zolldeklaration. Dagegen ist in Betracht zu ziehen die verbindliche Korrektur der Zollpraxis, die in den Niederlanden kurze Zeit nach Inkrafttreten des Vertrages durch verwaltungsgerichtliche Entscheidung erfolgt ist. Maßgeblich ist schließlich die Zollpraxis in jedem einzelnen Mitgliedstaat.

    IV — ERGEBNIS

    Dem Gerichtshof schlage ich vor, das Urteil auf die Frage 1 zu beschränken und klarzustellen, daß Artikel 12 nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Inhalt hat.


    ( 1 ) Inkraftgetreten im Jahre 1948 in den drei Benelux-Ländern auf Grund der Zollkonvention vom 5. September 1944.

    ( 2 ) Festgelegt im Abkommen über das Zolltarifschema für die Einreihung der Waren in die Zolltarife vom 15. Dezember 1950.

    ( 3 ) Pescatore: „L'autorité en droit interne, des traites internationaux“; Pasicrisie Luxembourgeoise, 1962, Seite 99 ff.

    ( 4 ) „Les traités ou accords régulièrement ratifiés ou approuvés ont, des leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l'autre partie.“

    ( 5 ) Gerhard Bebr: „The Relationship between Community Law and the Law of the Member States“; (Restrictive Practices, Patents, Trade Marks and Unfair Competition in the Common Market).

    ( 6 ) Anhang IV zum Vorlagegesuch.

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