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Document 52020AE2146

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Integration von Frauen, Müttern und Familien mit Migrationshintergrund in den EU-Mitgliedstaaten und Zielsprachniveaus für die Integration“ (Sondierungsstellungnahme)

    EESC 2020/02146

    ABl. C 10 vom 11.1.2021, p. 1–6 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    11.1.2021   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 10/1


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Integration von Frauen, Müttern und Familien mit Migrationshintergrund in den EU-Mitgliedstaaten und Zielsprachniveaus für die Integration“

    (Sondierungsstellungnahme)

    (2021/C 10/01)

    Berichterstatter:

    Indré VAREIKYTĖ

    Ákos TOPOLÁNSZKY

    Ersuchen des deutschen Ratsvorsitzes

    Schreiben vom 18.2.2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    9.9.2020

    Verabschiedung im Plenum

    29.10.2020

    Plenartagung Nr.

    555

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    234/4/14

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt Folgendes fest:

    Die nationalen Aktionspläne und Strategien zur Integration von Migranten in der EU unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Leitprinzipien und Maßnahmen sowie ihres Überwachungs- und Bewertungsumfangs stark voneinander.

    In allen Mitgliedstaaten gibt es offenbar nur wenige Aktionspläne und Strategien mit besonderem Schwerpunkt auf Frauen oder Gleichstellungsfragen, obgleich ethnischen Minderheiten angehörende Frauen mit Migrationshintergrund sowie Frauen unterschiedlicher Altersgruppen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mehrfacher oder intersektioneller Diskriminierung ausgesetzt sind.

    Weniger als die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten verfügt über ausdrücklich an Nachkommen von Migranten gerichtete Aktionspläne oder Strategien, obwohl ihre Benachteiligung durch statistische Daten von Eurostat und internationalen Organisationen belegt ist.

    Eine wirksame Integration kann eine Reihe wirtschaftlicher, sozialer und steuerlicher Vorteile für die Länder haben, in denen sich Migranten niederlassen; doch gibt es sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene nur wenige Maßnahmen, die angesichts der Komplexität der Herausforderungen angemessen wären.

    1.2.

    Von der COVID-19-Krise sind schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen, insbesondere ethnischen Minderheiten angehörende Migranten und Migrantinnen, überdurchschnittlich betroffen. Der EWSA fordert die Kommission daher nachdrücklich auf, bei der Entwicklung ihrer neuen Integrations- und Inklusionsinitiative die Erkenntnisse aus dieser Krise zu berücksichtigen und die besten Ansätze aus den verschiedenen Mitgliedstaaten aufzuzeigen.

    1.3.

    Der EWSA ist von einem ganzheitlichen Ansatz zur Bewältigung der migrationsbezogenen Herausforderungen überzeugt. Die Initiative sollte daher Maßnahmen in den Bereichen Grundrechte, soziale und berufliche Eingliederung, Bildung, Kultur, Justiz und Gesundheit umfassen.

    1.4.

    Der EWSA fordert die Kommission auf, bei der Gestaltung einer ganzheitlichen Integrationspolitik für eine bessere und effizientere Kommunikation und Koordinierung mit den Mitgliedstaaten, ihren nationalen, regionalen und lokalen Behörden sowie den Organisationen der Zivilgesellschaft zu sorgen.

    1.5.

    Der EWSA verurteilt erneut jegliche Form von Gewalt gegen Frauen und ersucht die Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen von Istanbul noch nicht ratifiziert haben, ihre Position zu überdenken. Zudem fordert er alle Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Migrantinnen, die Gewalt erlitten haben, den gleichen Zugang zu angemessenen Dienstleistungen, Hilfen und Einrichtungen erhalten wie einheimische Frauen.

    1.6.

    Der EWSA spricht sich erneut für die Einrichtung besserer Systeme zur Bewertung von Bildungsabschlüssen und die Bereitstellung geschlechtsspezifischer Förderprogramme aus, die Migrantinnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtern können.

    1.7.

    Der EWSA fordert dringend Initiativen zur Gewährleistung eines integrierten Ansatzes, um so die Multi-Level-Governance der sozial- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen, die sich auf die Hausarbeit in der gesamten EU auswirken, zu harmonisieren.

    1.8.

    Es müssen systematischere Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsmaßnahmen entwickelt werden, damit Migranten und Flüchtlinge über ihre Rechte und Pflichten Bescheid wissen und stärker auf den Schutz durch Verwaltungen und Behörden vertrauen, wobei gleichzeitig deren Schutzkapazitäten ausgebaut werden sollten.

    1.9.

    Der EWSA fordert gemeinsame EU-Leitlinien für den Sprachunterricht, um einen einheitlichen und ganzheitlichen Ansatz zu gewährleisten, der nicht nur den unterschiedlichen Bedürfnissen und Niveaus der Lernenden, sondern auch den Qualifikationsanforderungen an die Lehrkräfte Rechnung trägt.

    1.10.

    Nach Ansicht des EWSA sollte der Sprachunterricht Orientierung, Informationen und Erläuterungen bezüglich der Ziele und Vorteile des Spracherwerbs für das Leben der Migranten umfassen‚ um diese zu einer aktiveren Mitarbeit zu ermutigen.

    1.11.

    Nach Auffassung des EWSA sollte geprüft werden, ob der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen für eine Optimierung des Sprachunterrichts für Migranten und einen stärker maßgeschneiderten Ansatz genutzt werden kann.

    1.12.

    Der EWSA betont, dass die Erhebung angemessener, vergleichbarer und nach Geschlecht aufgeschlüsselter Migrations- und Integrationsdaten auf EU-, nationaler und insbesondere lokaler Ebene verbessert werden muss.

    2.   Gegenstand der Sondierungsstellungnahme

    2.1.

    Der deutsche EU-Ratsvorsitz hat den EWSA ersucht, in einer Sondierungsstellungnahme die spezifischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Integration von Frauen, Müttern und Familien mit Migrationshintergrund zu beleuchten sowie die in den Mitgliedstaaten zu Beginn des Integrationsprozesses für Flüchtlinge und andere Migranten verwendeten Sprachkursmodelle und die in diesen Kursen festgelegten Zielsprachniveaus zu untersuchen.

    3.   Situationsanalyse (1)

    3.1.

    Die nationalen Aktionspläne und Strategien zur Integration von Migranten in der EU unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Leitprinzipien und Maßnahmen sowie ihrer Überwachung und Bewertung stark voneinander. Diese Unterschiede spiegeln nationale Besonderheiten, Verwaltungstraditionen und Migrationshistorien wider. Diese unterschiedlichen Ansätze sind Gegenstand der Diskussion im Europäischen Integrationsnetz. Allerdings bestehen nach wie vor einzelstaatliche Unterschiede bei der Umsetzung der gemeinsamen Grundprinzipien des Rates der Europäischen Union für die Integrationspolitik in der EU und anderer einschlägiger Strategiepapiere. Es ist zu betonen, dass die Integrationspolitik in einigen Mitgliedstaaten von den regionalen und/oder lokalen Behörden umgesetzt wird, wodurch sich die Divergenzen bei der Umsetzung dieser Leitlinien noch vergrößern.

    3.2.

    In allen Mitgliedstaaten gibt es offenbar nur wenige Aktionspläne und Strategien mit besonderem Schwerpunkt auf Frauen oder Gleichstellungsfragen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Frauen mit Migrationshintergrund — u. a. solche, die ethnischen Minderheiten angehören, insbesondere schwarze Frauen — in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (darunter Beschäftigung und Bildung) mehrfacher oder intersektioneller Diskriminierung ausgesetzt sind und vor allem beim Zugang zu Gesundheitsdiensten auf Hürden stoßen (2).

    3.3.

    Weniger als die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten verfügt über ausdrücklich an Nachkommen von Migranten gerichtete Aktionspläne oder Strategien, obwohl ihre Benachteiligung durch statistische Daten von Eurostat und internationalen Organisationen belegt ist. Mangelnde soziale Inklusion birgt die Gefahr der Entfremdung junger Menschen mit Migrationshintergrund, was sich auf den sozialen Zusammenhalt auswirken sowie Intoleranz, Diskriminierung und Kriminalität und die Anfälligkeit junger Migranten für Desinformation und extremistische Bewegungen verstärken kann.

    3.4.

    Nur in einer Handvoll von Mitgliedstaaten existieren systematische Öffentlichkeitsmaßnahmen, die sich an Eltern mit Migrationshintergrund richten. Diese Maßnahmen reichen von der Einbeziehung und aktiven Teilhabe von Eltern und Familien mit Migranten- bzw. Flüchtlingsstatus in das Schulleben über die Bereitstellung von Informationen und die Sensibilisierung für die Bildung ihrer Kinder bis hin zu ihrer Unterstützung beim Erlernen der Landessprache des Mitgliedstaats und ihrer Befähigung, ihre Kinder im Bildungsprozess zu unterstützen und zu fördern.

    3.5.

    Untersuchungen und Studien in den einzelnen Mitgliedstaaten belegen die Segregation von Lernenden mit Migrationshintergrund in der Schule. Darüber hinaus ist die Segregation in einigen Schulen, insbesondere Grundschulen tendenziell stärker ausgeprägt als in den Wohngebieten, aus denen die betreffenden Schülerinnen und Schüler stammen — und zwar selbst in Wohnvierteln mit geringem Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund.

    3.6.

    Die Zahl der unter 18-jährigen Migranten ohne gesetzlichen Vormund nimmt stetig zu — Europa nimmt 74 % der unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber auf. Nach einer traumatischen und häufig von Gewalt geprägten Migrationsreise sind diese Kinder und Jugendlichen nach wie vor zahlreichen Gefahren ausgesetzt und für kriminelle Netze besonders leichte Beute: Rekrutierung von Minderjährigen, Kinderhandel zur Prostitution, sexuelle Ausbeutung, Kinderarbeit (3).

    3.7.

    Die Datenerhebung durch die Gleichstellungsstellen in den Mitgliedstaaten beschränkt sich in der Regel auf Fälle von Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft. In den meisten EU-Mitgliedstaaten liegen nur wenige oder keine Daten zu Beschwerden von Drittstaatsangehörigen über Diskriminierung aus anderen Gründen als der ethnischen Herkunft oder der Rasse vor (4). Untersuchungen zufolge ist die tatsächliche Zahl der Beschwerden, die von Drittstaatsangehörigen bei Gleichstellungsstellen eingereicht werden, im Vergleich zu den Erfahrungen und Vorfällen von Diskriminierung und Viktimisierung sehr gering. Die Dunkelziffer (5) ist ein ernstes Problem, das auf die mangelnde Kenntnis der eigenen Rechte und das Misstrauen gegenüber den Behörden, insbesondere unter Migrantinnen und Kindern, zurückgeführt werden kann.

    4.   Verbesserung der Integration

    4.1.

    Der EWSA betont, dass Integration ein dynamischer, langfristiger und kontinuierlicher Prozess in beide Richtungen ist, an dem sowohl die Migranten als auch die Aufnahmegesellschaft beteiligt sind. Die EU hat sich zur Bewältigung dieser Herausforderung verpflichtet. Eine wirksame Integration kann eine Reihe wirtschaftlicher, sozialer und haushaltspolitischer Vorteile für die Länder haben, in denen sich Migranten niederlassen, doch gibt es sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene nur wenige Maßnahmen, die angesichts der Komplexität der Herausforderung angemessen wären.

    4.2.

    Von der COVID-19-Krise sind schutzbedürftige Gruppen, insbesondere Migranten und Migrantinnen, überdurchschnittlich betroffen (6). So hat die Krise Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, aber auch wirtschaftliche Konsequenzen. Darüber hinaus kann sie Diskriminierung und Rassismus verstärken. Schulschließungen haben ebenfalls Folgen für Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund. Der EWSA fordert die Kommission daher nachdrücklich auf, bei der Entwicklung ihrer neuen Integrations- und Inklusionsinitiative die Erkenntnisse aus dieser Krise zu berücksichtigen und die besten Ansätze aus den verschiedenen Mitgliedstaaten aufzuzeigen. Angesichts dieser Krise fordert der EWSA auch die Mitgliedstaaten dazu auf, kostenlose Schulungen in den Bereichen Nutzung digitaler Geräte, Dokumentenverwaltung, Arbeitssuche und Telearbeit anzubieten sowie Personen, die mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert und/oder von sozialer Ausgrenzung bedroht sind, den Zugang zu Krisenhilfen und Rechtsberatung zu ermöglichen (7).

    4.3.

    Der EWSA ist von einem ganzheitlichen Ansatz zur Bewältigung der migrationsbezogenen Herausforderungen überzeugt. Die Initiative sollte daher Maßnahmen in den Bereichen Grundrechte, soziale und berufliche Eingliederung, Bildung, Kultur, Justiz, Gesundheit und Wohnraum umfassen.

    4.4.

    Der EWSA verurteilt erneut jegliche Form von Gewalt gegen Frauen und ersucht die Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen von Istanbul noch nicht ratifiziert haben, ihre Position zu überdenken (8). Er fordert alle Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Migrantinnen, die Gewalt erlitten haben, den gleichen Zugang zu angemessenen Dienstleistungen, Hilfen und Einrichtungen erhalten wie einheimische Frauen. Migrantinnen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, sollten unabhängig vom Täter vertraulich die Legalisierung ihres Migrationsstatus beantragen können (9).

    4.5.

    Migrantinnen sind häufig für freie Stellen überqualifiziert, arbeitslos und mit Dequalifizierung konfrontiert (10). Als ersten Schritt zur Lösung der anstehenden Probleme fordert der EWSA erneut die Einrichtung besserer Systeme zur Bewertung von Bildungsabschlüssen und die Bereitstellung geschlechtsspezifischer Unterstützungsprogramme (z. B. im Bereich der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung), die Frauen den Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtern können (11).

    4.6.

    Der EWSA betont, dass Migrantinnen keine homogene Gruppe bilden, insbesondere was Kompetenzen und Qualifikationen betrifft (12); vielfach sind sie für ihre Arbeit unter- bzw. überqualifiziert oder gehen gar keiner Beschäftigung nach (13). Daher sollten Integrationsmaßnahmen, aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Programme sowie sozialwirtschaftliche Projekte die Bereiche Sprachunterricht, Kompetenzbewertung und Berufsbildung umfassen (14).

    4.7.

    In Privathaushalten tätige Migranten sind zu einem wichtigen Pfeiler der Sozialsysteme geworden, insbesondere in der Langzeitpflege für ältere Menschen, wobei Frauen mit Migrationshintergrund in der Hausarbeitsbranche am häufigsten negativ betroffen sind (15). Diese Branche ist nach wie vor von einer vollständigen oder teilweisen Irregularität der Beschäftigung und einem niedrigen Lohnniveau gekennzeichnet; Hausangestellte verfügen über einen geringeren Arbeitsschutz und/oder einen geringeren rechtlichen Schutz im Falle von Arbeitslosigkeit, einer berufsbedingten Verletzung oder Behinderung sowie der Mutterschaft und leiden häufig unter sozialer Isolation und Ausgrenzung, vor allem wenn sie im Haushalt ihres Arbeitgebers leben (16). Der EWSA fordert dringend Maßnahmen für einen integrierten Ansatz, um die Multi-Level-Governance der sozial- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen mit Auswirkungen auf die Hausarbeit in der gesamten EU zu harmonisieren und dabei die Überschneidungen zwischen Betreuungs-, Beschäftigungs- und Migrationspolitik sowie deren Auswirkungen auf die Arbeitsmarktintegration und die Lebensbedingungen von Hausangestellten mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen.

    4.8.

    Der EWSA weist darauf hin, dass Migrantinnen häufig zu einem Leben in Isolation gezwungen sind und Opfer von Einsamkeit und Gewalt werden. Gleichzeitig sind sie, wenn sie arbeiten, oft überlastet und müssen zusätzlich alle Betreuungsaufgaben im Haushalt übernehmen. Da die Strategien, Maßnahmen und Instrumente zur Geschlechtergleichstellung Lösungsansätze für diese Probleme bieten, ist es von entscheidender Bedeutung, den gleichberechtigten Zugang von Migrantinnen zu diesen Instrumenten zu gewährleisten und sicherzustellen, dass sie nicht weniger gestärkt werden als einheimische Frauen. Es müssen auch systematischere Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsmaßnahmen entwickelt werden, damit Migranten und Flüchtlinge über ihre Rechte und Aufgaben Bescheid wissen und stärker auf den Schutz durch Verwaltungen und Behörden vertrauen, wobei gleichzeitig deren Schutzkapazitäten ausgebaut werden sollten.

    4.9.

    Die Geschlechtergleichstellung spielt nach Auffassung des EWSA im Bereich der Migration und Integration eine ebenso große Rolle wie in den übrigen Bereichen der europäischen Gesellschaft, da sie eine Reihe von Grundrechten (Toleranz, Gleichheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit usw.) umfasst, mit denen Flüchtlinge und andere Migranten, die einem völlig unterschiedlichen Kulturkreis und Umfeld entstammen, in kultureller Hinsicht oft nicht vertraut sind. Sie sollte daher durch ganzheitlich konzipierte Strategien, Modelle und Maßnahmen eine der wichtigsten Säulen für die Integration werden.

    4.10.

    Der EWSA weist darauf hin, dass die Einbeziehung zugewanderter Familien und Eltern in lokale und schulische Gemeinschaften in den frühen Phasen der Aufnahme beginnen sollte, um eine Marginalisierung und damit einhergehende Entfremdung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu vermeiden. Eine solche Unterstützung kann dem frühzeitigen Erwerb der jeweiligen Landessprache zugute kommen.

    4.11.

    Der EWSA fordert die Kommission auf, für eine bessere und effizientere Kommunikation und Koordinierung mit den Mitgliedstaaten, ihren nationalen, regionalen und lokalen Behörden sowie den Organisationen der Zivilgesellschaft zu sorgen, wenn es um die Entwicklung ganzheitlicher Integrationsmaßnahmen und die Veröffentlichung vergleichender Berichte über ihre Umsetzung sowie die aktive Förderung des Austauschs bewährter Methoden geht. Gleichzeitig ist es Aufgabe der EU-Institutionen, die europäischen Werte zu wahren und die geltenden Rechtsvorschriften in den Fällen durchzusetzen, in denen Mitgliedstaaten die Menschenrechtsnormen nicht einhalten, Migranten unmenschlich behandeln und/oder diskriminieren.

    4.12.

    Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Reihe von Maßnahmen und Instrumenten zur Unterstützung der Mitgliedstaaten, ihrer nationalen und lokalen Behörden sowie der Sozialpartner, nichtstaatlicher Organisationen und Einzelinitiativen bei der Reaktion auf die Ablehnung von Migranten und Migration im Allgemeinen sowie der Bekämpfung von gegen Migration gerichteten Desinformationskampagnen zu erarbeiten, indem der Nutzen und das Potenzial von Migranten für unsere Gesellschaften aufgezeigt werden.

    4.13.

    Der EWSA betont, dass die Erhebung angemessener und vergleichbarer Migrationsdaten auf europäischer, nationaler und insbesondere lokaler Ebene sichergestellt werden muss — darunter auch, aber nicht nur Daten, die nach Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Migrationsstatus, Beschäftigungsdauer, Lohnskala und Laufbahnentwicklung aufgeschlüsselt sind —, um eine angemessene faktengestützte Politikgestaltung zu gewährleisten.

    5.   Sprachunterricht

    5.1.

    Sprachunterricht sollte nach Auffassung des EWSA kein eigenständiges Ziel sein — vielmehr würde die Kombination von Sprachunterricht mit Kulturvermittlung und Engagement auf kommunaler und gesellschaftlicher Ebene einen erfolgreicheren Integrationsprozess gewährleisten.

    5.2.

    Leider verfolgen nur wenige Mitgliedstaaten einen bedarfsorientierten Ansatz beim Sprachunterricht, indem sie die entsprechenden Kurse allen gebietsansässigen Personen mit begrenzten Sprachkenntnissen zugänglich machen. Mehrere Mitgliedstaaten gewähren hingegen nur Personen, die humanitären Schutz genießen, Zugang zu solchen Kursen. Sprachlernprogramme sind selten mit Beschäftigungsaspekten verknüpft, und ein berufsspezifischer, am Arbeitsplatz bzw. auf höherem Niveau erteilter Sprachunterricht ist selten. In anderen Fällen müssen Migranten die Kurse im Voraus bezahlen, und die Kosten werden nur dann erstattet, wenn sie die Abschlussprüfungen bestanden haben. Darüber hinaus bestehen große Unterschiede nicht nur hinsichtlich des Ansatzes und der Qualität des Sprachunterrichts, sondern auch hinsichtlich des Engagements der Migranten selbst (17).

    5.3.

    Der EWSA hält daher gemeinsame EU-Leitlinien für den Sprachunterricht für wichtig, um einen einheitlichen und ganzheitlichen Ansatz zu gewährleisten, der nicht nur den unterschiedlichen Bedürfnissen und Niveaus der Lernenden, sondern auch den Qualifikationsanforderungen an die Lehrkräfte Rechnung trägt.

    5.4.

    Darüber hinaus ist der Zugang zu Sprachkursen für Frauen mit Betreuungsaufgaben aufgrund ihres Zeitplans und bestimmter Aspekte (Kosten/Veranstaltungsort) besonders schwierig (18). Es ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass insbesondere den Migrantinnen wegen der besonders großen Lücken im Bereich der Sprachbildung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, da der Zugang von Frauen zu allgemeiner Bildung in einigen Herkunftsländern eingeschränkt ist. Beispielsweise sollten Migrantinnen eine Kinderbetreuung in Anspruch nehmen können, während sie die Sprachkurse besuchen; und ihre Kinder könnten an Sprach- und Spielkursen teilnehmen, die sich sowohl für den Spracherwerb als auch für die Integration als äußerst wirksam erwiesen haben.

    5.5.

    Nach Ansicht des EWSA ist es auch Sache der Migrantinnen, für sich selbst und für ihre Familien und Kinder zu entscheiden, welche der Sprachlernstrategien ihren Lebenszielen am besten entsprechen. Da Migrantinnen möglicherweise die Wahl zwischen verschiedenen Anpassungsformen haben möchten, sollten Vorkehrungen getroffen werden, um ihren Ansichten Gehör zu schenken und maßgeschneiderte Kurse zu konzipieren und anzubieten. Sprachunterricht sollte unbedingt Orientierung, Informationen und Erläuterungen bezüglich der Ziele und Vorteile des Sprachunterrichts für das Leben der Migranten umfassen‚ um diese zu einer aktiveren und engagierteren Mitarbeit zu ermutigen.

    5.6.

    Nach Auffassung des EWSA sollte ferner geprüft werden, ob der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen für die Optimierung des Sprachunterrichts für Migranten und einen stärker maßgeschneiderten Ansatz genutzt werden kann, um so nicht nur den Organisationsprozess erleichtern, sondern auch einen klaren Erwartungshorizont für die Lernenden festlegen zu können.

    5.7.

    Der EWSA betont, dass Dolmetscher einen erheblichen Einfluss auf die einzelnen Migranten sowie die auf Integration abzielenden Dienste und die Ergebnisse der Integration haben. Die Qualifikation von Dolmetschern entspricht jedoch nicht unbedingt den Bedürfnissen der Migranten, wobei Frauen häufig benachteiligt werden. Es bedarf daher einer Abstimmung der Dolmetscherausbildung, die zu einem Zertifikat auf europäischer Ebene führen sollte. Es ist für eine Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen in der gesamten EU zu sorgen, die Studiengänge für Behördendolmetschen anbieten.

    5.8.

    Nach Ansicht des EWSA sind die Aspekte Sprachkenntnisse, Beschäftigung und Qualität dieser Beschäftigung miteinander verknüpft: Je besser die Sprachkenntnisse neu zugewanderter Personen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Zugang zu guten Arbeitsplätzen und Bildungsmöglichkeiten erhalten und sich besser in die Gesamtgesellschaft integrieren. Das Erlernen der Sprache der Aufnahmegesellschaft hat viele Vorteile: So erhalten Migranten nicht nur leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt — sie werden auch schneller in die Gemeinschaft aufgenommen und bekommen selbst das Gefühl, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Für einen erfolgreichen Sprachunterricht kommt es somit vor allem auf den Einsatz einer hochwertigen und zielführenden Methodik sowie auf eine zugängliche, nutzerfreundliche und bedarfsgerechte Ausgestaltung an. Aus den in der COVID-19-Krise gesammelten Erfahrungen lässt sich die Lehre ziehen, dass mehr in digitale Instrumente investiert werden muss, um Migranten den Zugang zu Online-Unterricht zu ermöglichen.

    Brüssel, den 29. Oktober 2020.

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  Weitere Informationen: https://ec.europa.eu/migrant-integration/feature/what-measures-are-in-place-to-ensure-the-long-term-integration-of-migrants-and-refugees-in-europe.

    (2)  Together in the EU — Promoting the participation of migrants and their descendants (2017), Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.

    (3)  Stellungnahme SOC/634 — Schutz unbegleiteter Minderjähriger in Europa, EWSA (Verabschiedung voraussichtlich auf der Plenartagung am 16.-18. September 2020).

    (4)  Links between migration and discrimination — A legal analysis of the situation in EU Member States [Verbindungen zwischen Migration und Diskriminierung — eine rechtliche Untersuchung der Situation in EU-Mitgliedstaaten], Europäisches Netz von Rechtsexperten im Bereich der Gleichstellung von Frauen und Männern, Europäische Kommission, GD Justiz und Verbraucher, 2016.

    (5)  Being Black in the EU — Second European Union Minorities and Discrimination Survey [Schwarz sein in der EU — zweite Untersuchung zu Minderheiten und Diskriminierung in der EU], Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2018.

    (6)  Die Europäische Website für Integration verfolgt kontinuierlich die Auswirkungen von COVID-19 auf Migrantengemeinschaften in einer Reihe wichtiger Integrationsbereiche in der gesamten EU.

    (7)  Manifesto on Digital Inclusion, European Network of Migrant Women, 16 June 2020 [Manifest zur digitalen Teilhabe, European Network of Migrant Women, 16. Juni 2020].

    (8)  ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 3.

    (9)  Handbook for Legislation on Violence against Women [Handbuch für die Gesetzgebung im Bereich Gewalt gegen Frauen], DEW/DESA, Vereinte Nationen, 2009.

    (10)  Harnessing Knowledge on the Migration of Highly Skilled Women, International Organization for Migration [Nutzung des Wissens über die Migration hochqualifizierter Frauen], Internationale Organisation für Migration, 2014.

    (11)  ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 9.

    (12)  The New EU Migration Pact in Progress: Recalling Legal Obligations, European Network of Migrant Women, 2020 [Der neue EU-Migrationspakt — Stand der Arbeiten: Erinnerung an rechtliche Verpflichtungen, European Network of Migrant Women, 2020].

    (13)  Europäische Webseite für Integration, Integration von Migrantinnen, 12. November 2018: https://ec.europa.eu/migrant-integration/feature/integration-of-migrant-women?lang=de.

    (14)  Ziffer 4.16 der Stellungnahme, ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 1.

    (15)  Out of sight: migrant women exploited in domestic work [Aus dem Blickfeld: Ausbeutung von Migrantinnen in der Hausarbeit], Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2018.

    (16)  Internationales Migrationsdokument Nr. 115, Internationale Arbeitsorganisation, 2013.

    (17)  https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/201915_early_language_support_wider_dissemination.pdf.

    (18)  Stellungnahme ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 9.


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