Rechtssache C‑360/09

Pfleiderer AG

gegen

Bundeskartellamt

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Bonn)

„Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms vorgelegte Unterlagen und Angaben – Mögliche nachteilige Auswirkungen der Einsichtnahme Dritter in solche Unterlagen auf die Wirksamkeit und das ordnungsgemäße Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen den Behörden des Europäischen Wettbewerbsnetzes“

Leitsätze des Urteils

1.        Wettbewerb – Unionsregeln – Mitteilungen der Kommission über die Zusammenarbeit und über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen – Im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes erarbeitetes Kronzeugenregelungsmodell

(Art. 101 AEUV und 102 AEUV; Bekanntgabe 2004/C 101/03 und Mitteilung 2006/C 298/11 der Kommission)

2.        Wettbewerb – Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

1.        Die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden und die Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen sind für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich. Darüber hinaus bezieht sich die Mitteilung nur auf Kronzeugenprogramme, die von der Kommission selbst durchgeführt werden. Auch das im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes erarbeitete Kronzeugenregelungsmodell zur Vereinheitlichung bestimmter Aspekte nationaler Kornzeugenregelungen hat keine verbindliche Wirkung gegenüber den Gerichten der Mitgliedstaaten.

(vgl. Randnrn. 21-22)

2.        Die kartellrechtlichen Bestimmungen der Union, insbesondere die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist.

Auch wenn die Leitlinien der Kommission Auswirkungen auf die Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden haben können, ist es nämlich in Ermangelung einer verbindlichen unionsrechtlichen Regelung in diesem Bereich Sache der Mitgliedstaaten, die nationalen Vorschriften über den Zugang von Kartellgeschädigten zu Dokumenten, die Kronzeugenverfahren betreffen, zu erlassen und anzuwenden. Jedoch ist bei der Prüfung eines solchen Antrags auf Zugang, der von einer Person gestellt wird, die Schadensersatz von einer ein Kronzeugenprogramm in Anspruch nehmenden Person fordert, darauf zu achten, dass die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht weniger günstig als die für ähnliche innerstaatliche Rechtsbehelfe geltenden und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Erlangung eines Schadensersatzes praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, und zwischen den Interessen, die die Übermittlung der Informationen rechtfertigen, und dem Schutz dieser vom Kronzeugen freiwillig vorgelegten Informationen abzuwägen. Eine solche Abwägung können die nationalen Gerichte im Rahmen des nationalen Rechts nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte der Rechtssache vornehmen.

(vgl. Randnrn. 23, 30-32 und Tenor)








URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

14. Juni 2011(*)

„Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms vorgelegte Unterlagen und Angaben – Mögliche nachteilige Auswirkungen der Einsichtnahme Dritter in solche Unterlagen auf die Wirksamkeit und das ordnungsgemäße Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen den Behörden des Europäischen Wettbewerbsnetzes“

In der Rechtssache C‑360/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Amtsgericht Bonn (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2009, in dem Verfahren

Pfleiderer AG

gegen

Bundeskartellamt

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.‑C. Bonichot sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen und T. von Danwitz,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Pfleiderer AG, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Kapp, M. Schrödl und M. Kuhlenkamp,

–        der Munksjö Paper GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt H. Meyer-Lindemann,

–        der Arjo Wiggins Deutschland GmbH, vertreten durch die Rechtsanwältinnen R. Polley und S. Heinz sowie O. Ban als Bevollmächtigte,

–        der Felix Schoeller Holding GmbH & Co. KG und Technocell Dekor GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Mäger und D. Zimmer,

–        der Interprint GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Veltins,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux als Bevollmächtigten,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und T. Müller als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez Cárcamo als Bevollmächtigten,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von F. Arena, avvocato dello Stato,

–        der zyprischen Regierung, vertreten durch D. Kallí als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch Y. de Vries als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, P. Costa de Oliveira und A. Antoniadis als Bevollmächtigte,

–        der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis und M. Schneider als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Art. 10 Abs. 2 EG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Pfleiderer AG (im Folgenden: Pfleiderer) und dem Bundeskartellamt bezüglich eines Antrags auf umfassende Einsicht in die Akten eines Bußgeldverfahrens wegen eines Kartells im Bereich Dekorpapier. Pfleiderer, die Kundin der mit den Geldbußen belegten Unternehmen ist, hat diesen Antrag auf Akteneinsicht gestellt, der sich auch auf Dokumente des Kronzeugenverfahrens bezieht, um eine zivilrechtliche Schadensersatzklage vorzubereiten.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der erste Satz des ersten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:

„Zur Schaffung eines Systems, das gewährleistet, dass der Wettbewerb im Gemeinsamen Markt nicht verfälscht wird, muss für eine wirksame und einheitliche Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] in der Gemeinschaft gesorgt werden.“

4        Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„(1)      Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft eng zusammen.

(2)      Die Kommission übermittelt den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eine Kopie der wichtigsten Schriftstücke, die sie zur Anwendung der Artikel 7, 8, 9, 10 und 29 Absatz 1 zusammengetragen hat. Die Kommission übermittelt der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates auf Ersuchen eine Kopie anderer bestehender Unterlagen, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind.

(3)      Werden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] tätig, so unterrichten sie hierüber schriftlich die Kommission vor Beginn oder unverzüglich nach Einleitung der ersten förmlichen Ermittlungshandlung. Diese Unterrichtung kann auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden.

(4)      Spätestens 30 Tage vor Erlass einer Entscheidung, mit der die Abstellung einer Zuwiderhandlung angeordnet wird, Verpflichtungszusagen angenommen werden oder der Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung entzogen wird, unterrichten die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten die Kommission. Zu diesem Zweck übermitteln sie der Kommission eine zusammenfassende Darstellung des Falls, die in Aussicht genommene Entscheidung oder, soweit diese Unterlage noch nicht vorliegt, jede sonstige Unterlage, der die geplante Vorgehensweise zu entnehmen ist. Diese Informationen können auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Auf Ersuchen der Kommission stellt die handelnde Wettbewerbsbehörde der Kommission sonstige ihr vorliegende Unterlagen zur Verfügung, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind. Die der Kommission übermittelten Informationen können den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden können zudem Informationen untereinander austauschen, die zur Beurteilung eines von ihnen nach Artikel 81 [EG] und 82 [EG] behandelten Falls erforderlich sind.

(5)      Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten können die Kommission zu jedem Fall, in dem es um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts geht, konsultieren.

…“

5        Der den Informationsaustausch regelnde Art. 12 der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:

„(1)      Für die Zwecke der Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] sind die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten befugt, einander tatsächliche oder rechtliche Umstände einschließlich vertraulicher Angaben mitzuteilen und diese Informationen als Beweismittel zu verwenden.

(2)      Die ausgetauschten Informationen werden nur zum Zweck der Anwendung von Artikel 81 [EG] oder 82 [EG] sowie in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand als Beweismittel verwendet, für den sie von der übermittelnden Behörde erhoben wurden. Wird das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht jedoch im gleichen Fall und parallel zum gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht angewandt und führt es nicht zu anderen Ergebnissen, so können nach diesem Artikel ausgetauschte Informationen auch für die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts verwendet werden.

(3)      Nach Absatz 1 ausgetauschte Informationen können nur als Beweismittel verwendet werden, um Sanktionen gegen natürliche Personen zu verhängen, wenn

–        das Recht der übermittelnden Behörde ähnlich geartete Sanktionen in Bezug auf Verstöße gegen Artikel 81 [EG] oder 82 [EG] vorsieht oder, falls dies nicht der Fall ist, wenn

–        die Informationen in einer Weise erhoben worden sind, die hinsichtlich der Wahrung der Verteidigungsrechte natürlicher Personen das gleiche Schutzniveau wie nach dem für die empfangende Behörde geltenden innerstaatlichen Recht gewährleistet. Jedoch dürfen in diesem Falle die ausgetauschten Informationen von der empfangenden Behörde nicht verwendet werden, um Haftstrafen zu verhängen.“

6        Art. 35 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten bestimmen die für die Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] zuständige(n) Wettbewerbsbehörde(n) so, dass die Bestimmungen dieser Verordnung wirksam angewandt werden. Sie ergreifen vor dem 1. Mai 2004 die notwendigen Maßnahmen, um diesen Behörden die Befugnis zur Anwendung der genannten Artikel zu übertragen. Zu den bestimmten Behörden können auch Gerichte gehören.“

 Nationales Recht

7        In § 406e der Strafprozessordnung (StPO) heißt es:

„(1)      Für den Verletzten kann ein Rechtsanwalt die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. In den in § 395 genannten Fällen bedarf es der Darlegung eines berechtigten Interesses nicht.

(2)      Die Einsicht in die Akten ist zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Sie kann versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint oder durch sie das Verfahren erheblich verzögert würde.

(3)      Auf Antrag können dem Rechtsanwalt, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke in seine Geschäftsräume oder seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

(4)      Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach Satz 1 kann gerichtliche Entscheidung nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2 bis 4 beantragt werden. … Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.

(5)      Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 können dem Verletzten Auskünfte und Abschriften aus den Akten erteilt werden; …

…“

8        § 46 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) in der Fassung vom 19. Februar 1987 (BGBl. 1987 I S. 602), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBl. 2009 I S. 2353, im Folgenden: OWiG), bestimmt:

„(1)      Für das Bußgeldverfahren gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, sinngemäß die Vorschriften der allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Jugendgerichtsgesetzes.

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9        Am 21. Januar 2008 verhängte das Bundeskartellamt nach Art. 81 EG wegen Preis‑ und Kapazitätsstilllegungsabsprachen Geldbußen in Höhe von insgesamt 62 Mio. Euro gegen drei europäische Hersteller von Dekorpapieren und fünf natürliche Personen als persönlich Verantwortliche. Die betroffenen Unternehmen legten keine Rechtsmittel ein, so dass die Bußgeldbescheide rechtskräftig wurden.

10      Nach Abschluss dieses Verfahrens beantragte Pfleiderer am 26. Februar 2008 beim Bundeskartellamt, zur Vorbereitung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen umfassend Einsicht in die das Bußgeldverfahren im Bereich Dekorpapier betreffenden Akten zu erhalten. Pfleiderer ist Abnehmer von Dekorpapieren, und zwar von Spezialpapieren zur Oberflächenbehandlung von Holzwerkstoffen, und gehört zu den drei weltweit führenden Herstellern von Holzwerkstoffen, Oberflächenveredelung und Laminatfußböden. Das Unternehmen gab an, in den letzten drei Jahren Waren im Wert von über 60 Mio. Euro von den mit Geldbußen belegten Dekorpapierherstellern bezogen zu haben.

11      Mit Schreiben vom 8. Mai 2008 antwortete das Bundeskartellamt auf das Akteneinsichtsgesuch mit der Übermittlung der drei Bußgeldbescheide in anonymisierter Form und eines Verzeichnisses der bei der Durchsuchung festgestellten Beweismittel.

12      Pfleiderer beantragte daraufhin in einem zweiten Schreiben beim Bundeskartellamt ausdrücklich Akteneinsicht in sämtliche Unterlagen einschließlich der Bonusanträge, der freiwillig übermittelten Unterlagen der Kronzeugen und der sichergestellten Beweismittel. Am 14. Oktober 2008 wies das Bundeskartellamt diesen Antrag teilweise zurück und begrenzte die Akteneinsicht auf eine um Geschäftsgeheimnisse, interne Unterlagen und Unterlagen im Sinne von Rz. 22 der Bekanntmachung des Bundeskartellamts über die Bonusregelung bereinigte Fassung der Verfahrensakte; es gewährte auch keine Einsicht in die sichergestellten Beweismittel.

13      Pfleiderer stellte daraufhin beim Amtsgericht Bonn einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 Abs. 1 OWiG gegen diese teilweise ablehnende Entscheidung.

14      Das Amtsgericht Bonn erließ am 3. Februar 2009 einen Beschluss, mit dem es anordnete, dass das Bundeskartellamt Pfleiderer gemäß § 406e Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG Akteneinsicht durch ihren bevollmächtigten Rechtsanwalt zu gewähren habe. Nach Ansicht des Amtsgerichts Bonn ist Pfleiderer „Verletzte“ im Sinne dieser Bestimmungen, da davon auszugehen sei, dass das Unternehmen wegen der Kartellabsprachen überhöhte Preise für die von den Kartellbeteiligten bezogenen Waren bezahlt habe. Außerdem habe Pfleiderer ein „berechtigtes Interesse“, da die Akteneinsicht der Vorbereitung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen dienen solle.

15      Das Amtsgericht Bonn ordnete daher an, Einsicht in die Aktenbestandteile zu gewähren, die der Bonusantragsteller freiwillig der deutschen Wettbewerbsbehörde nach Rz. 22 der Bekanntmachung des Bundeskartellamts über die Bonusregelung zur Verfügung gestellt habe, sowie in die Asservate und Beweismittel. In Bezug auf Geschäftsgeheimnisse und interne Unterlagen, d. h. die Beratungsvermerke des Bundeskartellamts und die Korrespondenz im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes (European Competition Network, im Folgenden: ECN), wurde das Akteneinsichtsrecht begrenzt. Nach Ansicht des Amtsgerichts ist der Umfang dieses Rechts durch Abwägung zu bestimmen und beschränkt sich auf die zur Substantiierung des Schadensersatzanspruchs benötigten Aktenbestandteile.

16      Zum einen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das Amtsgericht Bonn allerdings den Aufschub der Vollstreckung dieses Beschlusses angeordnet hat.

17      Zum anderen ist dem Vorabentscheidungsersuchen auch zu entnehmen, dass das Amtsgericht Bonn eine dem Beschluss vom 3. Februar 2009 entsprechende Entscheidung erlassen möchte. Das Gericht führt jedoch aus, dass dieser Entscheidung Bestimmungen des Unionsrechts entgegenstehen könnten, insbesondere Art. 10 Abs. 1 und 2 EG sowie die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003, die eine enge Zusammenarbeit und einen gegenseitigen Austausch von Informationen zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten in den Verfahren zur Durchführung der Art. 81 EG und 82 EG vorsähen. Die Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit dieser Bestimmungen, die für das ECN und den dezentralen Vollzug des Wettbewerbsrechts von grundlegender Bedeutung seien, könnten es erfordern, bei kartellrechtlichen Bußgeldverfahren Dritten die Akteneinsicht in Bonusanträge und von Kronzeugen freiwillig herausgegebene Unterlagen zu versagen.

18      Da das Amtsgericht Bonn eine Auslegung des Unionsrechts für erforderlich hält, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die kartellrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts – insbesondere die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Art. 10 Abs. 2 EG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG – dahin gehend auszulegen, dass Geschädigte eines Kartells zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche keine Akteneinsicht in Bonusanträge und von Bonusantragstellern in diesem Zusammenhang freiwillig herausgegebene Informationen und Unterlagen erhalten dürfen, die eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde nach Maßgabe eines nationalen Bonusprogramms im Rahmen eines (auch) auf die Durchsetzung von Art. 81 EG gerichteten Bußgeldverfahrens erhalten hat?

 Zur Vorlagefrage

19      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Art. 101 AEUV und 102 AEUV anzuwenden, wenn der Sachverhalt unter das Unionsrecht fällt, und ihre wirksame Anwendung im öffentlichen Interesse sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2010, VEBIC, C‑439/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 56)

20      Es ist außerdem festzustellen, dass weder die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags noch die Verordnung Nr. 1/2003 eine gemeinsame Kronzeugenregelung oder gemeinsame Vorschriften über den Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens, die in Anwendung einer nationalen Kronzeugenregelung freiwillig einer nationalen Wettbewerbsbehörde übermittelt wurden, vorsehen.

21      Zu den Mitteilungen der Kommission – die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (2004/C 101/03, ABl. 2004, C 101, S. 43) und die Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (2006/C 298/11, ABl. 2006, C 298, S. 17) – ist festzustellen, dass sie für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich sind. Darüber hinaus bezieht sich die zweite Mitteilung nur auf Kronzeugenprogramme, die von der Kommission selbst durchgeführt werden.

22      Im Rahmen des ECN war 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell zur Vereinheitlichung bestimmter Aspekte nationaler Kornzeugenregelungen erarbeitet und angenommen worden. Auch dieses Regelungsmodell hat jedoch keine verbindliche Wirkung gegenüber den Gerichten der Mitgliedstaaten.

23      Daher ist es, auch wenn die Leitlinien der Kommission Auswirkungen auf die Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden haben können, in Ermangelung einer verbindlichen unionsrechtlichen Regelung in diesem Bereich Sache der Mitgliedstaaten, die nationalen Vorschriften über den Zugang von Kartellgeschädigten zu Dokumenten, die Kronzeugenverfahren betreffen, zu erlassen und anzuwenden.

24      Die Mitgliedstaaten müssen jedoch, auch wenn Erlass und Anwendung dieser Vorschriften in ihrer Zuständigkeit liegen, bei deren Ausübung das Unionsrecht beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2009, Kommission/Spanien, C‑154/08, Slg. 2009, I–187, Randnr. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere dürfen sie die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 1998, Oelmühle und Schmidt Söhne, C‑298/96, Slg. 1998, I‑4767, Randnrn. 23 und 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und müssen, speziell im Bereich des Wettbewerbsrechts, dafür sorgen, dass die Vorschriften, die sie erlassen oder anwenden, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil VEBIC, Randnr. 57).

25      Kronzeugenprogramme sind jedoch wie die Kommission und die Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, ausgeführt haben, nützliche Instrumente, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht effizient aufzudecken und zu beenden, und dienen damit der wirksamen Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV.

26      Die Wirksamkeit dieser Programme könnte jedoch durch die Übermittlung von Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens an Personen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen, beeinträchtigt werden, auch wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden dem Kronzeugen die Geldbuße, die sie hätten verhängen können, ganz oder teilweise erlassen.

27      Es darf nämlich angenommen werden, dass sich ein an einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Beteiligter dadurch, dass diese Dokumente übermittelt werden könnten, davon abhalten lässt, die mit einem solchen Kronzeugenprogramm verbundene Möglichkeit zu nutzen, insbesondere da die von ihm freiwillig vorgelegten Informationen nach Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden ausgetauscht werden können.

28      Gleichwohl entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass jedermann Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch ein Verhalten entstanden ist, das den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann (vgl. Urteile vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, Slg. 2001, I‑6297, Randnrn. 24 und 26, und vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, Slg. 2006, I‑6619, Randnrn. 59 und 61).

29      Ein solcher Schadensersatzanspruch erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Aus dieser Sicht können Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Europäischen Union beitragen (vgl. Urteil Courage und Crehan, Randnr. 27).

30      Bei der Prüfung eines Antrags auf Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenprogramms, der von einer Person gestellt wird, die Schadensersatz von einer dieses Programm in Anspruch nehmenden Person fordert, ist darauf zu achten, dass die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht weniger günstig als die für ähnliche innerstaatliche Rechtsbehelfe geltenden und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Erlangung eines Schadensersatzes praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil Courage und Crehan, Randnr. 29), und zwischen den Interessen, die die Übermittlung der Informationen rechtfertigen, und dem Schutz dieser vom Kronzeugen freiwillig vorgelegten Informationen abzuwägen.

31      Eine solche Abwägung können die nationalen Gerichte im Rahmen des nationalen Rechts nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte der Rechtssache vornehmen.

32      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die kartellrechtlichen Bestimmungen der Union, insbesondere die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist.

 Kosten

33      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die kartellrechtlichen Bestimmungen der Union, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.