Rechtssache C‑570/08

Symvoulio Apochetefseon Lefkosias

gegen

Anatheoritiki Archi Prosforon

(Vorabentscheidungsersuchen des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias [Zypern])

„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2 Abs. 8 – Für Nachprüfungsverfahren zuständige Instanz, die kein Gericht ist – Aufhebung der Zuschlagsentscheidung des öffentlichen Auftraggebers – Möglichkeit des öffentlichen Auftraggebers, diese Aufhebung vor einer gerichtlichen Instanz anzufechten“

Leitsätze des Urteils

Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Nachprüfungsverfahren vorzusehen – Zugang zu den Nachprüfungsverfahren

(Richtlinie 89/665 des Rates, Art. 2 Abs. 8)

Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung schafft, auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, vorzusehen. Diese Bestimmung hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, in ihren jeweiligen Rechtsordnungen gegebenenfalls einen derartigen Rechtsschutz zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorzusehen.

Erstens werden nach den Erwägungsgründen 4 und 7 der Richtlinie 89/665 ausdrücklich die „Unternehmen der Gemeinschaft“ als die Akteure bei der Einlegung von Rechtsbehelfen in Bezug auf Verfahren der Vergabe öffentlicher Aufträge bezeichnet. Zweitens legt Art. 1 Abs. 3 dieser Richtlinie durch die Formulierung, dass Nachprüfungsverfahren zumindest „jedem zur Verfügung [stehen], der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen … Auftrag hat“, den Kreis derjenigen Personen fest, denen auf der Grundlage der Richtlinie zwingend ein Recht auf Nachprüfung eröffnet sein muss. Drittens ergibt sich aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass der Unionsgesetzgeber sich der Möglichkeit bewusst ist, dass bestimmte Verstöße in Fällen, in denen die Unternehmen keine Rechtsbehelfe gegen rechtswidrige oder fehlerhafte Entscheidungen einlegen, nicht berichtigt werden könnten, denn solche Entscheidungen könnten auch von für Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen, die keine Gerichte sind, erlassen werden. Um hier Abhilfe zu schaffen, sieht Art. 3 der Richtlinie 89/665 ein allgemeines Interventionsrecht der Kommission nach dem in dieser Bestimmung geregelten Verfahren vor.

Im Übrigen ist unter Berücksichtigung der Verfahrensautonomie, über die die Mitgliedstaaten verfügen, anzunehmen, dass Letztere nicht daran gehindert sind, den Kreis der Personen, denen Klageverfahren im Sinne der erwähnten Bestimmung offenstehen, auf öffentliche Auftraggeber zu erstrecken, sofern Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber durch Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, aufgehoben werden.

(vgl. Randnrn. 24-26, 36, 38 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

21. Oktober 2010(*)

„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2 Abs. 8 – Für Nachprüfungsverfahren zuständige Instanz, die kein Gericht ist – Aufhebung der Zuschlagsentscheidung des öffentlichen Auftraggebers – Möglichkeit für den öffentlichen Auftraggeber, diese Aufhebung vor einer gerichtlichen Instanz anzufechten“

In der Rechtssache C‑570/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias (Zypern) mit Entscheidung vom 27. November 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Dezember 2008, in dem Verfahren

Symvoulio Apochetefseon Lefkosias

gegen

Anatheoritiki Archi Prosforon

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und J. Malenovský,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

auf das schriftliche Verfahren und aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. März 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Symvoulio Apochetefseon Lefkosias, vertreten durch A. Aimilianidis und P. Christofidis, dikigoroi,

–        der Anatheoritiki Archi Prosforon, vertreten durch K. Lykourgos, A. Pantazi-Lamprou und M. Theoklitou als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Konstantinidis und I. Chatzigiannis als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juni 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Symvoulio Apochetefseon Lefkosias (Stadtentwässerungsamt Lefkosia, im Folgenden: Symvoulio), einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, die die Eigenschaft eines öffentlichen Auftraggebers hat, und der Anatheoritiki Archi Prosforon (Nachprüfungsbehörde für öffentliche Aufträge), einer Verwaltungsbehörde, deren Aufgabe in der Prüfung von Anträgen auf Nachprüfung der Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber über Angebote besteht, wegen des Rechts des Symvoulio, eine von der Anatheoritiki Archi Prosforon getroffene Entscheidung vor einer gerichtlichen Instanz anzufechten.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/665 wird festgestellt, dass die Richtlinien über öffentliche Aufträge keine spezifischen Vorschriften enthalten, mit denen sich ihre tatsächliche Anwendung sicherstellen lässt.

4        Der dritte Erwägungsgrund sieht vor:

„Die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens für den gemeinschaftsweiten Wettbewerb setzt eine beträchtliche Verstärkung der Garantien im Bereich der Transparenz und der Nichtdiskriminierung voraus; damit diese Öffnung konkret umgesetzt werden kann, müssen, für den Fall von Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die in Umsetzung dieses Rechts ergangen sind, Möglichkeiten einer wirksamen und raschen Nachprüfung bestehen.“

5        Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:

„Der Umstand, dass in einigen Mitgliedstaaten keine wirksamen oder nur unzulängliche Nachprüfungsverfahren bestehen, hält die Unternehmen der Gemeinschaft davon ab, sich um Aufträge in dem Staat des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers zu bewerben. Deshalb müssen die betreffenden Mitgliedstaaten Abhilfe schaffen.“

6        Der siebte Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

„Wenn die Unternehmen selbst kein Nachprüfungsverfahren anstrengen, können bestimmte Verstöße nur beseitigt werden, wenn ein eigenes System hierfür geschaffen wird.“

7        Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 89/665 stellt klar:

„Die Kommission muss daher, wenn ihres Erachtens ein klarer und eindeutiger Verstoß in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags begangen wurde, bei der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats und der Vergabebehörde mit dem Ziel tätig werden können, dass einbehaupteter Verstoß umgehend behoben wird.“

8        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG … fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von Artikel 2 Absatz 7, auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jedem zur Verfügung steht, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Liefer- oder Bauauftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht. Die Mitgliedstaaten können insbesondere verlangen, dass derjenige, der ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten beabsichtigt, den öffentlichen Auftraggeber zuvor von dem behaupteten Rechtsverstoß und von der beabsichtigten Nachprüfung unterrichten muss.“

9        Art. 2 Abs. 7 und 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 89/665 lautet:

„(7)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen wirksam durchgesetzt werden können.

(8)      Eine für Nachprüfungsverfahren zuständige Instanz, die kein Gericht ist, muss ihre Entscheidung stets schriftlich begründen. Ferner ist in diesem Falle sicherzustellen, dass eine behauptete rechtswidrige Maßnahme der zuständigen Grundinstanz oder ein behaupteter Verstoß bei der Ausübung der ihr übertragenen Befugnisse zum Gegenstand einer Klage oder einer Nachprüfung bei einer anderen gegenüber den öffentlichen Auftraggebern und der Grundinstanz unabhängigen Instanz, die ein Gericht im Sinne des Artikels [267 AEUV] ist, gemacht werden können.“

10      Nach Art. 3 der Richtlinie hat die Kommission die Befugnis, tätig zu werden, wenn sie vor Abschluss eines Vertrags zu der Auffassung gelangt, dass bei einem Vergabeverfahren ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen die einschlägigen Unionsvorschriften vorliegt.

 Nationales Recht

11      Art. 146 Abs. 1 der zyprischen Verfassung (im Folgenden: Verfassung) verleiht dem Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias (Oberster Gerichtshof der Republik Zypern) die ausschließliche Zuständigkeit für die gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen der Verwaltungsbehörden.

12      Art. 146 Abs. 2 der Verfassung bestimmt:

„Die Klage kann von jedermann erhoben werden, dessen berechtigte Interessen, die er als Person oder als Angehöriger einer Gemeinschaft hat, durch eine solche Entscheidung, Handlung oder Unterlassung unmittelbar verletzt werden.“

13      Das Gesetz 101 (I)/2003 über die Vergabe von Aufträgen (Lieferungen, Bauarbeiten und Dienstleistungen) soll die zyprischen Rechtsvorschriften an das einschlägige Unionsrecht einschließlich der Richtlinie 89/665 anpassen. Art. 60 dieses Gesetzes in seiner durch das Gesetz 181 (I)/2004 geänderten Fassung bestimmt:

„Hält ein Betroffener die Entscheidung der Anatheoritiki Archi Prosforon für rechtswidrig, kann er gemäß Art. 146 der Verfassung Klage beim Anotato Dikastirio [tis Kypriakis Dimokratias] erheben. Auch der öffentliche Auftraggeber kann eine Klage beim Anotato Dikastirio erheben, wenn die Entscheidung der Anatheoritiki Archi Prosforon aufgrund geeigneter Nachweise rechtswidrig erscheint.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14      Der Symvoulio ist als öffentlicher Auftraggeber für die Vergabe von Aufträgen im Sinne des Gesetzes 101 (I)/2003 tätig.

15      Die Anatheoritiki Archi Prosforon wurde im Rahmen der Anpassung des zyprischen Rechts an das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens und insbesondere an die Richtlinie 89/665 geschaffen. Sie ist also eine für Nachprüfungsverfahren zuständige Instanz, die kein Gericht ist, im Sinne des Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 und übt ihre Befugnisse auf der Grundlage der Vorschriften des genannten Gesetzes aus.

16      Auf den von einem Unternehmen eingelegten Nachprüfungsantrag hob die Anatheoritiki Archi Prosforon am 14. Februar 2006 die Entscheidung auf, mit der der Symvoulio dem von einem konkurrierenden Unternehmen eingereichten Angebot den Zuschlag erteilt hatte. Mit am 31. März 2006 bei der zuständigen Kammer des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias erhobener Klage beantragte der Symvoulio die Aufhebung der genannten Entscheidung der Anatheoritiki Archi Prosforon.

17      Während dieses Verfahrens erließ das Plenum des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias am 17. Dezember 2007 im Rahmen einer anderen Rechtssache im Bereich des öffentlichen Auftragswesens ein Urteil, mit dem festgestellt wurde, dass Art. 146 der Verfassung öffentlichen Auftraggebern kein rechtliches Interesse an einer Klageerhebung gegen eine Aufhebungsentscheidung der Anatheoritiki Archi Prosforon zuerkenne und dass Art. 60 des Gesetzes 101 (I)/2003 nicht anzuwenden sei.

18      Diese Auffassung des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias, die nunmehr ständige Rechtsprechung ist, beruht auf der Erwägung, dass die Entscheidung der Anatheoritiki Archi Prosforon keine von dem Verfahren, in das der öffentliche Auftraggeber selbst eingebunden sei, unabhängige Verwaltungsentscheidung sei. Diese Entscheidung betreffe also kein Interesse des öffentlichen Auftraggebers, sondern das Interesse an einem rechtmäßigen Ablauf der allgemeinen Verfahren betreffend öffentliche Aufträge. Der öffentlicher Auftraggeber und die Anatheoritiki Archi Prosforon seien hinsichtlich des fraglichen Verfahrens Teile ein und desselben Verwaltungssystems mit der Folge, dass der allgemeine Grundsatz Anwendung finde, dass sich ein Verwaltungsorgan gegenüber einem anderen Organ derselben Verwaltung nicht auf ein berechtigtes Interesse berufen und einen Rechtsstreit mit ihm führen könne.

19      Die vom Symvoulio im Ausgangsverfahren angerufene Kammer des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias stellt fest, dass die vorerwähnte Auffassung des Plenums dieses Gerichts allein auf der Grundlage von Art. 146 der Verfassung ergangen sei, ohne dass sich die Frage der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts gestellt habe.

20      Die Kammer weist darauf hin, dass Art. 60 des Gesetzes 101 (I)/2003, der die Umsetzung des Unionsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens in nationales Recht sicherstelle, unabhängig von der Auslegung von Art. 146 der Verfassung Anwendung finde, der folglich unionsrechtskonform ausgelegt werden müsse. Da eine Auslegung von Art. 2 Abs. 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 89/665 zur Beantwortung der Frage, die sich im Rahmen des Ausgangsverfahrens stelle, noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs gewesen sei, sei es zur Wahrung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts unabweislich, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

21      Die Kammer hebt auch hervor, dass sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs durch die erwähnte Entscheidung des Plenums des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias nicht daran gehindert sei, die Erforderlichkeit einer Vorlage an den Gerichtshof nach ihrem Ermessen zu beurteilen (Urteil vom 16. Januar 1974, Rheinmühlen‑Düsseldorf, 166/73, Slg. 1974, Randnr. 4).

22      Aufgrund dieser Erwägungen hat die mit dem Ausgangsverfahren befasste Kammer des Anotato Dikastirio tis Kypriakis Dimokratias das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Erkennt Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 den öffentlichen Auftraggebern ein Recht auf gerichtliche Nachprüfung von Aufhebungsentscheidungen zu, die von für Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen getroffen wurden, die keine Gerichte sind?

 Zur Vorlagefrage

23      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen ist, dass er für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung schafft, gegen Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, einen gerichtlichen Rechtsweg auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorzusehen.

24      Im Licht zunächst einer grammatikalischen Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 89/665 ist zur Beantwortung dieser Frage erstens festzustellen, dass in den Erwägungsgründen 4 und 7 dieser Richtlinie ausdrücklich die „Unternehmen der Gemeinschaft“ als die Akteure bei der Einlegung von Rechtsbehelfen in Bezug auf Verfahren der Vergabe öffentlicher Aufträge bezeichnet werden.

25      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 durch die Formulierung, dass Nachprüfungsverfahren zumindest „jedem zur Verfügung [stehen], der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen … Auftrag hat“, den Kreis derjenigen Personen festlegt, denen auf der Grundlage der Richtlinie zwingend ein Recht auf Nachprüfung eröffnet sein muss.

26      Drittens ist zur Stützung der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführten Erwägungen hervorzuheben, dass, wie sich aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/665 ergibt, der Unionsgesetzgeber sich der Möglichkeit bewusst war, dass bestimmte Verstöße in Fällen, in denen die Unternehmen keine Rechtsbehelfe gegen rechtswidrige oder fehlerhafte Entscheidungen einlegen, nicht berichtigt werden könnten, denn solche Entscheidungen könnten auch von für Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen, die keine Gerichte sind, erlassen werden. Um hier Abhilfe zu schaffen, sieht Art. 3 der Richtlinie 89/665 ein allgemeines Interventionsrecht der Kommission nach dem in dieser Bestimmung geregelten Verfahren vor.

27      Somit enthält der Wortlaut der Richtlinie 89/665 keinen Anhaltspunkt, der zu der Schlussfolgerung führen könnte, der Unionsgesetzgeber habe auch die öffentlichen Auftraggeber als Akteure auf dem Gebiet der Einlegung von Rechtsbehelfen im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge ansehen wollen. Art. 2 Abs. 8 dieser Richtlinie stellt daher ein den Mitgliedstaaten auferlegtes spezifisches Erfordernis dar und enthält bestimmte Garantien, wenn die für die Nachprüfungsverfahren zuständigen Grundinstanzen keine Gerichte sind; er ändert nicht den Kreis derjenigen Personen, denen nach dieser Richtlinie ein Recht auf Nachprüfung eröffnet ist.

28      Diese Schlussfolgerung wird durch das Ziel der Richtlinie 89/665 gestützt.

29      Die Erwägungsgründe 1 und 3 dieser Richtlinie nennen nämlich das bei deren Erlass verfolgte Ziel im Zusammenhang mit dem Ziel, das die Richtlinien verfolgen, die materielle Bestimmungen im Bereich des öffentlichen Auftragswesens enthalten. Da das Ziel der letztgenannten Richtlinien die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens für einen transparenten und nicht diskriminierenden Wettbewerb innerhalb der Union ist und diese Richtlinien keine spezifischen Vorschriften enthalten, die ihre tatsächliche Anwendung ermöglichen, erfüllt die Richtlinie 89/665 diese Funktion, indem sie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, Verfahren einer wirksamen und raschen Nachprüfung einzurichten.

30      Der Grund für das Bestehen der Richtlinie 89/665 ist daher, durch die Einführung adäquater Nachprüfungsverfahren, die den Wirtschaftsteilnehmern in den Mitgliedstaaten einen unverfälschten und möglichst umfassenden Wettbewerb garantieren sollen, die ordnungsgemäße Anwendung der materiellen Bestimmungen des Unionsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, Bayerischer Rundfunk u. a., C‑337/06, Slg. 2007, I‑11173, Randnrn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Die Erwägungen in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils werden zudem durch die Vorschriften der Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. L 335, S. 31) gestützt. Diese – wenn auch in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare – Richtlinie enthält für die Auslegung des durch die Richtlinie 89/665 eingeführten Systems hilfreiche Gesichtspunkte, da sie dieses System nicht ändert, sondern nach ihrem dritten Erwägungsgrund die Richtlinie 89/665 „so präzisieren und … ergänzen [soll], dass die vom Gemeinschaftsgesetzgeber angestrebten Ziele erreicht werden können“.

32      So werden die „betroffenen Bieter“ und die „Wirtschaftsteilnehmer“ u. a. in den Erwägungsgründen 4, 6, 7, 14 und 27 der Richtlinie 2007/66 als diejenigen Personen, die von dem in dieser Richtlinie gewünschten wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erfasst sind, und als Klageberechtigte bezeichnet.

33      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 der Richtlinie 89/665 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung nunmehr die Überschrift „Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“ trägt, während die Überschrift von Art. 2 der Richtlinie „Anforderungen an die Nachprüfungsverfahren“ lautet. Dies bestätigt die Erwägung, dass die den Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 8, nunmehr Abs. 9, der Richtlinie 89/665 auferlegte Verpflichtung, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidungen der für die Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen, die keine Gerichte sind, vorzusehen, ein spezifisches Erfordernis dieser Richtlinie ist und öffentliche Auftraggeber nicht in den Kreis der Akteure einbezieht, die in ihren Anwendungsbereich fallen.

34      Darüber hinaus trägt Art. 3 der Richtlinie 89/665 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung nunmehr die Überschrift „Korrekturmechanismus“ und bestätigt das allgemeine Interventionsrecht der Kommission bei schweren Verstößen gegen das Unionsrecht.

35      Folglich verlangt Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 von den Mitgliedstaaten nicht, dass sie einen gerichtlichen Rechtsweg auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorsehen.

36      Unter Berücksichtigung der in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung, „zumindest“ allen in dieser Bestimmung genannten Personen ein Nachprüfungsrecht zu gewährleisten, und unter weiterer Berücksichtigung der Verfahrensautonomie, über die die Mitgliedstaaten verfügen, ist jedoch anzunehmen, dass Letztere nicht daran gehindert sind, den Kreis der Personen, denen Klageverfahren im Sinne der erwähnten Bestimmung offenstehen, sofern Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber durch Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, aufgehoben werden, auf öffentliche Auftraggeber zu erstrecken.

37      Dem Argument, dass eine solche Auslegung zu einer uneinheitlichen Anwendung des Unionsrechts führen könne, kann nicht gefolgt werden, da die Richtlinie 89/665, wie sich insbesondere aus ihrem Art. 1 Abs. 3 ergibt, nicht auf eine vollständige Harmonisierung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gerichtet ist.

38      Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen ist, dass er für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung schafft, auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, vorzusehen. Diese Bestimmung hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, in ihren jeweiligen Rechtsordnungen gegebenenfalls einen derartigen Rechtsschutz zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorzusehen.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung schafft, auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, vorzusehen. Diese Bestimmung hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, in ihren jeweiligen Rechtsordnungen gegebenenfalls einen derartigen Rechtsschutz zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorzusehen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Griechisch.