Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit

EINLEITUNG

Der Vertrag von Amsterdam hatte den Anwendungsbereich der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat ausgedehnt. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999 werden die meisten Rechtsetzungsakte in einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Ratunter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments angenommen.

In 73 Artikeln bleibt das Einstimmigkeitsprinzip jedoch aufrecht bestehen. In einer Union mit 27 Mitgliedstaaten könnte dies zu einer Pattsituation im Entscheidungsprozess der Union führen, da es in einer EU mit immer mehr und immer unterschiedlicheren Mitgliedstaaten zunehmend schwieriger werden wird, Einstimmigkeit zu erzielen. Der Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit ist daher eine der bedeutendsten Aufgaben der Regierungskonferenz (RK). Der Vertrag von Nizza hat die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in etwa dreißig Bestimmungen eingeführt.

EG-VERTRAG - GEMEINSCHAFTLICHE POLITIKBEREICHE

Für die gemeinschaftlichen Politikbereiche erlauben etwa zehn Bestimmungen seit Inkrafttreten des Vertrags von Nizza eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat für alle oder gegebenenfalls für einige der betroffenen Artikel.

Artikel 11 - Verstärkte Zusammenarbeit

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit über die Ermächtigung des Rats zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) bleibt aufrecht bestehen. Die Bestimmung, wonach ein Mitgliedstaat den Europäischen Rat mit dieser Frage befassen kann, in der dieser sodann einstimmig entscheidet, wurde jedoch gestrichen. Somit wurde das Vetorecht, mit dem die Mitgliedstaaten die Einleitung einer verstärkten Zusammenarbeit in einem Bereich der ersten Säule verhindern konnten, abgeschafft.

Artikel 13 - Kampf gegen die Diskriminierung

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird bei den gemeinschaftlichen Förderungsmaßnahmen - unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten - im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung eingeführt.

Artikel 18 - Unionsbürgerschaft

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird für die Maßnahmen der Gemeinschaft zur Gewährleistung und Erleichterung der Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der Bürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingeführt.

Artikel 63 - Maßnahmen im Bereich Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik

Gemäß den neuen Bestimmungen von Artikel 67 kann der Rat bestimmte Maßnahmen im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik sowie im Zusammenhang mit Flüchtlingen, Vertriebenen und Rechten von Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, mit qualifizierter Mehrheit beschließen, sofern der Rat zuvor einstimmig Gemeinschaftsvorschriften erlassen hat, in denen die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für diese Bereiche festgelegt sind. Die Einführung der qualifizierten Mehrheit bleibt damit an diese Voraussetzungen und an die zuvor erfolgende Festlegung der Grundsätze in diesem Bereich geknüpft. Das Mitentscheidungsverfahren gilt von nun an auch für diesen Artikel.

Artikel 65 - Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

Gemäß den neuen Bestimmungen von Artikel 67 kann der Rat Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug mit Ausnahme der familienrechtlichen Aspekte mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Das Mitentscheidungsverfahren gilt von nun an auch für diesen Artikel.

Artikel 66 - Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten

Gemäß den Bestimmungen des Protokolls zu Artikel 67 EG-Vertrag beschließt der Rat ab dem 1. Mai 2004 Maßnahmen zur Gewährleistung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Dienststellen der Behörden der Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen Dienststellen und der Kommission mit qualifizierter Mehrheit.

Artikel 100 - Wirtschaftliche Schwierigkeiten

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird für Maßnahmen im Falle von Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmen Waren eingeführt. Des weiteren beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit darüber, einem Mitgliedstaat im Fall von Schwierigkeiten aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, einen finanziellen Beistand zu gewähren.

Artikel 111 - Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion mit internationalem Bezug

Absatz 4 dieses Artikels wird dahin gehend geändert, dass von nun an bei der Festlegung des Standpunkts der Gemeinschaft und ihrer Vertretung auf internationaler Ebene bei Fragen von besonderer Bedeutung für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird.

Artikel 123 - Einführung des Euro

Die qualifizierte Mehrheit gilt für Absatz 4 dieses Artikels, der die für die rasche Einführung des Euro notwendigen Maßnahmen regelt. Diese Bestimmung wird bei der künftigen Erweiterung des Euro-Währungsgebiets von Bedeutung sein.

Artikel 133 - Gemeinsame Handelspolitik

Durch die Änderungen dieses Artikels weitet der Vertrag von Nizza den Anwendungsbereich der Handelspolitik und folglich der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auf die Abkommen betreffend den Handel mit Dienstleistungen und Handelsaspekte des geistigen Eigentums aus. Ausnahmen von diesem Grundsatz bleiben jedoch bestehen:

Der Rat kann keine Abkommen schließen, die zu einer Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in Bereichen wie Kultur, Bildung oder Gesundheitswesen (in denen die Gemeinschaft keine internen Harmonisierungskompetenzen hat) führen.

Der Rat beschließt einstimmig, wenn das betreffende Abkommen Bestimmungen enthält, bei denen für die Annahme interner Vorschriften Einstimmigkeit erforderlich ist (Grundsatz des Parallelismus), oder wenn das Abkommen einen Bereich betrifft, in dem die Gemeinschaft bei der Annahme interner Vorschriften ihre Zuständigkeiten noch nie ausgeübt hat.

Der Verkehrsbereich fällt nicht unter die Bestimmungen dieses Artikels.

Artikel 137 - Sozialpolitik

Der Vertrag von Nizza hat den Anwendungsbereich der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit nicht ausgeweitet, sondern für einige Bereiche, für die grundsätzlich weiterhin die Einstimmigkeit erforderlich ist, eine Anpassungklausel („clause de passerelle") eingeführt. Gemäß dieser Klausel kann der Rat einstimmig beschließen, das Mitentscheidungsverfahren gemäß Artikel 251 EG-Vertrag (dem zufolge mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird) auf die Buchstaben d), f) und g) in Artikel 137 Absatz 1 anzuwenden, die den Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer und die Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder betreffen.

Artikel 157 - Industriepolitik

Durch die Änderung von Absatz 3 dieses Artikels wird der Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und zur Mitentscheidung mit dem Europäischen Parlament bei spezifischen Maßnahmen zur Unterstützung der in den Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen im Rahmen der Industriepolitik verankert.

Artikel 159 - Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird in Absatz 3 dieses Artikels eingeführt, und das Mitentscheidungsverfahren mit dem Europäischen Parlament gilt von nun an für die zusätzlichen im Rahmen der Politik des Zusammenhalts nötigen Maßnahmen außerhalb der Strukturfonds.

Artikel 161 - Strukturfonds

Der neu hinzugefügte Absatz 3 führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für Entscheidungen im Bezug auf die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und die Organisation der Strukturfonds ein, einschließlich der allgemeinen Regeln für diese Fonds. Der Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit tritt jedoch erst am 1. Januar 2007 in Kraft, sofern die ab 1. Januar 2007 anwendbare mehrjährige finanzielle Vorausschau bis dahin angenommen worden ist.

Artikel 181 a - Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern

Dieser neue Artikel ergänzt Artikel 181 und behandelt die verschiedenen Arten von Maßnahmen der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit, die die Gemeinschaft mit Drittländern durchführen kann. Die in diesem Bereich schon beschlossenen Maßnahmen wurden nach dem Verfahren gemäß Artikel 308 EG-Vertrag angenommen und erforderten somit Einstimmigkeit. Dieser neu hinzugefügte Artikel bildet eine neue Rechtsgrundlage für diese Maßnahmen und führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit ein. Ausgenommen davon sind die Assoziierungsabkommen im Sinne von Artikel 310 oder die Abkommen mit den Kandidatenländern.

Artikel 279 - Bestimmungen zur Haushaltsordnung

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gilt für die Haushaltsordnung und die Verantwortung der Finanzkontrolleure ab 1. Januar 2007.

EG-VERTRAG - INSTITUTIONELLE FRAGEN

Der Vertrag von Nizza führt die qualifizierte Mehrheit in zahlreichen Artikeln ein, die institutionelle Fragen behandeln. Insbesondere bei der Ernennung des Präsidenten der Kommission und der anderen Kommissare sowie bei der Ernennung des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kommt von nun an die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zur Anwendung, was einen bedeutenden Fortschritt darstellt.

Artikel 190 - Das Europäische Parlament

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gilt für Absatz 5 dieses Artikels, der die Annahme der Regelungen und die allgemeinen Bedingungen für die Wahrnehmung der Aufgaben der Mitglieder des Parlaments enthält.

Artikel 191 - Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und insbesondere die Vorschriften über ihre Finanzierung ein. Zudem führt der Vertrag von Nizza hier das Mitentscheidungsverfahren ein.

Artikel 207 - Der Generalsekretär des Rats und Hohe Vertreter für die GASP

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ernennung des Generalsekretärs des Rats (Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) sowie des Stellvertretenden Generalsekretärs ein.

Artikel 210 - Bezüge

Die Gehälter, Vergütungen und Ruhegehälter für den Präsidenten und die Mitglieder der Kommission sowie für gewisse Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz werden von nun vom Rat mit qualifizierter Mehrheit festgelegt.

Artikel 214 - Ernennung der Mitglieder der Kommission

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat für die Ernennung des Präsidenten und der anderen Mitglieder der Kommission ein.

Artikel 215 - Ernennung eines Nachfolgers eines Kommissionsmitglieds

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ernennung eines Nachfolgers eines zurückgetretenen oder verstorbenen Kommissars ein. Das Einstimmigkeitserfordernis wird für den Fall beibehalten, dass der Rat entscheidet, keinen Nachfolger zu ernennen.

Artikel 223 - Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gilt auch für die Genehmigung der Verfahrensordnung des Gerichtshof s durch den Rat. Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen ernannt.

Artikel 224 - Das Gericht erster Instanz

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Genehmigung der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz ein. Die Mitglieder des Gerichts werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen ernannt.

Artikel 247 - Der Rechnungshof

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofs ein.

Artikel 248 - Geschäftsordnung des Rechnungshofs

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gilt von nun an bei der Genehmigung der Geschäftsordnung des Rechnungshofs durch den Rat.

Artikel 259 - Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ernennung der Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses ein.

Artikel 263 - Der Ausschuss der Regionen

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gilt nun auch für die Ernennung der Mitglieder des Ausschusses der Regionen.

EU-VERTRAG

Artikel 23 - Ernennung eines Sonderbeauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)

Gemäß dem Vertag von Nizza entscheidet der Rat bei der Ernennung eines Sonderbeauftragten im Bereich der GASP mit qualifizierter Mehrheit.

Artikel 24 - Internationale Übereinkünfte

Ohne den Anwendungsbereich der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit auszuweiten, hat der Vertrag von Nizza drei neue Absätze eingeführt, um die für diesen Artikel geltenden Abstimmungsmodalitäten (qualifizierte Mehrheit/Einstimmigkeit) klarzustellen.

Artikel 27 c - Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der GASP

Der Vertrag von Nizza führt die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ermächtigung des Rats zur verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der GASP ein. Nach dem neuen Vertrag ist es den Mitgliedstaaten jedoch weiterhin möglich, den Europäischen Rat mit dieser Frage zu befassen. Letzterer entscheidet hier einstimmig.

Artikel 40 a - Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit

Der Vertrag von Nizza behält die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit für die Ermächtigung des Rats zur verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bei. Das Vetorecht der Mitgliedstaaten wurde gestrichen.

ÜBERSICHTSTABELLE

Artikel

Thema

EG-Vertrag

11

Verstärkte Zusammenarbeit

13

Kampf gegen Diskriminierung

18

Unionsbürgerschaft

63

Maßnahmen im Bereich Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik

65

Jusitzielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

66

Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten

100

Wirtschaftliche Schwierigkeiten

111

Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion mit internationalem Bezug

123

Einführung des Euro

133

Gemeinsame Handelspolitik

137

Sozialpolitik, Bildung, Berufsausbildung und Jugend

157

Industriepolitik

159

Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

161

Strukturfonds

181A

Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern

190

Europäisches Parlament

191

Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene

207

Generalsekretär des Rats und Hoher Vertreter der GASP

210

Bezüge

214

Ernennung der Mitglieder der Kommission

215

Ernennung eines Nachfolgers eines Kommissionsmitglieds

223

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

224

Gericht erster Instanz

247

Rechnungshof

248

Geschäftsordnung des Rechnungshofs

259

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

263

Ausschuss der Regionen

279

Haushaltsordnung

EU-Vertrag

23

Ernennung eines Sonderbeauftragten für die GASP

24

Internationale Übereinkünfte

27C

Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der GASP

40A

Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit

EG-Vertrag - Protokoll

Protokoll zu Artikel 76 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Letzte Änderung: 26.09.2007