Strafverfahren: Kompetenzkonflikte und das Prinzip „ne bis in idem" (Grünbuch)

Mit diesem Grünbuch leitet die Europäische Kommission eine Diskussion ein, die dazu beitragen soll, bei Strafverfahren Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten zu vermeiden. In diesem Zusammenhang wird auch das Prinzip „ne bis in idem * " behandelt.

RECHTSAKT

Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren [KOM(2005) 696 endg. - Nicht im Amtsblatt veröffentlicht].

ZUSAMMENFASSUNG

Das Grünbuch geht auf Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten näher ein und untersucht insbesondere den Grundsatz ne bis in idem im Hinblick auf Strafverfahren. Um Kompetenzkonflikte zwischen den nationalen Gerichten zu lösen, plant die Kommission die Einführung eines Verfahrens, mit dem Rechtsfälle an die jeweils zuständigen Mitgliedstaaten verwiesen werden sollen. Findet die Strafverfolgung nur in einem einzigen Mitgliedstaat statt, laufen die betroffenen Personen nicht mehr Gefahr, von verschiedenen Staaten für denselben Tatbestand verurteilt zu werden. Ferner würde ein solches Verfahren nach Auffassung der Kommission den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ergänzen.

VERWEISUNG VON FÄLLEN AN EINEN EINZIGEN MITGLIEDSTAAT

Das neue Verfahren, mit dem Rechtsfälle an den jeweils zuständigen Mitgliedstaat verwiesen werden, sieht folgende Schritte vor:

Voraussetzung für das Verweisungsverfahren ist ein echter Informationsaustausch zwischen den beteiligten nationalen Behörden. Wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates über in einem anderen Mitgliedstaat anhängige Verfahren informiert werden, müssen sie auch die Möglichkeit haben, laufende Verfahren einzustellen. Die Kommission räumt ein, dass das Verweisungsverfahren in Rechtssystemen zu Problemen führen kann, in denen laut Verfassung das Legalitätsprinzip * gilt. Ein künftiger Rechtsakt sollte daher eine Ausnahme von diesem Grundsatz beinhalten. In einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist nach Ansicht der Kommission diesem Grundsatz Genüge getan, wenn ein anderer Mitgliedstaat einen solchen Rechtsfall verfolgt.

Ermittlung des Mitgliedstaats, der für die Strafverfolgung „am besten geeignet ist"

Während der Ermittlungsphase beruht das Verweisungsverfahren hauptsächlich auf einer Konsultation der konkurrierenden Strafverfolgungsbehörden. Bei dieser Diskussion mit den Betroffenen wird ermittelt, welche Fakten die laufende Strafverfolgung gefährden oder die Rechte und Interessen der Opfer und Zeugen beeinträchtigen könnten. Die nationalen Gerichte nehmen eine Risikoabschätzung vor.

Im Gegensatz zur Ermittlungsphase überprüft normalerweise das nationale Gericht, bei dem Anklage erhoben wurde, ob es für den Fall zuständig ist. Die Kommission schlägt vor, dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet werden sollte, zu prüfen, ob er für die Verfolgung des Falls am besten geeignet ist. In einer gerichtlichen Nachprüfung würde demnach nur entschieden, ob das Angemessenheitsprinzip und der Grundsatz eines fairen Verfahrens eingehalten wurden.

Stellt das zuständige Gericht fest, dass die Wahl willkürlich ist, könnte es auf der Grundlage einzelstaatlicher Rechtsgrundsätze wie dem Verbot des Verfahrensmissbrauchs von der Gerichtswahl abgehen. Die Auslegung EU-weit geltender Rechtsvorschriften, u.a. über das geplante Verweisungsverfahren und über die Kriterien zur Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit, können dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt werden.

Parallel zum Verweisungsverfahren schlägt die Kommission eine EU-Regelung vor, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall einer Mehrfachverfolgung das Verfahren auf einen „federführenden" Staat („Verfahrensstaat") zu beschränken. Kriterien zur Bestimmung des Verfahrensstaats sind beispielsweise das Territorialprinzip, die Interessen des Opfers und die Effizienz des Verfahrens. Nach der Vorrangregel könnten die anderen Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, in dem Moment, in dem vor einem nationalen Gericht Anklage erhoben wird, ihre Verfahren entweder einzustellen oder auszusetzen.

Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung

Die betroffenen Personen müssen die Möglichkeit haben, die Verweisung an die zuständigen Mitgliedstaaten gerichtlich nachprüfen zu lassen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn die Verweisung im Wege einer verbindlichen Vereinbarung erfolgt und die betroffenen Mitgliedstaaten die Gerichtswahl zu einem späteren Zeitpunkt somit nur begrenzt in Frage stellen können. Wurde keine verbindliche Vereinbarung über die Gerichtswahl getroffen, kann die gerichtliche Nachprüfung den Mitgliedstaaten und ihrem innerstaatlichen Recht überlassen bleiben. Kann die Verweisung jedoch von einer EU-Einrichtung entschieden werden, ist in jedem Fall eine gerichtliche Nachprüfung durchzuführen.

WIEDERAUFNAHME DER DISKUSSION ÜBER DEN GRUNDSATZ NE BIS IN IDEM

Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens [Amtsblatt L 239 vom 22.9.2000] behandeln den Grundsatz ne bis in idem. Er gilt im ganzen Schengen-Raum, in den zehn 2004 beigetretenen EU-Mitgliedstaaten, in Island, Norwegen und im Vereinigten Königreich und demnächst auch in Irland.

Die Einführung eines Verweisungsverfahrens bietet die Gelegenheit, den Grundsatz ne bis in idem erneut zu diskutieren. In ihrem Grünbuch behandelt die Kommission hierzu folgende Punkte:

Die im Grünbuch vorgeschlagenen Maßnahmen ermöglichen es der Europäischen Union, die Zahl der in einigen EU-Rechtsakten aufgeführten Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind, zu reduzieren. Einige Ablehungsgründe können aufrechterhalten werden, beispielsweise der Grund, dass eine Tat im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats begangen wurde.

HINTERGRUND

Griechenland hat im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses über die Umsetzung des Grundsatzes ne bis in idem eine Initiative gestartet [Amtsblatt C 100 vom 26.4.2003], die unter anderem Folgendes vorsieht: eine Definition des Begriffs „dieselbe Tat" (idem), das Prinzip der Anrechnung und den Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden. Im Rat kam jedoch keine Einigung über die Initiative Griechenlands zustande.

Aufgrund der unterschiedlichen nationalen und internationalen Bestimmungen tauchen zahlreiche Fragen über die Anwendung dieses Grundsatzes auf. Ferner sind die Rechtssysteme einiger Staaten so ausgelegt, dass der Grundsatz nur auf nationaler Ebene (vertikal) anerkannt wird, d.h. nur bei Strafverfahren im Mitgliedstaat selbst. In den Artikeln 54 bis 57 des Schengener Durchführungsübereinkommens ist die Anwendung des Prinzips ne bis in idem auf internationaler Ebene (d.h. horizontal) vorgesehen.

Der Grundsatz ne bis in idem ist darüber hinaus auch in Artikel 50 der Charta der Grundrechte (EN) (FR) der Europäischen Union verankert. Dadurch wird die Anwendung des Prinzips auf das gesamte Hoheitsgebiet der Europäischen Union ausgeweitet, was im Vergleich zum Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einen bedeutenden Fortschritt markiert. Ferner hat sich der Europäische Gerichtshof mit der Tragweite dieses Grundsatzes befasst und im Rahmen der Schengener Übereinkommen in diesem Zusammenhang wegweisende Urteile erlassen (C-385/01 Gozütok und Brugge ; C-469/03 Miraglia). Der Grundsatz ist in allen Rechtssystemen anerkannt, die den Schutz der Grundrechte garantieren.

Schlüsselwörter des Rechtsakts

See also

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Letzte Änderung: 25.04.2006