Verstärkte Zusammenarbeit

EINLEITUNG

Die künftige Osterweiterung der Europäischen Union macht eine Reform der Arbeitsweise ihrer Organe erforderlich. Die jetzige Struktur geht noch auf eine Organisation zurück, die für sechs Mitgliedstaaten vorgesehen war. Sie wurde zwar überarbeitet, um dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen, die institutionellen Grundsätze, die der Arbeitsweise zugrunde liegen, sind jedoch dieselben geblieben.

Der Beitritt weiterer Mitgliedstaaten hat eine größere Vielfalt an Zielen, Empfindlichkeiten und Prioritäten der einzelnen Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union zur Folge. Diese Vielfalt bereichert zwar die Europäische Union, sie kann sich jedoch ebenso als Hindernis erweisen, wenn die langsameren Mitgliedstaaten die Geschwindigkeit des Aufbaus Europas bestimmen.

In diesem Zusammenhang stellt der Vertrag von Amsterdam ein beispielloses Reformwerk dar, da er das Konzept einer differenzierten Integration in den Vertrag über die Europäische Union einführt. Konkret wurden dem Vertrag über die Europäische Union drei neue Artikel (Artikel 43, 44 und 45) angefügt. Aufgrund dieser Artikel können Mitgliedstaaten, die beabsichtigen, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen, die im Vertrag über die Europäische Union und im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen in Anspruch zu nehmen.

Die verstärkte Zusammenarbeit gestattet es den am meisten vorwärts strebenden Mitgliedstaaten, die Zusammenarbeit untereinander zu vertiefen und gleichzeitig den anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen zu lassen, sich ihnen zu einem späteren Zeitpunkt anzuschließen.

BEDINGUNGEN

Der Vertrag von Amsterdam knüpft die verstärkte Zusammenarbeit an eine Reihe von allgemeinen Bedingungen. Damit soll verhindert werden, daß eine solche Initiative das Funktionieren des Binnenmarkts in Frage stellt. Mit anderen Worten: der Besitzstand der Gemeinschaft muß gewahrt bleiben. Aus diesem Grund unterliegt eine zu begründende verstärkte Zusammenarbeit folgenden Bedingungen:

Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit wurde für den Geltungsbereich des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft sowie den Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen ermöglicht. Für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) waren die Verfasser des Vertrags von Amsterdam der Auffassung, daß die konstruktive Stimmenthaltung den Erfordernissen der Flexibilität bereits gerecht wird, so daß die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit hier nicht erforderlich ist.

Zusätzlich zu den allgemeinen, in Artikel 43 festgelegten Voraussetzungen unterliegt die verstärkte Zusammenarbeit einigen Bedingungen, die für die Säule spezifisch sind, in deren Bereich die Zusammenarbeit begründet werden soll:

- keine in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallenden Bereiche betreffen;

- die Gemeinschaftspolitiken, -aktionen oder -programme nicht beeinträchtigen;

- die Unionsbürgerschaft nicht betreffen und auch keine Diskriminierung zwischen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten bedeuten;

- die der Gemeinschaft durch den Vertrag zugewiesenen Befugnisse nicht überschreiten;

- keine Diskriminierung oder Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen und die Wettbewerbsbedingungen zwischen diesen nicht verzerren.

- die Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft sowie die in Titel VI EU-Vertrag (Konvent) des Vertrags über die Europäische Union wahren;

- zum Ziel haben, daß die Union sich rascher zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickeln kann.

BEGRÜNDUNG DER ZUSAMMENARBEIT

Artikel 11 a wurde in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eingefügt.

Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft sieht dieser Artikel vor, daß die Europäische Kommission die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit auf Antrag der an ihr interessierten Mitgliedstaaten vorschlägt. Die Kommission ist nicht verpflichtet, einen Vorschlag vorzulegen. Entscheidet sie sich jedoch dagegen, teilt sie den betroffenen Mitgliedstaaten die Gründe für ihre Entscheidung mit.

Der Rat entscheidet nach Anhörung des Europäischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit über den Vorschlag der Kommission, eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen.

Das im Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen (der dritten Säule) geltende Verfahren unterscheidet sich von dem im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft angewandten Verfahren. Der neue Artikel 40 des Vertrags über die Europäische Union sieht vor, daß der Antrag, eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen, von den betroffenen Mitgliedstaaten gestellt wird. Über die Ermächtigung hierzu entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit, nachdem die Kommission um Stellungnahme ersucht wurde; der Antrag wird auch dem Europäischen Parlament zugeleitet.

SCHUTZKLAUSEL

Sowohl im Bereich der ersten als auch der dritten Säule unterliegt die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit der Entscheidung des Rates, der mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Aufgrund einer Schutzklausel hat jedoch jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit, aus wichtigen Gründen der nationalen Politik eine Abstimmung im Rat zu verhindern.

In einem solchen Fall kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, die Frage an den Europäischen Rat zu verweisen, wenn die Entscheidung in den Bereich der dritten Säule fällt, bzw. an den in der Zusammensetzung der Staats- und -Regierungschefs tagenden Rat, wenn die Entscheidung in den Bereich der ersten Säule fällt. In beiden Fällen wird die Frage zur einstimmigen Beschlußfassung vorgelegt.

In diesem Zusammenhang kommt dem Gerichtshof eine wesentliche Rolle zu, da er angerufen werden kann, eine Stellungnahme zur Wichtigkeit der von einem Mitgliedstaat genannten Gründe der nationalen Politik abzugeben. Der Gerichtshof gewährleistet daher, daß die Schutzklausel nicht mißbraucht wird.

FUNKTIONIEREN DER ZUSAMMENARBEIT

Für die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit sieht der neue Artikel 44 des Vertrags über die Europäische Union vor, daß alle Mitglieder des Rates an den Beratungen teilnehmen, jedoch nur die Vertreter der an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten an der Beschlußfassung teilnehmen.

Für die verstärkte Zusammenarbeit gelten alle einschlägigen institutionellen Bestimmungen des Vertrags, in dessen Geltungsbereich sie fällt (Vertrag über die Europäische Union oder Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft). Demzufolge sind für die Beschlußfassung zum einen der Gegenstand der Entscheidung, zum anderen die Verfahren maßgeblich, die für den betreffenden Bereich anzuwenden sind (einstimmige Beschlußfassung, Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit, Mitentscheidungs- oder Anhörungsverfahren usw.).

Als qualifizierte Mehrheit gilt derselbe Anteil der gewogenen Stimmen der betreffenden Mitglieder des Rates, der in Artikel 205 (vormals Artikel 148) Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft festgelegt ist.

Im übrigen ist festzuhalten, daß die anderen, am Entscheidungsverfahren beteiligten Organe (insbesondere das Europäische Parlament und die Kommission) in voller Besetzung tagen, d. h. die Tatsache, ob das Herkunftsland eines Mitglieds des betreffenden Organs an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt ist oder nicht, bleibt unberücksichtigt.

SPÄTERE TEILNAHME EINES MITGLIEDSTAATES

Das System der verstärkten Zusammenarbeit stützt sich auf den Grundsatz, daß sie allen Mitgliedstaaten offensteht, auch denjenigen, die nicht von Anfang an daran beteiligt sind.

Im Gemeinschaftsbereich teilt jeder Mitgliedstaat, der sich der Zusammenarbeit anschließen möchte, seine Absicht dem Rat und der Kommission mit. Die Kommission legt dem Rat binnen drei Monaten nach Eingang der Mitteilung eine Stellungnahme dazu vor. Innerhalb eines weiteren Monats beschließt die Kommission über den Antrag und zusätzliche spezifische Regelungen, die sie gegebenenfalls für notwendig hält.

Für das Verfahren im Bereich der dritten Säule gelten zwar dieselben Fristen, im übrigen unterscheidet es sich jedoch von dem im Bereich der ersten Säule angewandten Verfahren für eine verstärkte Zusammenarbeit: Die Kommission kann ihrer Stellungnahme eine Empfehlung für die spezifischen Regelungen beifügen, die sie für notwendig hält, damit sich der Mitgliedstaat der betreffenden Zusammenarbeit anschließen kann. Anschließend entscheidet der Rat über den Antrag und die spezifischen Regelungen, die er für notwendig hält. Die Entscheidung gilt als angenommen, es sei denn, der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit, sie zurückzustellen. In diesem Fall gibt der Rat die Gründe für seinen Beschluß an und setzt eine Frist für dessen Überprüfung.

FINANZIERUNG

Die sich aus der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit ergebenden Ausgaben, mit Ausnahme der Verwaltungskosten der Organe, werden von den beteiligten Mitgliedstaaten finanziert, sofern der Rat nicht einstimmig etwas anderes beschließt.