ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 345

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

60. Jahrgang
13. Oktober 2017


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

2017/C 345/01

Entschließung über den Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm der Kommission für 2018

1

2017/C 345/02

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas und darüber hinaus

11

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

2017/C 345/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine wirksamere KMU-Politik der EU (Initiativstellungnahme)

15

2017/C 345/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Produktfälschung und -piraterie (Initiativstellungnahme)

25

2017/C 345/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Industrieller Wandel in der EU-Rübenzuckerindustrie (Initiativstellungnahme)

32

2017/C 345/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Konkrete Maßnahmen nach der Cork-2.0-Erklärung (Initiativstellungnahme)

37

2017/C 345/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Anwendung der Vorschriften für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Beschluss 2012/21/EU und Gemeinschaftsrahmen) (Initiativstellungnahme)

45

2017/C 345/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen der Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors auf die Politikgestaltung der EU (Initiativstellungnahme)

52

2017/C 345/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die externe Dimension der Sozialwirtschaft (Initiativstellungnahme)

58


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

2017/C 345/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2010/40/EU hinsichtlich des Zeitraums für den Erlass delegierter Rechtsakte(COM(2017) 136 final — 2017/0060 (COD))

67

2017/C 345/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts(COM(2017) 142 final — 2017/0063 (COD))

70

2017/C 345/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den grenzüberschreitenden Austausch von Kopien bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände in einem zugänglichen Format zwischen der Union und Drittländern zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen(COM(2016) 595 final — 2016/0279 (COD))

76

2017/C 345/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer(COM(2016) 755 final — 2016/0371 (CNS)), zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen(COM(2016) 757 final — 2016/0370 (CNS)) und zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in Bezug auf die MwSt.-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften(COM(2016) 758 final — 2016/0374 (CNS))

79

2017/C 345/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. (COM(2016) 815 final — 2016/0397 (COD))  ( 1 )

85

2017/C 345/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft: Europäische Nachhaltigkeitspolitik(COM(2016) 739 final)

91

2017/C 345/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Ökodesign-Arbeitsprogramm 2016-2019(COM(2016) 773 final)

97

2017/C 345/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Der Beitrag der energetischen Verwertung von Abfällen zur Kreislaufwirtschaft(COM(2017) 34 final)

102

2017/C 345/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/65/EU zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten(COM(2017) 38 final — 2017/0013 (COD))

110

2017/C 345/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Überprüfung der Umsetzung der EU-Umweltpolitik — Gemeinsame Herausforderungen und Anstrengungen für bessere Ergebnisse(COM(2017) 63 final)

114

2017/C 345/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Energiepreise und -kosten in Europa(COM(2016) 769 final)

120

2017/C 345/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft(COM(2016) 818 final — 2016/0411 (COD))

126

2017/C 345/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft(COM(2017) 9 final)

130

2017/C 345/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten in der elektronischen Kommunikation und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/58/EG (Verordnung über Privatsphäre und elektronische Kommunikation)(COM(2017) 10 final — 2017/0003 (COD))

138


 


 

(1)   Text von Bedeutung für den EWR und die Schweiz.

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/1


Entschließung über den „Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm der Kommission für 2018“

(2017/C 345/01)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner Plenartagung am 5./6. Juli 2017 (Sitzung vom 5. Juli) mit 191 gegen 6 Stimmen bei 16 Enthaltungen folgende Entschließung:

1.   Schaffung eines positiven Narrativs für die EU

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont die Bedeutung des Jahres 2018: es ist das letzte vollständige Kalenderjahr der Mandatsperiode der gegenwärtigen Kommission — und des Europäischen Parlaments. Daher fordert der EWSA die Kommission auf, ein anspruchsvolles, gleichwohl pragmatisches Arbeitsprogramm zu entwickeln, damit sich die Herausforderungen für die Europäische Union, die am Scheideweg steht, angemessen bewältigen lassen. Angesichts der Unsicherheiten in puncto Brexit und internationaler Entwicklungen ist eine breite, partizipative und strukturierte Debatte über die Zukunft Europas heute notwendiger denn je. Wir müssen zu unseren Ursprüngen zurückkehren und uns das ursprüngliche Projekt sowie die Grundwerte und -ziele der Union, wie sie in den Verträgen verankert sind, vor Augen halten.

1.2.

Wir sollten auf den bislang erzielten positiven Ergebnissen aufbauen. Gleichwohl muss das Auftauchen nationalistischer, protektionistischer, autoritärer und populistischer Gesinnungen und Bewegungen als ein Alarmsignal für die Entscheidungsträger der EU-Organe und der Mitgliedstaaten gesehen werden: Es muss untersucht werden, wie öffentliches Vertrauen wiedergewonnen und eine erfolgreiche Zukunft für das europäische Projekt sichergestellt werden können.

1.3.

Der EWSA fordert deshalb die Kommission auf, sich für eine starke, solide und durch Zusammenhalt geprägte Union einzusetzen, die in der Lage ist, nachhaltiges Wachstum, hochwertige Arbeitsplätze, Wohlstand und Chancengleichheit für alle Menschen in Europa zu schaffen auf der Grundlage einer gemeinsamen Vision und einem positiven Narrativ, das auf öffentlicher Teilhabe und Partizipation basiert. Eine geeinte Union mit starkem Zusammenhalt auf der Grundlage engagierter Mitgliedstaaten ist dringend erforderlich, um auf die derzeitigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen, vor denen die EU steht, zu reagieren. Der innere Zusammenhalt ist auch eine Voraussetzung für die Rolle der EU als starker globaler Akteur in Bereichen wie internationaler Handel, Sicherheit, Energie, Klimapolitik und Förderung der Menschenrechte.

1.4.

Der EWSA anerkennt, dass das Jahr 2018 aufgrund der Brexit-Verhandlungen nicht einfach sein wird. Dennoch ist es wichtig, dass die Kommission bereits vereinbarte Maßnahmen — insbesondere Initiativen zum Binnenmarkt — weiterhin umsetzt. Gleichzeitig muss die langfristige Zukunft der EU vorbereitet werden. Der EWSA möchte an dieser Stelle auf seine Standpunkte zu dem Weißbuch über die Zukunft Europas verweisen. Der EWSA wird auch Stellungnahmen zu den damit verbundenen Reflexionspapieren vorlegen. Deshalb werden diese Themen in diesem Beitrag lediglich gestreift.

1.5.

Da Wirtschaft, Beschäftigung, Wohlergehen der Menschen und Umwelt eng miteinander verknüpfte Themen sind, fordert der EWSA die Kommission auf, in ihrem Arbeitsprogramm die nachhaltige Entwicklung als übergreifendes Konzept anzustreben. Der EWSA richtet daher seinen Beitrag wie folgt auf die drei Säulen der Nachhaltigkeit aus:

a)

Stärkung der wirtschaftlichen Grundlagen Europas;

b)

Ausbau ihrer sozialen Dimension und

c)

Erleichterung des Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft mit geringen CO2-Emissionen.

1.6.

Der EWSA betont, dass die drei Säulen universal und unteilbar sind und einander bedingen. Die EU sollte ambitioniert sein und Maßnahmen und Initiativen verfolgen und Lösungen anstreben, die in dreifacher Hinsicht — sowohl unter wirtschaftlichen als auch sozialen und ökologischen Aspekten — nützlich sind.

1.7.

Zu diesem Zweck legt der EWSA der Kommission nahe, ihre Maßnahmen mit einem integrierten Ansatz und einem kohärenten und konsequenten Konzept zu entwickeln, an der alle Dienststellen der Kommission beteiligt sind und bei dem die Abschottung zwischen Politikgestaltung und Gesetzgebung aufgebrochen wird. Der EWSA fordert die Kommission ebenso auf, im Einklang mit den Grundsätzen der besseren Rechtsetzung und zum praktischen Nutzen für alle Akteure die Qualität der EU-Gesetzgebung weiter zu verbessern und die Gesetze einfacher und klarer zu gestalten.

1.8.

Ferner wiederholt der EWSA seine Forderung nach der Konzipierung einer übergreifenden Strategie für die durchgängige Berücksichtigung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen in allen einschlägigen Politikbereichen der EU. Er fordert die Kommission auf, eine langfristige Vision und Strategie für Nachhaltigkeit vorzubereiten, die auf die kommende Stellungnahme des EWSA zum Thema „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050“ aufbaut.

1.9.

Der EWSA unterstreicht die entscheidende Bedeutung der strukturierten Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von Maßnahmen, Programmen und anderen Initiativen der EU, um greifbare Ergebnisse zu erzielen, öffentliche Akzeptanz zu erlangen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Die Sozialpartner spielen eine besondere Rolle bei der Erarbeitung und Durchführung der Maßnahmen, die unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Arbeitsmärkte haben.

1.10.

Während auf die Handlungsvorschläge in den Ziffern 2 bis 5 eingehender eingegangen wird, fasst der EWSA seine zentralen politischen Prioritäten für das Arbeitsprogramm der Kommission für 2018 folgendermaßen zusammen:

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Umsetzung der Strategien und Programme für die Weiterentwicklung des Binnenmarkts fortzusetzen und dabei auch dessen wirtschaftliche und soziale Dimensionen im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen. Er anerkennt, dass die WWU das Herzstück des Binnenmarktes ist, weist aber darauf hin, dass insbesondere im Bereich der Kapitalmärkte sowie für die Märkte in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr Maßnahmen erforderlich sind. Darüber hinaus fordert der EWSA eine aktive Handelspolitik unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Transparenz und einer engen Einbindung der Zivilgesellschaft.

Die Kommission sollte eine umfassende Strategie zur Förderung von Unternehmertum, Innovation und industrieller Entwicklung annehmen, die die Chancen und Herausforderungen globaler Megatrends wie z. B. rasche Fortschritte in der Digitalisierung und dem Internet der Dinge sowie der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft mit geringen CO2-Emissionen aufgreift.

Der EWSA ruft die Kommission auf, die soziale Dimension der EU auszubauen und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze, die Verbesserung von Fähigkeiten und Kompetenzen, die Steigerung sozialer Investitionen, die Entwicklung der Sozialwirtschaft sowie die Vorbeugung von Armut, Ungleichheiten und Ausgrenzung unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Eingliederung junger Menschen zu fördern. Besondere Aufmerksamkeit sollte außerdem darauf gelegt werden, eine Antwort auf die tiefgreifenden Veränderungen aufgrund der Digitalisierung für die gesamte Gesellschaft zu finden.

Der EWSA fordert Maßnahmen zur effizienten Bündelung der öffentlichen Finanzmittel und zur Reaktion auf künftige, durch den Brexit verursachte Herausforderungen sowie die Notwendigkeit von nachhaltigem Wachstum, Innovation, Beschäftigung und Zusammenhalt. In Ergänzung zu öffentlichen Investitionen ist auch die Förderung privater Investitionen erforderlich, um dem erheblichen Investitionsbedarf nachzukommen.

Die Kommission sollte weiterhin Maßnahmen durchführen, um die Bürger in Europa gegen Sicherheitsbedrohungen zu schützen (u. a. wirksame Kontrolle der Außengrenzen). Sie sollte sich im Rahmen einer multilateralen Zusammenarbeit und einer aktiven Konfliktvermeidung auch verstärkt dafür einsetzen, dass die EU ein wirksamerer Akteur auf der Weltbühne wird. Der EWSA hält es darüber hinaus für notwendig, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung auszubauen.

Der EWSA ruft die Kommission auf, eine Strategie zu entwickeln, die auf die Verwirklichung eines effizient und dauerhaft gestalteten, strukturierten zivilen Dialogs abzielt, und bietet dabei seine Unterstützung an.

2.   Stärkung der wirtschaftlichen Grundlagen Europas

2.1.    Das Europäische Semester und die WWU

2.1.1.

Die Koordinierungsrolle der Kommission im Europäischen Semester sollte ausgebaut werden, um die Einhaltung der Ziele und Empfehlungen der Strategie Europa 2020 durch die Mitgliedstaaten sowie die Umsetzung der für ein langfristig nachhaltiges Wirtschaftswachstum, für die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und für den sozialen Fortschritt erforderlichen Strukturreformen zu gewährleisten. Die engere Einbindung der Sozialpartner und der anderen Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft sowie mehr Eigenverantwortung bei der Konzipierung und Umsetzung von Reformprogrammen sind für den Erfolg dieses Verfahrens von zentraler Bedeutung. Dabei wird anerkannt, dass die Sozialpartner angesichts ihrer ausschließlichen Zuständigkeiten und Aufgaben eine besondere Rolle spielen.

2.1.2.

Der EWSA fordert sowohl von den Mitgliedstaaten mit Haushaltsdefiziten als auch von den Mitgliedstaaten mit Überschüssen eine symmetrische makroökonomische Anpassung im Euroraum. Dazu gehört auch ein aggregierter positiver fiskalischer Kurs für das Euro-Währungsgebiet als Ganzes.

2.1.3.

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Kernelement der europäischen Integration. Der EWSA verweist auf seine früheren Standpunkte und fordert Initiativen zur Vollendung der WWU einschließlich zur Entwicklung ihrer Steuerung, der demokratischen Kontrolle und dem makroökonomischen Dialog.

2.2.    Finanzmittel und Investitionen

2.2.1.

Mit dem nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) sollte die Kommission den Weg ebnen für die effiziente Bündelung der Ressourcen und um die künftigen Herausforderungen infolge des Brexit und der Bedürfnisse in puncto nachhaltiges Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt mittels Konzipierung eines leistungs- und ergebnisorientierten Ansatzes bewältigen zu können. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Laufzeit des nächsten MFR an den Politikzyklus der Kommission und des Parlaments anzupassen. Darüber hinaus legt er nahe, die Einführung neuer Arten von EU-Eigenmitteln vorzubereiten.

2.2.2.

Der EWSA begrüßt die zweite Phase des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) zur Ankurbelung von Investitionen durch verstärkte Mobilisierung von privatem Kapital zusammen mit öffentlichen Mitteln sowohl aus nationalen als auch regionalen Töpfen. Diesbezüglich sollte der EFSI zur Ergänzung der Bankenfinanzierungen auch auf andere Finanzierungsbereiche ausgedehnt werden.

2.2.3.

Der EWSA unterstreicht, dass europäische Mittel wirksam und effizient verwendet werden müssen. Investitionen in Innovation, Unternehmertum, Kompetenzentwicklung, aktive Arbeitsmarktpolitik, Digitales und Energie- und Verkehrssysteme müssen Priorität erhalten und es muss sichergestellt werden, dass die Mittel sachgerecht für Projekte mit hoher sozialer Wirkung zugewiesen werden.

2.2.4.

Der EWSA unterstreicht, dass die Kapitalmarktunion weiter umgesetzt werden muss, um den Zugang zu privater Finanzierung unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse von KMU zu verbessern. Es sollte auch eine stärkere Nutzung der Beteiligungs- und Kapitalmarktfinanzierung gefördert werden.

2.2.5.

Bezüglich der Vollendung der Bankenunion betont der EWSA, dass weitere Risikoteilung mit weiteren Vorschlägen zur Risikominderung einhergehen muss. Bei künftigen Reformen der Bankenregulierung sollte die Kommission den spezifischen Merkmalen und Möglichkeiten kleiner und nicht-komplexer Banken die gebührende Aufmerksamkeit schenken.

2.2.6.

Der EWSA fordert Schritte zur Eindämmung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung. Die bestehenden Verzerrungen der Steuersysteme, die die Schuldenfinanzierung von Unternehmen begünstigen, müssen beseitigt werden. Was die MwSt. betrifft, wiederholt der EWSA seine Empfehlung, vom derzeitigen Übergangssystem abzurücken und zu einem definitiven, auf den EU-Binnenmarkt zugeschnittenen MwSt.-System zu gelangen.

2.3.    Digitales, Energie- und Verkehrssysteme

2.3.1.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung des digitalen Binnenmarkts für die gesamte Gesellschaft. Digitale Kompetenzen, ein günstiges Unternehmensumfeld und Verbrauchervertrauen sind die wichtigsten Voraussetzungen zur Ausschöpfung der Potenziale der Digitalisierung. Da Daten ein Produktionsfaktor und ein Rohstoff für die wirtschaftliche Wertschöpfung sind, sind Zugänglichkeit und der freie Fluss der Daten äußerst wichtig. Gleichzeitig müssen ein angemessener Schutz privater und kommerzieller Daten — unter besonderer Berücksichtigung der von einzelnen Unternehmen erzeugten Daten — gewährleistet sein. Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bemühungen zur Verbesserung der Kapazitäten und Zusammenarbeit im Cybersicherheitsbereich fortzusetzen. Darüber hinaus fordert der EWSA internationale Zusammenarbeit im digitalen Bereich, z. B. im Rahmen der OECD.

2.3.2.

Der Ausbau der digitalen Infrastruktur einschließlich von Breitband- und drahtloser Verbindungen, digitaler Energie- und Verkehrssysteme und „intelligenter“ Gebäude und Gemeinschaften muss fortgesetzt werden. Die Nutzung der Digitalisierung muss auch entsprechend in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales gefördert werden. Die umfassende Nutzung der Digitalisierung sollte auch zur Erleichterung von Verwaltungsverfahren gefördert werden. Die digitale Anbindung entlegener Gebiete und ein Mindestmaß an digitalem Zugang für alle, auch zur Förderung der Inklusion schutzbedürftiger Mitglieder der Gesellschaft, sollten besonderes Gewicht erhalten.

2.3.3.

Der EWSA ist seit jeher ein entschiedener Befürworter der Initiative der Energieunion. Er fordert die Kommission auf, die Umsetzung der Energieunion-Strategie fortzusetzen und eine angemessene Energie-Infrastruktur und reibungslos funktionierende Energiemärkte sicherzustellen, die die Verfügbarkeit sicherer, erschwinglicher und klimafreundlicher Energie für die allgemeine Öffentlichkeit und die Unternehmen gewährleisten. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung des Dialogs auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene unter vollständiger Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Er wird regelmäßig zum Stand der Energieunion und diesbezüglichen Initiativen Stellung nehmen.

2.3.4.

Verkehr ist eng verknüpft mit der Energieunion. Da der Verkehrssektor eine der grundlegenden Voraussetzungen für Aktivitäten der gesamten Gesellschaft ist, sollte er im Arbeitsprogramm der Kommission einen hohen Stellenwert haben. Der Hauptzweck der Maßnahmen sollte darin bestehen, den Menschen und den Unternehmen ein zugängliches, reibungsloses, sicheres, erschwingliches und klimafreundliches Mobilitäts- und Verkehrsangebot zu bieten. Dies macht erhebliche öffentliche und private Investitionen in Verkehrssysteme und den Ausbau des ÖPNV erforderlich. Die Energie- und Klimaaspekte des Verkehrs und die Einführung neuer Technologien sollten nicht abgekoppelt von Aspekten des Verkehrsmarkts betrachtet werden.

2.3.5.

Unter Berücksichtigung der übergreifenden Bedeutung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) fordert der EWSA die Kommission auf, die Regeln für die Ausgleichszahlungen für die Erbringung von DAWI und ihre Anwendung zu verbessern und Leitlinien sowie ein Kompendium bewährter Verfahren zu erarbeiten.

2.3.6.

Der EWSA anerkennt die Bedeutung von Städten und von ländlichen Räumen für die Entwicklung und den Zusammenhalt in wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Hinsicht. Mit Verweis auf die Rolle der Städte sollte die EU weiterhin an einer gut definierten und angemessen umgesetzten Städteagenda arbeiten. Das erhebliche Potenzial ländlicher Gebiete, Berggebiete und Inselgebieten sollte beim neuen Ansatz der Kommission für die integrierte territoriale Entwicklung zur Geltung gebracht werden.

2.4.    Entwicklung von Produktion und Dienstleistungen

2.4.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, in Bezug auf die industrielle Entwicklung einen umfassenden Ansatz zu verfolgen und eine entsprechende Strategie anzunehmen. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Chancen und Herausforderungen geschenkt werden, die sich aus den globalen Megatrends ergeben, so z. B. die raschen Fortschritte bei der Digitalisierung und dem Internet der Dinge, Verzahnung der Fertigungs- und Dienstleistungsbranchen sowie Übergang zu einer emissionsarmen Kreislaufwirtschaft.

2.4.2.

Das Wachstumspotenzial des Dienstleistungssektors, einschl. des Einzelhandels, muss ebenfalls erschlossen werden, wobei die Rechte von Verbrauchern und Arbeitnehmern gewahrt werden müssen und die auf dem Binnenmarkt nach wie vor bestehenden Hindernisse nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

2.4.3.

Die Innovationspolitik, einschl. der sozialen Innovation, ist für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Neubelebung sowie für die Generierung des gesellschaftlichen Nutzens von entscheidender Bedeutung. Der EWSA spricht sich für die Förderung supranationaler Netze und übergreifender Netze zwischen Hochschulen, Unternehmen und Organisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen von Horizont 2020 aus. Er empfiehlt auch die Vereinfachung der Verwaltungsvorschriften in den Bereichen Finanzierung und staatliche Beihilfen.

2.4.4.

Erforderlich ist eine EU-weite Strategie „Industrie 4.0 und Gesellschaft 4.0“, in deren Mittelpunkt Technologien und Plattformen, Normen und Referenzstrukturen sowie Netze regionaler Innovations- und Kompetenzcluster auf allen Ebenen stehen.

2.4.5.

In Bezug auf die globalen Megatrends infolge der Herausforderungen in den einzelnen Branchen (Automobil-, Stahl-, Kohleindustrie u. a.) spricht sich der EWSA für eine ordnungsgemäße Steuerung des Strukturwandels durch faire und angemessene Übergangsrahmen und einen Dialog über sektorspezifische Themen mit den Sozialpartnern aus. Andererseits müssen die neuen Chancen in Bereichen wie Raumfahrt und Verteidigungsindustrie genutzt und ausgeschöpft werden, wobei gleichzeitig günstige Bedingungen für die Entwicklung der Industriebranchen im Allgemeinen mit guten Arbeitsbedingungen sicherzustellen sind.

2.4.6.

Besondere Anstrengungen sollten für die Verbesserung der Finanzierung, Innovation und Internationalisierung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) unternommen werden. Der Small Business Act für Europa muss vollständig umgesetzt werden. KMU-fördernde Maßnahmen sollten auf die verschiedenen Bedürfnisse der unterschiedlichen Arten von Unternehmen (Familienunternehmen, traditionelle Klein- und Kleinstunternehmen, Start-up, Scale-up und sozialwirtschaftliche Unternehmen) zugeschnitten werden. Der EWSA ruft die Kommission überdies dazu auf, eine Konsultation über die Definition von KMU auf den Weg zu bringen.

2.4.7.

Nach Auffassung des EWSA ist es wichtig, sich in Bezug auf die neuen Trends in den Bereichen Produktion und Verbrauch (kollaborative Wirtschaft, Kreislaufwirtschaft, Sharing Economy, funktionale Wirtschaft sowie Entwicklungsmöglichkeiten wie die Sozialwirtschaft) einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Erforderlich sind Maßnahmen, die die Einführung dieser neuen und vielfältigen Modelle erleichtern. Gleichzeitig ist aber dafür Sorge zu tragen, dass gleiche Ausgangsbedingungen sichergestellt sind und die einschlägigen und angemessenen Vorschriften eingehalten werden, um den Schutz der Öffentlichkeit und der Verbraucher sowie die Arbeitnehmerrechte zu gewährleisten.

2.4.8.

Unter Berücksichtigung der spezifischen Rolle der Sozialwirtschaft bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einem umfassenden Aktionsplan für die Sozialwirtschaft im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2015 zur „Förderung der Sozialwirtschaft als treibende Kraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa“.

2.4.9.

Die Multifunktionalität, die Vielfalt landwirtschaftlicher Modelle und die Nachhaltigkeit sollten weiterhin im Mittelpunkt stehen, wenn die Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Finanzierung, Modernisierung und Vereinfachung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) als Teil des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens behandelt werden. Größere Anstrengungen sind auch im Bereich der Forschung und Digitalisierung im Agrarsektor erforderlich.

2.4.10.

Der EWSA ruft die Kommission auf, eine stärker integrierte Agrar- und Lebensmittelpolitik anzustreben und dabei auch die Notwendigkeit des Übergangs zur Kreislaufwirtschaft und einer drastischen Reduzierung der Lebensmittelverschwendung zu berücksichtigen. Die Kommission sollte auch EU-Rechtsvorschriften erlassen, um unlautere Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette zu unterbinden.

2.4.11.

Um die richtige Entwicklung und Neubelebung der Industrie und der Landwirtschaft zu ermöglichen, muss der politische und regulatorische Rahmen zum Wohl der Bürger ein stabiles und berechenbares Umfeld für Investitionen und wirtschaftliche Aktivitäten gewährleisten und den Grundsätzen der besseren Rechtsetzung entsprechen.

2.5.    Internationaler Handel

2.5.1.

Der EWSA spricht sich für aktive und faire Handelsverhandlungen mit Partnern wie Japan, Mercosur und ASEAN sowie für eine reibungslose Umsetzung der bereits geschlossenen Vereinbarungen aus, wobei die in früheren EWSA-Stellungnahmen angesprochenen Aspekte zu berücksichtigen sind. Der EWSA ist der Auffassung, dass es bei der Umsetzung der Kommissionsmitteilung „Handel für alle“ wichtig ist, die Verhandlungen auf eine ausgewogene und transparente Art und Weise abzuschließen, Vorteile für Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger zu erzielen und gleichzeitig die Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales, Arbeitsmarkt und Verbraucherschutz sowie sonstige Normen aufrechtzuerhalten und die öffentlichen Dienstleistungen zu schützen. Im Allgemeinen unterstreicht der EWSA die Bedeutung der Transparenz und der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Aushandlung, Umsetzung und Überwachung der Handelsvereinbarungen von Anfang an.

2.5.2.

Der EWSA begrüßt die Verbesserungen, die mit der Einführung des neuen, das ISDS ersetzenden Systems im Bereich der Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten erzielt wurden, ruft die Kommission jedoch gleichzeitig auf, weitere Schritte zu unternehmen, damit die Investitionsgerichtsbarkeit als unabhängiges internationales Rechtsorgan tätig werden kann.

2.5.3.

Die Teilnahme an bilateralen Handelsverhandlungen sollte die Verpflichtung der EU gegenüber der WTO und ihr Engagement für ein starkes multilaterales globales Abkommen nicht beeinträchtigen. Der EWSA zählt auf eine aktive Weiterverfolgung der WTO-Ministerkonferenz 2017 in Bereichen wie Landwirtschaft und elektronischer Handel. Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, die Chancen und Risiken aus Sicht der Zivilgesellschaft zu bewerten, um die weiteren Schritte bei den laufenden multilateralen Verhandlungen über das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA) und das Abkommen über den Handel mit Umweltschutzgütern (EGA) festzulegen. Der EWSA fordert ferner eine rasche Annahme und Umsetzung der Reformen im Rahmen der EU-Handelsschutzmaßnahmen.

2.5.4.

Es ist wichtig, die Kohärenz zwischen der Handelspolitik und den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung, dem Pariser Abkommen über den Klimawandel und der EU-Entwicklungspolitik zu gewährleisten. Zu diesem Zweck sollten ehrgeizige und nachhaltige Kapitel zum Thema Entwicklung sowie solide Überwachungsmechanismen durch die Zivilgesellschaft angestrebt und in die Handelsvereinbarungen aufgenommen werden.

2.5.5.

Der EWSA spricht sich zudem dafür aus, dass die Zivilgesellschaft alle Aspekte der Vereinbarungen überwacht, auch jene, für die kein spezifisches gemeinsames Gremium unter Beteiligung der Zivilgesellschaft vorgesehen ist. Das Expertenwissen des EWSA ist für diese Arbeit von einzigartigem Wert.

2.5.6.

Er spricht sich auch für Debatten mit der Zivilgesellschaft über die Folgenabschätzung und die praktische Umsetzung des vorgeschlagenen multilateralen Investitionsgerichtshofs aus.

3.   Förderung der sozialen Dimension Europas

3.1.    Europäische Säule sozialer Rechte

3.1.1.

Der EWSA nimmt den Vorschlag der Kommission für eine Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte und die dazugehörigen legislativen und nichtlegislativen Initiativen zur Kenntnis. Der EWSA arbeitet an diesem Paket und wird seine Stellungnahmen zu gegebener Zeit vorlegen.

3.1.2.

An dieser Stelle verweist der EWSA auf seine frühere Stellungnahme zur europäischen Säule sozialer Rechte (1), in der er seine allgemeinen Ziele in Bezug auf die Entwicklung der Säule durch eine Kombination rechtlicher und außerrechtlicher Instrumente zu den Themen Zukunft der Arbeit, faire Arbeitsbedingungen, Beschäftigung, Durchsetzung des bestehenden sozialen Besitzstandes der EU und Sozialinvestitionen erläutert. Er erklärt darin, dass die Säule für alle Mitgliedstaaten gelten sollte und räumt ein, dass der Euro-Raum möglicherweise besonderer Instrumente/Mechanismen bedürfen könnte. Er ist der Ansicht, dass das Europäische Semester und die nationalen Reformprogramme zu den wichtigsten Instrumenten zur Umsetzung und Überwachung der Säule werden sollten, und fordert konkrete Benchmarks im Europäischen Semester.

3.1.3.

Die Rahmenbedingungen auf den Arbeitsmärkten müssen neue und vielfältigere berufliche Laufbahnen begünstigen. Im Arbeitsleben werden unterschiedliche Formen der Rekrutierung von Arbeitskräften und unterschiedliche Formen von Arbeit benötigt. Dies erfordert geeignete rechtliche Beschäftigungsschutzbestimmungen, um einen Rahmen für faire Arbeitsbedingungen zu bieten und um Einstellungen im Rahmen aller Arten von Arbeitsverträgen zu fördern.

3.1.4.

Um auf die sich wandelnde Nachfrage nach Qualifikationen und Kompetenzen entsprechend reagieren zu können, müssen nach Auffassung des EWSA das praxisorientierte Ausbildungssystem, die berufliche Aus- und Weiterbildung, das lebenslange Lernen und die Weiter- und Neuqualifizierung verbessert werden. Es sollten Möglichkeiten für bessere reibungslose Übergänge zwischen Arbeitsstellen sowie von der Arbeitslosigkeit und Ausbildung in die Arbeitswelt entwickelt werden, um einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen.

3.1.5.

Der EWSA weiß um die Tatsache, dass die Zukunft der EU vom Vertrauen der jüngeren Generationen in das EU-Projekt abhängt und betont, dass die Kommission verstärkt darauf hinwirken sollen, die Ursachen der Jugendarbeitslosigkeit und Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen.

3.1.6.

Mit Blick auf die Stärkung des integrativen Wachstums und des sozialen Zusammenhalts fordert der EWSA Maßnahmen, um dem Bedarf an Sozialinvestitionen, d. h. Investitionen in Menschen und in soziale Infrastrukturen und Dienstleistungen, gerecht zu werden. Weitere Überlegungen sind der Frage zu widmen, wie sich der Juncker-Plan 2 und die Ziele des Sozialinvestitionspakets miteinander verknüpfen lassen (u. a. mithilfe des EFSI). Darüber hinaus hat der EWSA einen europäischen Pakt für Sozialinvestitionen zur Förderung sozialer Reformen und sozialer Investitionen und zur Erreichung einer erneuerten wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Konvergenz angeregt. Auch im Jahreswachstumsbericht sollten Sozialinvestitionen hervorgehoben werden.

3.1.7.

Der Europäische Sozialfonds sollte weiterhin ein wichtiger Bestandteil des ESI-Fonds bleiben, wobei besonderes Augenmerk auf die Förderung der beruflichen Bildung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt von benachteiligten Gesellschaftsgruppen gelegt werden sollte (z. B. junge Menschen, Migranten und Flüchtlinge, Menschen mit Behinderungen). Die Konsolidierung und Umstrukturierung der neuen Erasmus-Prozesse muss systematischer und integrativer erfolgen. Der EWSA bekräftigt auch seine Forderung nach Möglichkeiten für alle jungen Menschen, von europäischen Austauschprogrammen zu profitieren.

3.1.8.

Der EWSA ist sich zwar durchaus bewusst, dass die Armutslinderung in erster Linie Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist, verweist jedoch darauf, dass die Armutsbekämpfung im Rahmen des Prozesses des Europäischen Semesters systematisch angegangen werden sollte. Die wissenschaftliche Forschung zu Referenzbudgets, die zu einem menschenwürdigen Leben beitragen sollen, sollte weiterhin unterstützt werden. Außerdem sind vergleichbare und gemeinsame Indikatoren z. B. in Bezug auf Armut und Ungleichheit sowie verbindliche Bewertungen der sozialen Auswirkungen aller im Rahmen der Nationalen Reformprogramme und der länderspezifischen Empfehlungen vorgeschlagenen Reformpläne erforderlich. Der EWSA hat sich auch dafür ausgesprochen, einen integrierten europäischen Fonds zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Anlehnung an die bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung des FEAD und des ESF zu schaffen. Darüber hinaus sollte die Strategie Europa 2020 mit der Umsetzung der Agenda 2030 verknüpft werden.

3.2.    Die Rechte der Bürger und Verbraucher

3.2.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Einhaltung der Grundwerte und Prinzipien der EU in allen Mitgliedstaaten genau zu überwachen und die Verfahren zum Schutz und zur Achtung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte, der Menschenrechte und des Zugangs zur Justiz zu verbessern.

3.2.2.

Die Verbraucherpolitik liegt im Interesse der Öffentlichkeit und kann daher das Engagement der Menschen für den Integrationsprozess der EU beeinflussen. Der EWSA ruft die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die Verbraucherrechte im Rahmen des REFIT-Programms, in der digitalen Welt und in Bezug auf die Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen durchgesetzt und gewahrt werden. Die Kommission sollte ihre Maßnahmen zur Beseitigung der Energie- und Konsumarmut und zur Verbesserung des Zugangs zu Lebensmitteln und Dienstleistungen für alle Europäer verstärken. Sie sollte auch die Rechte der Verbraucher auf Information, Bildung und Teilhabe sowie das Recht der Bürger auf Selbstorganisation fördern, damit ihre Interessen bei der Ausarbeitung der Vorschriften, die sie unmittelbar betreffen, vertreten werden.

3.2.3.

Die Kommission muss die Überprüfung der wichtigsten rechtlichen und nicht rechtlichen Instrumente der europäischen Verbraucherpolitik als bereichsübergreifende und horizontale Politik für die Bürger abschließen und einen neuen Verbraucherschutz-Aktionsplan für die nächsten zehn Jahre vorlegen.

3.2.4.

Der EWSA ruft die Kommission auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen und bei der politischen Entscheidungsfindung sowie geschlechtsbezogene Gewalt zu bekämpfen. Der EWSA fordert die Kommission darüber hinaus auf, eine Agenda zum Schutz von Minderheiten und schutzbedürftigen Gruppen aufzustellen und so die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu fördern und der Diskriminierung entgegenzutreten. Die Kommission sollte ihre Bemühungen verstärken, um die Blockade der Richtlinie über die Anwendung der Grundsätze der Gleichbehandlung aufzuheben. Sie sollte sich darüber hinaus der Lebensbedingungen von Kindern, Frauen und älteren Menschen in prekären Situationen annehmen und Lösungen für neue Formen der Schutzbedürftigkeit finden.

3.2.5.

Die Kommission sollte die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen im Einklang mit den Empfehlungen des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausbauen und das VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in ihren außenpolitischen Maßnahmen und Programmen umsetzen. Dazu gehört auch die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten anerkannten EU-Behindertenausweises. Auch sollten die Vorbereitungen für eine Europäische Agenda für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2020-2030) aufgenommen und das Jahr 2021 zum Europäischen Jahr der Rechte von Menschen mit Behinderungen erklärt werden.

3.2.6.

Zugänglichkeit für alle sollte in allen Initiativen des digitalen Binnenmarktes verankert werden. Zu diesem Zweck sollte die Kommission ihre Bemühungen um den Abschluss ihrer Gespräche mit den anderen Organen über den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit verstärken. Darüber hinaus sollten die Rechte der Passagiere unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität gestärkt werden.

3.2.7.

Der EWSA ruft die Kommission außerdem auf, Maßnahmen in Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen zu unterstützen, die dazu beitragen, dass Schüler und Studierende zwischen gefälschten Nachrichten (fake news) und wissenschaftlich belegten Tatsachen unterscheiden können.

3.3.    Migration

3.3.1.

Der EWSA betont, dass Flüchtlinge und Asylbewerber unterstützt und integriert werden müssen. Er spricht sich dafür aus, das gemeinsame europäische Asylsystem wirksam zu reformieren und dabei die Menschenrechte zu achten und so ein echtes gemeinsames System für alle Mitgliedstaaten zu schaffen. Darüber hinaus empfiehlt er, Fortschritte im Bereich der Neuansiedlung und der humanitären Visa für Flüchtlinge zu machen, um dem tatsächlichen Bedarf gerecht zu werden. Er fordert die Kommission auf, die Umsetzung des Abkommens über die Verteilung der Flüchtlinge unter den Mitgliedstaaten zu überwachen.

3.3.2.

Ferner fordert er, die Partnerschaftsabkommen mit den Drittländern, die Durchreise- und Herkunftsländer der Migranten sind, zu überprüfen, damit die Menschenrechte und das Völkerrecht geachtet werden, sowie Finanzierungsinstrumente auf den Weg zu bringen, um die eigentlichen Ursachen der Migration zu bekämpfen.

3.3.3.

Der EWSA würdigt das Bemühen der Kommission, durch eine Überprüfung der bestehenden Richtlinien die legalen Möglichkeiten für eine Einwanderung zu erhöhen, fordert jedoch eine längerfristige Steuerung der Arbeitsmigration, eine Planung für die aktuellen legalen Migrationswege sowie den Austausch von Informationen über Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der EWSA unterstreicht vor dem Hintergrund der demografischen Struktur Europas, dass die Integration von Flüchtlingen und Migranten in den Arbeitsmarkt nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance zu sehen ist. Investitionen in die Ausbildung und in adäquate Fördersysteme werden ausschlaggebend für eine leichtere Integration in den Arbeitsmarkt sein und den Migranten mit ihren Kompetenzen, ihrem Unternehmergeist und ihrer Dynamik helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen, und somit dazu beitragen, dass der Wert der Vielfalt und der verschiedenen Kulturen in unserer Gesellschaft allgemein anerkannt wird.

3.3.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass das Jahr 2018 als das Europäische Jahr des Kulturerbes eine einzigartige Chance bietet, alle Akteure zu mobilisieren, um Populismus und Nationalismus entgegenzutreten und ein positives Bild von der Zukunft Europas zu vermitteln. In diesem Zusammenhang sollte auch das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass im Hinblick auf die Flüchtlinge und Migranten ein interkulturelles Verständnis erforderlich ist.

3.4.    Innere Sicherheit und Außenpolitik

3.4.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, auch weiterhin eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen und weitere Maßnahmen durchzuführen, um die Bürger in Europa gegen Bedrohungen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und Cyberkriminalität zu schützen.

3.4.2.

Darüber hinaus hält er es für notwendig, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung auszubauen. Zu diesem Zweck befürwortet der EWSA die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion und begrüßt den Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan.

3.4.3.

In Anbetracht der durch die Unvorhersehbarkeit der Politik der USA und die Gefahr eines verstärkten Protektionismus und Unilateralismus hervorgerufenen Herausforderungen ruft der EWSA die EU dazu auf, ihre Bemühungen im Sinne ihrer Globalen Strategie fortzuführen, den Multilateralismus im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen und aktiv an der Vorbeugung von Konflikten und der Lösung internationaler Krisen mitzuwirken. Der EWSA hält darüber hinaus eine engere Koordinierung der Ziele, Maßnahmen und Ressourcen unter den Mitgliedstaaten für erforderlich, damit die EU auf der Weltbühne eine größere Wirksamkeit entfalten kann.

3.4.4.

Die Umsetzung der Agenda 2030 sollte die Grundlage für die Entwicklungszusammenarbeit der EU bilden. Um Führungsstärke zu zeigen, sollte die EU auf dem Hochrangigen Politischen Forum der Vereinten Nationen aus eigener Initiative einen Bericht über ihre internen und externen Tätigkeiten bezüglich der Nachhaltigkeitsziele vorlegen.

3.4.5.

Der EWSA befürwortet die Schaffung einer Plattform für den Dialog mit den Sozialpartnern im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, um den Arbeitsmarkt besser beurteilen zu können, und ruft die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, einen gemeinsamen europäischen Ansatz für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarländern zu erarbeiten. Durch die Nachbarschaftspolitik muss klar werden, dass Instabilität und Armut sowie Ungleichheit und fehlende Chancen ursächlich miteinander zusammenhängen und dazu führen, dass die Anfälligkeit für eine Radikalisierung steigt und der Demokratisierungsprozess behindert wird.

3.4.6.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der externen Wirtschaftsbeziehungen und der internationalen Diplomatie für die Wahrung und Erhöhung von Stabilität und Sicherheit. Er fordert darüber hinaus die EU auf, die Rolle, die die Kultur in internationalen Beziehungen spielen kann, umfassend zu nutzen.

4.   Erleichterung des Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft mit geringen CO2-Emissionen

4.1.

Der Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft sollte auf integrierte und kohärente Weise durchgeführt werden, wobei die Möglichkeiten genutzt werden sollten, wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte miteinander in Einklang zu bringen. Der EWSA fordert die Kommission auf, marktorientierte Tätigkeiten zu erleichtern, d. h. Innovation und Vorreiterinitiativen zu fördern (auch in entlegenen Gebieten und städtischen Gebieten), ihre Ausweitung zu intensivieren und einen günstigen Regelungsrahmen zu schaffen. Darüber hinaus verweist er auf die Verbindungen zwischen der Kreislaufwirtschaft und anderen „neuen Wirtschaftsmodellen“.

4.2.

Gebührende Aufmerksamkeit sollte auch der Durchführung der „traditionellen“ Umweltpolitik und Umweltgesetzgebung geschenkt werden, die die Abfallbewirtschaftung und den Schutz von Luft, Wasser, Boden und Artenvielfalt beinhaltet. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Arbeit als Teil der Überprüfung der Umsetzung der EU-Umweltpolitik fortzuführen.

4.3.

Die Klimaziele für 2030 sollten so kosteneffizient wie möglich verwirklicht werden. Zu diesem Zweck fordert der EWSA die Kommission auf, eine umfassende Bewertung der gegenwärtigen politischen Instrumente zur Förderung von Niedrigemission durchzuführen und sicherzustellen, dass die Instrumente geeignet sind und so effizient wie möglich genutzt werden.

4.4.

Die Kommission sollte Klimafragen auch unter dem Aspekt der Klimagerechtigkeit betrachten, das heißt unter dem Gesichtspunkt von Gleichheit, Menschenrechten, Armut und weiteren Faktoren.

4.5.

Klimadiplomatie ist weiterhin eine wichtige Aufgabe der EU bei der Bekämpfung des Klimawandels. Es ist notwendig, die größten Verursacher von Treibhausgasemissionen dazu zu bewegen, sich auf Ziele zu verpflichten, die mindestens so ehrgeizig sein sollten wie diejenigen der EU. Der EWSA fordert die Kommission darüber hinaus auf, sich für einen globalen Kohlenstoffpreis einzusetzen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber den Konkurrenten außerhalb der EU zu schaffen.

4.6.

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Strategie zur Vergrößerung ihres klimapolitischen und ökologischen „Handabdrucks“, also ihrer positiven globalen Auswirkungen, zu erarbeiten. Dies erfordert ein innovations- und investitionsfreundliches Umfeld sowie günstige Handelsbedingungen für die Ausfuhr von Klimalösungen und emissionsarmen Produkten. Auf diese Weise kann die EU einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Bewältigung der ökologischen Herausforderungen leisten und eine weitaus größere Wirkung entfalten, als wenn sie lediglich innerhalb ihrer eigenen Grenzen handeln würde.

5.   Stärkung, Einbindung und Konsultation der Zivilgesellschaft

5.1.

Der EWSA unterstreicht die grundlegende Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von Maßnahmen in allen Phasen und auf allen Ebenen (auch der lokalen Ebene). Dies erfordert einen Kulturwandel und die Anerkennung des Wertes der Zivilgesellschaft auf europäischer und nationaler Ebene, der bereits in Artikel 11 EUV festgeschrieben wurde. Darin ist verankert, dass die Organe der EU den horizontalen und vertikalen zivilen Dialog fördern und erleichtern, umfangreiche Anhörungen durchführen und die Grundlage für die Europäische Bürgerinitiative schaffen. Dies sind ergänzende Verfahren — unbeschadet der Anhörung des EWSA und des sozialen Dialogs.

5.2.

Der EWSA verfolgt aufmerksam und unter aktiver Teilnahme die strukturierten Dialog- bzw. Konsultationsforen (z. B. Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft, Europäisches Migrationsforum), in denen zivilgesellschaftliche Organisationen und weitere Akteure aus den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten vertreten sind und einbezogen werden, und ersucht um Unterstützung für seine Bemühungen um die Schaffung einer Plattform für den Wandel (Gleichstellung der Geschlechter im Verkehrssektor) und eines institutionellen Forums für die Bürgerbeteiligung (im Rahmen der Bürgerinitiative). Bei der Schaffung solcher Plattformen, wie z. B. der REFIT-Plattform, sollte die Kommission die Vertretung des EWSA im Einklang mit dem ihm durch die Verträge verliehenen Mandat ins Auge fassen und dabei sicherstellen, dass die Zusammensetzung des EWSA in Form seiner drei Gruppen berücksichtigt wird.

5.3.

Als Ergänzung zu den oben genannten Initiativen richtete die Kommission unlängst ein spezielles Internet-Portal mit dem Titel „Beitrag zur Rechtsetzung“ ein, um die Standpunkte der Öffentlichkeit — sowohl von Organisationen als auch von Einzelpersonen — einzuholen. Der EWSA empfiehlt der Kommission, zwischen den Beiträgen zivilgesellschaftlicher Organisationen und denen von Einzelpersonen zu unterscheiden. Zu diesem Zweck sollte die Kommission in Zusammenarbeit mit dem EWSA eine Kartierung der Interessenträger durchführen, um unter Rückgriff auf das EU-Transparenzregister repräsentative und geographisch ausgewogene Zielgruppen zu ermitteln. Darüber hinaus sollte die Kommission dafür Sorge tragen, dass eine quantitative und qualitative Gewichtung der Antworten vorgenommen wird. Die Kommission sollte unablässig daran arbeiten, die Transparenz zu erhöhen sowie die Zugänglichkeit, das Feedback und die Verantwortlichkeit gegenüber den Teilnehmern zu verbessern.

5.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, einen strategischeren Ansatz zu diesen Praktiken zu entwickeln. Dazu sollten deren institutionelle und repräsentativen Grundlagen besser strukturiert und die Ressourcen der einschlägigen beratenden Einrichtungen genutzt werden, die bereits auf EU-Ebene sowie in den Mitgliedstaaten und Regionen bestehen. Zu diesem Zweck sollte die Kommission eng mit dem EWSA zusammenarbeiten und um eine Sondierungsstellungnahme zu der Frage ersuchen, wie der zivile Dialog effizient und dauerhaft gestaltet werden kann. Diese Stellungnahme würde dann in eine besondere Kommissionsmitteilung einfließen.

5.5.

Der EWSA betont, dass die Wirksamkeit der Europäischen Bürgerinitiative im Einklang mit der vom Ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, angekündigten Überarbeitung der EBI-Verordnung verbessert werden muss. Ebenso sollten neue Möglichkeiten wie beispielsweise die Nutzung digitaler Instrumente geprüft werden, damit sich vor allem junge Menschen und Angehörige schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen stärker engagieren.

5.6.

Schließlich stellt der EWSA anerkennend fest, dass die Kommission zahlreiche Elemente des EWSA-Beitrags zum Arbeitsprogramm für 2017 berücksichtigt hat. Da einige Aspekte jedoch nicht einbezogen wurden, sind sie im vorliegenden Dokument noch einmal angesprochen worden. Mit Blick auf die Umsetzung des Arbeitsprogramms für 2018 der Kommission ist der EWSA bereit, seine Standpunkte darzulegen und sich im Laufe des kommenden Jahres an den Arbeiten zu spezifischen Initiativen zu beteiligen.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme vom 25. Januar 2017 zur Mitteilung der Kommission: Einleitung einer Konsultation über eine europäische Säule sozialer Rechte (ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10).


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/11


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas und darüber hinaus“

(2017/C 345/02)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner Plenartagung am 5./6. Juli 2017 (Sitzung vom 5. Juli) mit 226 gegen 16 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Entschließung:

Gemeinsam an einem Strang ziehen

Standpunkt des EWSA zur Zukunft Europas  (1)

1.

Die Gesellschaft und die Bürgerinnen und -bürger in Europa fordern eine glaubwürdige, legitime und widerstandsfähige EU. Seit über einem Jahrzehnt ist die EU nun mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen konfrontiert, was bei den Bürgern zu einer negativen Einstellung und zu Unsicherheit geführt hat. Die EU braucht übergreifende Strategien zur Förderung des Wohlergehens ihrer Bürger, umfassender und nachhaltiger Investitionen, der Kreativität und des Unternehmertums sowie Strategien zur Bekämpfung der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, der Armut und der ungleichen Verteilung des Wohlstands. Die derzeitige wirtschaftliche Erholung darf keinesfalls als Vorwand für Untätigkeit dienen. Der EWSA fordert vielmehr ein überlegtes und kohärentes Vorgehen zur Stärkung von Vertrauen und Zuversicht sowie die Konzentration auf greifbare Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger und die Nutzung von Europas enormem Potenzial.

2.

Dabei müssen falsche Erwartungen vermieden werden. Insbesondere sollte eine EU angestrebt werden, die echte Chancengleichheit für alle bieten kann. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Faktoren sind eng miteinander verknüpft. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass Europa in die Lage versetzt wird, sich an die tiefgreifenden Transformationsprozesse und den harten Wettbewerb in der Welt anzupassen und die Globalisierung wirksam im Einklang mit den Werten der EU zu gestalten.

3.

Das sattsam betriebene Spiel, Brüssel den Schwarzen Peter zuzuschieben, muss aufhören. Ein gemeinsames Engagement der EU-Institutionen und eines breiten Spektrums von Interessenträgern einschließlich Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene ist dafür unerlässlich. Der EWSA macht deutlich, dass die Legitimität der Beschlüsse der EU letztlich von der Qualität des demokratischen Prozesses abhängt.

4.

Der Weg in die Zukunft kann nur dann erfolgreich sein, wenn er von den gleichen gemeinsamen Zielvorstellungen geprägt ist, die auch die Überzeugung der Gründungsväter und später jeden maßgeblichen Fortschritt Europas gekennzeichnet haben. Die EU sollte alle ihr zur Verfügung stehenden Rechtsinstrumente, ihre Leitlinien-Kompetenz, Fonds und Kooperationsprogramme einsetzen, um in allen gewünschten Bereichen voranzukommen. Der Vertrag von Lissabon weist dabei den Weg.

Die Szenarien des Weißbuchs

5.

Um zu gemeinsamen Zielvorstellungen oder zur Bestimmung des künftigen Wegs zu gelangen, ist es nach Auffassung des EWSA nicht der richtige Weg, verschiedene Szenarien zur Wahl zu stellen (2). Erstens fängt die EU nicht bei Null an, weshalb die Kommissionsvorschläge auf einer eingehenden historischen Analyse der EU — ihrer Errungenschaften und ihrer Mängel — als einer wertvollen Quelle für die Zukunft — basieren sollten. Die von den Mitgliedstaaten in der Erklärung von Rom eingegangenen Verpflichtungen sind ein positiver und solider Ausgangspunkt (3). Die fünf Szenarien sind für die Mitgliedstaaten konzipiert und zielen auf institutionelle Änderungen ab. Sie mangeln daher an direkter Relevanz für die Unionsbürgerinnen und -bürger. Zudem erscheinen sie künstlich.

6.

Für den EWSA ist Szenario 1 — die des „Durchwurstelns“ — keine Alternative. Szenario 5 mag für eine ganze Reihe von Menschen attraktiv sein, ist aber derzeit unrealistisch. Szenario 2 mit ausschließlichem Schwerpunkt auf den Binnenmarkt greift viel zu kurz. Szenario 4 erfordert eine Übereinkunft zwischen 27 Mitgliedstaaten, was zur einer Lähmung der EU führen und zentrifugalen Tendenzen Vorschub leisten könnte, wodurch die Ziele und Werte der Union gefährdet werden. Die in Szenario 3 vorgesehenen Mechanismen einer differenzierten Integration — wie z. B. die verstärkte Zusammenarbeit — können ein nützliches Instrument zur Überwindung von Blockaden in bestimmten Bereichen und zur Förderung einer positiven Dynamik im EU-Integrationsprozess sein. Gleichwohl sind sie eher Instrumente zur Erreichung der politischen Ziele als ein Ziel an sich. Während sie als ein empfehlenswertes Mittel zur Überwindung von Lähmungen oder Hindernissen bezüglich wünschenswerter EU-Rechtsvorschriften zu empfehlen sind, betont der EWSA gleichermaßen, dass die Konvergenz in der Union gefördert und die Fragmentierung und Spaltung bekämpft werden muss. Daher sollten Vereinbarungen zwischen Vorreiter- oder Katalysator-Staaten immer auch allen anderen Ländern offenstehen, die sich daran beteiligen wollen, wobei gemeinsame Zielvorstellungen im Vordergrund stehen sollten.

Standpunkt des EWSA zur Zukunft Europas

A.    Verfahren

7.

Strategische Themen sollten in eine gemeinsame Perspektive eingefügt werden, um die Gefahr eines Europa „à la carte“ oder zentrifugale Tendenzen zu vermeiden. Der EWSA empfiehlt eine Entwicklung, bei der die Voraussetzungen für eine bessere Teilung der politischen Macht in allen Bereichen geschaffen werden. Diese Fragen hängen in erster Linie vom politischen Willen ab und sollten deshalb ein zentrales Thema in einer echten Debatte über die Zukunft Europas sein.

8.

Die traditionelle Unterscheidung zwischen der nationalen und der europäischen Ebene sollte aufgegeben werden. Gemeinsame Herausforderungen und eng verknüpfte Lebenswelten in Europa unterstreichen die Notwendigkeit einer gemeinsamen Mission. Dies macht auch die Anerkennung der Unionsbürgerschaft neben der nationalen Staatsangehörigkeit erforderlich. Alle Ebenen der Gesellschaft müssen in die politische Entscheidungsfindung einbezogen und daran beteiligt werden. Die Ziele sollten gemeinsam festgelegt und die Auswirkungen der Entscheidungen und Maßnahmen sollten auch auf einzelstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene regelmäßig bewertet werden, um die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen.

9.

Das Europäische Parlament (EP) muss bei der Gestaltung der Zukunft Europas eine zentrale Rolle spielen. Zudem muss unbedingt das Engagement der nationalen Parlamente gefördert und ihre Interaktion mit dem EP gestärkt werden.

10.

Die zentralen Ziele müssen mit einer Vereinbarung der Mitgliedstaaten über folgende Punkte einhergehen:

Ziele, gemeinsamen Instrumente und Fristen; am notwendigsten sind gemeinsame Vorstellungen auf der Grundlage von Kohärenz, Transparenz, Sichtbarkeit und vor allem gemeinsamer Kommunikation;

eine wünschenswerte Reform des Rates, die Effizienz und Transparenz gewährleistet, sowie eine unabhängige Rolle der Kommission in Angelegenheiten der ausschließlichen Zuständigkeit und der geteilten Zuständigkeit unter starker Betonung der Gemeinschaftsmethode;

Notwendigkeit ordnungsgemäßer Mechanismen der Konsultation aller Interessenträger sowie der korrekten Rechtsumsetzung und der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.

B.    Politikbereiche

11.

Der EWSA tritt für eine zusammenhaltende und kohärente Europäische Union ein, welche Option für die Zukunft auch immer gewählt wird. In zahlreichen Politikbereichen wird die Integration vertieft — ein langfristiger Prozess, den der EWSA voll und ganz unterstützt. Mit fast allen dieser Bereiche hat sich der EWSA in jüngster Zeit ausführlich befasst und entsprechende Vorschläge für die Zukunft vorgelegt.

12.

Der Binnenmarkt mit all seinen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten und im Rahmen eines nachhaltigen Entwicklungsmodells ist das unverzichtbare Herzstück der europäischen Integration. Er sollte wirklich gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleisten. Die WWU wurde gleichfalls als ein entscheidender Schritt nach vorne aufgefasst. Trotz beeindruckender Fortschritte ist ihre Architektur aber nach wie vor fragil. Die WWU steht im Zentrum künftiger Entwicklungen in der EU, weshalb sie unbedingt vertieft werden muss. Der EWSA spricht sich aus für eine schrittweise Verwirklichung einer politischen Union mit einer Reihe von makro- und mikroökonomischen Maßnahmen und Vorschriften sowie mit einer sozialen Dimension. Die Vollendung der WWU macht eine echte wirtschaftspolitische Steuerung einschließlich der Regulierung des Finanzsektors durch die EU, ordentliche Reformen in den betroffenen Mitgliedstaaten und gemeinsame Ansätze für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erforderlich. Mit einer verbesserten Governance müssen die Grundlagen für mehr Konvergenz sowie für Solidarität im Euroraum gestärkt werden. Dabei kann der öffentliche Dienst in der EU mit seiner großen Fachkompetenz Unterstützung leisten. Der Euroraum sollte auch in anderen Bereichen eine engere Zusammenarbeit aufnehmen.

13.

Der EWSA betont auch, dass eine kohärentere Governance, tiefere Integration und ein umfassendes Engagement der Mitgliedstaaten in folgenden Bereichen erforderlich sind:

eine koordinierte europäische Industriepolitik auf der Grundlage eines fairen Wettbewerbs — und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung — muss gemeinsame Ansätze (anstelle nationaler Alleingänge) sicherstellen, um die europaweiten Bedingungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in einer sozialen Marktwirtschaft zu verbessern mittels engagierter Beteiligung aller Interessenträger an einem konsensorientierten Dialog sowie an der Verbesserung der Investitionsprogramme und der Förderung von KMU;

Förderung einer sozialen Aufwärtskonvergenz — im Einklang mit der wirtschaftlichen Konvergenz — in puncto Beschäftigung und soziale Ergebnisse mittels Realisierung der europäischen Säule sozialer Rechte unter Beachtung der nationalen Zuständigkeiten;

eine Energieunion mit einer angemessenen Steuerung, die für einen echten gemeinsamen Markt und die Energieversorgungssicherheit unerlässlich ist;

eine zukunftsorientierte europäische Strategie und ein Rechtsrahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auf der Grundlage des Übereinkommens von Paris und als Beitrag zu den internationalen Klimaschutzübereinkommen, sowie Förderung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in allen Politikbereichen der EU;

ein Digitaler Binnenmarkt als wichtiges Element künftiger Wettbewerbsfähigkeit und zur Förderung hochwertiger Beschäftigung, wobei die Auswirkungen des digitalen Wandels auf Beschäftigung und Arbeitsmärkte zu antizipieren sind;

eine verstärkte unionsweite Strategie für Technologie, Forschung und Innovation;

eine (multilaterale) Handelspolitik, die auf der Grundlage transparenter Verhandlungen offene Märkte sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit sicherstellen und ebenso Gleichheit in den Handelsbeziehungen gewährleisten sollte, um die Interessen Europas in einer zunehmend durch protektionistische Tendenzen geprägten Welt zu wahren;

eine europäische Verbraucherschutzpolitik als Politik für die Bürger.

14.

Nach Auffassung des EWSA müssen auch soziale Fragen und das Thema Bildung auf EU-Ebene systematischer behandelt werden, um überzeugende Lösungen zu finden. Soziale Sicherheit und Bildung unterliegen weitgehend dem Subsidiaritätsprinzip und fallen daher in die einzelstaatliche Zuständigkeit für Gesetzgebung und politische Entscheidungsfindung, häufig unter aktiver Beteiligung der Sozialpartner. Zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeiten sollten im Sozialbereich stärker als bisher Anwendung finden. Angesichts der zunehmenden Spannungen auf dem Arbeitsmarkt, aufgrund der digitalen Revolution, den strukturellen Schwächen auf den Arbeitsmärkten und der Globalisierung fordert der EWSA ein sichtbares europäisches Engagement. Damit sollte für mehr Konvergenz bezüglich bestimmter sozialer bzw. arbeitsmarktrelevanter Bedingungen gesorgt und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze, faire Mobilität und ein positives Engagement der Bürger gefördert werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Jugend und der Arbeitslosigkeit junger Menschen gewidmet werden. Die Rolle der Sozialpartner und der gesamten Zivilgesellschaft sowie der soziale Dialog sind von zentraler Bedeutung.

15.

Die EU braucht mehr wirtschaftliche und soziale Konvergenz. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften, Kulturen und Traditionen der sozialen Systeme müssen dabei jedoch berücksichtigt werden. Der EWSA unterstreicht, dass die EU nicht untätig bleiben darf, sondern eine klar definierte Verantwortung übernehmen sollte. Angemessene Gespräche zwischen den Sozialpartnern (und anderen Interessenträgern) sind notwendig, bevor ein gemeinsamer Weg festgelegt werden kann. Außerdem weist der EWSA darauf hin, wie wichtig es ist, dass die EU-Richtlinien zu sozialen Fragen durch die Mitgliedstaaten wirksam umgesetzt werden.

16.

Das Thema Bildung unterliegt auch dem Subsidiaritätsprinzip. Die soziale und wirtschaftliche Zukunft Europas sowie das Engagement der Bürgerinnen und Bürger sind jedoch eng mit modernen Bildungs- und Ausbildungssystemen auf allen Ebenen verbunden. Die Zukunft der jungen Generation hängt entscheidend von der Bildung ab. Kompetenzen sind für junge Menschen, ebenso wie für ältere Generationen, von zentraler Bedeutung. Daher muss die EU aktiv ihren Teil zum laufenden Modernisierungsprozess beitragen. Bildung spielt auch bei der Kommunikation über Europa eine wichtige Rolle: der EWSA betont die Notwendigkeit angemessener Informationen und der Vermittlung von Bildungsinhalten über die EU, die europäischen Werte und die Unionsbürgerschaft in den Grund- und Sekundarschulen.

17.

Der freie Personenverkehr im Schengen-Raum muss wieder hergestellt werden. Das heißt per definitionem, dass die gemeinsamen Grenzen wirksamer kontrolliert werden müssen. Gleichzeitig muss die bedauerliche Zunahme des internationalen Terrorismus in Form von Attentaten, aber auch von Cyberkriminalität, die die Öffentlichkeit erheblich verunsichern, bekämpft werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Polizei- und Justizbehörden ist notwendiger denn je.

18.

Diese Bereiche sind unmittelbar verbunden mit der Außenpolitik und dem akuten Problem von scheiternden Staaten und Bürgerkriegen in Europas Nachbarschaft sowie den daraus resultierenden Migrationsströmen, die derzeit alle europäischen Themen überschatten. Der EWSA spricht sich nachdrücklich aus für eine gemeinsame Migrationspolitik, die Flüchtlingen gemäß internationalem Recht Schutz gewährt, für ein gemeinsames Asylsystem, für Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Migration und des Menschenhandels sowie für die Förderung legaler Einwanderungswege in die EU. Im selben Kontext muss die EU wieder echte Partnerschaften mit Nachbarländern errichten und insbesondere wieder eine echte Europa-Mittelmeer-Politik auflegen.

19.

Europa steht heute mehr denn je seit 1945 vor der Herausforderung, sich selbst um seine Angelegenheiten kümmern zu müssen. Die Beziehungen innerhalb der NATO und zu den USA, zusammen mit einem wirksamen gemeinsamen europäischen Konzept für den Umgang mit den Problemen in ihrer Nachbarschaft und deren Bewältigung machen eine Vertiefung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU erforderlich, von der die erfolgreiche Gewährleistung der internen und externen Sicherheit zwangsläufig abhängt.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Diese vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner Plenartagung am 5. Juli 2017 angenommene Entschließung geht zurück auf ein Ersuchen des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, der den EWSA am 4. April 2017 beauftragte, die Vorstellungen und Prioritäten der organisierten Zivilgesellschaft über die künftige Entwicklung der Europäischen Union auf der Grundlage des Weißbuches zur Zukunft Europas darzulegen.

(2)  Vgl. Weißbuch zur Zukunft Europas, März 2017.

(3)  Erklärung der führenden Vertreter von 27 Mitgliedstaaten und des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission vom 25. März 2017:

http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/03/25-rome-declaration/.


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine wirksamere KMU-Politik der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/03)

Berichterstatterin:

Milena ANGELOVA

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

7.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

6.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

157/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist erfreut, dass KMU zum Herzstück der EU-Wirtschaftspolitik erklärt wurden. Er begrüßt, dass im Lauf der letzten zehn Jahre zahlreiche Rechtsvorschriften verabschiedet und beträchtliche Mittel zu ihrer Unterstützung zugewiesen wurden. Der EWSA teilt jedoch die von KMU und ihren Verbänden häufig geäußerte Ansicht, dass sowohl bei der Konzipierung als auch bei der Umsetzung der KMU-Politik noch bedeutende Ineffizienzen bestehen, die die Wirksamkeit der Unterstützungsmaßnahmen erheblich beeinträchtigen.

1.2.

Aus den jüngsten Studien des EWSA (1) geht hervor, dass im Rahmen der KMU-Politik der EU und der derzeitigen Fördermaßnahmen die große Zahl von KMU in Europa als homogene Gruppe behandelt wird und leider nicht zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der zahlreichen Untergruppen von Unternehmen, die unter den Begriff KMU fallen, unterschieden wird. Beispiele für individuell zugeschnittene Fördermaßnahmen sind eher selten. Die Anwendung eines Universalkonzepts bei der Entwicklung von KMU-Maßnahmen der EU stellt ein entscheidendes Problem dar und verhindert, dass die beabsichtigte Wirkung auf die KMU in vollem Umfang erzielt wird (2). Daher wird nachdrücklich empfohlen — neben der künftigen öffentlichen Konsultation bezüglich der Relevanz der KMU-Definitionen — die KMU-Politik besser bekannt zu machen und gleichzeitig präziser auf die spezifischen Bedürfnisse von KMU auszurichten.

1.3.

Der EWSA gemahnt daran, dass ein bürokratisches Vorgehen und komplexe Verwaltungsvorschriften bei der KMU-Politik der EU und bei den derzeitigen Fördermaßnahmen nach wie vor vorherrschend sind, obwohl auf EU-Ebene kontinuierliche Anstrengungen zur Minimierung des Verwaltungsaufwands unternommen werden. KMU in der EU haben oft den Eindruck, dass die zuständigen Beamten keine Vorstellung davon besitzen, wie ihre Unternehmen tatsächlich funktionieren. Die Mehrheit der EU-Fördermaßnahmen erscheint ungeeignet, um auf den dringenden Bedarf der KMU an raschen, klaren und wirksamen Lösungen zu reagieren.

1.4.

Der EWSA ist besorgt, dass die Mehrheit der KMU — zumeist Klein- und Kleinstbetriebe — aufgrund mangelnder Kommunikation diese Förderinstrumente und -netze überhaupt nicht kennt. Dem kann abgeholfen werden durch verstärkte Bemühungen um Information und Aufklärung, um Unterstützung einer größeren Zahl von KMU, damit sie auf die richtigen Informationen zugreifen, durch ein stärkeres Zugehen der offiziellen Stellen auf wichtige lokale Vermittler auf nationaler und regionaler Ebene, die sich in ihrer Arbeit speziell um KMU kümmern (Arbeitgeber, KMU-Verbände und Handelskammern) und durch die Bereitstellung von Unterstützung, die benutzerfreundlicher und besser auf den Bedarf der Unternehmen zugeschnitten ist. Die meisten Instrumente, die angeboten werden, sind zu komplex, unklar und bürokratisch, sowohl im Hinblick auf die Gestaltung als auch auf den Inhalt, um dem Bedarf der KMU zu entsprechen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, zur Bewältigung dieses Problems einen optimalen Gebrauch vom Europäischen Semester zu machen, das Partnerschaftsprinzip (3) systematisch und flächendeckend zu verfolgen und KMU-Vertretungseinrichtungen auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene zwingend in die Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von KMU-Politik und Unterstützungsmaßnahmen einzubeziehen. Länderspezifische Empfehlungen sollten ständig auf Unterstützungsmaßnahmen für KMU ausgerichtet sein, um eine sachdienliche Konzipierung, eine wirkungsvolle Umsetzung und eine qualitative und quantitative Ergebnismessung sicherzustellen.

1.5.

Der EWSA bedauert, dass die Überwachung der Fortschritte der KMU-Politik der EU immer noch fragmentiert ist. Die Geschäftstätigkeiten der KMU werden umfassend aufgezeichnet, jedoch nicht die Auswirkungen der EU-Fördermaßnahmen auf diese Tätigkeiten und der Umfang, in dem Veränderungen in der Entwicklung von KMU diesen Maßnahmen zugeschrieben werden können. Die verfügbaren Informationen sind vorwiegend quantitativer Art und ermöglichen keine qualitativen Einblicke. Sie bieten daher keine Grundlage für eine angemessene Bewertung der Wirksamkeit und Effizienz der Maßnahmen und Unterstützungsinstrumente (4).

1.6.

Wie bereits in früheren Stellungnahmen äußert der EWSA die Befürchtung, dass die Umsetzung des „Small Business Act“ für Europa bei Weitem nicht vollständig ist (5). Die Erfolge in den unterschiedlichen Bereichen sind ungleich verteilt, mit schlechteren Ergebnissen in den Bereichen Unternehmertum, Binnenmarkt und Zugang zu Finanzmitteln. Qualifizierung, Innovation sowie staatliche und öffentliche Auftragsvergabe haben sich seit 2008 eigentlich verschlechtert (6). Natürlich sollten die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und den „Small Business Act“ bei der Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen und Rechtsvorschriften mit Auswirkungen auf die KMU zu beherzigen.

1.7.

Besondere Empfehlungen

1.7.1.

Die EU sollte in ihrer KMU-Politik die Heterogenität und Vielfalt der europäischen KMU anerkennen. Der spezifische Bedarf von Kleinstunternehmen, Familienbetrieben und „traditionellen“ Unternehmen, Sozialunternehmen, freien Berufen, Selbstständigen und allen anderen spezifischen Untergruppen, die sehr unterschiedlich in ihren Rechtsformen und Geschäftsmodellen sind, sollte untersucht werden, um ein geeignetes Angebot an politischen Maßnahmen zur Förderung ihres Wachstums bereitstellen zu können.

1.7.2.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission bewertet, ob die derzeitige Definition der KMU ihrer Heterogenität, ihren branchenspezifischen Entwicklungen, ihren besonderen Merkmalen und ihrer Vielfalt in den letzten zehn Jahren Rechnung trägt (7). Der EWSA fordert eine sichtbare, koordinierte und kohärente Querschnittspolitik für KMU auf der Grundlage eines mehrjährigen Aktionsplans.

1.7.3.

Die EU-Förderinstrumente für KMU sollten in die Sprache der Wirtschaft übersetzt werden, damit sie ihrem Zweck, Wachstum und Beschäftigung zu fördern, gerecht werden können. Um die festgestellte übermäßige Komplexität der Fördermaßnahmen zu beheben, ist es wichtig, die Unterstützung und den Rat der KMU-Organisationen einzuholen, die die Bedürfnisse von KMU am besten kennen, sodass die EU in ihrer KMU-Politik die Sprache der Wirtschaft spricht. In dieser Hinsicht bauen die KMU derzeit auf die nationalen Sozialpartner als einen wichtigen positiven Faktor, um ihre Ansichten darüber darzulegen, wie die Politik zur Förderung von KMU verbessert werden kann, und dringen darauf, dass sie aktiver in das NRP eingebunden werden. Ihre Rolle muss daher ebenso wie die von KMU-Verbänden, Industrie- und Handelskammern und anderen KMU-Mittlerorganisationen gestärkt werden.

1.7.4.

Die EU sollte sich mit ihrer KMU-Politik intensiver darum bemühen, die KMU — und insbesondere die schutzbedürftigsten Untergruppen wie Einpersonen- und Kleinstunternehmen, traditionelle Unternehmen mit geringem Innovationspotenzial, Unternehmen in entlegenen Regionen usw. (8) — über die verfügbare Unterstützung zu informieren. Zentrale Fördernetzwerke sollten beibehalten und breiter zugänglich gemacht sowie für KMU nutzerfreundlicher und umfassender gestaltet werden. Das Potenzial für die Gewährleistung der Koordinierung der bestehenden Fördernetzwerke in einem gemeinsamen Zentralsystem („One Stop Shop“), das der Lage der KMU in jedem Mitgliedstaat Rechnung trägt, sollte von der Kommission sorgfältig geprüft werden.

1.7.5.

Es ist von entscheidender Bedeutung, eine starke Partnerschaft verschiedener mit den Belangen der KMU befasster Interessenträger — KMU-Plattformen — mit den Sozialpartnern und privaten und öffentlichen Interessenträgern auf nationaler und regionaler Ebene einzurichten. Eine stärkere Interaktion mit den KMU-Organisationen, die die Bedürfnisse der KMU am besten kennen, insbesondere auf nationaler und regionaler Ebene, ist grundlegend für die Behebung des bestehenden Kommunikationsdefizits zwischen den KMU und den EU-Fördereinrichtungen. Dadurch kann potenziell auch ein neuer und wirksamer Kanal geschaffen werden, über den sich die KMU erreichen lassen, indem lokale Niederlassungen von Arbeitgeberorganisationen, Industrie- und Handelskammern, KMU-Verbände und Berufs-/Branchenorganisationen als Hauptvermittler bei der Verbreitung und Bereitstellung bestehender Förderinstrumente eingesetzt werden.

1.7.6.

Für die KMU werden dann die besten Ergebnisse erzielt, wenn lokale Behörden mit KMU-Organisationen bei der Konzipierung und Umsetzung der Maßnahmen zusammenarbeiten. Die derzeitige, vor allem über die Banken organisierte Vermittlung ist nicht die beste Option. Banken sollten als Finanzintermediäre agieren, aber in allen anderen Aspekten (Politikgestaltung, Information und Förderung) sind repräsentative KMU-Organisationen besser geeignet. Deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, entsprechende Maßnahmen zu konzipieren, um die KMU-Organisationen bei der Umsetzung der KMU-Politik und der Verbreitung einschlägiger Informationen an die KMU — u. a. auch finanziell — zu unterstützen.

1.7.7.

Der EWSA fordert, den Small Business Act und die beiden darin festgelegten Grundsätze — „Vorfahrt für KMU“ und Grundsatz der einmaligen Erfassung („once only“) — rechtsverbindlich zu machen. Allerdings sollte der Einmaligkeitsgrundsatz nicht das Recht der Aufnahmeländer beschneiden, zu überprüfen, ob die erforderlichen rechtlichen und fachlichen Anforderungen für die Ausübung einer Geschäftstätigkeit erfüllt sind. Das Partnerschaftsprinzip sollte auf alle Legislativverfahren mit direkten oder indirekten Auswirkungen auf KMU ausgeweitet werden. In praktischer Hinsicht werden jährliche Sitzungen von KMU-Plattformen auf Ebene der Union und der Nationalstaaten wärmstens empfohlen.

2.   KMU — ein Schwerpunkt der EU-Wirtschaftspolitik

2.1.

EU-Fördermaßnahmen (9) für KMU sind erforderlich, weil europäische KMU im Unterschied zu KMU in anderen Teilen der Welt sowohl einzelstaatliche als auch europäische Vorschriften einhalten müssen — die oftmals ohne eine wirkliche Zurateziehung ihrer repräsentativen Organisationen beschlossen wurden, was dem Prinzip „Vorfahrt für KMU“ widerspricht. Dies führt zu einem erheblichen Mehraufwand und Mehrkosten für die Geschäftstätigkeit, ungeachtet der begrenzten personellen und technischen Mittel der KMU.

2.2.

Im Jahr 2008 hat die Europäische Kommission den Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ und den Einmaligkeitsgrundsatz („once only“) als einen entscheidenden Schritt hin zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Verbesserung des Geschäftsklimas für die 23 Mio. KMU in Europa eingeführt (10). Der EWSA hat diese Bemühungen stark unterstützt (11), warnt aber davor, dass der SBA nur eine reine politische Absichtserklärung bleibt, wenn er nicht auf allen Verwaltungs- und Regierungsebenen (EU, Mitgliedstaaten und Regionen) rechtsverbindlichen Charakter bekommt.

2.3.

Die Umsetzung wurde des SBA wurden im Jahr 2011 bewertet und aktualisiert (12), aber die Schlussfolgerungen bezüglich der tatsächlichen Auswirkungen waren eher ernüchternd und es wurden mehr Anstrengungen (13) gefordert. Der EWSA hat wiederholt Vorschläge für eine wirksamere KMU-Politik eingebracht (14). Heute sind die KMU von allen Politikbereichen der EU betroffen. Deswegen bedürfen sie einer wirklich bereichsübergreifenden, sichtbaren, koordinierten und kohärenten Politik, die wirksam und effizient konzipiert und umgesetzt werden muss (15).

2.4.

In der KMU-Politik werden die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Kategorien von KMU nicht berücksichtigt. Eine wirksamere Konzipierung und Umsetzung erfordert ein stärkeres Auf-sie-Zugehen, um die Ansprechpartner genauer zu differenzieren und maßgeschneiderte Lösungen für ihre spezifischen Bedürfnisse anzubieten. Die Segmentierungskriterien sollten nicht nur auf der Größe basieren (je kleiner ein Unternehmen ist, umso schwerer erhält es im Allgemeinen Zugang zu Finanzierung und umso größer ist der Bedarf an Beratung, Coaching und Mentoring), sondern auch auf dem Standort (Städte vs. Kleinstädte und entlegene ländliche Gebiete), der Phase im Lebenszyklus (Gründungsphase, Wachstumsphase), der Branche (z. B. verarbeitendes Gewerbe, Handel, Landwirtschaft, Tourismus) usw.

2.5.

Wesentliche Vorbereitungen für eine Überarbeitung des „Small Business Act“ wurden bereits durchgeführt. Im Rahmen des REFIT-Programms werden dringend notwendige Verbesserungen des EU-Rechtsrahmens und zur Verringerung der bürokratischen Hürden in Angriff genommen. Im Laufe der Jahre ist die Zahl der geltenden EU-Rechtsvorschriften auf 19 875 Dokumente angewachsen (16). Davon enthalten 1 527 Dokumente Bestimmungen für KMU, meist in den folgenden Sachbereichen: staatliche Beihilfen (343), Wettbewerb (293), Binnenmarkt (217), Forschung und technische Entwicklung (133) sowie Haushalt (117).

2.6.

Aus aktuellen Studien des EWSA geht hervor, dass die KMU-Politik der EU trotz der zahlreichen laufenden Initiativen einer grundlegenden Überarbeitung bedarf, und zwar in Form einer Diversifizierung der Fördermaßnahmen, einer Vereinfachung der geltenden Vorschriften und einer Optimierung der Kommunikation und der Zusammenarbeit mit den KMU und ihren Verbänden, um auf die Vielfalt und die unterschiedlichen Bedürfnisse der KMU wirksam eingehen zu können. Die Rolle von Regionen und Gebieten bei der Umsetzung von Maßnahmen und Rechtsvorschriften der EU — insbesondere für KMU — nimmt erheblich zu (17).

3.   KMU-Förderstrategien — Herausforderungen und Chancen

3.1.

Die KMU stehen vor mit immer schwierigeren Herausforderungen unterschiedlicher Art:

stetige Intensivierung des Wettbewerbs und der Globalisierung der Märkte;

neue Geschäftsmodellen infolge der Entwicklung neuer Technologien wie der weit verbreiteten Digitalisierung (Industrie 4.0), der Kreislaufwirtschaft und der Sharing Economy;

Mangel an ausgebildetem und qualifiziertem Personal infolge der demografischen Krise in Europa, der Überalterung der Bevölkerung und der Migration.

3.2.

KMU bilden eine ziemlich heterogene und vielgestaltige Gruppe. Sie können auf der Grundlage ihrer Größe, ihres Stands im Lebenszyklus, ihres Standorts, der Art der Eigentumsverhältnisse, ihrem Tätigkeitsbereich usw. unterschieden werden, und ihr Unterstützungsbedarf unterscheidet sich stark je nach der jeweiligen Untergruppe, der sie im Einzelfall angehören. Eine besondere Gruppe, die spezieller Behandlung bedarf, bilden die Einpersonenunternehmen (ca. 50 % aller KMU), die vom Geltungsbereich der Unterstützungsmaßnahmen weitgehend ausgeschlossen sind. Um dieser stark gefährdeten Gruppe von KMU dabei behilflich zu sein, sich zu entwickeln und zu gedeihen, muss auch die Frage der Scheinselbstständigkeit angemessen angegangen werden.

3.3.

Förderstrategien ausschließlich auf der Basis der Größe der geförderten Unternehmen auszuarbeiten, erscheint vor diesem Hintergrund überholt, zu wenig zielgerichtet und lässt die unterschiedlichen Bedürfnisse der unterschiedlichen Gruppen von KMU außer Acht. Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen konsequent betont, dass stärker zielgerichtete und präziser definierte KMU-Förderstrategien in Europa (18) nötig sind und dass die Definition von KMU überarbeitet werden sollte, damit auf die Vielfalt der KMU und die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten besser eingegangen werden kann (19). Der EWSA regt an, dass die Kommission eine Umfrage betreffend die Definition von KMU einleitet. Diese sollte auch eine Bewertung der Frage umfassen, auf welche Weise die Definition bei der Umsetzung von KMU-Fördermaßnahmen für Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe angewandt wird.

3.4.    Angemessenheit der Förderinstrumente für die Bedürfnisse der KMU

3.4.1.

Die KMU-Förderinstrumente müssen unter dem Gesichtspunkt ihrer tatsächlichen Wirkung hinsichtlich der Verbesserung der Situation der KMU sowie daraufhin bewertet werden, ob sie insbesondere den im SBA umrissenen Grundsätzen entsprechen. Nach Einschätzung des EWSA sind eine qualitative und eingehende Bewertung der Wirksamkeit und Effizienz der Investition von EU-Mitteln sowie stärkere Anstrengungen der Mitgliedstaaten notwendig, um die Grundsätze „Vorfahrt für KMU“ und „once only“ auf nationaler und regionaler Ebene umzusetzen (20), was auf allen Ebenen obligatorisch sein sollte.

3.4.2.

Der Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ und die Grundsätze des „Small Business Act“ werden in dem Juncker-Plan nicht ausdrücklich erwähnt. Sie sind jedoch in gewissem Maße in den Programmen „Horizont 2020“ und COSME zu sehen, jedoch sehr spezifisch und eng gefasst. Der EWSA ersucht die politischen Entscheidungsträger der EU, die Grundsätze des SBA in allen Rechtsakten der EU, die unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die KMU haben, zu berücksichtigen.

3.4.3.

Die Kreditkosten und die Bau- und Mietkosten sind in den letzten Jahren gesunken. Dadurch werden zusammen mit einigen neuen zielgerichteten Instrumenten gute Möglichkeiten für Start-up-Unternehmen geschaffen, die Scale-up-Phase der Unternehmen wird jedoch noch nicht ausreichend gefördert. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die neue Initiative der Europäischen Kommission zur Beseitigung dieses Problems (21).

3.4.4.

Bankkredite sind immer noch die Hauptfinanzierungsquelle für KMU, aber wegen der schwachen Bilanzen der Banken, des Fehlens des geldpolitischen Transmissionsmechanismus der EZB in manchen Ländern und der verhältnismäßig hohen Hürden durch die geforderten Garantien erhalten viele KMU nach wie vor nicht leicht Zugang zu Finanzmitteln. Marktbasierte Finanzierung durch Private-Equity-Fonds, Risikokapitalbeteiligungen, Anleiheemissionen und Eigenkapitalinstrumente für spezialisierte Marktsegmente sowie Crowdfunding sind von zunehmender Bedeutung, doch sind die meisten KMU noch nicht der Lage, diese Möglichkeiten zu nutzen (22). Sie benötigen angemessene Hilfestellung bei der Zeitplanung und eingehende Informationen und Unterstützung, um diese Möglichkeiten sondieren zu können. Laut der Erhebung des EWSA besitzt ein äußerst hoher Anteil von KMU keine Kenntnis der Fördermöglichkeiten durch Beihilfeprogramme im Rahmen der ESI-Fonds oder der Möglichkeit, Finanzmittel über einen aus EU-Mitteln geförderten Investitionsfonds zu erhalten.

3.4.5.

Bei einer Stichprobenuntersuchung hat sich gezeigt, dass die Schwerpunkte und Prioritäten der Förderinstrumente nicht immer den vordringlichen Bedürfnissen der KMU entsprechen (23). So werden z. B. die erheblichen Unterschiede, die nach wie vor zwischen den Mitgliedstaaten bestehen, unzureichend berücksichtigt. Beispielsweise wird der Zugang zu neuen Märkten vor allem von südeuropäischen Unternehmen als schwierigste Herausforderung genannt, während nordeuropäische Unternehmen den größten Teil der Unterstützung zur Verbesserung des Marktzugangs — auch zu internationalen Märkten — erhalten. Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die Bedürfnisse der KMU auf nationaler Ebene sehr unterschiedlich sind, was die Frage aufwirft, ob die europaweiten Instrumente nicht vielleicht differenzierter gestaltet werden sollten. Diese Ansicht wird ebenfalls im Jahresbericht 2014/2015 über europäische KMU (24) voll und ganz unterstützt, laut dem der Gruppe der Länder mit den niedrigsten Werten hauptsächlich südeuropäische Länder angehören. Diese Länder melden im Hinblick auf Projekte, einschließlich der KMU-Komponente von „Horizont 2020“, äußerst niedrige Erfolgsquoten (25).

3.4.6.

Die hohen Erwartungen an die Rolle des „KMU-Beauftragten“ haben sich bisher leider nicht erfüllt. Nur wenige KMU-Vertreter wissen, welche Person in ihrem Land diese Funktion ausübt. Die meisten KMU geben an, dass der „KMU-Beauftragte“ eher protokollarische und zeremonielle Aufgaben wahrnimmt, als in Verbindung mit tatsächlichen Maßnahmen zur Förderung von KMU eine Rolle zu spielen. Während das Hauptziel dieses Netzwerks darin besteht, als Schnittstelle zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Einrichtungen zu fungieren und die Interessen der KMU in den nationalen Einrichtungen und im einzelstaatlichen Recht effektiv zu vertreten, erwarten die KMU praktische Beratung und Informationen über die EU-Politik in Zusammenarbeit mit den KMU-Organisationen.

3.4.7.

Die Förderung des Unternehmertums ist mit der Schaffung geeigneter Bedingungen verknüpft, um den Anteil überlebensfähiger und erfolgreicher Start-ups und Unternehmensgründungen zu erhöhen, um neugegründeten Unternehmen eine Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit sowie ein rascheres und effizienteres Wachstum zu ermöglichen, um zur Verbesserung der Insolvenzverfahren und zur Entwicklung und Stärkung von Unternehmensübertragungen beizutragen (26). Wurden Technologie und Verfahren zur Anmeldung neuer Unternehmen in der EU bereits erheblich verbessert, sind mit Blick auf das zweite und dritte Ziel noch einige Anstrengungen erforderlich. Der Grundsatz der „zweiten Chance“ schneidet in allen Mitgliedstaaten am schlechtesten ab, und sogar die Kommission vergibt keine Aufträge an Unternehmer, die bereits einmal gescheitert sind.

3.4.8.

Zudem sind die Verfahren für die Abwicklung von Unternehmen (sowohl in Fällen von Insolvenz als auch in Fällen einer freiwilligen Abwicklung) sowie für die Umstrukturierung und die Vererbung unter rein verfahrenstechnischem Aspekt in vielen Ländern kompliziert. Der EWSA betont, dass das Insolvenzrecht vereinfacht und angeglichen werden muss (27).

3.4.9.

Die öffentliche Anhörung und die jüngsten Studien des EWSA boten auch wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf die zentralen Herausforderungen, vor denen KMU in der EU in allen wichtigen Bereichen stehen:

3.4.9.1.   Verringerung des Verwaltungsaufwands/Vereinfachung:

die Zahl der Ausnahme- bzw. Vereinfachungsinitiativen für KMU im Rahmen des REFIT-Programms ist begrenzt;

die veraltete KMU-Definition wurde bisher nicht aktualisiert;

der KMU-Test wird von den Mitgliedstaaten nur teilweise und uneinheitlich durchgeführt, da er bisher nicht verpflichtend ist;

öffentliche Konsultationen zu Folgenabschätzungen und Fahrplänen werden durch einen bürokratischen institutionellen Ansatz und durch die Tatsache behindert, dass sie nicht in allen EU-Sprachen verfügbar sind;

alle KMU weisen auf Korruption und ineffiziente staatliche Verwaltung als schwerwiegende Probleme hin, die sich sehr negativ auf ihre Geschäftstätigkeit auswirken;

Zahlungsverzug von öffentlichen Verwaltungen und Großkunden ist in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor ein negativer Trend, obwohl bei der Überarbeitung der Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (28) strengere Anforderungen eingeführt wurden.

3.4.9.2.   Förderung des Unternehmertums:

das Thema Unternehmertum ist in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor nicht in kohärentem Maße Gegenstand der staatlichen Bildungssysteme;

die Ausbildung von Lehrkräften im Fach Unternehmertum findet nur sporadisch und meist unter Bezugnahme auf einzelne Projekte statt — in diesem Bereich gibt es nur wenige europaweite Initiativen (29);

Programme für junge Menschen, die den Schwerpunkt auf das Unternehmertum legen, drohen von dem anfänglichen Ziel der Förderung des Unternehmertums abzukommen, obwohl sie erfolgreich sind;

Förderkampagnen wie die Europäische KMU-Woche tragen wenig zur Ermutigung der Teilnehmer bei, eine unternehmerische Laufbahn ernsthaft in Erwägung zu ziehen;

die Gründungskosten sind nach wie vor dreimal so hoch wie der vorgegebene Referenzwert.

3.4.9.3.   Verbesserung des Marktzugangs und Internationalisierung:

der Binnenmarkt ist noch nicht vollendet, was den Marktzugang von KMU, unter anderem auch bei der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen, behindert;

komplizierte Verwaltungsverfahren und hohe Lieferkosten für Ein- und Ausfuhr;

die KMU-Förderprogramme zur Internationalisierung sind nicht individuell genug zugeschnitten;

Normen und Rechte des geistigen Eigentums sind für KMU nach wie vor unattraktiv, vor allem weil deren Vorteile nicht ausreichend vermittelt werden, die Kosten zu hoch und die Vorschriften zu kompliziert sind.

3.4.9.4.   Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln:

das gängige Finanzierungsmodell sind Bankdarlehen, gefolgt — mit Abstand — von Beihilfen und unterstützt durch Finanzinstrumente;

Beihilfen sind nicht marktorientiert und nicht auf spezifische KMU-Untergruppen zugeschnitten, und ihre politische Ausrichtung trägt den Bedürfnissen der KMU selten Rechnung;

Finanzinstrumente sind besser geeignet, den unmittelbaren Bedarf der KMU an Betriebskapital zu decken. Leider ist nur ein verhältnismäßig geringer Anteil der KMU diesbezüglich gut informiert, individuell zugeschnittene Konzepte für ihre Anwendung sind nach wie vor selten, ihre Bereitstellung ist in hohem Maße abhängig von einer effizienten Zusammenarbeit zwischen Finanzinstituten, Intermediären und Endempfängern, und es mangelt an Daten und Analysen zu ihren tatsächlichen Auswirkungen; größere Komplementarität und Synergien zwischen den bestehenden Instrumenten und Akteuren auf regionaler, nationaler und supranationaler Ebene, einschließlich der Förderung wirksamerer Finanzinstrumente wie z. B. Rückbürgschaften;

trotz der erheblichen Fortschritte bei der Bereitstellung innovativer Finanzierungsmöglichkeiten ohne Darlehenscharakter, wie privates Beteiligungskapital, Risikokapital usw. sind sie in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor relativ schwach entwickelt (30);

ein substanzieller Anteil der KMU schreckt davor zurück, Finanzmittel aus europäischen Programmen zu beantragen, weil es zu kompliziert zu sein scheint, Finanzierungen zu erhalten.

3.4.9.5.   Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation:

obwohl im Rahmen des Programms Horizont 2020 spezielle Fördermittel für KMU zugewiesen werden, können dadurch nicht alle Probleme der KMU im Hinblick auf den Zugang zur Risikofinanzierung für Innovation gelöst werden, und in den zuletzt hinzugekommenen Mitgliedstaaten werden leider nur wenige Projekte durchgeführt;

nach wie vor mangelndes Interesse der KMU an dem Programm, was auf die mühsamen und unfairen Vorschriften für Förderfähigkeit und Antragstellung zurückzuführen ist;

die bisherigen Vorschriften halten KMU möglicherweise davon ab, sich an geeigneten Konsortien für die Durchführung von Innovationsprojekten zu beteiligen;

die Kosten, die KMU für die Beantragung von freiwilligen, von der Kommission entwickelten Instrumenten (31) entstehen, sind nach wie vor verhältnismäßig hoch, weshalb diese nur von einer begrenzten Zahl von Unternehmen genutzt werden können.

3.4.9.6.   Bereitstellung zentraler Fördernetzwerke:

die bereitgestellten Informationen erfüllen im Hinblick auf die Qualität weiterhin nicht die Erwartungen;

die Struktur, der Inhalt und die Gestaltung sind nicht sehr nutzerfreundlich;

das Konzept für die Bereitstellung von Informationen ist oft bürokratisch;

Sprachbarrieren treten häufig auf, da die Informationen weithin nur in englischer Sprache verfügbar sind.

3.5.    Kohärenz der Maßnahmen

3.5.1.

Um Kohärenz zu gewährleisten, muss bei KMU-Fördermaßnahmen der Vielfalt der KMU durch die Erhebung von Mikrodaten und Analysen auf mikroökonomischer Ebene Rechnung getragen werden. Nur so kann ein besseres Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse der KMU entsprechend ihren jeweiligen besonderen Merkmalen erzielt werden.

3.5.2.

Die Banken- und Kapitalmärkte in Europa sind derzeit nach wie vor fragmentiert. Das Projekt der Schaffung einer Kapitalmarktunion, mit dem dieses Problem behoben werden soll, kann nur verwirklicht werden, wenn es mit anderen Maßnahmen zur Unterstützung von KMU im Einklang steht. Durch das begrenzte Wissen und Verständnis der meisten KMU bezüglich der unterschiedlichen Finanzinstrumente würde die Entwicklung der Kapitalmarktunion beschränkt. Aus diesem Grund sollte die Förderung der KMU ein langfristiges und nachhaltiges Finanzierungskonzept und den Aufbau von Wissen über die unterschiedlichen Instrumente, die Möglichkeiten der Komplementarität und die Vorteile und Risiken, die mit den unterschiedlichen Instrumenten verknüpft sind, umfassen.

3.5.3.

In den meisten Fällen sind die Beziehungen zwischen Eigentümer, Geschäftsleitung und Arbeitnehmern in KMU enger als in großen Unternehmen; der soziale Dialog ist daher für alle Beteiligten von Nutzen, weil damit die Grundlagen für motivierte und engagierte Beschäftigte mit hochwertigen Arbeitsplätze geschaffen werden. Damit alle Interessenträger von einer solchen Situation profitieren und der Aufbau von sozialem Kapital in KMU verbessert wird, sollten KMU systematisch unterstützt werden, um ihnen bewusst zu machen, wie wichtig sozialer Dialog, Gesundheit und Sicherheit, Arbeitsbedingungen, innovative Formen der Arbeitsorganisation, Lernen am Arbeitsplatz und die Entwicklung von Kompetenzen sind. Sozialpartnern und NGO kommt dabei eine unverzichtbare Rolle zu.

3.6.    Besondere Empfehlungen zu den Schwerpunktbereichen der KMU-Politik der EU:

3.6.1.   Verringerung des Verwaltungsaufwands/Vereinfachung:

Überregulierung („gold-plating“) vermeiden, indem die EU-Rechtsvorschriften klarer formuliert, Systeme zur Streitbeilegung und Vermeidung von Fehlinterpretation der Vorschriften eingeführt und „KMU-freundliche“ Anmerkungen sowie ein Leitfaden mit einer Zusammenfassung und Erläuterung einschlägiger Informationen für KMU verfasst werden;

Verpflichtung zum KMU-Test für neue Legislativvorschläge und Gewährleistung seiner effektiven Umsetzung durch alle Mitgliedstaaten sowie systematisch in allen Kommissionsdienststellen (32);

eine wirksamere strukturierte Einbeziehung von KMU und ihrer Organisationen bei Folgenabschätzungen zu neuen Rechtsvorschriften sicherstellen, indem deren Format und Inhalt vereinfacht und Informationen in allen EU-Sprachen verfügbar gemacht werden, und Abschätzung der Folgen für die unterschiedlichen Gruppen von KMU;

regelmäßig eine vollständige Eignungsprüfung der EU-Rechtsvorschriften in den EU-Politikbereichen durchführen;

die nationalen und regionalen KMU-Organisationen als Partner im Rahmen der interinstitutionellen Debatte über neue Rechtsvorschriften, die für KMU relevant sind, wirksamer einbinden (und dies verbindlich vorschreiben);

eine wirksame Überwachung der im Rahmen des REFIT-Programms erzielten Ergebnisse zur Verringerung des Verwaltungsaufwands für KMU sicherstellen.

3.6.2.   Förderung des Unternehmertums:

Maßnahmen der europäischen, nationalen und regionalen KMU-Organisationen zur Bereitstellung von Informationen, Schulungen und Beratung/Mentoring von Unternehmen unterstützen;

die bisherigen Instrumente ergänzen mit dem Ziel, ein stärker unternehmerisches Denken bei jungen Menschen zu fördern und sicherzustellen, dass die Förderprogramme auf die Entwicklung zentraler unternehmerischer Fähigkeiten fokussiert bleiben;

das Thema Unternehmertum in die Lehrpläne auf allen Ebenen des Bildungssystems aufnehmen (33);

Unternehmensgründungen weiter vereinfachen und die Kosten senken, den Zugang zu Finanzierungen erleichtern und mehr Menschen dazu motivieren, ihre unternehmerischen Bestrebungen weiterzuentwickeln;

einfache und leichte Verfahren zur Übertragung und Liquidation von Unternehmen und Möglichkeiten einer zweiten Chance bereitstellen.

3.6.3.   Verbesserung des Marktzugangs und Internationalisierung:

die Funktionsweise des Binnenmarkts optimieren, um Überregulierung, Nichtanwendung und andere Praktiken der Mitgliedstaaten zu vermeiden, durch die der Wettbewerb verzerrt wird, ohne dabei die Rechte von Arbeitnehmern und Verbrauchern einzuschränken;

den Bekanntheitsgrads der bestehenden Netze zur Internationalisierungsförderung steigern durch bessere Zusammenarbeit mit KMU-Organisationen auf nationaler und regionaler Ebene;

Instrumente entwickeln, um KMU bei der Teilnahme an Ausstellungen, Kongressen und Messen im Ausland zu unterstützen;

die Schaffung regionaler und nationaler Branchencluster fördern, in denen KMU mit einem Zertifikat für garantierte Qualität vertreten sind;

die Kosten für Normen und Rechte des geistigen Eigentums, die den KMU entstehen, weiter senken und deren vorteilhafte Wirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit fördern.

3.6.4.   Erleichterung des Zugangs von KMU zu Finanzmitteln:

Formalitäten, Überwachung und Kontrolle auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß reduzieren — verbindliche Anwendung des Grundsatzes der einmaligen Erfassung, Verwendung elektronischer Formulare, Vereinfachung der Anwendung der „De-minimis-Regelung“;

beihilfebasierte KMU-Programme konzipieren auf der Grundlage einer sorgfältigen Bewertung, und der schädlichen Praxis, Projekte ohne Strategie für die Unternehmensentwicklung nur zum Zweck des Einwerbens nichtrückzahlbarer Finanzmittel durchzuführen, vorbeugen;

die Zusammenarbeit zwischen EIF, Finanzintermediären und KMU-Organisationen stärken, um hocheffiziente Finanzinstrumente zu schaffen, die den Bedürfnissen der KMU im Hinblick auf Betriebskapital, Darlehen und Garantien entsprechen, und die erzielte Wirkung mittels quantitativer Indikatoren bewerten;

ein vollständig diversifiziertes Angebot an maßgeschneiderten und innovativen Maßnahmen schaffen, mit dem sich die heterogene Gruppe der KMU wirksam erreichen lässt (34);

KMU, die für die Ausgabe von Anleihen und Eigenkapitalinstrumenten auf spezialisierten Marktsegmenten vorbereitet sind, unterstützen;

die COSME-Kreditbürgschaftsfazilität, unter Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen des Brexit, mit adäquaten Mitteln zur Zweckerreichung ausstatten;

Wege zur Stärkung innovativer Finanzierungsmöglichkeiten ohne Darlehenscharakter wie privates Beteiligungskapital, Risikokapital, Business Angels und Crowdfunding sondieren und Garantieeinrichtungen wirksam nutzen.

3.6.5.   Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation:

Instrumente zur Verbesserung des Zugangs der KMU zu Risikokapital für die Einführung von Innovationen bereitstellen;

die Zusammenarbeit zwischen KMU und Forschungs- und Bildungseinrichtungen fördern und den Informationsaustausch zwischen ihnen erleichtern;

günstige Bedingungen für die Bildung geeigneter Konsortien schaffen, in denen KMU und ihre marktorientierten innovativen Ideen eine zentrale Rolle spielen;

die Wettbewerbsfähigkeit von KMU durch Coaching/Mentoring unterstützen in den Bereichen Kapazitätsaufbau und technische Unterstützung; Verbreitung bewährter Verfahren; Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen den KMU-Verbänden.

3.6.6.   Bereitstellung zentraler Fördernetzwerke:

europäische, einzelstaatliche und regionale KMU-Organisationen unterstützen als wichtigste „Kraftzentren“ durch die Einführung von Strategien für den Aufbau ihrer Kapazitäten und die Anwendung des Grundsatzes einer Multi-Level- und Multi-Factor-Governance auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene und deren Anwendung im Gesetzgebungsverfahren;

die Möglichkeit erwägen, ein zentrales Portal mit klarer und nutzerfreundlicher Gestaltung für alle KMU-Förderinitiativen zu schaffen, das bei begrenzten Weiterleitungen reichhaltige digitale Inhalte in verständlicher Sprache anbietet.

3.6.7.   Entwicklung geeigneter beruflicher Qualifikationen:

die Berufsbildungssysteme den Anforderungen der Arbeitsmärkte anpassen; Systeme für die Überwachung und Vorhersage des Arbeitsmarktbedarfs schaffen;

die Mitgliedstaaten bei der leichteren Beteiligung von KMU an Systemen der Lehrlingsausbildung stärker unterstützen;

Kurzzeit-Schulungsprogrammen fördern; die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeberorganisationen und Bildungseinrichtungen unterstützen.

Brüssel, den 6. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  EWSA-Studie „Assessment of the effectiveness of the EU’s SMEs policies 2007-2015“, Januar 2017; EWSA-Studie „Access to finance for SMEs and midcaps in the period 2014-2020: opportunities and challenges“, Mai 2015, im Folgenden kurz „die EWSA-Studien“.

(2)  Die Kreditbürgschaftsfazilität und alle Finanzierungsinstrumente des Programms COSME sind gute Beispiele für maßgeschneiderte Fördermechanismen.

(3)  Gemäß Artikel 5 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013, weiterentwickelt in Verordnung (EU) Nr. 240/2014.

(4)  http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/evaluation/pdf/expost2013/wp2_final_en.pdf, S. 31.

(5)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 49, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 125.

(6)  SBA-Factsheet 2016. SBA-Profil. Leistung anhand der SBA-Indikatoren gemessen.

(7)  In den Vereinigten Staaten beispielsweise legt die „Small Business Administration“ Kriterien nicht nur für die Eigentümerstruktur, die Einnahmen und die Anzahl der Beschäftigten, sondern auch für die wirtschaftliche Tätigkeit des Unternehmens fest. Dies erleichtert die Anwendung geeigneter industriepolitischer Maßnahmen.

(8)  Die unterschiedlichen Ausprägungen von KMU werden sehr gut beschrieben in dem Bericht http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/evaluation/pdf/expost2013/wp2_final_en.pdf, S. 20.

(9)  Europäische Charta für Kleinunternehmen (2000).

(10)  COM(2008) 394 final.

(11)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 7; ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 32; ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30.

(12)  COM(2011) 78 final.

(13)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 51.

(14)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 49, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 125.

(15)  http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/final-joint-declaration---horizontal-sme-policy.pdf.

(16)  Vereinbarungen, Richtlinien, Verordnungen und Beschlüsse.

(17)  Laut dem Europäischen Ausschuss der Regionen werden über 85 % der EU-Rechtsvorschriften auf territorialer Ebene angewendet.

(18)  ECO/372, Informationsbericht, nicht im Amtsblatt veröffentlicht (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 8, ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 64).

(19)  Die einheitliche Definition von KMU ist der Empfehlung 2003/361/EG zu entnehmen. Eine weitere Definition von KMU ist der Richtlinie 2014/65/EU vom 15. Mai 2014 und der Richtlinie 2013/34/EU vom 26. Juni 2013 zu entnehmen (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 64).

(20)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 94.

(21)  http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2016:733:FIN.

(22)  ABl. C 388 vom 31.12.1994, S. 14.

(23)  Die Erhebung wurde über Mitglieder des EWSA, der UEAPME, des CEEP und der BICA von April bis Mai 2016 durchgeführt. Die Ergebnisse wurden analysiert, wobei die Mitgliedstaaten in zwei Gruppen aufgeteilt wurden auf der Grundlage der Klassifizierung in der Studie: „Industry 4.0. The new industrial revolution. How Europe will succeed“, Roland Berger Strategieberatung, März 2014. Zu den Ländern der Gruppe 1 gehören Österreich, Belgien, Schweden und Deutschland — die über eine hohe Bereitschaft für Industrie 4.0 verfügen und als „potentialists“ (Potenzialisten) und „frontrunners“ (Vorreiter) bezeichnet werden. Der Gruppe 2 sind Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Spanien und Zypern zugeordnet — diese Länder wurden mit den Begriffen „hesitators“ (Zauderer) und „traditionalists“ (Traditionalisten) gekennzeichnet. Durch diese Aufteilung sind die Ergebnisse der Stichprobenuntersuchung mit früheren Studien des EWSA vergleichbar (siehe ECO/372).

(24)  http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/16341/attachments/2/translations/en/renditions/pdf.

(25)  Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Schlussfolgerungen des Berichts und der Zahl der bis Ende 2015 unter dem Instrument Horizont 2020 genehmigten Projekte:

Österreich (25), Belgien (12), Deutschland (88), Frankreich (67), Schweden (46) und Vereinigtes Königreich (139). In diesen Ländern war Ende 2014 im Hinblick auf KMU eine Verbesserung der Beschäftigung und der Wertschöpfung zu verzeichnen, die das Niveau von 2008 erreichte;

Bulgarien (1), die Tschechische Republik (6), Kroatien (1), Zypern (2), Dänemark, Griechenland (11), Ungarn, Italien, Lettland, Litauen (5), Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien und Spanien haben das Niveau von 2008 noch nicht wieder erreicht.

(26)  Lichtenstein, G. A., T. S. Lyons, „Incubating New Enterprises: A Guide to Successful Practice“ (The Aspen Institute, Rural Economic Policy Programme, USA, 1996).

(27)  ABl. C 209 vom 30.6.2017, S. 21.

(28)  Richtlinie 2011/7/EU.

(29)  https://ec.europa.eu/growth/smes/promoting-entrepreneurship/support/education/projects-studies_en.

(30)  ABl. C 388 vom 31.12.1994, S. 14.

(31)  Wie z. B. das EU-System für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung (EMAS), das EU-Umweltzeichen, die Überprüfung von Umwelttechnologien in der EU (ETV) oder der Umweltfußabdruck von Produkten.

(32)  Der KMU-Test ist bereits in den Folgenabschätzungen der Kommission enthalten: https://ec.europa.eu/growth/smes/business-friendly-environment/small-business-act/sme-test_de.

(33)  ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 20.

(34)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 45; ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 66; ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 94.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/25


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Produktfälschung und -piraterie“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/04)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Ko-Berichterstatter:

Hannes LEO

Beschluss des Plenums

26.1.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

22.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

119/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäische Wirtschaft beruht zunehmend auf Kreativität und Innovation. Auf die schutzrechtsintensiven Wirtschaftszweige in Europa entfallen 39 % des BIP und 26 % der Beschäftigung der EU (1). Der EWSA ist der Auffassung, dass für die Unternehmen eine Reihe von innovations-, investitions- und beschäftigungsfördernden Bedingungen gegeben sein muss.

1.2.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (2) und der OECD machen Produktfälschungen bis zu 5-7 % (UNO) bzw. 2,5 % (OECD) des weltweiten Handels aus. Der Großteil der Produktfälschungen in Europa wird zwar außerhalb der EU hergestellt, die Herstellung in den Mitgliedstaaten nimmt allerdings ebenfalls zu. Durch das Internet wurden die Online-Absatzmöglichkeiten für Produktfälschungen erheblich erleichtert und massiv erweitert, während das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung nach wie vor gering ist.

1.3.

Die Produktfälschung und -piraterie profitiert sowohl von den Unterschieden in der Wirksamkeit der Zollkontrollen an den Haupteingangsstellen zum Binnenmarkt als auch von der fragmentierten und uneinheitlichen Umsetzung der EU-Vorschriften und -Normen. Dadurch können Produkte in die EU gelangen, die die Gesundheit der Verbraucher, die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gefährden.

1.4.

Folglich muss eine voll funktionsfähige und interoperable Zollunion die effiziente Umsetzung des neuen im Rahmen des Zollkodex festgelegten Systems gewährleisten, das die Unternehmen vor unlauterem Wettbewerb, insbesondere durch die weltweite Produktfälschung und -piraterie, schützen soll — nicht nur im Interesse der Unternehmen, sondern weil dies weltweit direkte Auswirkungen auf die Gesundheit und Sicherheit sowie das Wirtschaftswachstum hat.

1.5.

Es müssen zwei Arten der Produktfälschung unterschieden werden, nämlich die Fälschung als Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, bei der lediglich unlauterer Wettbewerb ohne eine Bedrohung für die Sicherheit oder öffentliche Gesundheit vorliegt, und die Fälschung als Straftat gemäß der Konvention über die Fälschung von Arzneimittelprodukten („Medicrime-Konvention“) (3). Die Bekämpfung der Produktnachahmung und -piraterie sollte deshalb nach Auffassung des EWSA eine wesentliche Priorität der EU sein, nicht nur um ein gesundes Wachstum des weltweiten Freihandels unter Verzicht auf Protektionismus sicherzustellen, sondern auch vor dem Hintergrund der Professionalisierung des organisierten Verbrechens im Handel mit nachgeahmten und unerlaubt hergestellten Waren und der von ihnen ausgehenden Risiken für die Verbraucher. Dazu könnten unter Umständen auch angemessene Strafverfahren gehören, um Kriminelle von solchen Straftaten der Fälschung abzubringen.

1.6.

Um die negativen Auswirkungen der Zunahme nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren auf dem Markt abzumildern, müssen Maßnahmen auf sektoraler, nationaler, europäischer und multilateraler Ebene ergriffen werden, um Folgendem entgegenzuwirken:

der fehlenden Entwicklung von Produktion und Investitionen,

dem Image- und Qualitätsschaden, u. a. fehlende technische Konformität bzw. Nichteinhaltung der Normen, gefälschte Konformitätsbescheinigungen oder Konformitätskennzeichen sowie Missbrauch solcher Bescheinigungen und Kennzeichen,

den Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltrisiken,

dem Fehlen jeglicher Art von Zertifizierung, Standards und Qualitätskontrollen bei Produktfälschungen,

dem Verlust von Arbeitsplätzen und neuen Unternehmen,

den Einbußen bei Steuern und steuerähnlichen Einnahmen,

den zunehmenden Problemen im Zusammenhang mit der Sicherheit und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, u. a. Terrorismusfinanzierung.

1.7.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass gemeinsame Anstrengungen aller öffentlichen und privaten Akteure erforderlich sind, um eine gemeinsame Strategie für koordinierte Maßnahmen zur Prävention, Aufdeckung und Bekämpfung dieses Phänomens zu ermitteln und umzusetzen, was durch einen angemessenen technischen und rechtlichen Rahmen flankiert werden sollte.

1.8.

Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass es in erster Linie der europäischen Privatwirtschaft obliegt, die Initiative zu ergreifen, d. h. den am stärksten betroffenen Branchen und Vermittlern von Dienstleistungen sowie der gesamten Wertschöpfungskette (unter Beteiligung der Rechteinhaber und der KMU), während die Kommission den Rechtsrahmen für die Rechte des geistigen Eigentums aktualisieren muss, um das derzeitige Regelwerk zu modernisieren und die derzeit in der EU und ihren Mitgliedstaaten zur Verfügung stehenden strafrechtlichen Optionen entsprechend anzupassen. Gemeinsam sollten sie an der Quelle ansetzen und entlang der gesamten Lieferkette energisch vorgehen und interoperative Mechanismen für die internationale Zusammenarbeit und die Überwachung von Zulieferern/Kunden finden, um die Risiken von Produktfälschung in der Lieferkette zu minimieren.

1.9.

Nach Auffassung des EWSA sind verstärkte gemeinsame Maßnahmen des privaten Sektors von wesentlicher Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf Partnerschaften mit Betreibern von Internetportalen, Produzenten von Inhalten, Markeninhabern, Betreibern elektronischer Zahlungsdienste, Werbungtreibenden und Werbungsnetzen sowie Betreibern von Registern für Internetdomänen sowie auf freiwillige Absichtserklärungen über die Durchführung gemeinsamer Maßnahmen zur schnellen Anpassung an die raschen Marktveränderungen.

1.10.

Die intensiven Maßnahmen des privaten Sektors sollten mit folgenden öffentlichen Maßnahmen einhergehen:

Entwicklung neuer gerichtsähnlicher Praktiken zur Eindämmung des wachsenden Handels mit Produktfälschungen, wobei Möglichkeiten für die öffentlich-private Zusammenarbeit zur Optimierung der Kontrollarbeit der Zollbehörden mittels Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit zu schaffen sind;

interoperationelle Erkennungssysteme, die mit automatischen Risikomanagementsystemen verbunden sind und auf geeigneten Technologien beruhen, die es den Inhabern von Online-Verkaufsportalen und Rechteinhabern ermöglichen, gesetzeswidrige Tätigkeiten zu ermitteln und zu verhindern;

ein neuer strategischer Plan 2018-2021 mit einem erneuerten und stärker koordinierten Aktionsrahmen und angemessenen Finanzressourcen, mehr Transparenz und Prognosefähigkeiten, umfassenderen und präziseren Ermittlungstechniken, Erstellung einer „EU-Liste notorischer Länder“, Schaffung und Stärkung lokaler Anlaufstellen im Bereich geistiges Eigentum, auch mit gemeinsamen Anstrengungen zur Bekämpfung von Fälschungsstraftaten, fortschrittlichere Instrumente zur Überwachung des Marktes im Einklang mit dem Vorschlag für eine EU-Richtlinie über den Rechtsrahmen der Europäischen Union in Bezug auf Zollrechtsverletzungen und Sanktionen (4);

Initiativen für bessere Statistiken und Analysen des Ausmaßes und der Auswirkungen der Produktfälschung.

1.11.

Nach Auffassung des EWSA sollte eine europäische Kampagne zur Bekämpfung von Produktfälschungen (einschl. der Einführung eines europäischen Tages gegen Produktfälschung und einer speziellen Telefonhotline) finanziert werden, um Folgendes deutlich zu machen:

den großen Schaden durch das Inverkehrbringen und den Erwerb nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren für ganze Wirtschaftssektoren, die Gesundheit, die Sicherheit, die Umwelt, die europäische Innovation und Kreativität sowie für die Beschäftigung, die öffentlichen Einnahmen und das Wirtschaftswachstum im Allgemeinen;

die Notwendigkeit erheblicher Anstrengungen, um die Produktfälschungsdatenbank zu verbessern und die entsprechenden Produktions- und Arbeitsplatzverluste abzuschätzen und entsprechende Maßnahmen zu konzipieren. Die derzeitigen statistischen Grundlagen und ökonometrischen Schätzungen müssen genauer, zuverlässiger und besser vergleichbar werden.

1.12.

Nach Auffassung des EWSA sind eine stärkere Koordinierung zwischen den verschiedenen für dieses Thema zuständigen Dienststellen der Europäischen Kommission, den europäischen Agenturen und ihren Partnern in den Mitgliedstaaten von wesentlicher Bedeutung. Erreichen lässt sich dies durch die Bereitstellung ausreichender Ressourcen für eine Zusammenarbeit in ganz Europa sowie durch Maßnahmen zur Schaffung einer echten Kultur der Zusammenarbeit. Die Einsetzung einer zentralen Task Force für einen angemessenen Zeitraum dürfte zur effektiven Erreichung dieses Ziels beitragen.

1.13.

Der EWSA fordert den Rat und das EP auf, dringend darauf hinzuwirken, dass die Europäische Kommission:

die technologischen und strukturellen Maßnahmen sowie den neuen Aktionsplan zur Bekämpfung nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren 2018-2021 zügig umsetzt;

gemeinsame, verstärkte Aktionen der Privatwirtschaft mit Vorschriften, Regeln und Strukturen unterstützt, die die Entwicklung des internationalen Freihandels auf fairen und proaktiven Grundlagen gewährleisten.

2.   Einleitung: Art und qualitativ-quantitative Merkmale des Phänomens

2.1.

Zur Abgrenzung der in der vorliegenden Stellungnahme behandelten Bereiche wird auf die Begriffsbestimmungen aus der Verordnung (EU) Nr. 608/2013 zurückgegriffen. Die elektronische und digitale Piraterie, d. h. der illegale Handel mit und die illegale Verbreitung von elektronischen Datenträgern oder Daten, die die einschlägigen Rechte des geistigen Eigentums verletzen, sind nicht Gegenstand dieser Stellungnahme, da sie direkt mit der Digitalen Agenda zusammenhängen, zu der der EWSA bereits eine ständige Studiengruppe eingesetzt hat.

2.2.

Wie bei anderen illegalen Tätigkeitsbereichen ist auch bei der Produktfälschung die genaue Bezifferung des Phänomens ein komplexes Unterfangen, da die verfügbaren Daten zu sehr auf Schätzungen und Näherungswerten beruhen. Die Lieferketten für gefälschte Produkte befinden sich in den meisten Fällen in den Händen der organisierten Kriminalität, die scharfsinnig das große Potenzial dieser Art der illegalen Tätigkeit und die relativ niedrigen Strafverfolgungsrisiken erkannt hat.

2.3.

In den letzten Jahren hat die Bandbreite an gefälschten Waren derart zugenommen, dass es nunmehr kein Produkt gibt, das nicht nachgeahmt und verkauft werden kann: Kopiert wird alles — von Kleidungsaccessoires über Ersatzteile und Werkzeuge, Baumaterial und Geräte, Schmuck, Schuhwaren und Designobjekten bis hin zu Spielzeug, Kosmetika oder Arzneimitteln. Die Produktfälschung scheint sich zu einem parallelen Wirtschaftssektor und einer echten Konkurrenz entwickelt zu haben, mit der sich die Unternehmen messen und gegen die sie ihren Marktanteil verteidigen müssen.

2.4.

Da der Kauf solcher Waren sehr einfach ist, ziehen die Verbraucher Produktfälschungen häufig vor, was schwerwiegenden Folgen für die Unternehmen, insbesondere die KMU hat. Der elektronische Handel und Online-Auktionen sind kaum reguliert und schwer kontrollierbar und deshalb ein nützlicher und sicherer Weg, um eine große Zahl von Verbrauchern zu erreichen und gefälschte Billigprodukte zu vermarkten.

2.5.

Die Produktfälschung spielt mittlerweile eine maßgebliche Rolle als Stütze der organisierten Kriminalität und gehört zu ihren Hauptfinanzierungsquellen. Mit der Beteiligung der organisierten Kriminalität hat sich die Professionalität in der Produktfälschungsbranche drastisch erhöht: Um die Ergebnisse zu optimieren, haben die kriminellen Organisationen das erforderliche Netz an weltweiten Beziehungen geschaffen.

2.6.

Die Produktfälschung gilt als außereuropäisches Phänomen: Aus den Zollstatistiken geht eindeutig hervor, dass die meisten Länder, aus denen die Produktfälschungen stammen, nicht zur EU gehören. Zu den wichtigsten beteiligten Ländern zählt nach wie vor China, ungeachtet seiner verstärkten Bemühungen zur Bekämpfung von Produktfälschungen.

2.7.

Die schnelle Entwicklung des Internet hat neue Vertriebskanäle für nachgeahmte Produkte geschaffen, wobei das Risiko für den Verkäufer gering ist, da sich gegen die Vermittler in der Wertschöpfungskette nur schwer Verfahren anstrengen oder Anklage erheben lässt. Deshalb bedarf es der stärkeren Zusammenarbeit über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, um den Online-Handel mit Produktfälschungen wirksam bekämpfen zu können.

2.8.

Auf die schutzrechtsintensiven Wirtschaftszweige in Europa entfallen 39 % des BIP und 26 % der Beschäftigung der EU (5). Jüngsten Untersuchungen zufolge (6) machen Produktfälschungen zwischen 5 und 7 % des Welthandels aus, was 600 Mrd. EUR jährlich entspricht. Nach Angaben der OECD (7) lag der Anteil der Produktfälschungen am weltweiten Handel im Jahr 2013 bei 2,5 % (338 Mrd. EUR), wobei nachgeahmte oder unerlaubt hergestellte Waren 5 % der EU-Einfuhren ausmachten (85 Mrd. EUR), ausgenommen Waren, die im selben Land hergestellt und verkauft wurden, Online-Einkäufe und indirekte wirtschaftliche Tätigkeiten.

2.9.

Nach anderen internationalen Statistiken aus dem Jahr 2017 (8) hat der weltweite Handel mit gefälschten und nachgeahmten Produkten ein jährliches Volumen zwischen 923 Mrd. USD und 1,13 Billionen USD.

2.10.

Die Herstellung von Produktfälschungen (auch in großem Maßstab) nimmt in verschiedenen Mitgliedstaaten zu, weil die Fälscher versuchen, dadurch die Zollkontrollen an den EU-Außengrenzen zu umgehen.

2.11.

Das Inverkehrbringen nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren verursacht großen wirtschaftlichen Schaden und begünstigt die Schattenwirtschaft. Dabei werden die Regierungen um die Einnahmen (9) gebracht, die sie für wesentliche öffentliche Dienstleistungen benötigten, mit einer höheren Steuerlast und Arbeitsplatzverlusten in der regulären Wirtschaft als Folge.

2.12.

In der EU werden die Arbeitsplatzverluste auf rund 800 000 und die jährlichen Einbußen beim Steueraufkommen auf rund 14,3 Mrd. EUR geschätzt (10) (Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuer).

2.13.

Das EP hat eine Reihe von Entschließungen zu diesem Thema angenommen, insbesondere die Entschließung vom 9. Juni 2015 (11) mit Empfehlungen für einen Ansatz, bei dem alle Akteure am Kampf gegen Produktfälschungen beteiligt werden, umfassendere Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen für die Verbraucher, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die Verbesserung der Schutzmaßnahmen für KMU, die Schaffung eines Umfelds, in dem sich die Interessen von Mitgliedstaaten und Drittländern decken, sowie eine bessere Nutzung der von der Beobachtungsstelle für Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums (EUIPO) gesammelten Daten.

2.14.

Der Rat hat am 19. März 2013 eine Entschließung zum EU-Aktionsplan im Zollbereich für den Zeitraum 2013-2017 angenommen, der zur Bekämpfung der Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums beitragen soll und in dem klare Zielsetzungen und angemessene Ressourcen festgelegt und auf der Grundlage eines Fahrplans Indikatoren im Hinblick auf die Ergebnisse und die Wirkung für folgende Bereiche vorgegeben werden sollen:

Umsetzung und Überwachung der neuen Vorschriften zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums;

Bekämpfung der Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums im Handel mit Waren und Dienstleistungen;

Zusammenarbeit mit den wichtigsten Herkunfts-, Transit- und Zielländern, um den illegalen Handel entlang der gesamten internationalen Lieferkette zu bekämpfen;

Stärkung der Zusammenarbeit mit der EUIPO und den Strafverfolgungsbehörden.

2.15.

Am 18. Mai 2017 hat der Rat seine Schlussfolgerungen zur Festlegung der EU-Prioritäten für die Bekämpfung der organisierten und schweren internationalen Kriminalität (2018-2021) angenommen, in denen betont wird, dass „die kriminellen Märkte […] immer komplexer und dynamischer werden. […] Bei der Ausarbeitung der MASP und OAP für die einzelnen Prioritäten für die Kriminalitätsbekämpfung sollte daher dem Internethandel mit illegalen Waren und Dienstleistungen, […] einschließlich nachgeahmter Waren, besondere Aufmerksamkeit gelten.“

3.   Internationaler Überblick

3.1.

Die Zollstatistiken zeigen eindeutig, dass die meisten Herkunftsländer nachgeahmter Waren Staaten außerhalb der Europäischen Union sind. Zu den Hauptherkunftsländern gehören nicht nur China und Hongkong, sondern auch andere asiatische Staaten, die sich auf bestimmte Bereiche spezialisiert haben, wie Indien für pharmazeutische Erzeugnisse, Ägypten für Lebensmittel und die Türkei für Parfüm, Kosmetik und Schuhwaren, sowie Malaysia, Belarus, die Vereinigten Arabischen Emirate, Indonesien, Thailand und die Philippinen.

3.2.

Laut EU-Zollstatik stammten 2014 mehr als 66 % der gefälschten Textil- und Bekleidungsprodukte aus Ländern außerhalb der EU.

3.3.

Von besonderer Bedeutung sind die Umschlagplätze für den Transport der Waren von Asien nach Europa, nämlich die Hauptzentren des Containerverkehrs mit ihrem Netz von 3 000 Zollfreigebieten in 135 Ländern. Diese Gebiete werden genutzt, um die Containerfracht umzuladen, zu dokumentieren und anders zu kennzeichnen.

3.4.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die starke Zunahme der Produktion nachgeahmter oder unerlaubt hergestellter Waren innerhalb der EU — nach Angaben von Europol ein zunehmend einträgliches Geschäft für kriminelle Gruppen und Organisationen, das deutlich geringere Risiken birgt und Verbindungen zu anderen Formen der Kriminalität wie Betrug, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und Menschenhandel aufweist.

3.5.

Es entsteht offenbar ein neues Modell, das durch eine Verlagerung der Produktion nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren in die EU — mit niedrigeren Transportkosten und geringeren Risiken eines Abfangens der Waren — und durch gut ausgestattete und organisierte kriminelle Netze gekennzeichnet ist. Der vorgesehene Ausbau des zollfreien Gebiets Tanger Med in Marokko, das nur 15 km von der Grenze zur EU entfernt liegt, könnte den kriminellen Netzen weitere Möglichkeiten bieten, noch größere Mengen nachgeahmter Waren auf dem europäischen Markt in Verkehr zu bringen.

3.6.

Am stärksten von Produktnachahmungen betroffen waren im Zeitraum 2011 bis 2013 die Vereinigten Staaten von Amerika mit 20 %, gefolgt von Italien mit 15 %, Frankreich und der Schweiz mit jeweils 12 %, Japan und Deutschland mit je 8 % und dem Vereinigten Königreich sowie Luxemburg. Nicht zu unterschätzen sind auch die indirekten Verluste und zusätzlichen Kosten für Neuentwicklungen bzw. neue innovative Lösungen, die aufgrund von Produktpiraterie notwendig werden.

4.   Bekämpfung von Nachahmungen und Piraterie im Binnenmarkt

4.1.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen:

nationale Gesetze und Maßnahmen im Kampf gegen Produktfälschungen zu verschärfen, eine Harmonisierung auf europäischer Ebene anzustreben, effiziente Rahmenbedingungen für die behördliche Kontrolle nachgeahmter Waren zu schaffen und die in den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehenden strafrechtlichen Optionen entsprechend anzupassen;

ein gemeinsames hohes Niveau der Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften auf nationaler Ebene — u. a. durch den Austausch bewährter Verfahren- sicherzustellen;

die zuständigen Behörden mit der Erhebung vergleichbarer statistischer Daten, u. a. zum Zusammenhang zwischen gefälschten Produkten und Todesfällen und Unfällen, z. B. im Hinblick auf Produktgruppen, zu beauftragen;

Strategien für die wirksamere Überwachung, Kontrolle und Vermeidung von Risiken durch gefälschte Produkte für die öffentliche Gesundheit zu entwickeln;

die Verbraucher in die Lage zu versetzen, sich über Smartphone-Technologie ein eigenes Urteil in Bezug auf die Echtheit der Waren zu bilden und die Eigenschaften sowie den Wert und die Sicherheit von Produkten zu überprüfen;

die Kommunikation mit den Verbrauchern zu verbessern, sie auf die Risiken durch gefälschte Produkte aufmerksam zu machen und über die Möglichkeiten zu informieren, wie sie solche Produkte mit neuen Methoden erkennen können. Die Verbraucher müssen für diese Fragen sensibilisiert werden, u. a. durch nationale Informations- und Aufklärungskampagnen;

lokale Akteure, branchenübergreifende Gruppen und Verbraucherorganisationen aktiver in den Kampf gegen Produktfälschungen auf nationaler Ebene einzubeziehen, insbesondere mittels Informationskampagnen;

Zollbeamten ausreichende Mittel und Ressourcen sowie eine angemessene Schulung in den Methoden und Strategien zur Erkennung gefälschter Produkte zur Verfügung zu stellen;

die Eintragung von Marken, Mustern und anderen Rechten des geistigen Eigentums für die KMU zu erleichtern und gleichzeitig das hohe Niveau der technischen Standards und Rechte des geistigen Eigentums zu gewährleisten.

4.2.

Der EWSA fordert einen neuen EU-Rahmen 2018-2021 mit einem umfassend finanzierten und koordinierten Aktionsplan zur Stärkung der EU-Rechtsvorschriften und -Maßnahmen im Kampf gegen die Produktfälschung. Dazu sollten u. a. folgende Maßnahmen vorgesehen werden:

beschleunigte Vollendung eines Gemeinsamen Europäischen Zollwesens mit einheitlichen und direkt nutzbaren Verfahren, Instrumenten und Datenbanken;

Festlegung gemeinsamer Kriterien für die Erhebung statistischer Daten, wobei der Schwerpunkt auf branchenspezifische Initiativen gelegt werden sollte, da es keine Universallösungen gibt;

verstärkter Einsatz innovativer Anwendungen für die Rückverfolgung und Überprüfung;

eine stärkere Koordinierung auf europäischer Ebene, um die Qualität der Bekämpfung der Produktfälschung in allen Mitgliedstaaten auf das gleiche Niveau zu heben;

verstärkte Ermittlungstätigkeit und bilaterale Abkommen zur Strafverfolgung entlang der gesamten Kette der Produktnachahmung, u. a. mithilfe des bestehenden EU-Netzes von IPR-Helpdesks;

umgehende Stärkung des vereinfachten EU-Rahmens zur Förderung und Unterstützung von KMU in Europa;

Aufnahme von Bestimmungen zur Bekämpfung von Produktfälschungen in neue Freihandelsabkommen;

international umzusetzende und koordinierte Präventivmaßnahmen der EU zur Überwachung der 3 000 zollfreien Gebiete und der gesamten Lieferkette;

Beauftragung der zuständigen EU-Behörden mit der Erhebung vergleichbarer statistischer Daten über die Korrelation von gefälschten Produkten und Todesfällen oder Unfällen;

Festlegung gemeinsamer EU-Maßnahmen zur wirksameren Überwachung, Kontrolle und Vermeidung von Gesundheitsrisiken durch gefälschte Produkte;

Verbesserung der Kommunikation mit den Verbrauchern sowie Aufklärung und Unterrichtung über die Möglichkeiten, solche Produkte zu erkennen (JRC-Modell);

Anreize für die Unternehmertum in der EU, damit sie Informationen zu Problemen im Zusammenhang mit Produktnachahmungen besser bündeln und teilen und die Maßnahmen im Kampf gegen Nachahmungen verschärfen, z. B. mittels spezieller Hotlines für Verbraucher und verbesserter Systeme der Datenverwaltung;

ein koordiniertes Vorgehen im Bereich des elektronischen Handels (Zahlungsweisen und Werbung) und Erlass gemeinsamer besonderer Vorschriften, um den Verkauf von Arzneimitteln und anderen sensiblen Produkten im Internet zu überwachen; Einbeziehung der Akteure, branchenübergreifender Gruppen und von Verbraucherorganisationen in den Kampf gegen Produktfälschungen;

Entwicklung des Konzepts der Produktfälschung als Straftat als Teil der Bekämpfung krimineller Organisationen, angesichts der Auswirkungen auf die Produktsicherheit, öffentliche Gesundheit und Sicherheit und unter Übernahme der rechtlichen Grundsätze der Médicrime-Konvention und deren Ausweitung auf im industriellen Maßstab hergestellte Produktfälschungen (im Zusammenhang mit Sicherheit und Risiken für die öffentliche Gesundheit);

Aufstellung besonderer Vorschriften für die Überwachung der Verkäufe von Arzneimitteln, Lebensmitteln und anderen empfindlichen Produkten über das Internet (in Zusammenarbeit mit der EMA, Europol, der EFSA und der ENISA);

Bewertung der Rolle, die Mittler beim Schutz der Rechte des geistigen Eigentums — auch im Bereich Produktfälschung — spielen können, und Erwägung einer Änderung des diesbezüglichen EU-Rechtsrahmens im Hinblick auf die Rechtsdurchsetzung (12);

Konzipierung und Unterstützung einer starken europäischen Kampagne zur Bekämpfung der Produkt- und Markenpiraterie innerhalb und außerhalb des Binnenmarkts zur Flankierung der nationalen Kampagnen;

Förderung einer gemeinsamen Technologieinitiative im Bereich Produktfälschungen im Rahmen von „Horizont 2020“,

angemessene Mittelausstattung für die beschlossenen Maßnahmen im Rahmen des neuen Aktionsplans 2018-21.

5.   Gewährleistung einer optimalen Steuerung

5.1.

Nach Auffassung des EWSA ist eine stärkere Koordinierung der verschiedenen für dieses Thema zuständigen Dienststellen der Europäischen Kommission und europäischen Agenturen unerlässlich. Dazu sollte eine dem Kommissionspräsidenten untermittelbar unterstellte Task Force eingesetzt werden, die Kontakte zu den unterschiedlichen betroffenen Akteuren der Privatwirtschaft, den internationalen Organisationen und den zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten pflegt.

5.2.

Eine solche Task Force für Produktfälschung sollte einen allumfassenden Jahresbericht über die in technischer, struktureller und regulatorischer Hinsicht (insbesondere auf internationaler Ebene) erzielten Fortschritte vorlegen.

5.3.

Es ist erforderlich, die internationale Koordinierung der Europäischen Kommission und der europäischen Agenturen, insbesondere EUIPO, Europol und OLAF, sowie der im Bereich der Bekämpfung von Nachahmungen tätigen nichtstaatlichen Organisationen zu stärken und zu diesem Zweck internationale Jahreskonferenzen zu veranstalten.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Gemeinsamer Bericht des EPA und des HABM über schutzrechtsintensive Branchen in der EU, September 2013.

(2)  http://www.springer.com/978-1-4614-5567-7 — Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC).

(3)  http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/211.

(4)  http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.C_.2016.487.01.0057.01.DEU&toc=OJ:C:2016:487:TOC.

(5)  Gemeinsamer Bericht des EPA und des HABM über schutzrechtsintensive Branchen in der EU, September 2013.

(6)  UNODC, The Globalisation of Crime. A Transnational Crime Threat Assessment.

(7)  OECD/EUIPO (2016), Handel mit nachgeahmten und unerlaubt hergestellten Waren — Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Folgen.

(8)  Global Financial Integrity, Transnational Crime and the Developing World, März 2017 (die Statistiken wurden im April 2017 durch WAITO bestätigt).

(9)  Im Jahr 2013 beliefen sich die entgangenen Steuereinnahmen laut Frontier Economics (2016) auf schätzungsweise 90 bis 120 Mrd. EUR.

(10)  Branchenbezogene Studien in neun betroffenen Sektoren: Kosmetika und Körperpflege; Bekleidung, Schuhe und Accessoires; Sportartikel; Spielzeug; Schmuck und Uhren; Taschen; Tonträger; Wein und alkoholische Getränke und Arzneimittel.

(11)  Europarl P8_TA(2015)0219-09/06/2015 — http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P8-TA-2015-0219&language=DE&ring=A8-2015-0161.

(12)  COM(2016) 288 final.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/32


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Industrieller Wandel in der EU-Rübenzuckerindustrie“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/05)

Berichterstatter:

José Manuel ROCHE RAMO

Ko-Berichterstatterin:

Estelle BRENTNALL

Beschluss des Plenums

26.1.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

22.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

111/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Rübenzuckerindustrie der EU steht vor einem der größten Umbrüche ihrer Geschichte, dem Auslaufen der Produktionsquoten zum 1. Oktober 2017. Das Ende der Quoten bietet den Rübenzuckerproduzenten der EU Chancen, insbesondere die Möglichkeit, mehr Zucker für die Verwendung in Lebensmitteln zu produzieren und unbegrenzt zu exportieren. Um von dieser Öffnung profitieren zu können, hat die EU-Rübenzuckerindustrie hart daran gearbeitet, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Allerdings bringt das Auslaufen der Erzeugungsquoten auch zusätzliche Risiken und Ungewissheiten mit sich und könnte den Druck auf die Branche erhöhen. Der Wettbewerb wird zunehmen und den Preisdruck sowohl für Erzeuger als auch für Verarbeiter erhöhen, während der Marktanteil von Isoglukose voraussichtlich steigen wird. Weniger wettbewerbsfähige Rübenzuckerhersteller und Zuckerrübenerzeuger der EU werden möglicherweise unter härteren und weniger stabilen Marktbedingungen um ihr Überleben kämpfen müssen. Dies könnte erhebliche Auswirkungen auf Arbeitnehmer, Unternehmen, Landwirte und Landbevölkerung haben. Wesentlich ist, dass die politischen Entscheidungsträger die künftige Entwicklung der Branche aufmerksam verfolgen.

1.2.

Künftig sind Beihilfen für die private Lagerhaltung von Zucker das einzige spezifische Instrument, mit dem die Rübenzuckerindustrie der EU nach dem Auslaufen der Produktionsquoten noch unterstützt werden kann. Es ist jedoch nicht klar, unter welchen Umständen diese Form der Hilfe im Falle einer Marktkrise in der EU-Rübenzuckerbranche gewährt werden kann. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Beihilfen für die private Lagerhaltung müssen genauer definiert werden, damit das System seinem Zweck gerecht wird. Die Europäische Kommission könnte prüfen, ob sie etwa einen objektiven Schwellenwert für die Preise festlegt, ab dem das Verfahren für die Gewährung von Beihilfen für die private Lagerhaltung ausgelöst wird. Dadurch würde das Verfahren weniger von subjektiven Faktoren abhängig, und die rasche und einheitliche Bereitstellung solcher Beihilfen in Krisenzeiten würde gefördert. Auch allgemeine Bestimmungen, wie im Krisenfall verfahren werden kann, etwa Artikel 222 der Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation, sollten als Möglichkeit in Erwägung gezogen werden. Der EWSA begrüßt die Schaffung der Marktbeobachtungsstelle für Zucker unter der Voraussetzung, dass ihre Zusammensetzung ausgewogen ist und sie beim Auftreten von Marktschwierigkeiten rechtzeitig einberufen wird.

1.3.

Die GAP sollte Marktinstrumente umfassen, mit denen die Weiterführung der Zuckerproduktion in den EU-Mitgliedstaaten unterstützt wird. Die EU-Rübenzuckerindustrie trägt entscheidend zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Wirtschaftstätigkeit sowie zur Wettbewerbsfähigkeit der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie bei. Gegenwärtig erlaubt es die GAP den Mitgliedstaaten, denjenigen Branchen oder Regionen eine gekoppelte Stützung zu gewähren, in denen sich spezifische Landwirtschaftsformen bzw. Agrarsektoren, denen aus wirtschaftlichen, sozialen oder Umweltgründen eine ganz besondere Bedeutung zukommt, in Schwierigkeiten befinden. Dies trifft auf den Anbau von Zuckerrüben in benachteiligten Regionen zu. Gekoppelte Direktzahlungen sollten vor allem dafür eingesetzt werden, die Gefahr des Niedergangs und/oder der völligen Einstellung der Rübenzuckererzeugung in diesen Regionen zu reduzieren, um die Verödung des ländlichen Raums zu verhindern und die Artenvielfalt zu bewahren. Unter den Bedingungen stärkerer Schwankungen sollte die direkte Unterstützung der Landwirte durch einen besseren Zugang zu Instrumenten für das Risikomanagement ergänzt werden. Die gegenseitige Abhängigkeit von Verarbeitern und Landwirten ist der Grund für den besonderen vertraglichen Rahmen, mit dem das Verhältnis zwischen Erzeugern und Verarbeitern der Branche geregelt ist.

1.4.

Sollte sich der EU-Zuckermarkt nach dem 1. Oktober 2017 ungünstig entwickeln, könnte es zum Verlust von Arbeitsplätzen kommen. Die Europäische Kommission sollte prüfen, ob die verschiedenen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) geeignet sind, die Beschäftigung auf regionaler bzw. lokaler Ebene zu stützen, insbesondere für Beschäftigte und Landwirte, die von möglichen Fabrikschließungen betroffen sind. Es kann sich als nötig erweisen, Ausnahmen in Bezug auf die Kriterien für die Nutzung einiger dieser Fonds zu gewähren.

1.5.

Ab dem 1. Oktober 2017 sind die Rübenzuckererzeuger der EU verpflichtet, sowohl den Verkaufspreis ihres Haupterzeugnisses als auch den Einkaufspreis ihres wichtigsten Rohstoffs zu melden. Ein solches Maß an Markttransparenz ist im weiteren Verlauf der Versorgungskette und bei den Erzeugern von Isoglukose nicht gegeben. Die Europäische Kommission sollte die Empfehlungen der Einsatzgruppe „Agrarmärkte“ für eine größere Transparenz auch bei nachgelagerten Beteiligten wie den Zuckerverwendern in Erwägung ziehen, damit deutlicher wird, wie sich die Generierung von Mehrwert auf die Versorgungskette verteilt. Markttransparenz, ob nun für die Zucker- und Isoglukoseerzeuger oder die Zuckerverwender, darf die Wettbewerbsposition der betroffenen Betriebe nicht beeinträchtigen.

1.6.

Nach dem Ende der Quoten wird es entscheidend für die EU-Zuckerindustrie sein, dass sie ihre Exporte steigern kann. Die Europäische Kommission sollte EU-Zuckerexporte fördern und die willkürliche Anwendung von Handelsschutzinstrumenten durch Importeure aus Drittstaaten anfechten. Die Europäische Kommission sollte die Handelsliberalisierung im Rahmen der EU-Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Vorsicht angehen. Sie sollte sowohl auf WTO-Ebene als auch in bilateralen Handelsverhandlungen nachdrücklicher gegen die handelsverzerrenden Subventionsmaßnahmen der weltweit wichtigsten Zuckererzeuger und -exporteure vorgehen.

1.7.

Die Förderung alternativer Verwendungsmöglichkeiten für Zuckerrüben, etwa Bioethanol, Tierfutter, Biokunststoffe und aus biologischem Material gewonnene Chemikalien, wird von ausschlaggebender Bedeutung für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Branche sein. Die Europäische Kommission sollte die Obergrenze von 7 % für Biokraftstoffe beibehalten, das bei dem 10 %-Ziel für erneuerbare Energien im Verkehr berücksichtigt werden kann. Anhang IX der Erneuerbare-Energie-Richtlinie (2009/28/EG), in dem Melasse als moderner Rohstoff zur Produktion von Biokraftstoffen eingestuft wird, sollte nicht geändert werden. Die Europäische Kommission und die Europäische Investitionsbank sollten sich darum bemühen, die Innovation bei anderen aus biologischem Material gewonnenen Nebenprodukten zu fördern und zu stärken. Dies könnte in Form eines EU-Innovationsfonds und eines Programms mit zinsgünstigen Darlehen geschehen.

2.   Die Bedeutung der Rübenzuckererzeugung für ländliche Gebiete und für die Umwelt

2.1.

Die EU ist der weltweit führende Erzeuger von Rübenzucker. Zwischen 2011/2012 und 2015/2016 betrug die Produktion jährlich im Durchschnitt 17,2 Mio. Tonnen. Die zuckererzeugenden Unternehmen kaufen jährlich etwa 107 Mio. Tonnen Zuckerrüben von 137 000 europäischen Erzeugern. Zuckerrüben werden hauptsächlich zu Zucker verarbeitet, ein erheblicher Teil wird jedoch auch anderweitig verwendet, etwa für die Herstellung von Tierfutter, Bioethanol oder Bioprodukten. Solche Produkte können bei einem Überangebot eine wichtige Rolle als Puffer spielen.

2.2.

Rübenzuckerfabriken liegen zumeist in ländlichen Gebieten, in denen es nur wenig Industrie gibt. Oft sind sie das wirtschaftliche Rückgrat ihrer Regionen, die nur wenige wirtschaftliche Alternativen aufweisen. Die EU-Zuckerbranche bietet fast 28 000 direkte Arbeitsplätze, die sich vor allem in den Regionen mit der höchsten Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf die Rübenzuckerproduktion konzentrieren. Diese Arbeitsplätze erfordern häufig recht hohe Qualifikationen, und die Einkommen der Beschäftigten der Zuckerindustrie sind höher als die der Beschäftigten in den meisten anderen Agrarbranchen. Zusätzlich zu den unmittelbar in der Zuckererzeugung Beschäftigten sind weitere 150 000 Arbeitsplätze indirekt von der Branche abhängig, etwa in den Bereichen Transport, Logistik und Bau.

2.3.

Wenn eine Anlage zur Zuckererzeugung erst einmal dichtgemacht wurde, ist ein Wiederanfahren der Zuckerproduktion nur in Ausnahmefällen möglich. da der Bau einer Zuckerfabrik hohe Kapitalkosten erfordert, in der Regel mehrere hundert Millionen Euro. Zumeist bedeutet die Schließung einer einzelnen Anlage die dauerhafte Einstellung einer wichtigen Industrietätigkeit und damit den Verlust Hunderter direkter und indirekter Arbeitsplätze. Die Suche nach Beschäftigungsalternativen kann zur Landflucht und Entvölkerung führen.

2.4.

Ähnlich ist die Situation für Zuckerrübenerzeuger. Zuckerrüben müssen in der Nähe der Fabriken angebaut werden, in denen sie verarbeitet werden. Grund dafür sind die relativ hohen Transportkosten für Zuckerrüben: Um eine Tonne Zucker zu gewinnen, sind sechs bis sieben Tonnen Zuckerrüben erforderlich. Wenn eine Rübenzuckerfabrik stillgelegt wird, fehlt den Erzeugern ein Abnehmer für ihre Zuckerrüben. Sofern sich nicht in rentabler Entfernung eine andere Fabrik befindet, sind sie gezwungen, auf andere Anbaukulturen umzustellen. Dies hat erhebliche negative Auswirkungen auf die Einkünfte der betroffenen Landwirte, von denen viele wahrscheinlich beträchtliche Investitionen in Ausrüstungen, etwa für Rübenerntemaschinen, getätigt haben, die für andere Kulturen unbrauchbar sind. Zudem kann erheblicher Druck auf die lokalen Agrarmärkte entstehen, wenn eine große Zahl von Landwirten plötzlich auf andere Kulturen umstellt.

2.5.

Die Produktion von Zuckerrüben ist ökologisch nachhaltig. Zuckerrüben werden stets im Wechsel mit anderen Feldfrüchten angebaut. Der Fruchtwechsel trägt dazu bei, die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhalten, und führt zu einer Reduzierung der bodenbürtigen Krankheitserreger und Schädlinge, wodurch wiederum weniger Pflanzenschutzerzeugnisse eingesetzt werden müssen. In den Rübenanbaugebieten der EU ist die Entwicklung und der Austausch bewährter Vorgehensweisen weit verbreitet. Zur Förderung der Bodenfruchtbarkeit und zur Reduzierung der Erosion werden Mulchen und eine weniger starke Bearbeitung des Bodens empfohlen. In den Fabriken wird der Energieverbrauch durch Kraft-Wärme-Kopplung sowie durch Wärmerückgewinnung und den sparsamen Umgang mit Wasser minimiert.

3.   Wettbewerbsposition der EU-Rübenzuckerindustrie

3.1.

Der EU-Zuckersektor hat in erheblichem Maße in technische Verbesserungen und Kostensenkungen sowie in Humanressourcen, Forschung, Bildung und Ausbildung investiert. In den letzten 26 Jahren sind die durchschnittlichen Produktionskosten für Quotenzucker in der EU nur um 0,4 % jährlich gestiegen — im Vergleich zu einer Inflationsrate von 2,2 % pro Jahr. Das bedeutet inflationsbereinigt eine kontinuierliche Kostensenkung im Laufe von zwei Jahrzehnten (1) und hat dazu beigetragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie in der EU, die Zucker benötigt, gestiegen ist.

3.1.1.

Dank technischer Verbesserungen sowie besserer Saatgutsorten, die auf die Zusammenarbeit zwischen Industrie, Erzeugern, Forschung und Entwicklung sowie dem Saatguthandel zurückzuführen sind, sind die Zuckerrübenerträge in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Im Durchschnitt stiegen die Rübenzuckererträge (Tonnen Zucker pro Hektar) in den vergangenen 26 Jahren um 2,4 % pro Jahr, und diese Entwicklung wird voraussichtlich auch nach 2017 anhalten. Die Zuckererträge pro Hektar in der EU liegen nun über denen in Australien oder in Mittel- bzw. Südbrasilien, die zu den wettbewerbsfähigsten Regionen in der Welt zählen. Vier der zehn weltweit wichtigsten zuckererzeugenden Unternehmen haben ihren Sitz in der EU (2).

3.2.

Diese Wettbewerbsvorteile sind teilweise auf eine grundlegende Umstrukturierung der Branche zwischen 2006 und 2009 zurückzuführen. Nach der Reform 2006 wurde fast die Hälfte der Fabriken der EU-Rübenzuckerindustrie geschlossen. Dabei wurden 4,5 Mio. Tonnen Produktionskapazität und über 24 000 direkte Arbeitsplätze abgebaut und 165 000 landwirtschaftliche Betriebe fielen als Lieferanten weg (3). Damit wurde die EU-Rübenzuckerindustrie wirtschaftlich nachhaltiger, wenn auch zu einem hohen sozialen Preis. Seit dem Wirtschaftsjahr 2008/2009 sind sowohl die Beschäftigungszahlen als auch die Zahl der Produktionsstätten relativ stabil.

3.3.

Durch den seit langem gepflegten sozialen Dialog auf europäischer und nationaler Ebene werden enge Beziehungen zwischen den Zuckererzeugern und ihren Beschäftigten gepflegt. Der soziale Dialog der EU-Zuckerbranche besteht seit 1968 und hat wesentlich zum sozial verträglichen Wandel in schwierigen Zeiten beigetragen, etwa nach der EU-Zuckerreform 2006. Indem der soziale Dialog dazu beiträgt, die gemeinsame Verantwortung zu stärken, erhöht er die Wettbewerbsfähigkeit der Branche.

3.4.

Auch 2017 wird eine weitere Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit angestrebt, insbesondere indem die Hersteller auf eine Reduzierung der Fixkosten durch Vollauslastung der Anlagen hinarbeiten. Dies könnte längere Verarbeitungskampagnen und auf Grund von Unsicherheiten bei der Ernte und der Lagerung der Rüben im Winter höhere Risiken für Erzeuger und Verarbeiter mit sich bringen.

3.5.

Zur Vermeidung von Verschwendung verwenden die EU-Zuckerverarbeiter die gesamte Zuckerrübe und erzeugen neben Zucker ein ganzes Spektrum an Produkten: So werden etwa die bei der Reinigung der Rüben anfallenden Steine und Erde an die Baubranche verkauft, das faserhaltige Material der Rüben (Rübenschnitzel) sowie die Melasse werden extrahiert und zu Tierfutter weiterverarbeitet. Zudem können die Melasse und andere Sirupe aus der Zuckerproduktion für die Herstellung von Bioethanol genutzt werden. Zuckerhersteller diversifizieren ihre Produktion zunehmend und stellen für die Industrie Bestandteile für Produkte auf biologischer Grundlage her, etwa Kunststoffe, Textilien, Pharmazeutika und Chemikalien.

4.   Verhältnis zur Zuckerversorgungskette

4.1.

Rübenzuckerverarbeiter und Zuckerrübenbauern sind voneinander abhängig. Die Landwirte sind von den zuckererzeugenden Unternehmen abhängig, die Anlagekapital und Fachwissen für die Extraktion des Zuckers aus den Rüben einbringen, und die Verarbeiter sind von den vertraglich mit ihnen verbundenen Landwirten abhängig, die die Rüben liefern. Um die Kosten für den Transport der Rüben zu minimieren, müssen die Landwirte in geografischer Nähe der Fabriken angesiedelt sein, die sie beliefern. Darüber hinaus sind viele der größten zuckererzeugenden Unternehmen Genossenschaften, was die sie beliefernden Landwirte gleichzeitig zu unmittelbar Beteiligten in der Branche macht.

4.1.1.

Die Interdependenz von Verarbeitern und Landwirten erfordert einen besonderen vertraglichen Rahmen, mit dem Rechte und Pflichten zwischen beiden Partnern in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden. Die vertraglichen Beziehungen zwischen Zuckerrübenerzeugern und Zuckerverarbeitern nach 2017 sind in Artikel 125 und Anhang X der Verordnung über die einheitliche GMO geregelt. Diese Bestimmungen wurden kürzlich durch eine delegierte Verordnung (4) ergänzt, wonach es weiterhin möglich sein soll, Wertaufteilungsklauseln in die Verträge aufzunehmen. Die Mehrzahl der Akteure der Zuckerbranche hat kürzlich Verträge für 2017/2018 und die Zeit danach geschlossen, die eine Art Verknüpfung zwischen den Preisen für Zuckerrüben und den Marktpreisen für Zucker vorsehen.

4.1.2.

Rübenzuckerhersteller sind schon seit längerer Zeit verpflichtet, monatlich über Preise, Produktion und Bestand Bericht zu erstatten, und dies wird auch nach dem Ende der Quoten so bleiben. Ab dem 1. Oktober 2017 müssen die Preise für Zuckerrüben auch der Europäischen Kommission mitgeteilt und jährlich veröffentlicht werden. Ein solches Maß an Markttransparenz, wie es die Zuckerbranche kennzeichnet, ist im weiteren Verlauf der Versorgungskette und bei den Erzeugern von Isoglukose nicht gegeben. Es gibt Belege dafür, dass die Preisweitergabe entlang der Zuckerversorgungskette gering ist (5), und es könnte sinnvoll sein, zu prüfen, ob mehr Transparenz für die Verwender von EU-Rübenzucker möglich wäre.

4.2.

Auf dem EU-Zuckermarkt sind auch Rohrzuckerraffinerien tätig. Rohrzuckerraffinerien verarbeiten keine Zuckerrüben, sondern sind von Importen von Rohrzucker abhängig, der raffiniert wird. Die EU erlaubt unbegrenzte zollfreie Importe von Zucker aus den am wenigsten entwickelten Ländern im Rahmen der Initiative „Alles außer Waffen“ sowie aus den Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean (AKP), die ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der EU abgeschlossen haben. Die Rohrzuckerraffinerien der EU profitieren von Vergünstigungen hinsichtlich des zollfreien Marktzugangs im Rahmen bilateraler Abkommen mit Zentralamerika, Kolumbien, Peru, Ecuador und Südafrika, die sich gegenwärtig auf insgesamt 420 000 Tonnen pro Jahr belaufen. Die jährliche Verfügbarkeit von zur Raffination bestimmtem Rohzucker zum ermäßigten Zollsatz im Rahmen der CXL-Quote — dies betrifft Brasilien, Australien, Kuba und alle Drittstaaten („erga omnes“) — beläuft sich insgesamt auf mehr als 700 000 Tonnen und soll 2017/2018 auf fast 800 000 Tonnen steigen. Die EU bietet sowohl in den kürzlich abgeschlossenen als auch in den laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen zusätzlichen Zugang für Drittstaaten zum EU-Zuckermarkt.

5.   Das Ende der Produktionsquoten

5.1.

Seit 1968 wird die Produktion von Zucker und Isoglukose für die Verwendung in Lebensmitteln in der EU durch Quoten eingeschränkt. Die Produktionsquoten werden zum 1. Oktober 2017 auslaufen, also zu Beginn des Zuckerwirtschaftsjahres 2017/2018. Ab diesem Zeitpunkt werden die Zucker- und Isoglukoseerzeuger in der EU Zucker und Isoglukose für die Verwendung in Lebensmitteln in unbegrenzter Menge produzieren können. Auch die bislang geltenden Exportbeschränkungen werden dann fallen (6). In der Folge werden die Akteure der EU-Zuckerindustrie ab dem 1. Oktober 2017 die Möglichkeit haben, Zucker ohne Begrenzung zu exportieren.

5.2.

2017/2018 wird voraussichtlich mehr Zucker produziert werden. Diese Produktionssteigerung wird voraussichtlich struktureller Natur sein. Außerdem wird Isoglukose voraussichtlich einen größeren Anteil des EU-Markts für Süßungsmittel einnehmen, wobei die Isoglukosehersteller im Verlauf der Zeit zwei bis drei Millionen Tonnen produzieren wollen, wovon ein großer Teil für die Herstellung von Erfrischungsgetränken verwendet werden könnte (7). Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass der Zuckerverbrauch in der EU leicht zurückgeht.

5.3.

Die gestiegene einheimische Zuckererzeugung und ein größerer Marktanteil für Isoglukose könnten die Preise für Weißzucker in der EU in der Zeit nach dem Auslaufen der Quoten belasten. In den „Mittelfristigen Perspektiven für die Agrarmärkte 2016-2026“ der Europäischen Kommission klingt an, dass die EU-Preise für Weißzucker für einen Großteil der Zeit nach dem Auslaufen der Quoten unter der Referenzschwelle von 404 Euro pro Tonne liegen werden, das heißt unter den durchschnittlichen Kosten der Zuckererzeugung und des Zuckerrübenanbaus.

5.3.1.

2015 erreichten die Preise für Weißzucker in der EU ihren niedrigsten Stand seit Beginn des Preisinformationssystems im Jahr 2006 (8). Dies hatte erhebliche Folgen für die gemeldeten Finanzergebnisse der EU-Zuckererzeuger, von denen viele im Geschäftsjahr 2015/2016 keinen Gewinn erzielen konnten. Die Zuckererzeuger in Italien gerieten besonders unter Druck, und ein Erzeuger entschied sich gar dafür, im Wirtschaftsjahr 2015/2016 überhaupt keinen Zucker zu produzieren. Auch der einzige griechische Zuckererzeuger ist in ernsthaften Schwierigkeiten.

5.4.

Ab dem 1. Oktober 2017 werden die EU-Zuckererzeuger unbeschränkt exportieren können. Die sich so ergebenden Einnahmen könnten die niedrigeren Zuckerpreise in der EU ausgleichen. Der weltweite Zuckerverbrauch wird voraussichtlich um 1,5 bis 2 % jährlich zunehmen (etwa 2 bis 3 Mio. Tonnen pro Jahr), den höheren EU-Zuckerexporten dürfte also eine ausreichende Nachfrage gegenüberstehen.

5.4.1.

Allerdings hängt eine Zunahme der EU-Zuckerexporte davon ab, ob die Unternehmen ausreichenden Zugang zu den Märkten von Drittstaaten haben. Die Europäische Kommission sollte sich in ihren Freihandelsverhandlungen darum bemühen, die Zuckermärkte von Nettozuckerimporteuren zu öffnen, und zwar sowohl durch den Abbau bzw. die Abschaffung von Zöllen als auch durch die Öffnung von Zollkontingenten. Sie sollte die Zölle auf Exporte von EU-Erzeugnissen mit einem hohen Zuckeranteil weiter senken und sich für strenge Ursprungsregeln für solche Produkte einsetzen, sodass die EU-Zuckererzeuger von höheren Exporten profitieren können.

5.4.2.

Die EU-Zuckerexporte werden bisweilen durch Drittstaaten mit Handelsschutzinstrumenten belegt. Die Europäische Kommission sollte alles in ihren Kräften Stehende tun, um solche Maßnahmen zu bekämpfen, sobald die Branche ab dem 1. Oktober 2017 nicht mehr reguliert ist, und die Branche muss das vereinbarte Vorgehen unterstützen.

5.5.

Die EU bietet sowohl in den kürzlich abgeschlossenen als auch in den laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen Zugang für Drittstaaten zum EU-Zuckermarkt. Die Marktöffnung führt zum Druck auf die Preise für Weißzucker in der EU und zunehmenden Schwankungen. Der aktuelle Weltmarkt ist ein Dumpingmarkt mit erheblichen Schwankungen, auf dem der Handel häufig zu Preisen unter den durchschnittlichen Produktionskosten sogar der effizientesten globalen Unternehmen erfolgt. Dies ist in hohem Maße auf die handelsverzerrenden Stützungsmaßnahmen einiger der großen Zuckererzeuger und -exporteure zurückzuführen, etwa Brasilien oder Thailand. Dies führt dazu, dass die Rübenzuckerindustrie der EU nicht die gleichen Wettbewerbsbedingungen wie die Zuckererzeuger in Drittstaaten hat. Die Kommission muss Zucker als sensibles Thema in ihren Verhandlungen über Freihandelsabkommen behandeln und die EU-Zölle für Zucker beibehalten. Die laufenden Verhandlungen mit dem Mercosur stellen eine erhebliche Gefahr für die Branche dar, da Brasilien der weltweit vorherrschende Produzent und Exporteur ist. Die Kommission muss bereit sein, die Politik der Länder, die Zucker erheblich stützen, im Streitbeilegungsgremium der WTO und in Handelsverhandlungen anzufechten.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Nach Angaben der jährlichen Kostenerhebung des Verbands der europäischen Zuckerfabrikanten (CEFS), mit der die durchschnittlichen Produktionskosten von Quotenrübenzucker in der EU festgestellt werden.

(2)  F.O. Licht: International Sugar and Sweetener Report. 18. Mai 2017. Bd. 149, Nr. 14. Dabei handelt es sich um die vier Unternehmen Südzucker, Tereos, ABSugar und Nordzucker.

(3)  Angaben des CEFS.

(4)  Delegierte Verordnung (EU) 2016/1166 der Kommission vom 17. Mai 2016 zur Änderung von Anhang X der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates bezüglich der Kaufbedingungen für Zuckerrüben im Zuckersektor ab dem 1. Oktober 2017.

(5)  Areté, Oktober 2012. Studie zur Preisweitergabe in der Zuckerbranche. Abschlussbericht. Europäische Kommission, GD Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. Ausschreibung Nr. AGRI-2011-EVAL-03.

(6)  Siehe DS266. Die EU kann gegenwärtig etwa 1,35 Mio. Tonnen Zucker pro Wirtschaftsjahr exportieren, das sind 10 % des erzeugten Quotenzuckers.

(7)  Diese Zahl stammt vom Verband der Stärkeindustrie StarchEurope.

(8)  Im Februar und Juni 2015 erreichten die Preise mit 414 Euro pro Tonne einen Tiefstand.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Konkrete Maßnahmen nach der Cork-2.0-Erklärung“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/06)

Berichterstatterin:

Sofia BJÖRNSSON

Beschluss des Plenums

26.1.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung am

6.7.2017

Plenartagung Nr.

526

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die Cork-2.0-Erklärung und die Konferenz, die im September 2016 zu der Erklärung führte. In der Erklärung wird eine EU-Politik für den ländlichen Raum weiterhin nachdrücklich befürwortet.

1.2.

Die ländlichen Gebiete in der EU sind uneinheitlich und weisen unterschiedliche Gegebenheiten zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten auf. Der EWSA ist der Auffassung, dass sich aus diesen Unterschieden die Notwendigkeit ergibt, bei der Nutzung der verfügbaren EU-Mittel Schwerpunkte zu setzen und einen strategischen Ansatz zu verfolgen. Ausgangspunkt hierfür müssen die Prioritäten der jeweiligen Mitgliedstaaten und ihrer Regionen und — noch wichtiger — Initiativen der Landbevölkerung selbst sein. Die obligatorische Prüfung der Auswirkungen politischer Entscheidungen und Strategien auf den ländlichen Raum bietet zudem die Möglichkeit, die besonderen Verhältnisse ländlicher Gebiete zu berücksichtigen und zu beachten.

1.3.

Die Entwicklung des ländlichen Raums ist ein Querschnittsthema, das eigentlich alle Politikbereiche betrifft. Es bedarf einer kohärenteren Politik für den ländlichen Raum und die regionale Entwicklung, und dafür ist ein solider Haushalt für die ESI-Fonds (europäische Struktur- und Investitionsfonds) erforderlich. Der EWSA stellt fest, dass der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) der wichtigste ESI-Fonds für die ländliche Entwicklung ist, und betont, dass die übrigen ESI-Fonds, wie der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und der Europäische Sozialfonds (ESF), stärker diesbezüglich eingespannt werden müssen.

1.4.

Es gibt viele Ansatzpunkte für eine Vereinfachung der Politik. Der EWSA hält eine Vereinfachung der Vorschriften für die ESI-Fonds für notwendig, sowohl auf EU-Ebene als auch in der einzelstaatlichen und regionalen Umsetzung der Politik. Das derzeitige System ist so komplex, dass etliche potenzielle Antragsteller den Antrag gar nicht erst stellen.

1.5.

Vielerorts in Europa, insbesondere in den ländlichen Gebieten, mangelt es immer noch an stabilen Internet-Anschlüssen. Der EWSA sieht das sehr kritisch. Die ländlichen Gebiete brauchen aus Gründen der Sicherheit sowie des Lebensstandards Breitband, z. B. für funktionierende Telefonverbindungen. Der Breitbandzugang kann einer der Faktoren sein, der mit darüber entscheidet, ob vor allem junge Menschen auf dem Lande bleiben wollen oder abwandern. Für Unternehmen und Unternehmer ist der Zugang zu Breitbanddiensten eine Notwendigkeit.

1.6.

Die Landwirtschaft hat aufgrund ihrer starken Gebundenheit an den Boden eine ganz besondere Bedeutung für den ländlichen Raum. Die landwirtschaftliche Erzeugung ist sowohl ein unerlässlicher Bestandteil der ländlichen Gebiete bei der Versorgung der Gesellschaft mit nachhaltigen Lebensmitteln, als auch ein Motor für die Entwicklung des ländlichen Raums. Daher ist es für den EWSA selbstverständlich, dass der Löwenanteil der Fördermittel des ELER für die Landwirtschaft bestimmt ist. Gute Bedingungen für Junglandwirte ist eine Voraussetzung für langfristige Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Erzeugung.

1.7.

Der EWSA unterstreicht, dass nachhaltige Entwicklung ein gutes Klima für Innovationen benötigt.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und das Pariser Klimaübereinkommen (COP 21) übergreifende Zielsetzungen für die gesamte EU-Politik sind, nicht zuletzt auch für die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums. Die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, die im ländlichen Raum tätig sind, müssen sich aktiv in die Umsetzung dieser internationalen Verpflichtungen einbringen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

Cork 2.0

2.1.

Die Kommission veranstaltete 1996 eine Konferenz in der irischen Stadt Cork. Diese Konferenz mündete in die Erklärung von Cork, die die Grundlage für die zweite Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und die Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums legte. Im Herbst 2016 veranstaltete die Kommission eine Nachfolgekonferenz in Cork, die mit der Verabschiedung der Cork-2.0-Erklärung abgeschlossen wurde.

2.2.

Die Erklärung wurde in breitem Einvernehmen auf einer Konferenz verabschiedet, die von der Generaldirektion Landwirtschaft und ländliche Entwicklung veranstaltet wurde. Die rund 340 Teilnehmer aus der Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten vertraten die Zivilgesellschaft sowie die Behörden der nationalen, der regionalen und der EU-Ebene, darunter auch den EWSA. Zum Abschluss wurde die Erklärung unter dem Titel „Für ein besseres Leben im ländlichen Raum“ vorgelegt, der von den Teilnehmern stillschweigend angenommen wurde.

2.3.

Ausgangspunkt der Erklärung ist die Politik der EU für die Landwirtschaft und den ländlichen Raum. In gewisser Hinsicht ist sie jedoch breiter angelegt, da darin auf die Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) (1) und das Klimaübereinkommen von Paris (COP 21) verwiesen wird (2).

2.4.

Einleitend werden die Gründe für die Erklärung und anschließend zehn Punkte als Leitlinien für die Politik aufgeführt:

Punkt 1: Förderung des Wohlstands im ländlichen Raum

Punkt 2: Stärkung ländlicher Wertschöpfungsketten

Punkt 3: Investitionen in die Lebensfähigkeit und Dynamik des ländlichen Raums

Punkt 4: Erhaltung der ländlichen Umwelt

Punkt 5: Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen

Punkt 6: Förderung klimabezogener Maßnahmen

Punkt 7: Förderung von Wissen und Innovation

Punkt 8: Verbesserte Steuermechanismen im ländlichen Raum

Punkt 9: Effektivere und vereinfachte Umsetzung

Punkt 10: Leistungsfähigkeit und Rechenschaftspflicht der Politik

2.5.

Die Erklärung basiert auf einem umfassenden Ansatz für die Entwicklung des ländlichen Raums; Umfang und Inhalt machen die Stärke der Erklärung aus, denn es werden alle für die Lebensfähigkeit und Nachhaltigkeit des ländlichen Raums in der EU unentbehrlichen Aspekte behandelt. Nach Auffassung des EWSA ist der Umfang zugleich jedoch auch eine Schwäche, denn er erzeugt eine Komplexität, die für eine Fokussierung auf EU-Ebene keinen Platz lässt. Der EWSA unterstreicht angesichts der großen Herausforderungen für die ländlichen Gebiete, dass die verfügbaren Mittel gezielt eingesetzt werden müssen, um konkrete Ergebnisse sicherzustellen. Die Schwerpunktsetzung muss auf den Prioritäten des jeweiligen Mitgliedstaats oder der jeweiligen Region und — noch wichtiger — den Initiativen der Landbevölkerung basieren.

2.6.

Inhaltlich ähnelt die Cork-2.0-Erklärung der Erklärung von 1996, jedoch mit dem Unterschied, dass nun auch der Klimaschutz und die Digitalisierung einbezogen werden.

2.7.

Der EWSA sieht sich als wichtiges Element bei der Umsetzung der Erklärung und fordert die Kommission auf, künftig Fortschrittsberichte über die Umsetzung zu präsentieren.

Die EU-Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums

2.8.

In allen EU-Staaten gibt es auf nationaler oder regionaler Ebene Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums, die zum Teil aus dem ELER, zum Teil mit nationalen (öffentlichen oder privaten) Mitteln finanziert werden. Die Programme umfassen Maßnahmen, mit denen ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung in dreifacher Hinsicht — ökologisch, sozial und wirtschaftlich — geleistet werden soll. Sie werden von dem jeweiligen Mitgliedstaat oder der betreffenden Region ausgearbeitet und von der Kommission genehmigt.

2.9.

Der ELER ist Teil der europäischen Struktur- und Investitionsfonds (den sog. ESI-Fonds), zusammen mit dem Kohäsionsfonds, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF). Für die technische Umsetzung der ESI-Fonds gelten gemeinsame Bestimmungen (3). Jedes Land hat darüber hinaus gemeinsame Partnerschaftsvereinbarungen für die Fonds — mit Prioritäten für die Durchführung der Maßnahmen — ausgehandelt. Das ist Teil der Umsetzung der Ziele der Europa-2020-Strategie. Es besteht also eine enge Verbindung zwischen den Fonds und eine Strategie für das Zusammenwirken der Fonds.

2.10.

Im Rahmen von ELER existieren Netzwerke für den ländlichen Raum, die teils auf EU-Ebene als das Europäische Netz für die Entwicklung des ländlichen Raums, teils auf nationaler und regionaler Ebene arbeiten. Diese Netze sind Plattformen für Kontakte und den Erfahrungsaustausch, und sie verbessern die Voraussetzungen dafür, dass die Programme für den ländlichen Raum ordnungsgemäß umgesetzt werden und ihre Zielsetzungen erfüllen.

2.11.

Der Ausschuss der Regionen hat eine Studie zu der Frage in Auftrag gegeben, in welchem Umfang die ESI-Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums abgerufen werden (4). Es überrascht nicht, dass die meisten Mittel für diese Zwecke aus dem ELER beantragt wurden und werden. Der Anteil anderer Fonds ist demgegenüber vergleichsweise gering bis sehr gering. Der EWSA plädiert dafür, diesen Anteil zu erhöhen, da die ländliche Entwicklung eine horizontale Frage von maßgeblicher Bedeutung für den Zusammenhalt der Union ist.

2.12.

Die ESI-Fonds waren und bleiben das wichtigste Mittel der EU zur Verwirklichung der in der Erklärung von Cork formulierten Absichten. Der nächste Finanzplanungszeitraum der EU beginnt 2021, und die Gestaltung der Maßnahmen für diesen Zeitraum wird entscheidend dafür sein, wie gut sich die Ziele von Cork 2.0 verwirklichen lassen. Der EWSA stellt zudem fest, dass zur Umsetzung der Erklärung und der politischen Ziele ein solider Haushalt für die ESI-Fonds erforderlich ist.

3.   Weitere Schritte

Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum

3.1.

In Punkt 1 der Erklärung wird ein Mechanismus zur Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum gefordert, mit dem sichergestellt wird, dass das Potenzial ländlicher Gebiete in den Maßnahmen und Strategien der EU zum Ausdruck kommt. Die Agrarpolitik und die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sollen mithilfe sektorübergreifender Konzepte auf der Identität und Dynamik ländlicher Gebiete aufbauen; außerdem sollen sie die Nachhaltigkeit, die soziale Inklusion und die lokale Entwicklung fördern.

3.2.

Eine Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum bedeutet, dass die besonderen Verhältnisse ländlicher Gebiete objektiv und systematisch berücksichtigt und beachtet werden. Sie kann ein Mittel sein, um festzustellen, wie sich politische Beschlüsse auf den ländlichen Raum auswirken, sodass negative Folgen vermieden werden.

3.3.

Eine Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum wird beispielsweise in Finnland, dem Vereinigten Königreich und in Kanada durchgeführt. Sie kann obligatorisch oder freiwillig sein. In Nordirland ist eine solche Prüfung seit 2016 gesetzlich vorgeschrieben. Die Systeme der einzelnen Länder ähneln sich.

3.4.

Damit eine solche Prüfung wirkungsvoll ist, muss sie obligatorisch sein. Sie muss den politischen Entscheidungsträgern eine fundierte Grundlage für ihre Beschlüsse geben. Eine Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum, die sich auf Untersuchungen und Feststellungen beschränkt, die Beschlussfassung aber nicht beeinflusst, wäre sinnlos.

3.5.

Außerdem muss man sich dessen bewusst sein, dass es innerhalb der EU und innerhalb eines Mitgliedstaats nicht nur einen ländlichen Raum gibt, sondern verschiedene unterschiedliche ländliche Räume mit jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten und Gegebenheiten. Das muss sich auch in der Prüfung der Auswirkungen auf den ländlichen Raum und in der Politik sowohl auf EU-Ebene als auch in den Mitgliedstaaten widerspiegeln, wenn die Entwicklung des ländlichen Raums erfolgreich sein soll. Die Bewohner ländlicher Gebiete spielen bei der Schaffung einer lokalen Identität und ihrer Entwicklung sowie bei der Diskussion und Entscheidung darüber, in welchem Ausmaß der ländliche Charakter erhalten werden soll, ebenso eine Rolle.

LEADER und von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung

3.6.

In Punkt 8 der Erklärung wird ausgeführt, dass an den Erfolg und den Bottom-up-Ansatz von LEADER angeknüpft werden sollte. Der EWSA hat seine Standpunkte zur Kohäsionspolitik der EU, zu den in deren Rahmen bestehenden Partnerschaften, zur LEADER-Methode und auch zu der neuen Methode der von der örtlichen Bevölkerung betriebenen Maßnahmen zur lokalen Entwicklung (CLLD) in zahlreichen Papieren zum Ausdruck gebracht.

3.7.

Der EWSA schloss sich der Analyse an, die die Kommission bereits in ihrem dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt von 2004 dargelegt hatte, nämlich dass das politische Ziel darin bestehe, durch den Abbau von Disparitäten, das Verhindern territorialer Ungleichgewichte sowie die Verbindung von Regionalpolitik und sektoralen Politiken zu einer ausgewogeneren Entwicklung beizutragen (5).

3.8.

Der Ausschuss stellt jedoch fest, dass dies nicht erreicht wurde und dass eine stärker integrierte Politik für den ländlichen Raum und die Regionalentwicklung erforderlich ist.

3.9.

Der EWSA hat auch das Partnerschaftsprinzip als einen effektiven Weg zur Förderung der ESI-Fonds-Programme begrüßt. Das Partnerschaftsprinzip impliziert, dass neben den traditionellen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren auch die Organisationen der Zivilgesellschaft, Partner des Umweltbereichs, nichtstaatliche Organisationen sowie Einrichtungen zur Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen teilnehmen.

3.10.

Die LEADER-Methode ist ein bewährtes Entwicklungsinstrument, durch das sich der öffentliche Sektor und die Zivilgesellschaft an einer lokalen Partnerschaft beteiligen können. Der EWSA hielt bereits 2011 fest, dass für diese Methode auch Mittel aus allen ESI-Fonds zugänglich sein sollten. Sie war auch ein positiver Faktor für eine bessere Verbindung zwischen Stadt und Land (6). Die Methode kann auch im städtischen Umfeld eingesetzt werden, was aber nach Ansicht des EWSA nicht zu Lasten der Entwicklung des ländlichen Raums gehen darf.

3.11.

Im Programmzeitraum 2014-2020 ist die von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (CLLD, Community-Led Local Development) im Rahmen der LEADER-Methode als neues Instrument aufgekommen, das aus den vier ESI-Fonds gemeinsam finanziert werden kann. Die lokale Entwicklung kann am effektivsten von denjenigen betrieben werden, die vor Ort leben, arbeiten und sich dort auskennen.

3.12.

Mindestens fünf Prozent der Mittel aus dem ELER sollen für von der örtlichen Bevölkerung betriebene Maßnahmen für die lokale Entwicklung eingesetzt werden. Aufgrund seiner Konstruktion, die es mit sich bringt, dass beim Einsatz eines der Fonds vier verschiedene Regelwerke zu befolgen sind, ist eine rationelle und einfache Nutzung kaum möglich. Vor dem kommenden Programmplanungszeitraum sollte die Kommission Vorschläge für erhebliche Vereinfachungen und eine Untergrenze für den Anteil an Fondsmitteln für die Methode vorlegen, damit die von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung ihr Potenzial als ein Instrument sowohl für ländliche als auch städtische Räume voll und ganz entfalten kann.

Dienstleistungen und Arbeit

3.13.

Dienstleistungen und Arbeit sind bestimmende Faktoren dafür, inwieweit Menschen willens oder in der Lage sind, auf dem Land wohnen zu bleiben oder dorthin zu ziehen. Allgemein besteht in der EU eine Tendenz zur Landflucht, die zu einer Abwärtsspirale führt und die Möglichkeit schmälert, die Ziele der EU und der Vereinten Nationen für die nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen. Die demografische Entwicklung kann eine künftige Herausforderung sein, und sowohl junge wie ältere Menschen in ländlichen Gebieten benötigen die Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität.

3.14.

Hinsichtlich der Verfügbarkeit grundlegender öffentlicher und kommerzieller Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Pflege, Post, Lebensmittelgeschäfte, öffentlicher Nahverkehr usw. können Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten auftreten. Dies kann den Ausschlag für die Entscheidung der Menschen geben, wo sie leben wollen bzw. können. Für Familien mit Kindern kann z. B. das Vorhandensein von Kinderbetreuungseinrichtungen dafür entscheidend sein, in welchem Umfang die Eltern einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können. In einigen Teilen Europas ist die Verfügbarkeit von Dienstleistungen auf dem Land generell schlechter als in den Städten. In der Raumplanung sollte dieses Problem berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass die Lebensqualität in den ländlichen Gebieten nicht beeinträchtigt wird.

3.15.

In mehreren EU-Ländern ist die Arbeitslosigkeit auf dem Land höher als in den Städten. Allerdings gibt es diesbezüglich große Unterschiede, die sich in den Statistiken von Eurostat widerspiegeln (7). Gleichzeitig beklagen einige Unternehmen Schwierigkeiten bei der Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte in ländlichen Gebieten. Somit lässt sich eine beidseitig unausgewogene Angebots- und Nachfragesituation erkennen. Die Tendenz geht dahin, dass junge Menschen, die eine Berufsbildung anstreben, in Universitäts- und Hochschulstandorte abwandern und nicht mehr zurückkehren.

3.16.

Die Bewerkstelligung der Aufnahme von Zuwanderern — und insbesondere ihrer Familien — ist sowohl jetzt als auch in den kommenden Jahren für die Bewohner ländlicher Gebiete eine Herausforderung. Gefördert werden sollte das Anstreben und die Wahrung gegenseitiger Wertschätzung und Achtung. Ländliche Gebiete könnten für Zuwandererfamilien gute Lebensbedingungen bieten. Für Länder mit hoher Zuwanderung — z. B. von Flüchtlingen — und Arbeitsmigration ist es eventuell schwierig, Arbeit zu finden; Migration kann aber auch Einstellungsmöglichkeiten schaffen.

3.17.

Beschäftigungs- und Ausbildungsbelange werden in der Erklärung vor allem in den Punkten 3 und 7 behandelt. Auf die Frage der Dienstleistungen wird eher indirekt eingegangen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Initiativen der Union sowohl direkt als auch indirekt für die Entwicklung von Bedeutung sind, nicht zuletzt für die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Anreize für Unternehmen. Der Zugang zu Dienstleistungen ist in höherem Maße eine einzelstaatliche Zuständigkeit, wenngleich zum Beispiel die ESI-Fonds katalysierend wirken können.

Landwirtschaft und ländliche Entwicklung

3.18.

Die Landfläche der EU besteht zu etwa 85 % aus land- und forstwirtschaftlichen Flächen, mit großen Unterschieden zwischen den Ländern und Regionen. Die Kulturlandschaft bildet die Voraussetzung für die Herstellung von Lebens- und Futtermitteln, Energie und Fasern und ist daneben auch eine Quelle für die Erhaltung und die Bereitstellung kollektiver Güter, wie z. B. einer reichhaltigen Flora und Fauna. Die Landschaft unterscheidet die ländlichen Gebiete von den Städten — sie ist ein Alleinstellungsmerkmal der ländlichen Gebiete in der EU; aufgrund ihrer starken Gebundenheit an den Boden hat die Landwirtschaft eine ganz besondere Bedeutung für den ländlichen Raum. In den Punkten 4 und 5 der Erklärung geht es um die Erhaltung der ländlichen Umwelt und die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen. Die Voraussetzungen für die nachhaltige Nutzung und Bewirtschaftung sind von grundlegender Bedeutung für die „inneren Werte“ der Landschaft, die Wasserqualität und die biologische Vielfalt.

3.19.

Die landwirtschaftliche Erzeugung wird in der Erklärung zwar angeschnitten, allerdings hauptsächlich indirekt. Der Text lässt sich so interpretieren, dass die landwirtschaftliche Produktion (von Nahrungsmitteln) bis zu einem gewissen Grad als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Wie oben erwähnt, wird auf die Erhaltung und die Bewirtschaftung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen expliziter eingegangen. Der EWSA weist darauf hin, dass die Landwirtschaft ein unerlässlicher Bestandteil der ländlichen Gebiete ist, weil sie einerseits die Gesellschaft mit nachhaltig erzeugten Lebensmitteln versorgt und andererseits ein Motor für die Entwicklung des ländlichen Raums ist. Die Beschäftigten der Land- und Forstwirtschaft machen einen beträchtlichen Teil der Landbevölkerung aus, sie schaffen Arbeitsplätze und sie sorgen für eine Nachfrage nach Dienstleistungen. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass Berufseinsteiger in der Landwirtschaft, und gerade auch die jüngeren unter ihnen, die Chance zur Hofübernahme und zum Ausbau ihrer Tätigkeit bekommen müssen. Der Anteil von Junglandwirten ist gering, und der Generationswechsel muss leichter gemacht werden.

3.20.

Für eine nachhaltige landwirtschaftliche Erzeugung müssen die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung — Wirtschaft, Soziales und Umwelt — im Gleichgewicht sein. Ökonomische Aspekte können zuweilen ausschlaggebend für die Bewirtschaftung sein. Als Beispiel können artenreiche Wiesen und Weiden genannt werden, die nach und nach verschwinden, weil sich die tierische Erzeugung mit Weidetieren immer weniger lohnt, was sich wiederum negativ auf die biologische Vielfalt auswirkt. Dies ist ein klares Beispiel dafür, dass mangelnde wirtschaftliche Tragfähigkeit der Unternehmen für die Umwelt nachteilig sein kann und dass die Landwirte eine Kompensation für ihre Umweltleistungen erhalten müssen.

3.21.

Nach Auffassung des EWSA ist die Landwirtschaft der Bereich für die Entwicklung des ländlichen Raums, für den der ELER maßgeblich ist und auch sein sollte. Der Löwenanteil der Fördermittel des ELER ist zu Recht für die landwirtschaftliche Tätigkeit vorgesehen, z. B. in Form von Umweltzahlungen, Weiterqualifizierung, Zahlungen für Gebiete mit naturbedingten Nachteilen und Investitionsbeihilfen. Andere Bereiche des ELER, z. B. Energie, Breitband und Innovationsförderung, haben positive Auswirkungen auf die ländlichen Gebiete im weiteren Sinne. Dabei ist die Landwirtschaft zugleich eine ganz normale unternehmerische Tätigkeit, sodass diese Zielgruppe nicht von Mitteln aus anderen ESI-Fonds ausgeschlossen werden darf.

3.22.

Die Land- und Forstwirte von heute können sowohl als Gestalter der Landschaft als auch als Bewahrer der von früheren Generationen geschaffenen Landschaft gesehen werden. Für viele Menschen ist die bewirtschaftete Kulturlandschaft ein wichtiger Faktor einer höheren Lebensqualität, deren Bedeutung für Freizeit, Erholung an der frischen Luft und Fremdenverkehr kaum zu unterschätzen ist. Der Wert der Landschaft und der Böden kann auf vielfältige Weise unternehmerische Möglichkeiten und Lebensgrundlagen bieten.

3.23.

Zu einer ausgewogeneren territorialen Entwicklung sollte auch die Umstellung auf nachhaltige Ernährungssysteme gehören (8). Die Entwicklung eines ganzheitlichen Konzepts für die Lebensmittelsysteme ist von grundlegender Bedeutung, um die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Produktion und dem Konsum von Lebensmitteln zu bewältigen und eine gute Durchführung der Initiativen auf vielerlei Ebenen und in einer Vielzahl von Sektoren zu erreichen. Zu den Initiativen dieser Art zählt beispielsweise die Förderung kurzer Versorgungsketten mit dem Ziel, die ländliche Entwicklung zu fördern, indem den Verbrauchern gesunde und frische Nahrungsmittel geboten werden (9). Profitieren würden davon auch die Wirtschaft vor Ort und die landwirtschaftliche Produktion.

Innovation

3.24.

Die Bedeutung der Innovation für die Entwicklung des ländlichen Raums, die zur Entstehung und Verwirklichung neuer Ideen führt, kann gar nicht genug hervorgehoben werden. Innovative Lösungen schaffen die Voraussetzungen für eine nachhaltige Gesellschaft, sodass die ländlichen Gebiete beispielsweise zu einer stärker kreislauforientierten, ökologischen Wirtschaft und klimaintelligenten Lösungen beitragen können und mit weniger Aufwand mehr produziert werden kann. Weitergabe und Zugang zu Wissen sind ein Schlüsselfaktor für die Umsetzung innovativer Ideen.

3.25.

Neue Techniken und neue innovative Produktionsverfahren bieten gute Voraussetzungen für mehr Nachhaltigkeit in der Agrarproduktion und in der Folge höhere Tierschutzstandards und auch dafür, dass mit weniger Einsatzmitteln, wie z. B. Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, mehr produziert werden kann. Neue Techniken und die Nutzbarmachung von Innovationen erfordern in vielen Fällen erhebliche Investitionen, die für die einzelnen Unternehmer in der Landwirtschaft mit einem hohen Risiko verbunden sein können. Ein Unternehmer kann ein solches Risiko oft nicht alleine tragen. Um Technologien und Verfahren zu unterstützen, die von der Gesellschaft nachgefragt werden, sollten Investitionsbeihilfen aus z. B. dem Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums bereitstehen. Es kann zu einem inhärenten Konflikt zwischen der technischen Entwicklung der Landwirtschaft und dem Arbeitsplatzangebot kommen, da die zunehmende Mechanisierung und die strukturelle Entwicklung in vielen Fällen zum Verlust von Arbeitsplätzen führen, wenngleich die Entwicklung auch zu wirtschaftlich stabileren Arbeitsplätzen führen kann.

3.26.

Strategien für bzw. die Umsetzung von Innovationen müssen vom Bedarf und nicht den verfügbaren Mitteln geleitet sein. In Punkt 7 der Erklärung wird hervorgehoben, dass mehr Wissen und technische und soziale Innovationen erforderlich sind und dass die Akteure bei der Nutzung und Weitergabe von Informationen kooperieren müssen. Hier können Gemeinschaftsinitiativen wie die Europäische Innovationspartnerschaft (EIP), z. B. EIP-Agri, mit ihrem basisnahen Ansatz helfen, indem für Vernetzung, Kommunikation und den Austausch zwischen den Akteuren auf den unterschiedlichen Ebenen gesorgt und gerade auch auf praktisches unternehmerisches Handeln abgestellt wird. Für eine weitergehende Förderung der Innovation in den ländlichen Gebieten könnte auf Innovationsmakler gesetzt werden.

Digitalisierung

3.27.

In der Gesellschaft von heute ist der Zugang zu Ultra-Breitbanddiensten ein unerlässlicher Teil der Infrastruktur und eine Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft sowohl in der Stadt als auch auf dem Land und beeinflusst somit sowohl die Verfügbarkeit von Arbeitskräften als auch den Zugang zu Beschäftigung. Die Tendenz geht dahin, dass sich Entwicklungen zunehmend online abspielen. Vielerorts in Europa, insbesondere in ländlichen Gebieten, mangelt es immer noch an stabilen Lösungen. Der EWSA sieht das sehr kritisch. Die ländlichen Gebiete brauchen das Breitband für ihre Sicherheit, wie z. B. funktionierende Telefonverbindungen, und auch für ihren Lebensstandard, wie etwa funktionierendes Fernsehen. Der Breitbandzugang kann einer der Faktoren sein, der mit darüber entscheidet, ob vor allem junge Menschen auf dem Lande bleiben wollen oder abwandern. Für Unternehmen ist der Breitbandanschluss eine schlichte Notwendigkeit, da sie in den meisten Fällen nicht ohne funktionierenden Breitbandanschluss arbeiten können. Beispiele, die genannt werden können, sind Zahlungslösungen in der zunehmend bargeldlosen Gesellschaft, Buchhaltung, elektronischer Geschäftsverkehr oder etwa die Kundenkommunikation. Landwirtschaftliches Unternehmertum ist ein Beispiel für einen Bereich, in dem die IKT mit ihren neuen technischen Lösungen eine immer größere Bedeutung erlangt.

3.28.

Notwendigkeit und Möglichkeiten der Digitalisierung werden in der Erklärung hervorgehoben. Nach Auffassung des EWSA muss dort, wo die Marktkräfte nicht für die Verbreitung von Breitbandanschlüssen ausreichen — was in ländlichen Gebieten oft der Fall ist —, unterstützend eingegriffen werden. Dem EWSA zufolge sollte der EFRE die wichtigste Quelle für Förderungen der Infrastruktur sein, während der ELER für kleinmaschigere, gezieltere Vorhaben verwendet werden sollte. Hier helfen die Europäische Investitionsbank und der Europäische Fonds für strategische Investitionen, z. B. durch den Einsatz innovativer Finanzinstrumente.

Die Bedeutung der ländlichen Gebiete für Kreislaufwirtschaft und Klimawandel

3.29.

Die Bedeutung der ländlichen Gebiete in der Kreislaufwirtschaft ist beträchtlich. In der Erklärung wird die Kreislaufwirtschaft in Punkt 6 (Förderung klimabezogener Maßnahmen) erwähnt. Sie bietet darüber hinaus aber noch weitere Vorteile, auf die in der EWSA-Stellungnahme Paket zur Kreislaufwirtschaft eingegangen wird (10). Ein nachhaltiger Kreislauf zwischen Stadt und Land ist erforderlich, und zwar nicht nur unter der Ressourcenperspektive, sondern auch, um die Landwirtschaft zu unterstützen und den Bedarf an eingeführten Ressourcen zu verringern. Somit können die ländlichen Gebiete einen großen Beitrag zu einer stärker kreislauforientierten Gesellschaft leisten, weil sie einerseits dafür sorgen können, dass Abfallprodukte als Ressourcen, wie etwa als Dünger oder Bodenverbesserungsmittel, eingesetzt werden, und weil sie andererseits erneuerbare Energie und Biomaterial liefern können.

3.30.

Ein Schritt zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen besteht darin, weniger fossiler Brennstoffe und mehr erneuerbare Energieträger einzusetzen. Auch hierzu können die ländlichen Gebiete Wesentliches beitragen: durch die Erzeugung von Solar-, Wind- und Wasserenergie, aber auch von Bioenergie. Allerdings kann die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen auch zu einer spürbaren Belastung für Mensch und Umwelt werden, weshalb sämtliche Aspekte der nachhaltigen Entwicklung einzubeziehen sind.

3.31.

In Bezug auf den Klimawandel müssen sowohl dessen Auswirkungen eingedämmt werden als auch eine Anpassung an seine Auswirkungen erfolgen. Die ländlichen Gebiete haben aufgrund weitläufiger landwirtschaftlich genutzter Flächen und Wälder ein großes Potenzial als Kohlenstoffsenken, wodurch sie zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen beitragen, während die Produktion an sich zu solchen Emissionen beiträgt. Zur Verringerung dieser Emissionen sollten die besten verfügbaren Techniken eingesetzt werden. Auf allen Ebenen — von den Erzeugern bis zu den Entscheidungsträgern — muss ein Kompetenzaufbau betrieben werden, bei dem Investitionschancen immer mit im Blick zu behalten sind.

3.32.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die ländlichen Gebiete über ein erhebliches Potenzial verfügen, um einen Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaft und damit auch zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Agenda 2030) und dem Pariser Übereinkommen über den Klimawandel (COP 21) zu leisten, was klar aus der Cork-2.0-Erklärung hervorgeht. Die Herausforderungen sind allerdings groß, und sowohl im übertragenen wie auch im konkreten Sinn sind zu ihrer Bewältigung Investitionen erforderlich.

Vereinfachung

3.33.

Wenn von der Förderung mit EU-Mitteln die Rede ist, wird nur zu oft beklagt, dass diese sowohl für ihre Empfänger als auch für die Behörden zu kompliziert ist. In Punkt 9 der Erklärung wird die Komplexität dieser Politik angesprochen. Der EWSA hält eine vereinfachte Umsetzung der Politik sowohl auf EU-Ebene als auch in der einzelstaatlichen und regionalen Umsetzung der Politik für notwendig. Das derzeitige System ist so komplex, dass etliche potenzielle Antragsteller den Antrag gar nicht erst stellen, weshalb die Komplexität als ein Hemmnis für die Umsetzung und die Erreichung der Ziele der Politik zu sehen ist. Im Prinzip können bestimmte Anträge ohne die Hilfe eines Beraters nicht ordnungsgemäß ausgefüllt werden. Die Rechtssicherheit für den Einzelnen muss im Mittelpunkt stehen.

3.34.

Für den gegenwärtigen Programmplanungszeitraum 2014-2020 wurden die Verwaltungsregeln für die ESI-Fonds in einer gemeinsamen Verordnung zusammengefasst (11). Grundsätzlich ist dies positiv zu bewerten, weil eine verbesserte Koordinierung zu Effizienzgewinnen vor allem bei der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt, während der Nutzen für den einzelnen Antragsteller vermutlich geringer ausfallen dürfte, da ein und derselbe Begünstigte selten Mittel aus verschiedenen Fonds beantragt. Der Nutzen der von der Bürgerebene ausgehenden lokalen Entwicklung könnte in denjenigen Ländern, in denen die lokale Entwicklung aus mehreren Fonds gefördert wird, größer sein. Die Auswirkungen der gemeinsamen Regelung sollten weiter untersucht werden.

3.35.

Die derzeitige Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums wird im Rahmen von ELER über Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums mithilfe von Prioritäten und Schwerpunktbereichen durchgeführt. Dadurch ist ein System stark fragmentierter Programmmittel entstanden, da die Einteilung in Maßnahmen, Schwerpunktbereiche und Prioritäten mit unterschiedlichen Haushaltsposten und -linien einhergeht. Die Übersichtlichkeit der Programme wurde dadurch beeinträchtigt, und es ist ein vermehrter Verwaltungsaufwand für die Behörden entstanden, was wiederum zulasten der Ressourcen für die Umsetzung der Programme geht und die Möglichkeit schmälert, die Ziele der betreffenden Programme zu erreichen.

3.36.

Punkt 10 der Erklärung enthält Überlegungen zur Leistungsfähigkeit und Rechenschaftspflicht der Politik. Sie sind zugleich auch Leitprinzipien für die Haushaltsarbeit der Kommission, die im Jahr 2015 die Initiative für einen ergebnisorientierten EU-Haushalt lanciert hat. Die Bürger und Steuerzahler müssen wissen, zu welchen Ergebnissen die Politikansätze führen und inwieweit die Ziele der Politik erreicht werden.

Brüssel, den 6. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe Stellungnahme Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft (siehe Seite 15 dieses Amtsblatts).

(2)  Siehe Stellungnahme Wie geht es weiter nach Paris? (ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 103).

(3)  Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013.

(4)  Siehe: http://cor.europa.eu/en/documentation/studies/Documents/Evolution-Budget-Dedicated-Rural-Development-Policy.pdf.

(5)  Siehe Stellungnahme Grünbuch zum territorialen Zusammenhalt (ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 123).

(6)  Siehe Stellungnahme LEADER als Instrument für die lokale Entwicklung (ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 15).

(7)  http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Unemployment_statistics_at_regional_level.

(8)  Siehe Stellungnahme Nachhaltigere Lebensmittelsysteme (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 64).

(9)  Dies ist Gegenstand der Initiativstellungnahme des EWSA Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU, die im Dezember 2017 verabschiedet werden soll.

(10)  Siehe Stellungnahme Paket zur Kreislaufwirtschaft (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98).

(11)  Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1489147469173&uri=CELEX%3A32013R1303.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Anwendung der Vorschriften für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse

(Beschluss 2012/21/EU und Gemeinschaftsrahmen)“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/07)

Berichterstatterin:

Milena ANGELOVA

Beschluss des Plenums

22.9.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

6.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

116/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Umsetzung des Pakets zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI), das Rechtssicherheit für die Erbringer öffentlicher Dienstleistungen bringt. Mit dem Paket wird ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt zwischen der Notwendigkeit, DAWI zu fördern und zu unterstützen, und dem Ziel, mögliche Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Allerdings haben die Interessenträger auf regionaler und lokaler Ebene, insbesondere Erbringer von DAWI im Eigentum der öffentlichen Hand (siehe Studie des EWSA „Überprüfung der Berichte der Mitgliedstaaten über die Umsetzung des Beschlusses der Europäischen Kommission über die Gewährung staatlicher Beihilfen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“), ihrer Sorge im Hinblick auf wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Vorschriften Ausdruck verliehen, die unnötige Hindernisse bzw. einen Mangel an Rechtssicherheit verursachen. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die derzeitigen Vorschriften und ihre praktische Anwendung zu verbessern, Leitlinien vorzulegen, ein Kompendium bewährter Verfahren zusammenzustellen und gegebenenfalls zu prüfen, ob das Paket aktualisiert bzw. geändert werden muss.

1.2.

Der EWSA hat die ersten beiden Wellen der Berichte der Mitgliedstaaten über die Umsetzung des DAWI-Pakets gesichtet und stellt mit Sorge fest, dass es darin nicht um das grundsätzliche Thema der Vorgaben für die Vereinbarkeit geht, das in dem Rahmen der Kommission eingehend behandelt wird.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass die mangelnde Rechtssicherheit bzw. die erheblichen Kosten, die mit der Erfüllung der Vorgaben einhergehen, in den meisten Fällen Hürden darstellen, die die Behörden ungerechtfertigterweise daran hindern, die DAWI-Politik umfassend umzusetzen. Diese Hürden wirken sich ganz direkt auf die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften aus, da der Dialog zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission über Fälle staatlicher Beihilfen von der Zentralregierung geführt wird, andere Verwaltungsebenen jedoch keinen direkten Zugang dazu haben.

1.4.

Die Tatsache, dass nur über eine Handvoll DAWI auf regionaler bzw. lokaler Ebene berichtet wird (siehe oben genannte Studie), zeigt, dass das Fehlen direkter Kanäle zur Kommission die vernünftige Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen behindert, was die entsprechenden Gebietskörperschaften nicht eben ermutigt, den Beschluss umfassend anzuwenden und Zweifel in Bezug auf seine Umsetzung auszuräumen.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, zu prüfen, ob der Beschluss aktualisiert und sein Geltungsbereich ausgedehnt werden kann, um folgenden Aspekten gerecht zu werden:

1.5.1.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission den Schwellenwert für die Befreiung abschafft und alle DAWI in den Beschluss aufnimmt, unabhängig von der jährlichen Ausgleichsleistung. Eine gründliche Prüfung der gegenwärtigen Anwendungspraxis verdeutlicht, dass dies die Verwaltungskosten senken und komplexe Fragen, mit denen die Gebietskörperschaften, insbesondere auf lokaler Ebene, sonst konfrontiert wären, vereinfachen würde, ohne dass der Wettbewerb in irgendeiner Weise verzerrt würde.

1.5.2.

Mit Blick auf den Arbeitsmarkt und die nach wie vor beträchtlichen Diskrepanzen zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage fordert der EWSA die Kommission auf, zu prüfen, ob der Geltungsbereich des Beschlusses ausgedehnt werden könnte, indem Dienstleistungen mit dem Ziel, das Wissen und die Qualifikationen der Menschen und damit ihre Beschäftigungsaussichten zu verbessern, als förderfähig eingestuft werden.

1.5.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, den Beschluss in Bezug auf folgende Punkte sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern: die Frist für die Aufbewahrung aller Informationen, die notwendig sind, um zu bestimmen, ob die gewährten Ausgleichsleistungen mit diesem Beschluss vereinbar sind; eine Präzisierung, dass Betrauungsfristen keine wesentlichen Auswirkungen auf die Erneuerung oder Verlängerung der Betrauung oder auf die Beihilfefähigkeit der jeweiligen Dienstleistungserbringer haben sollten; die Festlegung einer leicht verfügbaren Methode zur Berechnung des angemessenen Gewinns; weitere Präzisierungen im Hinblick auf die Aufteilung der Effizienzgewinne bei der Produktivität zwischen dem Unternehmen; ein flexibleres Herangehen bei einer geringfügigen Überschreitung, die nicht mehr als 10 % des durchschnittlichen jährlichen Ausgleichs beträgt, sodass die Parameter nicht neu festgelegt werden müssen.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass in Bezug auf die Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit dem Rahmen weitere Präzisierungen nötig sind, und zwar in folgenden Punkten:

weitere Konkretisierung von Alternativen für die Einhaltung der Vorgaben zur Gewährleistung der Vereinbarkeit gemäß Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die in der Praxis bereits häufig genutzt werden;

Vermeidung obligatorischer Bestimmungen, die in die nationalen Gesetzgebungsverfahren eingreifen und unnötige Probleme verursachen könnten;

Berücksichtigung der neuen rechtlichen Voraussetzungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen;

Kombination des Ex-ante-Verfahrens mit der umfassenden Verwendung der Ex-post-Berechnung der Nettokosten, es sei denn, die Behörde zieht es vor, die Ausgleichsleistungen zum Zeitpunkt der Betrauung pauschal festzulegen;

Zulassung beider Konzepte zur Berechnung der Ausgleichsleistungen — Nettogesamtkosten und vermeidbare Nettokosten — und dazu Aufnahme entsprechender Leitlinien in den Rahmen, der gegenwärtig kaum Hinweise enthält, wie das jeweilige kontrafaktische Szenario ermittelt werden kann;

Unterscheidung zwischen besonderen oder ausschließlichen Rechten, die mit einer Vergünstigung einhergehen und deren Gewinne bei der Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen berücksichtigt werden sollten, einerseits und universeller Erbringung andererseits, die mit einem Nachteil für den benannten Dienstleistungserbringer behaftet ist;

weitere Erläuterungen zu den Rentabilitätsstandards und Ermöglichung der Verwendung unterschiedlicher Standards, statt den Mitgliedstaaten einen bestimmten vorzuschreiben;

weitere Festlegungen zu Alternativen für die Berechnung dieser Anreize, die angesichts der Komplexität der Thematik nicht als verbindlich vorgeschrieben werden sollten.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass das Europäische Parlament und der Rat keine Regelungen erlassen haben, in denen die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse festgelegt sind. Der EWSA fordert die Kommission, das Parlament und den Rat deshalb auf, zu prüfen, wie der in Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erteilte Auftrag unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Vertragsbestimmungen, auf die in diesem Artikel verwiesen wird, umgesetzt werden kann.

2.   Gegenstand der Initiativstellungnahme

2.1.

In seinem Aktionsplan für 2017 betonte der EWSA die Bedeutung der DAWI, die ein wesentliches Element unseres europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells sind, wie in Artikel 14 AEUV niedergelegt.

2.2.

In Artikel 14 werden die Union und die Mitgliedstaaten aufgefordert, im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse dafür Sorge zu tragen, „dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können“. Der Vertrag besagt weiterhin, dass diese „Grundsätze und Bedingungen […] vom Europäischen Parlament und vom Rat durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt [werden], unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, diese Dienste im Einklang mit den Verträgen zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren“. Dieser Auftrag wurde bisher nicht in konkrete Gesetzesinitiativen überführt. Im Gegensatz dazu hat die Europäische Kommission ein umfassendes Regelwerk zu staatlichen Beihilfen erarbeitet, das für die DAWI Anwendung findet und sich an der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union orientiert.

2.3.

Die Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit den Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen und Artikel 106 Absatz 2 AEUV waren bisher umstritten, auch seit das Gericht erster Instanz 1997 (1) entschieden hat, dass Ausgleichsleistungen für Unternehmen, die im öffentlichen Auftrag handeln, als staatliche Beihilfe angesehen werden können. Bis dahin war die einhellige Auffassung, dass ein Ausgleich für die zusätzlichen Kosten, die aufgrund höherer Verpflichtungen im Zusammenhang mit DAWI erwachsen, keinerlei Vergünstigung darstellt. Der Gerichtshof änderte seine Rechtsauffassung grundlegend im Jahr 2001 (2), als er zu dem Schluss kam, dass ein Ausgleich nur dann als staatliche Beihilfe zu werten sei, wenn er die zusätzlichen Kosten übersteigt, die dem für den jeweiligen Zweck benannten Erbringer der Dienstleistung entstehen. In dem Urteil im Fall Altmark aus dem Jahr 2003 (3) wurden schließlich die Kriterien entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit ein Ausgleich aus dem Anwendungsbereich der Vorschriften über staatliche Beihilfen ausgenommen wird.

2.4.

Die Europäische Kommission stellt fest, ob die DAWI mit den Regeln für staatliche Beihilfen vereinbar sind, und wendet dabei strikt die drei einleitenden Kriterien aus dem Altmark-Urteil an. Dabei müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen müssen klar definiert sein, und das begünstigte Unternehmen muss tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut worden sein.

Die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, sind zuvor objektiv und transparent aufgestellt worden.

Der Ausgleich geht nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns zu decken.

Die Auswahl des Dienstleistungserbringer erfolgt

entweder im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens

oder durch Bestimmung der Höhe der Ausgleichsleistungen auf der Grundlage der Kosten, die ein durchschnittliches, gut geführtes und angemessen ausgestattetes Unternehmen bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn zu berücksichtigen sind.

2.5.

2005 nahm die Kommission das Monti-Kroes-Paket an, das 2011 aktualisiert wurde (Almunia-Paket) und wesentliche Regeln für die Finanzierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse enthält: Das Paket umfasst eine Mitteilung der Kommission (4) (im Weiteren: „Rahmen“) mit den Voraussetzungen für die Vereinbarkeit der DAWI und einen Beschluss der Kommission (5) über Ausgleichsleistungen, die von der Anmeldepflicht befreit sind, weil sie aufgrund ihres begrenzten Umfangs (in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses wird ein jährlicher Höchstbetrag von 15 Mio. EUR festgelegt) oder ihrer Ausrichtung auf Tätigkeiten, die einen sozialen Bedarf befriedigen (z. B. Krankenhäuser, Gesundheitsdienste und Langzeitpflege, Kinderbetreuung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, sozialer Wohnungsbau, Betreuung und soziale Einbindung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen sowie Schiffsverbindungen zu Inseln, Flughäfen und Seeverkehrshäfen mit einem geringen Fahrgastaufkommen), wahrscheinlich keine Wettbewerbsverzerrung bewirken. Die Kommission teilte mit, dass sie beabsichtige, diesen Beschluss fünf Jahre nach seinem Inkrafttreten zu überprüfen.

2.6.

Als Teil seines Programms für Europa will der EWSA mit seiner Initiativstellungnahme einen Beitrag zur anstehenden Überprüfung durch die Kommission leisten, indem er die Erfahrungen mit der Umsetzung des DAWI-Pakets einer eingehenden Prüfung unterzieht. Dazu hat der EWSA eine Studie zur Anwendung der DAWI-Vorschriften auf öffentliche Ausgleichsleistungen in Auftrag gegeben (Überprüfung der Berichte der Mitgliedstaaten über die Umsetzung des Beschlusses der Europäischen Kommission über Beihilfen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse).

2.7.

Ausgleichsleistungen für DAWI wirken sich nur selten auf den Wettbewerb aus, da sie die Mehrkosten, die dem benannten Dienstleistungserbringer durch die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe erwachsen, abdecken. Sie zur Anmeldung der Zahlungen als staatliche Beihilfen und dem damit einhergehenden Aufwand zu verpflichten, erscheint übertrieben und ist nur gerechtfertigt, wenn andere Beteiligte einen unbestrittenen Schaden erlitten haben. Im Gegensatz dazu reagiert die Gemeinschaft nicht einheitlich auf Praktiken, die die Marktbedingungen erheblich untergraben, wie Dumpingverkäufe aus Drittstaaten oder Preise, die unter einem angemessenen Niveau liegen. Deshalb ist es wichtig, den Geltungsbereich des Beschlusses zur Ausnahme von DAWI von der Anmeldepflicht auszudehnen, die Rechtssicherheit zu erhöhen und mehr Flexibilität bei der Anwendung der Vorschriften zuzulassen, um zu gewährleisten, dass die Vertragsbestimmungen zur Förderung solch grundlegender Dienstleistungen angemessen eingehalten werden.

3.   Aktualisierung des Beschlusses und Ausweitung seines Geltungsbereichs

3.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Beschluss ein ausgewogenes Verhältnis herstellt zwischen der Notwendigkeit, DAWI zu fördern und zu unterstützen, und dem Ziel, mögliche Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Die Befreiung von der Anmeldepflicht reduziert Verwaltungskosten und komplizierte Verfahren, mit denen die Behörden andernfalls vor allem auf lokaler Ebene zu kämpfen hätten. Da für die nicht unter den Beschluss fallenden DAWI strengere Regeln gelten, sollten nur solche Fälle ausgenommen werden, die besondere Bedenken hinsichtlich des Wettbewerbs aufwerfen, da das Ziel darin besteht, die Ressourcen für die Prüfung staatlicher Beihilfen auf EU-Ebene zu konzentrieren. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Kommission die überwiegende Mehrheit der von ihr geprüften DAWI-Regelungen genehmigt. Seit dem Erlass des Beschlusses 2012 und des Rahmens haben nur drei DAWI-Fälle zu einem eingehenderen Prüfverfahren nach Artikel 108 Absatz 2 AEUV geführt. Zwei Fälle betrafen Postdienste (staatliche Beihilfe SA.35608 zugunsten der Hellenic Post, ELTA, und staatliche Beihilfe SA.37977 zugunsten des spanischen Postbetreibers), ein weiterer Fall Krankenhäuser (staatliche Beihilfe SA.19864 zur Finanzierung der öffentlichen IRIS-Krankenhäuser in Brüssel), nach einer Entscheidung des Gerichtshofes, mit der eine Genehmigung der Kommission für ungültig erklärt wurde, da angesichts der Komplexität eine förmliche Prüfung erforderlich war. In allen von der Kommission geprüften Fällen spielen Anträge von Konkurrenten eine wesentliche Rolle, was eine umfassende Einhaltung gewährleistet, ohne dass eine systematische Anmeldung der DAWI-Regelungen nötig gewesen wäre. Darüber hinaus bieten die Rechtsprechung und die Praxis der Kommission den Beteiligten ausreichend Orientierungshilfe, um abschätzen zu können, ob sie den Beschluss beruhigt anwenden können, ohne DAWI-Regelungen anmelden zu müssen, um volle Rechtssicherheit zu gewährleisten. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die Kommission den Schwellenwert für die Befreiung nach dem Vorbild der Ausgleichsleistungen für den Personenverkehr abschafft und alle DAWI in den Beschluss aufnimmt, unabhängig von der jährlichen Ausgleichsleistung (6).

3.2.

Die Festlegung eines Schwellenwerts in Bezug auf den Umfang der Beihilfen, ab dem eine Anmeldepflicht besteht, kann für die Prüfung auf EU-Ebene relevant sein, insbesondere in den Fällen, in denen die Gewährung der Beihilfe nicht-transparente Verfahren umfasst, etwa Steuernachlässe oder -befreiungen, zinsverbilligte Darlehen oder öffentliche Garantien. Darüber hinaus ist in dem Beschluss festgelegt, dass bestimmte Tätigkeiten wegen wettbewerbsrechtlicher Bedenken eine Prüfung erfordern können, sodass eine Anmeldepflicht festgelegt werden könnte. Wenn der geltende Schwellenwert gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a) des Beschlusses in der festgelegten sehr geringen Höhe beibehalten wird, führt dies zu einer unangemessenen Belastung der zuständigen Stellen, bringt dabei aber keinerlei sichtbaren Vorteil für eine Stärkung des Wettbewerbs. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, die Anmeldepflicht zu begrenzen auf bestimmte Formen von Beihilfen bzw. konkrete Tätigkeiten, bei denen angesichts möglicher Wettbewerbsverzerrungen ein genaueres Hinsehen angebracht ist, um gleiche Bedingungen sicherzustellen.

3.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, zu prüfen, ob der Geltungsbereich des Beschlusses ausgedehnt werden könnte, damit auch Dienstleistungen mit dem Ziel, das Wissen und die Qualifikationen der Menschen und damit ihre Beschäftigungsaussichten zu verbessern, förderfähig sind. Darüber hinaus müssen Grauzonen, bei denen privates Engagement eine Rolle spielt, beseitigt werden. Hier wäre Orientierungshilfe zu begrüßen.

3.4.

Mit dem Beschluss sollte die umfassende Vereinbarkeit mit dem höherrangigen Gemeinschaftsrecht gewährleistet und den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften sollten keine unnötigen Belastungen aufgebürdet werden. In Artikel 8 ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten während des Betrauungszeitraums und für einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren ab Ende des Betrauungszeitraums alle Informationen verfügbar halten, die notwendig sind, um zu bestimmen, ob die gewährten Ausgleichsleistungen mit diesem Beschluss vereinbar sind. Dies widerspricht Artikel 17 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates, nach dem eine Beihilfe nach Ablauf der Frist von zehn Jahren nicht zurückgefordert werden kann, weshalb die Kommission, wie die Praxis zeigt, gewöhnlich keine Vereinbarkeitsprüfung vornimmt. Die Aufbewahrung von Informationen für mehr als zehn Jahre, die für die Kontrolle staatlicher Beihilfen nicht nötig ist, ist eine unzumutbare Belastung für die Behörden und verstößt gegen die in den Verträgen verankerten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der geordneten Verwaltung.

3.5.

Artikel 2 Absatz 2 des Beschlusses gilt nur für Betrauungen für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren, es sei denn, für die DAWI ist eine erhebliche Investition seitens des Dienstleistungserbringers erforderlich, die einen längeren Zeitraum rechtfertigt. Üblicherweise wird diese Vorschrift gemäß dem Rahmen von der Kommission zwar allgemein so ausgelegt, dass Betrauungen diesen Zeitraum nicht überschreiten sollen, doch könnte der Wortlaut des Beschlusses nahelegen, dass Unternehmen, die eine öffentliche Dienstleistung über einen längeren Zeitraum erbringen, nicht mehr in seinen Geltungsbereich fallen. Der EWSA fordert deshalb, dass die Kommission präzisiert, dass die zeitlichen Fristen für die Betrauungen keine wesentlichen Auswirkungen auf die Erneuerung oder Verlängerung der Betrauung oder auf die Beihilfefähigkeit der jeweiligen Dienstleistungserbringer haben. Diese Frage ist besonders heikel bei öffentlichen Dienstleistungserbringern, die von Behörden betraut wurden, da sie einzig dem Zweck dienen, die betreffende öffentliche Dienstleistung zu erbringen.

3.6.

Artikel 5 Absätze 5, 7 und 8, bei denen es um den angemessenen Gewinn geht, sollten eine leicht zugängliche Methode zur Berechnung dieses Gewinns vorsehen. Der gegenwärtige Ansatz ähnelt dem im Rahmen vorgesehenen und umfasst Verfahren wie das des internen Ertragssatzes, die sich als viel zu komplex für lokale DAWI erweisen und deshalb nicht eben zur Verwendung für die Berechnung der Ausgleichsleistungen einladen. Die Festlegung von Rentabilitätsbenchmarks umfasst kostspielige Beratungsleistungen, die für die meisten DAWI gar nicht in Frage kommen. Der EWSA fordert die Kommission auf, diesen Punkt zu klären, da gemäß der Praxis in der Kommission ein direkter Vergleich der Rentabilität in der entsprechenden Branche zulässig ist, der auf der Grundlage verfügbarer offizieller oder privater Daten erfolgt, die allgemein als uneingeschränkt repräsentativ anerkannt sind.

3.7.

In Artikel 5 Absatz 6 werden Effizienzanreize berücksichtigt (auch wenn sie nicht definiert werden), jedoch sind für konkretere Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf die Aufteilung der Effizienzgewinne bei der Produktivität zwischen dem Unternehmen, dem Mitgliedstaat und/oder den Nutzern noch Präzisierungen erforderlich. Der EWSA fordert die Kommission auf, jegliche Zweifel über die Auslegung dieser Vorschrift auszuräumen.

3.8.

In Artikel 6 Absatz 2 des Beschlusses ist festgelegt, dass im Falle eines höheren Ausgleichs eine Neufestlegung der Parameter für die Berechnung des Ausgleichs zu erfolgen hat. Übersteigt die Überkompensation den durchschnittlichen jährlichen Ausgleich nicht um mehr als 10 %, so kann sie auf den nächsten Zeitraum übertragen werden. Wollte man die Vorschrift völlig konsistent machen, so müsste man sich in diesem Fall gegen eine Neufestlegung der Parameter aussprechen und so eine Neubewertung vermeiden, die zu Rechtsunsicherheit für die benannten Dienstleistungserbringer führen würde, obwohl in diesen Fällen der Wettbewerb nicht beeinträchtigt wird. Der EWSA empfiehlt der Kommission ein flexibleres Herangehen bei einer geringfügigen Überschreitung, die nicht mehr als 10 % des durchschnittlichen jährlichen Ausgleichs beträgt, sodass die Parameter nicht neu festgelegt werden müssen.

3.9.

Jede Diskriminierung lokaler und regionaler Gebietskörperschaften und damit der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die auf den entsprechenden Ebenen erbracht werden, sind zu vermeiden. Gegenwärtig müssen die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften ihre Anträge, Antworten und Bedenken über den offiziellen Kanal ihres Mitgliedstaats übermitteln, da nur dieser in einen förmlichen Dialog mit der Kommission über staatliche Beihilfen treten kann. Die Informationen, die die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften für die Kommission herausgeben, müssen von den jeweiligen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, einen stärker strukturierten Dialog mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften über die Verfahren und Fragen der staatlichen Beihilfen aufzunehmen. Die Regeln und Anforderungen für staatliche Beihilfen sollten zudem an die besonderen Bedürfnisse und Möglichkeiten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften angepasst werden, womit eine faire und gerechte Behandlung in der Praxis gewährleistet ist.

4.   Präzisierung der Bedingungen für die Vereinbarkeit gemäß dem Rahmen

4.1.

Im Rahmen sind die unterschiedlichen Vorgaben zur Gewährleistung der Vereinbarkeit mit Artikel 106 Absatz 2 AEUV sowie die Rechtsprechung zur Auslegung der Bestimmungen im Detail dargelegt. Zwar werden die von der Kommission angewandten Kriterien ausführlich erläutert, doch ist oft eine übervorsichtige Haltung erkennbar, die unnötige Probleme und eine gewisse Unsicherheit schafft. Die Kommissionspraxis zeigt, dass solche Schwierigkeiten in vielen Bereichen überwunden wurden, indem der Rahmen pragmatisch ausgelegt wurde. Konkrete Verweise auf diese Lösungen würden die Rechtssicherheit erhöhen und die Gleichbehandlung wirksam stärken, zugleich aber dem Grundsatz Rechnung tragen, dass jeder Fall einzeln zu prüfen ist. Der EWSA empfiehlt deshalb, dass die Kommission die bereits in der Praxis oft genutzten Alternativen für die Einhaltung dieser Vorgaben weiter konkretisiert. Dies würde viele der Zweifel beseitigen, die die Behörden und Dienstleistungserbringer gegenwärtig haben.

4.2.

Nach dem Vertrag fällt die Übertragung und Festlegung eines öffentlich-rechtlichen Auftrags in die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Deshalb können die in Ziffer 13 des Rahmens enthaltenen Verweise auf die Bedingungen, die DAWI/öffentliche Dienstleistungen erfüllen müssen, nur als nützliche Orientierung dienen. Allerdings kann die Aufnahme dieser Verweise Anlass zu der begründeten Sorge geben, ob hier möglicherweise nicht die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten beschnitten werden. Es liegt nämlich im Ermessen der Mitgliedstaaten, im öffentlichen Interesse über die Standards für Qualität, Sicherheit, Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung sowie Förderung des Universalzugangs und der Nutzerrechte zu entscheiden, die jede grundlegende Dienstleistung erfüllen muss — unabhängig davon, ob sie im Rahmen des Marktes oder als Gemeinwohlauftrag erbracht wird. Die Mitgliedstaaten können auch entscheiden, ob zur Einhaltung dieser Standards eine DAWI/öffentliche Dienstleistung erforderlich ist. Marktbedingungen sind zwar sehr wichtig, dürfen jedoch die Befugnis der Behörden zum Schutz des öffentlichen Interesses nicht aufheben oder beschneiden. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass sich die Kommission in diesem Punkt mit einem Verweis auf ihre Mitteilung begnügt und bei ihrer Bewertung lediglich prüft, ob ein offenkundiger Fehler vorliegt, wobei diese Frage letztlich in die Zuständigkeit des Gerichtshofes fällt.

4.3.

In Ziffer 14 des Rahmens werden die Befugnisse der Mitgliedstaaten auf Erteilung eines Auftrags unzulässig eingeschränkt, indem sie verpflichtet werden, eine öffentliche Konsultation durchzuführen, um den Interessen der Nutzer und Dienstleistungserbringer Rechnung zu tragen. Dies ist ein Eingriff in nationale Zuständigkeiten, zu dem die Kommission nicht berechtigt ist. Die Behörden berücksichtigen stets in gebührendem Maße die Interessen der Beteiligten, daher ist es kaum mit den Bestimmungen und Grundsätzen des Vertrags vereinbar, sie zu zwingen, den Bedarf an einer öffentlichen Dienstleistung zu begründen und eine öffentliche Konsultation durchzuführen bzw. andere angemessene Mittel zu nutzen. Die Kommission beachtet diese Anforderung, wie ihre Praxis zeigt, nur in begrenztem Maße, insbesondere wenn die Mitgliedstaaten bei ihrer Anwendung auf Hindernisse stoßen. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die Kommission diese Ziffer neu formuliert, um obligatorische Bestimmungen zu vermeiden, die in die nationalen Gesetzgebungsverfahren eingreifen und unnötige Probleme verursachen könnten.

4.4.

Die in Ziffer 19 des Rahmens festgelegte Bestimmung, wonach die Betrauungen mit den geltenden EU-Vorschriften für das öffentliche Auftragswesen vereinbar sein müssen, berücksichtigt nicht, dass das einschlägige Sekundärrecht nach dem Paket für das öffentliche Auftragswesen 2014 grundlegend überarbeitet wurde. Die Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe gilt gemäß Artikel 1 Absatz 2 nur für den Erwerb durch öffentliche Auftraggeber und kann keine verbindliche Regelung für DAWI darstellen, da es bei diesen um Aufgaben geht, die ein Unternehmen im Auftrag einer öffentlichen Stelle wahrnimmt. Deshalb stünde jede Vorgabe im Rahmen des Rechts für die Vergabe öffentlicher Aufträge im Widerspruch zu der einschlägigen Richtlinie. Mit dem Paket für das öffentliche Auftragswesen von 2014 werden erstmals auch Konzessionen geregelt. Es wäre jedoch in hohem Maße irreführend, daraus zu schließen, dass DAWI unter diese Regelung fallen könnten: Konzessionen bedeuten, dass die Unternehmen alle Risiken tragen, sobald der Zuschlag erteilt wurde, ganz anders als bei DAWI, wo die Behörden die zusätzlichen Kosten für den Betrieb ausgleichen und damit das Risiko gering halten. Die Regelung käme nur dann zur Anwendung, wenn die Behörde eine DAWI auf Grundlage einer Konzession erbringen ließe, doch gäbe es in solchen Fällen kein Beihilfeelement, da der benannte Erbringer das gesamte Risiko zu tragen hätte. Deshalb wären weder die Regeln für die öffentliche Auftragsvergabe noch die Regeln für Konzessionen auf DAWI anwendbar. Rechtlich gesehen können die Mitgliedstaaten durch den Rahmen nur aufgefordert werden, gegebenenfalls die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung bei der Auswahl der Erbringer, insbesondere wenn es sich um private Erbringer handelt, anzuwenden, verbindlich vorgeschrieben werden kann es jedoch nicht. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, Ziffer 19 des Rahmens zu überarbeiten und dabei die neuen rechtlichen Voraussetzungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen zu berücksichtigen.

4.5.

Zwar ist in Ziffer 22 des Rahmens festgelegt, dass die Ausgleichsleistungen auf der Grundlage der erwarteten oder der tatsächlich angefallenen Kosten und Einnahmen festgelegt werden können, doch ist es bei den üblichen Verfahren der Kommission nur allzu häufig erforderlich, dass der Ausgleich im Vorhinein festgelegt wird. Eine derartige Berechnungsmethode, die es den Behörden nicht erlaubt, den Ausgleich im Nachhinein gemäß den tatsächlichen Nettokosten zu leisten, stellt sich als unangemessene Einmischung dar, die zu unlösbaren Problemen führen könnte, da der Erbringer mit einer systematischen Unterfinanzierung konfrontiert wäre, wenn die im Vorhinein gezahlten Beträge die Nettokosten nicht decken. Mehr noch, wenn die Behörde eine zusätzliche Unterstützung leistet, um diese Differenz zu überbrücken, riskiert sie grundsätzlich eine Strafe wegen Verstoßes gegen die Bedingungen, die in dem Beschluss zur Genehmigung festgelegt sind. In der Praxis ignoriert die Kommission diese Unstimmigkeit bisher weitgehend, es sei denn, ein Kläger moniert diesen Punkt. Es scheint zwar angemessen, die Methode für die Berechnung der Ausgleichsleistungen im Vorhinein festzulegen, doch sollten die daraus resultierenden vorläufigen Beträge nicht verbindlich sein. Erst wenn das Jahresergebnis verfügbar ist, kann die Berechnung der Nettokosten und des entsprechenden Ausgleichs erfolgen. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, die umfassende Kohärenz und Vereinbarkeit mit dem zweiten Altmark-Kriterium sicherzustellen, indem sie das Ex-ante-Verfahren mit der umfassenden Verwendung der Ex-post-Berechnung der Nettokosten kombiniert, es sei denn, die Behörde zieht es vor, die Ausgleichsleistungen zum Zeitpunkt der Betrauung festzulegen.

4.6.

Die Methode zur Berechnung der vermeidbaren Nettokosten für die Berechnung der Ausgleichsleistungen beruht auf der Annahme, dass der benannte Dienstleistungserbringer seine Tätigkeit einschränken und eine Maximierung der Einnahmen anstreben würde, wenn keine Verpflichtung zur Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen bestehen würde. Die konventionelle Methode zur Berechnung der vermeidbaren Nettokosten würde bedeuten, dass der Erbringer alle defizitären Aktivitäten einstellen würde. Die Differenz zwischen diesem kontrafaktischen Szenario und den tatsächlichen Ergebnissen des Dienstleistungserbringers bestimmt die Höhe der Ausgleichsleistungen. Die Kommission hat sich kürzlich für den Profitability-Cost-Ansatz (PC) ausgesprochen, bei dem das Kontrafaktische darin bestünde, dass die Tätigkeiten, die das Unternehmen daran hindern, seine Ergebnisse zu maximieren, eingestellt werden würden. Die Ausgleichszahlungen decken dann nicht nur die zusätzlichen Kosten der DAWI, sondern auch weniger effiziente Tätigkeiten, selbst wenn sie rentabel sind. Zur Ermittlung der Ausgleichszahlungen müssen nach Vorstellung der Kommission die Marktvorteile und die immateriellen Vorteile für den Erbringer von der Ausgleichsleistung abgezogen werden. Die Bevorzugung des PC-Ansatzes führt de facto zu Divergenzen durch die Anwendung eines einzigen Grundsatzes und untergräbt damit die Rechtssicherheit. Der EWSA empfiehlt der Kommission, beide Konzepte zu befürworten und dazu entsprechende Leitlinien im Rahmen zu geben, der gegenwärtig kaum Hinweise enthält, wie das jeweilige kontrafaktische Szenario ermittelt werden kann.

4.7.

Die Kostenallokationsmethode scheint für die meisten DAWI am besten geeignet zu sein, da ihre Berechnung auf der Differenz zwischen den die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen deckenden Kosten und den entsprechenden Einnahmen beruht. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten, die diese Methode anwenden wollen, begründen, warum sie nicht die Methode der vermeidbaren Nettokosten anwenden, die sonst als verbindlich gilt. Da die Methode der vermeidbaren Nettokosten eine komplexe und kostspielige Analyse umfasst, wozu oft externe Beratungsleistungen in Anspruch genommen werden müssen, empfiehlt der EWSA der Kommission, die Kostenallokationsmethode als uneingeschränkt zulässig anzuerkennen, ebenso wie die Methode der vermeidbaren Nettokosten, außer für konkrete Branchen wie die Postdienste, wo ein solches Verfahren nach der dritten Postrichtlinie vorgeschrieben ist.

4.8.

In Ziffer 32 des Rahmens („Einnahmen“) werden überschüssige Gewinne aus besonderen und ausschließlichen Rechten richtigerweise berücksichtigt. Dazu wurden aber in letzter Zeit üblicherweise auch Gewinne aus der Erbringung von Universaldienstleistungen gerechnet, auch wenn sie nicht aus solchen Rechten stammen, was zu irreführenden Bewertungen führte. Es sollte betont werden, dass die universelle Erbringung mit dem Nachteil behaftet ist, dass der benannte Erbringer die Dienstleistung in einem bestimmten Gebiet erbringen muss, unabhängig von den Kosten, die dies mit sich bringt. Wenn sich die Erbringung der Dienstleistung für den Erbringer rentiert, würde es also einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrags darstellen, wenn der Überschuss weitere verlustträchtige gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen obligatorisch finanzieren würde. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, diesen Punkt zu präzisieren und eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen besonderen oder ausschließlichen Rechten, die mit einer Vergünstigung einhergehen und deren Gewinn bei der Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen berücksichtigt werden sollte, einerseits und universeller Erbringung andererseits, die mit einem Nachteil für die benannten Dienstleistungserbringer behaftet ist.

4.9.

Der im Rahmen vorgesehene Begriff des angemessenen Gewinns wirft einige Fragen auf, die einer weiteren Klärung bedürfen. Im Rahmen wird empfohlen, die Kapitalrendite des Unternehmens zu verwenden, allerdings wird auch eingeräumt, dass die Anwendung dieser Methode einige Probleme birgt. In der Praxis vergleicht die Kommission deshalb Unternehmen derselben oder einer ähnlichen Branche miteinander und zieht dazu Standardrentabilitätskriterien wie die Eigenkapitalrentabilität oder die Umsatzrentabilität heran. Die mangelnde Rechtsklarheit bei diesen Fragen führt jedoch oft zu abweichenden Ergebnissen. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die Kommission alle standardmäßigen und eingeführten Rentabilitätskriterien zulässt, statt bestimmte dieser Kriterien vorzuschreiben. Der EWSA fordert die Kommission auf, weitere Erläuterungen zu den Rentabilitätsstandards zu geben und die Verwendung unterschiedlicher Standards zu erlauben, statt den Mitgliedstaaten einen bestimmten vorzuschreiben.

4.10.

Die obligatorische Effizienzvorgabe der Ziffern 39 bis 46 des Rahmens ist ein echtes Hindernis sowohl für die betroffenen Unternehmen als auch für die Behörden. Da der Rahmen keinen Hinweis darauf enthält, wie die Effizienzanreize berechnet werden sollen, lässt die Kommission üblicherweise erheblich voneinander abweichende Bewertungen zu und untergräbt damit die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, Alternativen für die Berechnung dieser Anreize vorzulegen, die angesichts der Komplexität der Thematik allerdings nicht als verbindlich vorgeschrieben werden sollten.

Brüssel, den 6. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Rechtssache T-106/95.

(2)  Rechtssache C-53/00.

(3)  Rechtssache C-280/00.

(4)  ABl. C 8 vom 11.1.2012, S. 15.

(5)  ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3.

(6)  ABl. L 315 vom 3.12.2007, S. 1.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den „Auswirkungen der Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors auf die Politikgestaltung der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/08)

Berichterstatterin:TBL

Tellervo KYLÄ-HARAKKA-RUONALA

Beschluss des Plenums

26.1.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung am

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

157/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Digitalisierung und Robotisierung im Bereich der Personenmobilität und des Gütertransports können der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht zugutekommen: bspw. in Gestalt eines besseren Zugangs und größeren Komforts für die Reisenden sowie in Form von Effizienz und Produktivität in der Logistik, erhöhter Verkehrssicherheit und Emissionssenkungen. Indes werden Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Gefahrenabwehr, Privatsphäre, Beschäftigung und Umwelt geäußert.

1.2.

Auch wenn die Technologie schier unerschöpfliche Möglichkeiten eröffnet, darf der Fortschritt nicht rein technologiegetrieben sein, sondern muss die Schaffung von gesellschaftlichem Mehrwert zum Ziel haben. Deshalb ist es notwendig, eine politische Debatte zu führen und die Zivilgesellschaft angemessen in die Verkehrsplanungsverfahren, insbesondere in großen städtischen Gebieten, einzubeziehen.

1.3.

Voraussetzung für digitalen Verkehr sind Lösungen für bestehende Engpässe sowie integrierte Investitionen in Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationssysteme einschl. 5G-Ausbau entlang der Strecken des TEN-V-Netzes. Diese Vorhaben sollten über EU-Finanzierungsinstrumente wie die Fazilität „Connecting Europe“, den EFSI und Horizont 2020 unterstützt werden.

1.4.

Die Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors eröffnen neue Geschäftsmöglichkeiten in der Fertigungs- und Dienstleistungsindustrie, auch für KMU, und könnten in Wettbewerbsvorteile für die EU umgesetzt werden. In diesem Sinn fordert der EWSA ein geeignetes Unternehmensumfeld, Offenheit gegenüber neuen Geschäftsmodellen und die Förderung der Entwicklung europäischer digitaler Plattformen.

1.5.

Die Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors werden das Wesen der Arbeit und den Qualifikationsbedarf tiefgreifend verändern. Der EWSA hebt hervor, dass diese strukturellen Veränderungen durch die Förderung eines gerechten und reibungslosen Übergangs und die Behebung des Qualifikationsdefizits in Verbindung mit einer angemessenen Überwachung der Fortschritte bewältigt werden müssen. Im Rahmen dieses Wandels kommt dem sozialen Dialog und der Information und Konsultation der Arbeitnehmer eine wichtige Rolle zu. Die Mitgliedstaaten müssen auch ihre Bildungssysteme an die neuen Qualifikationserfordernisse anpassen.

1.6.

Die Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors setzen eine angemessene Datenverfügbarkeit, Datenzugang und freien Datenverkehr voraus. Gleichzeitig muss ein adäquater Datenschutz sichergestellt werden. In Anbetracht der neuen Entwicklungen erweisen sich ferner der Ausbau der Kapazitäten im Cybersicherheitsbereich und die Regelung von Haftungsfragen als notwendig.

1.7.

Der EWSA unterstreicht, dass der digitalisierte Verkehr intermodal angelegt ist und somit einem zentralen Grundsatz der EU-Verkehrsstrategie entspricht. Er ist ferner eng mit anderen Politikbereichen wie dem digitalen Binnenmarkt sowie der Energie-, Industrie-, Innovations- und Kompetenzpolitik verknüpft. Es besteht auch ein enger Zusammenhang mit ökologischer Nachhaltigkeit, da die Klimaschutzziele und -erfordernisse ein Treiber digitaler Verkehrslösungen sind.

2.   Hintergrund und aktuelle Entwicklungen

2.1.

Die Digitalisierung ergreift alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche, wobei der Verkehr häufig als Anschauungsbeispiel dient. Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es, die Entwicklungen und Auswirkungen der Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, d. h. aus der Sicht der Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher und Bürger im Allgemeinen, zu betrachten und darzulegen, wie diese Entwicklungen nach Meinung des EWSA bei der Politikgestaltung der EU berücksichtigt werden sollten, um die Chancen zu nutzen und die Risiken zu beherrschen.

2.2.

Es tut sich bereits viel, und zwar sowohl auf den Märkten als auch in verschiedenen Bereichen der nationalen und EU-Politik. Der EWSA hat sich mit der Thematik bereits befasst, bspw. im Zusammenhang mit der Zukunft der Automobilindustrie (1), der Europäischen Strategie für kooperative intelligente Verkehrssysteme (2) und der künstlichen Intelligenz (3).

2.3.

Die Digitalisierung des Verkehrssektors nimmt vielerlei Gestalt an. Gegenwärtig nutzen Fahrzeuge, Luftfahrzeuge und Schiffe digitale Informationen bereits auf vielfältige Weise, u. a. über Technologien und Dienste zur Unterstützung von Autofahren, Eisenbahnverkehrsleitsystemen, Luftverkehr und Seeverkehrsmanagement. Eine weitere Anwendung im Alltag ist die Digitalisierung von Informationen zu Personenverkehr und Gütertransporten. Und schließlich werden im Bereich der Güterverkehrslogistik im Terminalbetrieb generell Roboter eingesetzt.

2.4.

Weitere Automatisierung und Robotisierung eröffnen neue Perspektiven für die Beförderung von Gütern und Personen sowie für verschiedene Arten von Monitoring und Überwachung. Virtuelle Roboter oder Software-Roboter spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn sie ermöglichen die intensivere Nutzung und Integration verschiedener Informationssysteme wie in einer interoperablen Einheit.

2.5.

Die Automatisierung des Verkehrs umfasst die Entwicklung von Verkehrsmitteln mit Blick auf ihre Interaktion mit Menschen, Infrastruktur und anderen externen Systemen. Am Ende dieser Entwicklung stehen fahrerlose bzw. unbemannte Fahrzeuge, Schiffe und Luftfahrtsysteme, die vollständig autonom, d. h. unabhängig, funktionieren.

2.6.

Gegenwärtig entwickeln und testen mehrere Fahrzeughersteller fahrerlose Autos. Fahrerlose Untergrundbahnen sind bereits in vielen Städten im Einsatz, fahrerlose Busse und autonome Lkw-Konvois werden getestet. Die Nutzung unbemannter Luftfahrtsysteme oder Drohnen nimmt rasch zu, und es werden sogar ferngesteuerte unbemannte Schiffe entwickelt. Neben Fahrzeugen, Luftfahrzeugen und Schiffen werden neuartige Infrastrukturkonzepte und Verkehrssteuerungssysteme entwickelt.

2.7.

Obwohl die Entwicklung hin zu autonomen bzw. unbemannten Transportsystemen geht, sind die Menschen nach wie vor Hauptakteure der zugrunde liegenden Strukturen. Die tiefgreifendsten Auswirkungen werden sich erst zeigen, wenn vollständig autonome bzw. unbemannte Verkehrssysteme an der Tagesordnung sind. Die Prognosen darüber, wann dies der Fall sein wird, gehen weit auseinander. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, Vorkehrungen für die Zukunft und rechtzeitig die notwendigen Entscheidungen zu treffen.

2.8.

Die Digitalisierung versetzt Reisende und andere Verkehrsteilnehmer auch in die Lage, Mobilität als eine über digitale Plattformen bereitgestellte, neue Art der Dienstleistung (MaaS, Mobility as a Service) zu nutzen.

2.9.

Mit der Weiterentwicklung von MaaS wird versucht, der Marktnachfrage gerecht zu werden und die Reservierungs-, Kauf- und Zahlungssysteme der Verkehrsketten miteinander zu verknüpfen und Echtzeitinformationen über Fahrpläne, Wetterbedingungen und Verkehrslage sowie verfügbare Beförderungskapazitäten und Verkehrslösungen bereitzustellen. MaaS ist die digitale Schnittstelle zwischen Nutzern und Verkehr. Gleichzeitig hebt sie auf die optimale Nutzung der Beförderungskapazitäten ab.

2.10.

Die raschen technologischen Fortschritte bei Massendaten, Cloud Computing, Mobilfunknetzen der 5. Generation, Sensoren, Robotik und künstlicher Intelligenz — und insbesondere ihre Lernfähigkeit über maschinelles Lernen und „Deep Learning“ — sind maßgebliche Treiber der Entwicklungen im digitalen und automatisierten Verkehr.

2.11.

Es liegt jedoch auf der Hand, dass ein rein technologiegetriebener Fortschritt nicht zum Erfolg führen kann. Idealerweise sollte die Entwicklung auf den gesellschaftlichen Erfordernissen gründen. Indes sind die durch die neuen Entwicklungen eröffneten Chancen für die Bürger häufig kaum ersichtlich.

3.   Auswirkungen auf das Verkehrssystem

3.1.

Die digitale Entwicklung schafft die Voraussetzungen für Intermodalität und unterstützt somit systemische Verkehrslösungen. Sie bewirkt ferner, dass das Verkehrssystem neben der herkömmlichen Infrastruktur mehrere neue Elemente umfasst.

3.2.

Grundlage des Systems sind jedoch nach wie vor Straßen, Schienen, Häfen und Flughäfen. Zusätzlich zu diesen grundlegenden Elementen ist eine moderne digitale Infrastruktur erforderlich, wie beispielsweise Kartographierungs- und Ortungssysteme, verschiedene Sensoren für Datensammlung, Hardware und Software für die Datenverarbeitung sowie Mobilfunk- und Breitbandanschlüsse für die Datenverteilung. Zur digitalen Infrastruktur gehören auch automatisierte Verkehrsmanagement- und -steuerungssysteme.

3.3.

Da sowohl die digitale als auch die digitalisierte Infrastruktur Strom benötigen und intelligente Elektrizitätsnetze mit Elektrofahrzeugen interagieren, ist auch die Elektrizitätsinfrastruktur ein wichtiger Bestandteil des Verkehrssystems. Schließlich erfordern der Zugang zu Verkehrsinformationen und die Buchung und Bezahlung von Mobilitätsdiensten neue Dienstleistungen und Infrastrukturen. Das gesamte System, von der physischen Infrastruktur bis hin zu den physischen Verkehrsdiensten, wird daher durch verschiedene digitale Elemente vernetzt.

3.4.

Trotz rascher Entwicklungen gibt es nach wie vor mehrere Engpässe, die den Fortschritt hin zu digitalen Verkehrssystemen behindern und deshalb beseitigt werden müssen. Dazu gehören bspw. Mängel bei der Datenverfügbarkeit und beim Datenzugang, fehlende schnelle Internetverbindungen sowie technische Einschränkungen im Zusammenhang mit Sensoren und bei der Echtzeit-Positionierung.

3.5.

Der EWSA fordert Investitionen in Technologien und Infrastrukturen, auf denen digitale Verkehrssysteme aufgebaut werden können, insbesondere in Verkehrsmanagement- und -steuerungssysteme: Das SESAR-Projekt (Single European Sky ATM Research — Forschung zum Flugverkehrsmanagement im einheitlichen europäischen Luftraum) und das ERTMS (Europäisches Eisenbahnverkehrsleitsystem) sind bereits weit gediehen, doch fehlt es an den notwendigen finanziellen Ressourcen. Das Seeverkehrsmanagement- und -informationssystem VTMIS und Kooperative Intelligente Verkehrssysteme (C-ITS) müssen erst noch entwickelt werden. Ferner muss entlang der TEN-V-Kernnetzkorridore 5G bereitgestellt werden. Diese Vorhaben sollten über EU-Finanzierungsinstrumente wie die Fazilität „Connecting Europe“, den Europäischen Fonds für strategische Investitionen und Horizont 2020 vorrangig unterstützt werden.

3.6.

Die Interoperabilität der digitalen Systeme ist auch Voraussetzung für eine grenzübergreifende Vernetzung innerhalb der EU wie auch mit Drittländern. Die EU sollte eine Vorreiterrolle übernehmen und somit maßgeblich die Standardisierung beeinflussen.

3.7.

Der EWSA betont, dass die Digitalisierung zwar die Optimierung der Nutzung der vorhandenen Kapazitäten ermöglicht, nicht aber etwa Investitionen in grundlegende Verkehrsinfrastrukturen überflüssig macht. Außerdem werden in der Übergangszeit teilweise automatisierte und vollständig autonome Fahrzeuge und Schiffe nebeneinander betrieben, was bei der Straßen- und Seeverkehrsinfrastruktur berücksichtigt werden muss. Auch im Luftverkehr stellen sich neue Herausforderungen aufgrund des Einsatzes von Drohnen.

3.8.

Der EWSA plädiert für die Entwicklung von Verkehrsmanagementsystemen und gemeinsamen Vorschriften für Drohnen auf EU-Ebene und international auf Ebene der ICAO. Ferner müssen im Rahmen der IMO Vorschriften entwickelt werden, um die Entwicklung und Einführung der Fernsteuerung und Automatisierung im Schiffsverkehr, auch in Häfen, zu ermöglichen.

4.   Auswirkungen auf Unternehmen und Innovation

4.1.

Digitalisierung und Robotisierung fördern Effizienz, Produktivität und Sicherheit im Güterverkehr und in der Logistik. Auch in der Fertigungs- und Dienstleistungsindustrie eröffnen sich neue Geschäftsmöglichkeiten in den Bereichen Automatisierung und Robotik, Mobilitätsdienste für Bürger, Verbesserung der Logistikeffizienz oder Digitalisierung des gesamten Verkehrssystems. Chancen ergeben sich sowohl für große Unternehmen als auch für KMU und Start-ups.

4.2.

Da EU-Unternehmen in vielen für den digitalen Verkehr relevanten Bereichen führend sind, könnten sie sich ohne Weiteres Wettbewerbsvorteile verschaffen. Da außerhalb der EU bahnbrechende Entwicklungen im Bereich des digitalen und autonomen Verkehrs stattfinden, muss auch die EU ihre Anstrengungen in den Bereichen Innovation, Infrastruktur und Vollendung des Binnenmarkts steigern und den rechtlichen Rahmen an die neuen Betriebsbedingungen anpassen.

4.3.

Auch ist eine offene Einstellung gegenüber der Entwicklung und Einführung neuer Geschäftsmodelle auf der Grundlage digitaler Plattformen notwendig. Um die Schaffung europäischer Plattformen voranzubringen, muss für ein geeignetes Förderumfeld gesorgt und sichergestellt werden, dass der rechtliche Rahmen gleiche Ausgangsbedingungen für die Unternehmen ermöglicht.

4.4.

Die Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors stützen sich in erster Linie auf Datenverwaltung, wie dies in jedem anderen Sektor auch der Fall ist. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht können Daten als Produktionsfaktor oder Rohstoff betrachtet werden, der durch Weiterverarbeitung und Veredelung Mehrwert generiert. Voraussetzung ist ein freier Datenverkehr. Der EWSA fordert daher wirksame Lösungen, durch die die Probleme in Verbindung mit der Zugänglichkeit, Interoperabilität und Übertragung von Daten beseitigt und ausreichender Datenschutz und Schutz der Privatsphäre sichergestellt werden.

4.5.

Der EWSA hält es für wichtig, dass durch den öffentlichen Sektor generierte Verkehrs- und Infrastruktur-Massendaten für alle Nutzer einfach zugänglich gemacht werden. Ferner sind Klarstellungen und Vorschriften für die Verwaltung nicht personenbezogener Daten, d. h. durch Sensoren und intelligente Geräte erzeugter Daten, erforderlich. Im Zusammenhang mit der Bewertung von Datenzugang und -weiterverwendung ist zu bedenken, dass im Allgemeinen nicht die eigentlichen Daten einen Wettbewerbsvorteil bewirken, sondern die Instrumente, Innovationsressourcen und Marktgegebenheiten für ihre Verarbeitung.

4.6.

Um Erfahrungen im Bereich des digitalen und autonomen Verkehrs zu gewinnen und auszubauen, müssen Tests und die Erprobung neuer Technologien und Konzepte erleichtert werden. Dazu sind funktionierende Innovations- und Unternehmensökosysteme, geeignete Testläufe sowie günstige rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich. Der EWSA fordert die Behörden auf, einen innovationsfördernden Ansatz zu wählen und nicht detaillierte Vorschriften und Anforderungen anzuwenden, die die Entwicklung hemmen.

5.   Auswirkungen auf Beschäftigung, Arbeit und Qualifikationen

5.1.

Die Auswirkungen der Digitalisierung und Robotisierung des Verkehrssektors auf die Arbeitnehmer sind logischerweise dieselben wie in jedem anderen Bereich auch. Arbeitsplätze können durch neue Konzepte und Prozesse verloren gehen und durch neue Produkte und Dienste neu entstehen.

5.2.

Die größten Veränderungen dürften in der Transport- und Logistikbranche stattfinden, doch Auswirkungen auf die Beschäftigung sind auch in der Fertigungsindustrie sowie in Lieferketten und regionalen Clustern zu beobachten.

5.3.

Durch die Entwicklung fahrerloser Transportsysteme wird der Bedarf an Transportmitarbeitern zurückgehen. Die zunehmende Nutzung von Robotern zur Ausführung physischer Arbeiten im Terminalbetrieb wird sich ebenso auswirken. Ein Teil der Arbeiten dürfte durch Steuerungs-und Überwachungstätigkeiten ersetzt werden, die auf Dauer aber auch wegfallen werden. Gleichzeitig dürften in anderen Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen, insbesondere in Verbindung mit IKT, digitalen Diensten, Elektronik und Robotik. Ferner werden physische Arbeit und Routineabläufe zunehmend durch Problemlösungstätigkeiten und kreative Aufgaben abgelöst werden.

5.4.

Die Veränderung der Aufgaben geht mit einem erheblich veränderten Marktbedarf an Qualifikationen einher. Es werden zunehmend hochqualifizierte IT-Fachleute wie Softwareentwickler gesucht. Auch die Nachfrage nach praktischen Fertigkeiten im Zusammenhang mit Robotik-Anwendungen und Mensch-Roboter-Kooperationen steigt. Hinzu kommen immer breitere Anforderungsprofile.

5.5.

Der EWSA hebt hervor, dass diese strukturellen Veränderungen in geeigneter Weise durch Strategien zur Sicherstellung eines gerechten und reibungslosen Übergangs, zur Abfederung negativer sozialer Auswirkungen und zur Behebung des Qualifikationsdefizits in Verbindung mit einer angemessenen Überwachung der Fortschritte bewältigt werden müssen. Im Rahmen dieses Wandels kommt dem sozialen Dialog und der Information und Konsultation der Arbeitnehmer auf allen Ebenen eine wichtige Rolle zu.

5.6.

Es gibt kurzfristige wie auch langfristige Anforderungen für die allgemeine und berufliche Bildung. Den Mitgliedstaaten kommt eine entscheidende Rolle zu, den neuen Qualifikationsanforderungen gerecht zu werden, indem sie ihre Bildungssysteme entsprechend anpassen. Bewährte Verfahren sollten auf europäischer Ebene ausgetauscht werden. Das erfordert eine Schwerpunktsetzung auf Wissenschaft, Technik, Ingenieurwesen und Mathematik, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Nachfrage nach neuen Lösungen auch breitere Anforderungsprofile voraussetzt, die Geistes- und Sozialwissenschaften miteinschließen.

6.   Auswirkungen auf Sicherheit, Gefahrenabwehr und Privatsphäre

6.1.

Die Bürger sind sich offenbar nicht allgemein der Möglichkeiten bewusst, die Digitalisierung und Robotisierung bspw. hinsichtlich Mobilitätszugangs und -komforts bieten, sondern haben vor allem Sicherheits-, Schutz- und Privatsphäreanliegen im Blick. Es sind verstärkte Aufklärungs- und Kommunikationsmaßnahmen zum Für und Wider sowie eine angemessene Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Verkehrsplanungsverfahren, insbesondere in großen städtischen Gebieten, notwendig.

6.2.

Fortgeschrittene Automatisierung erhöht selbstredend die Verkehrssicherheit, da die Häufigkeit menschlicher Fehler zurückgeht. Indes können durch die begrenzte Gestalterkennungsfähigkeit von Sensoren, potenzielle Funktionsstörungen von Geräten, Internetausfall und neue durch Menschen verursachte Fehler wie Softwarefehler neue Sicherheitsrisiken auftreten. Die Nettoauswirkungen werden jedoch als ganz klar positiv bewertet.

6.3.

Da die Cybersicherheit Anlass zu wachsender Sorge gibt, wird sie ein zentrales Element der Gefahrenabwehr im Verkehrsbereich sein. Cybersicherheit betrifft Fahrzeuge, Luftfahrzeuge und Schiffe sowie die Infrastruktur für ihre Unterstützung, Verwaltung und Kontrolle.

6.4.

Durch die Einführung und den Ausbau unbemannter und autonomer Verkehrssysteme stellt sich die Frage nach Verkehrsvorschriften, insbesondere zu ethischen Aspekten. Da Verkehr grenzüberschreitend stattfindet, sollten die Verkehrsvorschriften im Binnenmarkt harmonisiert und ihre Angleichung auf internationaler Ebene angestrebt werden.

6.5.

Im Rahmen vollständig autonomer Verkehrssysteme stellen sich zudem neue Fragen in Verbindung mit der Haftung. Dies schlägt sich auch in der Entwicklung von Versicherungssystemen nieder. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um digitale Systeme handelt und zahlreiche Akteure wie die Fahrzeughersteller und -eigentümer oder die Infrastrukturbetreiber beteiligt sind, dürfte das eigentliche Problem in der Haftungsfeststellung bei Unfällen bestehen. Es kann sich als notwendig erweisen, mehr Daten zu speichern, um Unfallhergänge rekonstruieren zu können. Der EWSA fordert deshalb die Europäische Kommission auf, mögliche Rahmen und Anforderungen für die Datenerhebung im Hinblick auf Haftungsfeststellung auszuloten, dabei aber dem Schutz der Privatsphäre Rechnung zu tragen.

6.6.

Im Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und zunehmendem Datenbedarf befürchten die Bürger eine kontinuierliche Überwachung. Auch der Einsatz von Gestalt-Erkennungssystemen weckt Datenschutzbedenken. Ab 2018 wird die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) gelten. Damit werden EU-weit einheitliche Regeln zum Schutz personenbezogener Daten angewendet. Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen auf die Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre und des Datenschutzes hingewiesen und betont, dass Daten nur für Zwecke im Zusammenhang mit dem Systembetrieb genutzt und nicht für andere Ziele vorgehalten werden sollten.

7.   Auswirkungen auf Klima und Umwelt

7.1.

Die Klima- und Umweltauswirkungen des Verkehrs hängen von vielen Faktoren ab. Eine grundlegende Emissionssenkungsmaßnahme ist die Verbesserung der Energieeffizienz von Fahrzeugen, Luftfahrzeugen und Schiffen. Energieeffizienz geht im allgemeinen Hand in Hand mit der Automatisierung von Abläufen und Steuerungssystemen.

7.2.

Die Ersetzung fossiler Kraftstoffe durch emissionsarme Kraftstoffe, Elektrizität oder Wasserstoff trägt ebenfalls maßgeblich zur Emissionssenkung bei. Auch wenn es sich um einen eigenen Entwicklungsstrang handelt, ist die Einführung von Elektrofahrzeugen und intelligenten Elektrizitätsnetzen eng mit der Automatisierung des Verkehrs verknüpft.

7.3.

Maßnahmen zur Verbesserung des Verkehrsflusses spielen ebenfalls eine wichtige Rolle für Emissionssenkungen. Digitalisierung und Automatisierung ermöglichen reibungslose Verkehrsabläufe und effiziente multimodale Transportketten, was mehr Effizienz im Verkehr, höhere Energieeffizienz, niedrigeren Kraftstoffverbrauch und weniger Emissionen bedeutet. Unverzichtbare Voraussetzung hierfür sind auch qualitativ hochwertige Infrastrukturen und ein reibungsloser grenzüberschreitender Verkehr. Des Weiteren beeinflussen Flächennutzungs- und Stadtplanung den Verkehrsbedarf und den Verkehrsfluss.

7.4.

Die Umweltauswirkungen werden nicht nur durch den Verkehr an sich verursacht, auch der Lebenszyklus der Fahrzeuge, Luftfahrzeuge und Schiffe von der Herstellung bis zur Entsorgung spielt eine Rolle. Durch die Rückverlagerung von Arbeitsplätzen des verarbeitenden Gewerbes und den Ausbau der Kreislaufwirtschaft können Ökobilanzen verbessert werden.

7.5.

Es ist möglich, dass autonome Verkehrssysteme aufgrund des Komfortgewinns zur verstärkten Nutzung von Privatfahrzeugen führen. Dagegen sollen CarSharing und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bewirken, dass die Zahl der Privatfahrzeuge zurückgeht. Verbraucherpräferenzen sind deshalb ausschlaggebend für die Zukunft der Mobilität. Sie können indes durch die Bereitstellung einfach zugänglicher Reiseplanungsmöglichkeiten zur Förderung umweltfreundlicher Entscheidungen beeinflusst werden. Auch geeignete preisliche Anreize können das Verbraucherverhalten steuern.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Informationsbericht der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) zum Thema „Die Automobilindustrie“ (CCMI/148), von der CCMI am 30.1.2017 angenommen.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Kooperative Intelligente Verkehrssysteme“, TEN/621 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Künstliche Intelligenz“, INT/806 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die externe Dimension der Sozialwirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 345/09)

Berichterstatter:

Miguel Ángel CABRA DE LUNA

Beschluss des Plenums

22.9.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

 

 

Zuständige Fachgruppe

REX

Annahme in der Fachgruppe

8.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

129/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Sozialwirtschaft ist ein wichtiger Akteur, der zur Verwirklichung der Ziele aller EU-Politikbereiche beiträgt, die über eine externe Dimension verfügen: Außen- und Sicherheitspolitik, Handel, Nachbarschaftspolitik, Klimawandel, Entwicklungszusammenarbeit und nachhaltige Entwicklung. Da sowohl auf europäischer als auch auf einzelstaatlicher Ebene ein geeignetes Regelungsumfeld fehlt, kann dieser Wirtschaftszweig sein volles Potenzial und seine maximale Wirkung jedoch nicht entfalten.

1.2.

Das auf Industrie- und Entwicklungsländer ausgerichtete Partnerschaftsinstrument (1) für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten kann Chancen für die Internationalisierung der Sozialwirtschaft der Europäischen Union (EU) bieten, da dadurch Anreize für die Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Forschung geschaffen werden.

1.3.

Die EU spielt bei der Armutsbekämpfung und der Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auf internationaler Ebene eine wichtige Rolle, was auch in der Post-2015-Agenda der EU und in der Annahme der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) zum Ausdruck kommt.

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt erfreut zur Kenntnis, dass der Rat in der Post-2015-Agenda die Bedeutung von „sozialwirtschaftlichen Unternehmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die nachhaltige Entwicklung“ hervorhebt und damit neue Perspektiven für die Förderung der externen Dimension der Sozialwirtschaft eröffnet (Ziffer 43 der Post-2015-Agenda). Allerdings bedauert der EWSA, dass die Kommission die Sozialwirtschaft in ihrem Vorschlag für einen neuen Konsens über die Entwicklungspolitik nicht berücksichtigt hat.

1.5.

Unternehmenserfolge in verschiedenen Ländern außerhalb der EU zeigen, dass die Sozialwirtschaft in ihren unterschiedlichen unternehmerischen Ausprägungen im täglichen Leben und in der Produktionstätigkeit weiter Teile Afrikas, Amerikas und Asiens stark präsent ist und entscheidend zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen beiträgt.

1.6.

Unter den vielfältigen Unternehmensformen der Sozialwirtschaft in den genannten Regionen stechen u. a. zahlreiche Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften hervor, die in der landwirtschaftlichen Produktion, im Finanz- und Mikrofinanzsektor, in der Versorgung mit sauberem Wasser sowie im Wohnungswesen tätig sind oder sich für die Eingliederung behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt, die Verringerung der informellen Beschäftigung durch Initiativen des kollektiven Unternehmertums der Sozialwirtschaft, die Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt sowie die Emanzipation von Frauen einsetzen, die eine zunehmend wichtige Rolle in der Produktionstätigkeit von Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften spielen.

1.7.

Neben den Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und ähnlichen sozialwirtschaftlichen Unternehmen mit Vereinscharakter ist die wichtige Rolle der gemeinnützigen Einrichtungen, Vereine und Stiftungen — gemeinhin als NGO bezeichnet — hervorzuheben, die alle ein wesentlicher Bestandteil der Sozialwirtschaft im Bereich des sozial ausgerichteten Dritten Sektors sind; sie bieten Sozialhilfe-, Gesundheits-, Bildungs- und sonstige Dienstleistungen an und fördern sozialwirtschaftliche unternehmerische Initiativen der lokalen Bevölkerung.

1.8.

Die Kommission hat anerkannt, dass die sozialwirtschaftlichen Unternehmen (SWU) eine wichtige Funktion für die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft haben und einen „wesentlichen Beitrag“ (2) zu dieser leisten können. In Europa gibt es viele Bespiele bewährter Verfahren in diesem Bereich, bei denen die sozialwirtschaftlichen Unternehmen im Zusammenhang mit den in der Europäischen Investitionsoffensive für Drittländer (EIP) vorgesehenen Investitionen in erneuerbare Energien in Afrika eine wichtige Rolle spielen können. Die SWU tragen in erheblichem Maße zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum bei und sorgen so für eine Verringerung negativer Umweltauswirkungen.

1.9.

Die traditionellen Finanzinstrumente sind für SWU, abgesehen von Ethikbanken, nicht geeignet, sie benötigen vielmehr speziell auf sie zugeschnittene Instrumente. Daher bedauert der EWSA, dass die SWU trotz ihrer unbestreitbaren Rolle bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) und ihrer sozioökonomischen Bedeutung in den Programmen der EU zur Förderung der Internationalisierung und zur externen Wirtschaftsförderung sowie in ihren Programmen für Entwicklungszusammenarbeit nicht systematisch und ausdrücklich als Akteur anerkannt werden. Auch in der EIP und im Europäischen Fonds für nachhaltige Entwicklung (EFSD) ist keine spezielle Finanzierungslinie für SWU vorgesehen.

1.10.

Beispielsweise wird sich die Erneuerung des Cotonou-Partnerschaftsabkommens (CPA) auf über 100 Länder in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean (AKP) mit einer Gesamtbevölkerung von 1,5 Mrd. Menschen auswirken. Die Erneuerung des CPA findet 2020 statt, die Verhandlungen müssen spätestens im August 2018 aufgenommen werden. Erstaunlicherweise wird in der einschlägigen Mitteilung, die sich auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen und die Globale Strategie der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik stützt, unter den nichtstaatlichen Akteuren, die an der Partnerschaft beteiligt sind, nicht die Sozialwirtschaft genannt — stattdessen wird diese lediglich unter der allgemeinen Bezeichnung „Akteure […] der Zivilgesellschaft, der Wirtschafts- und Sozialpartner und der Privatwirtschaft“ subsumiert (Ziffer 4.3.3 der Mitteilung).

Daher ist Folgendes festzuhalten:

1.11.

Die Handelspolitik ist eine der Säulen des auswärtigen Handelns der EU. Die organisierte Zivilgesellschaft ist an den verschiedenen Abkommen der EU mit anderen Ländern und Regionen der Welt (Handels- und Assoziationsabkommen, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen) über Gemischte Beratende Ausschüsse (GBA) und Interne Beratungsgruppen (DAG) beteiligt, die mit diesen Abkommen eingerichtet werden. Der EWSA empfiehlt, die Sozialwirtschaft, die bereits an mehreren dieser Abkommen mitwirkt, umfassend einzubeziehen und zu einem festen Bestandteil aller Abkommen zu machen.

1.12.

Sowohl der EFSD als auch die EIB müssen an der Schaffung eines speziellen Finanzökosystems für SWU mitwirken, wie in der Stellungnahme des EWSA gefordert (3). Außerdem muss in den Programmen für technische Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit der EIP die Dynamik kooperativer digitaler Plattformen berücksichtigt werden. Die digitale Wirtschaft eröffnet neue Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für SWU. So ermöglicht die kollaborative Wirtschaft die Einrichtung gemeinnütziger Plattformen (platform cooperativism) und die Entwicklung von Tätigkeiten, die für die externe Dimension der Sozialwirtschaft von besonderer Bedeutung sind, wie kollaborative Produktion, kollaborative Finanzierung (crowdfunding oder peer-to-peer lending), kollaborative Governance oder kollaboratives Lernen. Im letzten Fall kann durch das Lernen über kooperative Plattformen ein wichtiger Beitrag zur Vor-Ort-Ausbildung sozialwirtschaftlicher Unternehmer in den Nachbarländern und südlichen Ländern geleistet und das strukturelle Humankapital in diesen Ländern gestärkt werden.

1.13.

Der EWSA unterstützt die Empfehlung der Sachverständigengruppe für soziales Unternehmertum (GECES), sozialwirtschaftlichen Unternehmen in der Außenpolitik der EU einen höheren Stellenwert zu geben. In diesem Sinne sollten die Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) ihre Politik und ihre Initiativen abstimmen, um

zusammen mit den beteiligten Regierungen und den Organisationen zur Förderung der Sozialwirtschaft direkte und indirekte Finanzierungen für sozialwirtschaftliche Unternehmen in Drittländern bereitzustellen und

eine konkrete Zusammenarbeit mit anderen internationalen Partnern und Innovations- und Investitionsfonds zu begründen, damit die Wirkung der jeweiligen Programme verstärkt wird.

1.14.

Die Kommission und die Sozialwirtschaft müssen sich für die Einbindung der G20 und der G7 in die Förderung spezifischer politischer Maßnahmen zur Unterstützung der Sozialwirtschaft einsetzen (wie auch in dem im Inclusive Business Framework der G20 erläutert wird), um die Unterschiede in Bezug auf Werte, Grundsätze und Existenzberechtigung bei diesen Organisationen zu verdeutlichen (Empfehlung 12 der GECES).

1.15.

Die Rolle der Sozialwirtschaft in internationalen Foren (UNTFSSE, ILGSSE, G20, G7, ILO usw.) und die Zusammenarbeit mit internationalen Finanzorganisationen sollten im Wege der Wirtschaftsdiplomatie gefördert werden.

1.16.

Die EU muss sicherstellen, dass SWU in Verhandlungen über Handelsabkommen gegenüber anderen Unternehmen nicht diskriminiert werden, indem nichttarifäre Handelshemmnisse, die der eigentliche Grund für eine solche Diskriminierung sind, beseitigt werden.

1.17.

Das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI) und andere Finanzinstrumente müssen systematisch zur Förderung der Sozialwirtschaft beitragen, sowohl in den Beitrittsverhandlungen mit Bewerberländern für den Beitritt zur EU als auch in Verhandlungen mit anderen Nachbarländern, die von Präferenzabkommen profitieren.

1.18.

Die Kommission muss ihre führende Rolle in der internationalen Zusammenarbeit ausbauen und sich weiter dafür einsetzen, dass SWU als Schlüsselakteur des privaten Sektors für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele und als Bestandteil der außenpolitischen Agenda der EU gefördert und anerkannt werden. Dazu müssen die Tätigkeiten der verschiedenen Dienststellen der Kommission und des EAD aufeinander abgestimmt und gemeinsame Aktionsprogramme für die Entwicklungszusammenarbeit mit anderen internationalen Finanzinstitutionen aufgelegt werden, wie der Weltbank, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Asiatischen Entwicklungsbank und sonstigen öffentlichen und privaten Einrichtungen zur Förderung multilateraler (auch lokaler) Investitionen, und es müssen Anreize geschaffen werden, damit diese Finanzierungskanäle funktionieren. Die SWU müssen dringend wirksam und umfassend in die „Wirtschaftsdiplomatie“ der EU einbezogen werden. Die Kommission muss die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen (UNO, ILO, OECD usw.) auf dem Gebiet der Sozialwirtschaft verstärken.

1.19.

Die Kommission muss den Sektor der Sozialwirtschaft bei Initiativen für den Zugang zu Drittmärkten, in allen Programmen der Entwicklungszusammenarbeit und bei der Umsetzung der Post-2015-Agenda ausdrücklich als unternehmerischen Akteur der EU berücksichtigen und spezielle Indikatoren und Ziele für Genossenschaften und sonstige ähnliche Unternehmen der Sozialwirtschaft festlegen. Ganz konkret ist es wichtig, dass die Kommission und die Hohe Vertreterin der Union für Außenpolitik die Sozialwirtschaft ausdrücklich als nichtstaatlichen Akteur in das nächste CPA einbeziehen und in der EIP sowie im EFSD eigene Finanzierungslinien für SWU vorsehen.

1.20.

Als Beitrag zur Überwachung und Überprüfung der Nachhaltigkeitsziele sollte auch eine regelmäßige Berichterstattung über die Partnerschaftsmaßnahmen zwischen Staaten und sonstigen öffentlichen Stellen und der Sozialwirtschaft erfolgen. Dabei sollten u. a. die Genossenschaften, die eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele spielen, berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten die Staaten zur Erhebung von Daten und Statistiken ermuntert werden.

1.21.

Die Kommission sollte die Einbeziehung der Sozialwirtschaft in den strukturierten Dialog fördern, den sie mit dem europäischen und afrikanischen Privatsektor mithilfe einer Plattform nachhaltiger Unternehmen für Afrika (Plattform Sustainable Business for Afrika (SB4A)) voranbringen will.

1.22.

Die Kommission sollte eine bevorzugte Unterstützung für in der Kreislaufwirtschaft tätige SWU anregen, die bemerkenswerte Erfolge in Europa erzielt haben und maßgebliche Akteure eines nachhaltigen Wachstums in außereuropäischen Ländern sein können sowie zahlreiche Arbeitsplätze für junge Menschen und Frauen im lokalen Bereich schaffen.

1.23.

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten in ihren unternehmensbezogenen Tätigkeiten im Ausland und in der Entwicklungszusammenarbeit die Mitsprache, die Anhörung und die Abstimmung mit repräsentativen europäischen und nationalen Organisationen der Sozialwirtschaft — auch aus den Partnerländern — sowie mit denjenigen internationalen Organisationen der Sozialwirtschaft fördern, die sich für eine Nord-Süd- und eine Süd-Süd-Kooperation einsetzen. Der EWSA bekräftigt seine Forderung (4), ein europäisches Nachhaltigkeitsforum der Zivilgesellschaft zur Förderung und Überwachung der Umsetzung der Agenda 2030 einzurichten, dessen Schlüsselakteure der Rat, die Kommission, das Europäische Parlament, die repräsentativen Organisationen der europäischen Sozialwirtschaft und sonstige zivilgesellschaftliche Gruppen sind.

1.24.

Die Programme der Kommission für technische Hilfe und Entwicklung müssen die Beteiligung der Netze und der repräsentativen Organisationen der Sozialwirtschaft als Mittler und strategische Akteure bei der Umsetzung der Investitions- und Kooperationsprogramme in den Nachbar- und Entwicklungsländern vorsehen und die Regierungen dabei unterstützen, ein für SWU günstiges institutionelles Umfeld zu schaffen. Der südliche Mittelmeerraum und der Balkan sind eine unumgängliche Priorität.

1.25.

Die Kommission und der EAD müssen in Drittstaaten die Ermittlung der verschiedenen Arten von SWU sowie die Festlegung eines geeigneten Rechtsrahmens fördern, der alle SWU abbilden kann. Da dies ein komplexer und mittel- bzw. langfristiger Prozess ist, sollte der Schwerpunkt auf Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften liegen, die in der ganzen Welt verbreitet sind, einen festgelegten Rechtsrahmen besitzen, in allen Bereichen der Produktionstätigkeit eine wichtige Rolle spielen und ein Werte- und Regelungssystem haben, das vorbildlich für die gesamte Sozialwirtschaft ist und sie als Rückgrat dieses Sektors ausweist.

1.26.

Um die Ziele dieser Stellungnahme zu erreichen, fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, ihre Zusage einer verstärkten dienststellenübergreifenden Sensibilisierung für die Sozialwirtschaft rasch in die Tat umzusetzen, indem interne Briefings für die einschlägigen Generaldirektionen und die Delegationen der Europäischen Union in Drittländern durchgeführt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Zu den beiden ersten Prioritäten der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU gehören die Sicherheit der EU und Investitionen in die Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas bis hin nach Zentralafrika. Bei der Umsetzung dieser Prioritäten und der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) kann die Sozialwirtschaft wichtige Aufgaben bei der Förderung von Prozessen der inklusiven Entwicklung und des nachhaltigen Wachstums übernehmen.

2.2.

Die ENP für ost- und südeuropäische Länder und das dazugehörige Finanzinstrument, das ENI, spielen bei der Förderung der Beziehungen zu den 16 Ländern, die in die ENP eingebunden sind (sechs osteuropäische Länder und zehn Länder im südlichen Mittelmeerraum) eine Schlüsselrolle — immerhin hat die EU im Zeitraum 2014-2020 15,4 Mrd. EUR für ihre Entwicklung bereitgestellt.

2.3.

Mit der EIP werden über den EFSD in Afrika und den Nachbarstaaten der EU zwischen 2016 und 2020 Investitionen im Wert zwischen 44 und 88 Mrd. EUR gefördert werden, wobei als förderfähige Partnereinrichtungen für Investitionsprojekte Einrichtungen des öffentlichen Sektors und Investoren aus dem Privatsektor gelten.

2.4.

Der internationale Handel gehört zu den Säulen der neuen Strategie Europa 2020 für eine wettbewerbsfähigere und umweltgerechtere Union. Die von der EU geförderten Freihandels- und Investitionsabkommen können zu einem dynamischeren Wirtschaftswachstum in der EU beitragen, da 90 % des künftigen weltweiten Wachstums außerhalb Europas stattfinden wird. Die EU sollte sicherstellen, dass sozialwirtschaftliche Unternehmen in Verhandlungen über Handelsabkommen gegenüber anderen Unternehmen nicht diskriminiert werden, indem nichttarifäre Handelshemmnisse, die der eigentliche Grund für eine solche Diskriminierung sind, beseitigt werden. Die europäische Sozialwirtschaft sollte sich diese Abkommen zunutze machen, um die Internationalisierung ihrer Unternehmen sowohl im Bereich der östlichen und südlichen Nachbarländer Europas als auch in anderen Teilen der Welt voranzutreiben.

2.5.

Die EU spielt bei der Armutsbekämpfung und Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung weltweit eine wichtige Rolle. Die öffentliche Entwicklungshilfe der EU und der Mitgliedstaaten belief sich 2015 (5) auf 68 Mrd. EUR, ihr Anteil an der Hilfe aller Geber weltweit liegt bei über 50 %.

2.6.

Der Rat billigte auf seiner Tagung am 26. Mai 2015 den Standpunkt der EU zur Agenda für die Entwicklung nach 2015 (Eine neue globale Partnerschaft für Armutsbeseitigung und nachhaltige Entwicklung nach 2015). Auf der VN-Generalversammlung im September 2015, in deren Rahmen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet wurde, trat die EU für die Post-2015-Agenda ein. In dieser Agenda betont der Rat „die Bedeutung von Kleinst-, kleinen und mittleren sowie sozialwirtschaftlichen Unternehmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die nachhaltige Entwicklung“ (Ziffer 43).

3.   Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen und Organisationen (SWU)

3.1.

SWU setzen sich aus vielen verschiedenen Akteuren zusammen, die eine gemeinsame Kernidentität mit Grundsätzen und Handlungswerten haben, die sie als freie und freiwillige, von der Zivilgesellschaft geschaffene Einrichtungen mit demokratischen und partizipativen Leitungsstrukturen auszeichnen; ihr vorrangiges Ziel ist die Erfüllung der Bedürfnisse der beteiligten Menschen und gesellschaftlichen Gruppen nach solidarischen Kriterien und nicht die Vergütung von Kapitalgebern (6). Als Beispiel seien die deutschen Genossenschaften genannt, die von der Unesco als immaterielles Erbe der Menschheit anerkannt wurden.

3.2.

Die Akteure der Sozialwirtschaft sind durch die EU-Institutionen sowie durch die Beteiligten selbst und die wissenschaftliche Literatur genau definiert und festgelegt. Hervorzuheben sind hier die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Sozialwirtschaft (2008/2250(INI)) vom 25. Januar 2009, das Handbuch der Europäischen Kommission zur Erstellung eines Satellitensystems für Unternehmen in der Sozialwirtschaft: Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften (2006), die einschlägigen Stellungnahmen des EWSA (7) und der Bericht des EWSA Die Sozialwirtschaft in der Europäischen Union  (8). Alle enthalten eine übereinstimmende Definition des Sektors Sozialwirtschaft, der aus einer Vielzahl von Unternehmen und Organisationen besteht, „die auf dem Grundsatz ‚Menschen vor Kapital‘ beruhen; hierzu zählen Organisationsformen wie Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Stiftungen und Vereine sowie neuere Arten von sozialen Unternehmen“ (Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom 7. Dezember 2015 zur „Förderung der Sozialwirtschaft als treibende Kraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa“) (9).

4.   Sozialwirtschaft, Europäische Nachbarschaftspolitik und Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik

4.1.

Die Sozialwirtschaft kann eine sehr wichtige Rolle im außenpolitischen Handeln der EU spielen. Die Geschichte der Sozialwirtschaft ist eine Erfolgsgeschichte, nicht nur in Europa, sondern auch in vielen südlichen Nachbarstaaten und in weiten Teilen Afrikas. Dies hat die ILO in ihrer Empfehlung 193 vom 20. Juni 2002 betreffend die Förderung der Genossenschaften deutlich gemacht. Sie werden darin als eine der Stützen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung betrachtet, die aufgrund ihrer Werte und Leitungsstrukturen eine umfassende Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Entwicklung fördern und dabei für mehr Stabilität, Vertrauen und sozialen Zusammenhalt sorgen.

4.2.

Die Kommission und der Rat haben wiederholt die Bedeutung von Genossenschaften und der Sozialwirtschaft für das außenpolitische Handeln der EU hervorgehoben. So wird in der Mitteilung der Kommission vom 12. September 2012 („Die Wurzeln der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung: Europas Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft im Bereich der Außenbeziehungen“) die Rolle der Genossenschaften als wichtige Akteure der Zivilgesellschaft hervorgehoben, die „sich in besonderem Maße für die Förderung des Unternehmergeistes und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Mobilisierung von Basisgemeinschaften“ einsetzen. Der Rat räumt der Sozialwirtschaft in der Post-2015-Agenda eine wesentliche Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und bei der nachhaltigen Entwicklung ein (Ziffer 43 der Post-2015-Agenda).

4.3.

Zu den beiden ersten Prioritäten der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU gehören die Sicherheit der EU und Investitionen in die Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas bis hin nach Zentralafrika.

4.4.

Der ENP kommt eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung der in der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union festgelegten Prioritäten zu. Laut der Strategie besteht eine Priorität des außenpolitischen Handelns darin, in die Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft in der östlichen und südlichen Nachbarschaft bis hin nach Zentralafrika zu investieren, und zwar sowohl mit Blick auf Länder der ENP als auch darüber hinaus.

4.5.

Die Konsolidierung resilienter Staaten in der Nachbarschaft Europas, ein Schwerpunkt des außenpolitischen Handelns der EU, kann ohne starke, von Zusammenhalt geprägte und widerstandsfähige Gesellschaften nicht sichergestellt werden. Die Sozialwirtschaft, die auf von Menschen und für Menschen gegründeten Unternehmen beruht, ist eine dynamische Ausdrucksform der Zivilgesellschaft. Die SWU sind das Ergebnis kollektiver Unternehmensinitiativen von Bürgern, mit denen wirtschaftliche und soziale Ziele im Rahmen eines gemeinsamen Projekts verfolgt werden, das die Menschen zu Verantwortlichen und Akteuren ihres eigenen Schicksals macht und es ihnen ermöglicht, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Dies ist der beste Garant für eine Konsolidierung resilienter Staaten im Osten und Süden Europas sowie in weiteren Ländern innerhalb und außerhalb der ENP in Übereinstimmung mit der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Es ist zudem die beste Möglichkeit, den nachhaltigen und langfristigen Erfolg der ersten der fünf großen Prioritäten des auswärtigen Handelns der Union, namentlich die Sicherheit des gemeinsamen Hauses Europa, zu garantieren und dadurch Radikalisierungsprozesse zu verhindern.

4.6.

Die externe Dimension der Sozialwirtschaft kann zudem äußerst hilfreich dabei sein, mit Rechten abgesicherte Arbeitsplätze in Ländern zu schaffen, in denen der Anteil der Schattenwirtschaft hoch ist oder deren Wirtschaftsmodell sich im Wandel befindet. Ferner kann sie dazu beitragen, die Schließung von Unternehmen zu verhindern, etwa indem diese von den Arbeitnehmern mit der Rechts- und Organisationsform einer Genossenschaft übernommen werden.

5.   Die Sozialwirtschaft und die Handels- und Investitionspolitik der EU

5.1.

Die Handelspolitik ist eine der Säulen des auswärtigen Handelns der EU. Die organisierte Zivilgesellschaft ist an den verschiedenen Abkommen der EU mit anderen Ländern und Regionen der Welt (Handels- und Assoziationsabkommen, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen) über GBA und DAG beteiligt, die mit diesen Abkommen eingerichtet werden. Der EWSA empfiehlt, die Sozialwirtschaft, die bereits an mehreren dieser Abkommen mitwirkt, umfassend einzubeziehen und zu einem festen Bestandteil aller Abkommen zu machen. Er schlägt vor, im Rahmen der in diesen Abkommen vorgesehenen Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung die Erfahrungen der Sozialwirtschaft für die Gründung von Unternehmen mit den besonderen Werten und Merkmalen der Sozialwirtschaft zu nutzen. Die Organisationen der Sozialwirtschaft sollten regelmäßig an den in diesen Kapiteln vorgesehenen internen Beratungsgruppen (DAG) der Zivilgesellschaft sowie an den von der Kommission geförderten Wirtschaftsmissionen in Drittländern teilnehmen.

5.2.

Die Beteiligung der Sozialwirtschaft an den GBA und DAG kann dazu beitragen, die Kenntnisse, die Verbindungen und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Regionen im Bereich der Sozialwirtschaft zu vertiefen. Dies ist beispielsweise zwischen der Sozialwirtschaft der EU und ihren entsprechenden Partnern in Lateinamerika und im südlichen Mittelmeerraum bereits der Fall.

5.3.

Mit dem ENI der ENP werden im Zeitraum 2014-2016 15,4 Mrd. EUR für die Verwirklichung der Ziele dieser Politik bereitgestellt. Die EIP (10), die einen Gesamtrahmen für die Steigerung der Investitionen in Afrika und in den Nachbarstaaten der EU bietet, kann ein geeignetes Instrument zur Förderung der Sozialwirtschaft in diesen geografischen Räumen sein.

5.4.

Im November 2017 findet das fünfte Gipfeltreffen Afrika-EU statt, bei dem die Partnerschaft Afrika-EU neu gestaltet und vertieft werden soll (11). Die Kommission sollte die Einbeziehung der Sozialwirtschaft in den strukturierten Dialog fördern, den sie mit dem europäischen und afrikanischen Privatsektor mithilfe einer Plattform nachhaltiger Unternehmen für Afrika (Plattform Sustainable Business for Afrika (SB4A)) voranbringen will.

5.5.

Die Kommission hat anerkannt, dass die SWU eine wichtige Funktion für die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft haben und einen „wesentlichen Beitrag“ (12) zu dieser leisten können. In Europa gibt es viele Bespiele bewährter Verfahren in diesem Bereich, insbesondere auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien.

5.6.

Aufgrund ihrer Eigenschaften und Werte können die SWU im Zusammenhang mit den in der Europäischen Investitionsoffensive für Drittländer (EIP) vorgesehenen Investitionen in erneuerbare Energien in Afrika eine wichtige Rolle spielen, und zwar ausgehend von den Wettbewerbsvorteilen, die sich aus einer besseren Ressourcenbewirtschaftung sowie in Verbindung mit Rohstoffen und der lokalen Vernetzung ergeben. Auf diese Weise können Arbeitsplätze auf lokaler Ebene geschaffen werden, vor allem für junge Menschen und Frauen. Die bevorzugte Unterstützung von in der Kreislaufwirtschaft tätigen SWU wird zu einem nachhaltigeren Wirtschaftswachstum beitragen und durch eine bessere Ressourcenbewirtschaftung, einen geringeren Rohstoffabbau und weniger Umweltverschmutzung für eine Verringerung negativer Auswirkungen auf die Umwelt sorgen.

5.7.

Das auf Industrie- und Entwicklungsländer ausgerichtete Partnerschaftsinstrument (13) für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten kann Chancen für die Internationalisierung der Sozialwirtschaft der EU bieten, da dadurch Anreize für die Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Forschung geschaffen werden.

5.8.

Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Finanzmarktlogik nicht darauf ausgerichtet, die Entwicklung von SWU zu fördern. Die traditionellen Finanzinstrumente sind für SWU nicht geeignet, vielmehr benötigen sie speziell auf sie zugeschnittene Instrumente. Das tatsächliche Potenzial von SWU kann nur dann erschlossen werden, wenn der Zugang zu Finanzmitteln in ein speziell zugeschnittenes und voll integriertes Finanzökosystem eingebettet wird (14).

5.9.

Die GECES hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Kommission eine „Zweckbindung […] für gezielte direkte und indirekte Fördermittel für Organisationen der Sozialwirtschaft, einschließlich sozialer Unternehmen, in Drittländern, zusammen mit Regierungen und Organisationen für Förderung und soziale Finanzierung“ vorsehen sollte (Empfehlung 13 des Berichts der GECES „Die Zukunft der sozialen Unternehmen und der Sozialwirtschaft“).

5.10.

In diesem Sinne sollten das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI) sowie andere Finanzinstrumente systematisch zur Förderung der Sozialwirtschaft beitragen, sowohl in den Beitrittsverhandlungen mit Bewerberländern als auch in Verhandlungen mit anderen Nachbarländern, die von Präferenzabkommen profitieren.

5.11.

In der jüngsten Zeit hat die Kommission einige außenpolitische Initiativen auf den Weg gebracht, darunter die Partnerschaftsrahmenvereinbarung zwischen der Europäischen Kommission und dem Internationalen Genossenschaftsbund zur Förderung des Genossenschaftssektors auf internationaler Ebene, die im Wege eines mit 8 Mio. EUR ausgestatteten Programms im Zeitraum 2016-2020 umgesetzt werden soll. Dennoch bleiben die SWU sowohl aus der ENP als auch der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik ausgeklammert und werden nicht ausdrücklich als unternehmerische Akteure in die außenpolitischen Maßnahmen und Programme der EU einbezogen. Unter den zahlreichen Mitteln für die EIP und den EFSD sind keine eigenen Finanzierungslinien für SWU vorgesehen, und auch im Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der Internationalisierung europäischer Unternehmen werden sie nicht berücksichtigt.

5.12.

Die Kommission und die Sozialwirtschaft müssen sich für die Einbindung der G20 und der G7 in die Förderung spezifischer politischer Maßnahmen zur Unterstützung integrativer Geschäfte und sozialer Unternehmen einsetzen (wie auch in dem Inclusive Business Framework der G20 erläutert wird), um die Unterschiede in Bezug auf Werte, Grundsätze und Existenzberechtigung bei diesen Organisationen zu verdeutlichen (Empfehlung 12 der GECES).

5.13.

Die Rolle der Sozialwirtschaft in internationalen Foren (UNTFSSE, ILGSSE, G20, G7, ILO usw.) und die Zusammenarbeit mit internationalen Finanzorganisationen wie der Global Social Impact Investment Steering Group (GSG) sollten im Wege der Wirtschaftsdiplomatie gefördert werden, beispielsweise durch die Teilnahme an Veranstaltungen der ILGSSE zu Finanzfragen.

6.   Die Bedeutung der Sozialwirtschaft für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele

6.1.

Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen enthält 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die auf den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und Soziales beruhen. Die Sozialwirtschaft spielt für die Verwirklichung dieser Ziele eine wichtige Rolle. Die Vielzahl der Akteure der Sozialwirtschaft und ihre bereichsübergreifenden Rechtsformen erschweren die Erfassung aggregierter Daten zu den Tätigkeiten der Sozialwirtschaft; allerdings bestätigen die verfügbaren Daten zu Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und sonstigen ähnlichen Einrichtungen, dass die Sozialwirtschaft und insbesondere die Genossenschaften ein entscheidender Faktor für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 sind.

6.2.

In diesem Zusammenhang sollte als Beitrag zur Überwachung und Überprüfung der Nachhaltigkeitsziele auch eine regelmäßige Berichterstattung über die Partnerschaftsmaßnahmen zwischen Staaten und sonstigen öffentlichen Stellen und der Sozialwirtschaft erfolgen. Dabei sollten u. a. die Genossenschaften, die eine wichtige Rolle für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele spielen, berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten die Staaten zur Erhebung von Daten und Statistiken ermuntert werden.

6.3.

Genossenschaften spielen im Hinblick auf das Ziel der Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung in weiten Teilen Afrikas, Asiens und Amerikas eine grundlegende Rolle. Dies gilt vor allem für Spar- und Kreditgenossenschaften sowie agrar- und ernährungswirtschaftliche Genossenschaften für Erzeugung, Versorgung und Vermarktung (von der FAO hervorgehobene Rolle). In Ländern wie Tansania, Äthiopien, Ghana, Ruanda oder Sri Lanka sind Spar- und Kreditgenossenschaften sehr wichtig für die Finanzierung von Arbeitsmitteln, Betriebskapital oder langlebigen Konsumgütern für Bedürftige. Auch bei der Emanzipation von Frauen übernehmen Genossenschaften in den genannten Ländern eine führende Rolle (15). In Afrika sind 12 000 Spar- und Kreditgenossenschaften mit 15 Mio. Nutzern in 23 Ländern erfasst (16).

6.4.

Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften haben im Gesundheitsbereich in der ganzen Welt große Bedeutung, sowohl in Entwicklungs- als auch in Schwellenländern. Weltweit werden über 100 Mio. Familien von Gesundheitsgenossenschaften betreut (17).

6.5.

Ein Bereich, in dem Genossenschaften entscheidend zu einem der Nachhaltigkeitsziele beitragen, ist der Zugang zu sauberem Wasser und Kanalisation. In Bolivien (Santa Cruz de la Sierra) befindet sich die größte Genossenschaft für Trinkwasserversorgung weltweit. Sie versorgt 1,2 Mio. Menschen mit sauberem Wasser von sehr hoher Qualität. Auf den Philippinen, in Indien und in mehreren afrikanischen Ländern beliefern Trinkwasserversorgungsgenossenschaften Zehntausende von Haushalten mit Trinkwasser. In einigen Fällen haben Genossenschaftsmitglieder Brunnen gebohrt und lokale Gruppen für deren Instandhaltung gegründet. In den Vereinigten Staaten stellen etwa 3 300 Genossenschaften Wasser für den menschlichen Gebrauch bereit und bieten Brandschutz, Bewässerung und Abwasserentsorgung an (18).

6.6.

Genossenschaften sind auch ein wirksames Instrument, wenn es um die Bereitstellung angemessenen Wohnraums und die Verbesserung der Zustände in Elendsvierteln geht. In Indien hat der Nationale Verband der Wohnungsgenossenschaften gemeinsam mit armen Familien in städtischen Gebieten 92 000 Wohnungsgenossenschaften mit 6,5 Mio. Mitgliedern und 2,5 Mio. Wohnungen gefördert, größtenteils für einkommensschwache Familien. In Kenia hat die Nationale Vereinigung der Wohnungsgenossenschaften ein Programm zur Verbesserung der sanitären Bedingungen in Elendsvierteln angeregt. Dabei wurden die Nachbarn in Genossenschaften organisiert, um Zugang zu angemessenem Wohnraum zu erhalten (19).

6.7.

Genossenschaften sind ein nützliches Instrument, um den hohen Anteil informeller Beschäftigung zu verringern (50 % der weltweiten Arbeit insgesamt), die stets mit menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden ist. Initiativen des kollektiven Unternehmertums im Zusammenhang mit Genossenschaften leisten einen wertvollen sozialen Beitrag und setzen einem Wirtschaftsmodell, das prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Ungleichheit hervorbringt, etwas entgegen, indem sie die Menschenwürde stärken und die Lebensbedingungen der Menschen (menschenwürdige Arbeit) verbessern. SWU spielen eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Position besonders gefährdeter Gruppen, vor allem von Frauen, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen, und ermöglichen zudem dauerhafte wirtschaftliche Einkünfte und erfolgreiche Prozesse der sozialen Innovation.

6.8.

Neben den Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften ist die Rolle der gemeinnützigen Einrichtungen und der nichtstaatlichen Organisationen (NGO) hervorzuheben, die ein wesentlicher Bestandteil der Sozialwirtschaft im Bereich des sozial ausgerichteten Dritten Sektors sind. Diese Organisationen mobilisieren umfassende Ressourcen, darunter freiwillige Mitarbeiter, sodass sie Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und sonstige Dienstleistungen verwalten und in vielen Fällen soziale Unternehmensinitiativen der örtlichen Bevölkerung fördern können.

6.9.

Die vorgenannten unternehmerischen Erfahrungen beweisen, dass das Unternehmensmodell der Sozialwirtschaft auf einem Wertesystem und partizipativen Leitungsstrukturen beruht, sodass es sich besonders gut dazu eignet, zur Bewältigung vieler der sozialen Herausforderungen beizutragen, die sich im Rahmen der Nachhaltigkeitsziele stellen. Wie das Europäische Parlament festgestellt hat, sollten „die meisten sozialen Probleme mittels lokaler Lösungen angegangen werden […], sodass auf konkrete Situationen und Probleme eingegangen wird“ (20). In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Task Force der Vereinten Nationen für die Sozial- und Solidarwirtschaft (UNTFSSE) bei der Förderung der Sozial- und Solidarwirtschaft auf internationaler Ebene hervorzuheben, ebenso wie die Initiativen von Cooperatives Europe und das Projekt des IGB und der EU zur internationalen Entwicklung durch Genossenschaften.

6.10.

Durch ihre starke Verankerung in den lokalen Gemeinschaften und weil sie die Priorität darauf legen, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, wandern diese Unternehmen nicht ab, sind ein wirksames Gegengewicht zur Entvölkerung ländlicher Gebiete und fördern die Entwicklung ärmerer Regionen und Kommunen (21). Diesbezüglich wird auch auf die Arbeit des Global Social Economy Forum (GSEF) aufmerksam gemacht, dessen nächste Tagung in der EU stattfindet (Bilbao, 2018).

6.11.

Mit dem Unternehmensmodell der Sozialwirtschaft:

wird in ländlichen und benachteiligten Gebieten Wohlstand geschaffen, indem mittel- und langfristig wirtschaftlich lebensfähige und nachhaltige Unternehmensinitiativen gegründet und unterstützt werden;

werden unternehmerische Fähigkeiten sowie Schulungs- und Managementfähigkeiten sozial ausgegrenzter Gruppen und der Bevölkerung im Allgemeinen gefördert und unterstützt und Plattformen für die Konzertierung auf nationaler Ebene geschaffen;

werden Finanzierungsinstrumente durch Kredit- und Mikrokreditgenossenschaften bereitgestellt, um den Zugang zu Finanzmitteln sicherzustellen;

werden die Lebensbedingungen gefährdeter Gruppen verbessert, indem der Zugang zu Nahrungsmitteln und grundlegenden sozialen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und sauberem Wasser erleichtert wird;

wird dazu beigetragen, die informelle Beschäftigung zu verringern, indem Initiativen des kollektiven Unternehmertums gefördert werden, für die Genossenschaften ein ausgezeichnetes Instrument darstellen, und

wird in erheblichem Maße zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum beigetragen und gleichzeitig für eine Verringerung negativer Umweltauswirkungen gesorgt.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Verordnung (EU) Nr. 234/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.3.2014.

(2)  COM(2015) 614 final vom 2.12.2015.

(3)  Sondierungsstellungnahme des EWSA zum Thema „Schaffung eines Finanzökosystems für Sozialunternehmen“, (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 152).

(4)  Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union“ (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 58).

(5)  Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union“ (ABl. C 34 vom 2.2.2017).

(6)  Prinzipien und Werte auf der Grundlage der genossenschaftlichen Grundsätze, die vom Internationalen Genossenschaftsbund (IGB) formuliert wurden (Manchester, 1995).

(7)  U. a. die Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Unterschiedliche Unternehmensformen“ (ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22).

(8)  Bericht Monzón-Chaves des CIRIEC, 2012.

(9)  Arbeitsdokument von 2011: Social and Solidarity Economy: Our common road towards Decent Work (Sozial- und Solidarwirtschaft: unser gemeinsamer Weg zu menschenwürdiger Arbeit; nur auf Englisch, Spanisch und Französisch verfügbar).

(10)  Mitteilung der Kommission vom 14.9.2016 (COM(2016) 581 final).

(11)  JOIN(2017) 17 final vom 4.5.2017 (Neue Impulse für die Partnerschaft Afrika-EU).

(12)  COM(2015) 614 final vom 2.12.2015.

(13)  Verordnung (EU) Nr. 234/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.3.2014.

(14)  Sondierungsstellungnahme des EWSA zum Thema „Schaffung eines Finanzökosystems für Sozialunternehmen“, (ABl. C 13 vom 15.1.2016).

(15)  IGB-ILO.

(16)  B. Fonteneau und P. Develtere: African Responses to the Crisis through the Social Economy (Sozialwirtschaft: Afrikanische Antworten auf die Krise).

(17)  IGB-ILO.

(18)  Ebd.

(19)  Ebd.

(20)  Bericht des Europäischen Parlaments über die Sozialwirtschaft (2008/2250(INI)).

(21)  COM(2004) 18 final., Ziffer 4.3 (Förderung der Genossenschaften in Europa).


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

527. Plenartagung des EWSA vom 5./6. Juli 2017

13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2010/40/EU hinsichtlich des Zeitraums für den Erlass delegierter Rechtsakte“

(COM(2017) 136 final — 2017/0060 (COD))

(2017/C 345/10)

Berichterstatter:

Jorge PEGADO LIZ

Befassung

Europäisches Parlament, 3.4.2017

Rat, 31.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

7.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

124/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Kommissionsvorschlag zur Kenntnis.

1.2.

Der Ausschuss bekundet seine grundsätzliche Zustimmung zu diesem Vorschlag und begrüßt, dass die Kommission — so wie vom EWSA seit jeher gefordert — eine (ggf. mehrmalige) Verlängerung der Befugnisübertragung um einen bestimmten Zeitraum, soweit keine Einwände seitens des Rates und des Parlaments vorliegen, als angemessen betrachtet.

2.   Ziel des Vorschlags

2.1.

Die Richtlinie 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 (1) zum Rahmen für die Einführung intelligenter Verkehrssysteme (ITS) im Straßenverkehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern (2) sieht vor, in vier vorrangigen Bereichen Spezifikationen für Maßnahmen im Wege delegierter Rechtsakte zu erlassen.

2.2.

Mit der Richtlinie wurde der Kommission die Befugnis erteilt, derartige Rechtsakte für einen begrenzten Zeitraum zu erlassen, nämlich bis zum 27. August 2017. Seit Inkrafttreten der Richtlinie wurden vier delegierte Rechtsakte erlassen, und ein fünfter delegierter Rechtsakt betrifft die EU-weite Bereitstellung multimodaler Reise-Informationsdienste.

2.3.

Im Rahmen der Europäischen Strategie für kooperative intelligente Verkehrssysteme (3) (C-ITS) arbeitet die Kommission derzeit mit Experten der Mitgliedstaaten einen rechtlichen und technischen Rahmen zur Unterstützung der Einführung kooperativer ITS aus. Daneben müssen noch mehrere andere, in den vier vorrangigen Bereichen (4) der Richtlinie aufgeführte Maßnahmen in Angriff genommen werden, beispielsweise die Spezifikationen und Normen für die Kontinuität und Interoperabilität der Dienste in den Bereichen Verkehrs- und Frachtmanagement (vorrangiger Bereich II), die Spezifikationen für andere Maßnahmen in Bezug auf ITS-Anwendungen zur Erleichterung der Straßenverkehrssicherheit (vorrangiger Bereich III) und die Festlegung der erforderlichen Maßnahmen zur Integration verschiedener ITS-Anwendungen auf einer offenen fahrzeuginternen Plattform (vorrangiger Bereich IV).

2.4.

Damit die Kommission mittels delegierter Rechtsakte weitere Spezifikationen erlassen kann, hält sie es für zwingend notwendig, die Befugnisübertragung zu verlängern. Zudem müssen bereits erlassene Spezifikationen möglicherweise aktualisiert werden, um dem technologischen Fortschritt oder den aus ihrer Umsetzung in den Mitgliedstaaten gezogenen Lehren Rechnung zu tragen.

2.5.

Die Kommission schlägt daher vor, dass die Befugnisübertragung ab dem 27. August 2017 um fünf Jahre verlängert wird und sich danach stillschweigend um weitere Zeiträume von fünf Jahren verlängert, es sei denn, das Europäische Parlament oder der Rat widersprechen einer solchen Verlängerung. Das einzige Ziel des vorliegenden Vorschlags ist es somit, die Dauer der auf die Kommission übertragenen Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte um weitere fünf Jahre zu verlängern, mit der Möglichkeit weiterer stillschweigender Verlängerungen um jeweils fünf Jahre, ohne die in den Geltungsbereich der ITS-Richtlinie fallenden strategischen Zielsetzungen oder deren Anwendungsbereich zu ändern, es sei denn, das Europäische Parlament oder der Rat widersprechen einer derartigen Verlängerung.

3.   Hintergrund

3.1.

Der Vorschlag der Kommission fügt sich in den allgemeineren Rahmen ihres Vorschlags für eine Verordnung zur Anpassung von Rechtsakten ein, in denen auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle Bezug genommen wird, an Artikel 290 und 291 AEUV (COM(2016) 799 final), zu dem der EWSA bereits eine Stellungnahme (5) abgegeben hat. Denn je näher das Ende der vorgesehenen Fristen für den Erlass delegierter Rechtsakte in den unterschiedlichen geltenden Rechtsvorschriften rückt, desto dringender muss überprüft werden, inwieweit die ursprünglichen Fristen verlängert werden sollten.

3.2.

Die Kommission verweist auf die von ihr durchgeführten Untersuchungen zur Notwendigkeit einer Verlängerung der Befugnisübertragung zum Erlass delegierter Rechtsakte für IST-Spezifikationen (über August 2017 hinaus), insbesondere auf:

a)

den Bericht von Oktober 2014 über die Umsetzung der ITS-Richtlinie (6);

b)

aktuellere gezielte Konsultationen der Interessengruppen, insbesondere des Europäischen ITS-Ausschusses und der Mitglieder der Europäischen ITS-Beratergruppe.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der Ausschuss verweist auf seine Informationsberichte und Stellungnahmen zu den delegierten Rechtsakten (7), die in seiner jüngsten Stellungnahme zum Regelungsverfahren mit Kontrolle (8) zusammengefasst werden, und ruft die wesentlichen Aspekte seines Standpunkts in Erinnerung.

4.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Befugnisübertragungen in sämtlichen Einzelfragen genau festgelegt werden müssen, d. h. im Hinblick auf:

a)

konkrete Ziele;

b)

genau festgelegte Inhalte;

c)

einen klar umrissenen Geltungsbereich;

d)

verbindliche, genau bestimmte Dauer.

4.3.

Gerade hinsichtlich der Dauer hat sich der EWSA schon immer für den Grundsatz einer klaren Frist ausgesprochen, die gegebenenfalls — außer in begründeten Ausnahmefällen — um Zeiträume gleicher Länge verlängert werden kann.

4.4.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission in dem vorliegenden Vorschlag gerade einen zusätzlichen Zeitraum von fünf Jahren ab dem 27. August 2017 festgelegt hat, der anschließend stillschweigend um Zeiträume gleicher Länge verlängert werden kann, es sei denn, das Europäische Parlament oder der Rat widersprechen einer solchen Verlängerung.

4.5.

Dieser Vorschlag vereint in den Augen des EWSA Rechtssicherheit mit einer Flexibilität, die es gestattet, die technischen Entwicklungen zu berücksichtigen sowie zu gegebener Zeit die für den ordnungsgemäßen Betrieb von ITS im Straßenverkehr notwendigen technischen, funktionalen und organisatorischen Spezifikationen zu erlassen. Daher stimmt der EWSA dem Vorschlag zu.

4.6.

Der EWSA ist des Weiteren der Auffassung, dass eine Verlängerung der Befugnisübertragung auf die Kommission unbedingt notwendig ist, um die integrierte und koordinierte Einführung interoperabler ITS im Straßenverkehr und ihrer Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern in der Europäischen Union nicht zu gefährden, vor allem mit Blick auf die Mitteilung COM(2016) 766 final (9).

4.7.

Dennoch muss die Kommission im Zuge ihrer Vorbereitungsarbeit angemessene Konsultationen durchführen — auch auf Sachverständigenebene — und diese Konsultationen müssen den Grundsätzen der interinstitutionellen Vereinbarung über bessere Rechtsetzung vom 13. April 2016 entsprechen. Insbesondere müssen das Europäische Parlament und der Rat zur Gewährleistung ihrer gleichberechtigten Beteiligung an der Ausarbeitung delegierter Rechtsakte sämtliche Dokumente zur selben Zeit wie die Experten der Mitgliedstaaten erhalten, und ihre Sachverständigen müssen systematisch Zugang zu den Sitzungen der Expertengruppen der Kommission haben, die mit der Ausarbeitung der delegierten Rechtsakte befasst sind.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 207 vom 6.8.2010, S. 1; ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 85.

(2)  ABl. L 207 vom 6.8.2010, S. 1.

(3)  Eine europäische Strategie für Kooperative Intelligente Verkehrssysteme — ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kooperativen, vernetzten und automatisierten Mobilität (COM(2016) 766 final).

(4)  Siehe Anhang I der Richtlinie.

(5)  INT/813 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(6)  http://ec.europa.eu/transport/themes/its/road/action_plan/its_reports_en.htm.

(7)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 145; ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 104; INT/656 (Informationsbericht).

(8)  INT/813 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(9)  Eine europäische Strategie für Kooperative Intelligente Verkehrssysteme — ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kooperativen, vernetzten und automatisierten Mobilität, 30.11.2016. EWSA-Stellungnahme TEN/621, (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts“

(COM(2017) 142 final — 2017/0063 (COD))

(2017/C 345/11)

Berichterstatter:

Juan MENDOZA CASTRO

Befassung

Europäisches Parlament, 26.4.2017

Rat, 27.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

130/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der seiner Auffassung nach für die wirksame Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unverzichtbar ist.

1.2.

Obwohl Unterschiede bestehen bleiben, hat sich durch eine freiwillige Harmonisierung eine deutliche Konvergenz zwischen den Systemen in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, wobei die EU-Normen als Bezugspunkt dienten.

1.3.

Mit dem System zur Einleitung von Verfahren (case allocation) im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes muss eine eventuelle Doppelung von Maßnahmen verschiedener Mitgliedstaaten vermieden werden.

1.4.

Der EWSA schlägt vor, die Regelung der zivil- und verwaltungsrechtlichen Inhalte künftig im Wege einer Verordnung zu erwägen.

1.5.

Die Wettbewerbspolitik muss Chancengleichheit gewährleisten. Der EWSA unterstreicht, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden („NWB“) mit den notwendigen Mitteln und Rechtsinstrumenten für die Bekämpfung geheimer Kartelle ausgestattet sein müssen, und verweist auf die schweren Schäden, die durch die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung entstehen.

1.6.

Die vollständige Umsetzung von Art. 101 und 102 AEUV muss mit der Wahrung der Grundrechte derjenigen, die Gegenstand einer Untersuchung sind, vereinbar sein.

1.7.

Der EWSA zeigt sich besorgt angesichts des gravierenden Mangels an Unabhängigkeit und Ressourcen der NWB, der derzeit in vielen Mitgliedstaaten festzustellen ist. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die NWB von den Behörden tatsächlich unabhängig sind, weshalb die leitenden Verantwortlichen unabhängige Experten mit nachweislicher Erfahrung sein müssen. Ferner bedarf es eines festen Personalstamms mit angemessener beruflicher Bildung.

1.8.

Es ist in vielen Fällen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Schäden zu beheben, die aufgrund wettbewerbswidriger Verhaltensweisen entstehen, weshalb der EWSA empfiehlt, dass die Befugnisse, die den nationalen Wettbewerbsbehörden zugewiesen werden, auch für präventive Maßnahmen eingesetzt werden.

1.9.

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die Geldbußen„in abschreckender Höhe festgesetzt und im Wiederholungsfall verschärft werden müssen“; er stimmt der Ansicht zu, dass die Befugnis der Durchsetzungsbehörden zur Verhängung von Sanktionen ein wesentliches Element der Wettbewerbspolitik ist.

1.10.

Die Erfahrung der Kommission, die regelmäßig Kronzeugenregelungen anwendet, kann als positiv betrachtet werden; deren einheitliche Anwendung durch die NWB ist für die Existenz eines echten europäischen Wettbewerbsrechts von großer Bedeutung. Allerdings sollte die Kronzeugenregelung die Geschädigten (einschließlich die Verbraucher) nicht daran hindern, durch Sammelklagen eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erwirken.

1.11.

Aufgrund des länderübergreifenden Charakters der Maßnahmen der NWB ist die gegenseitige Amtshilfe zwischen ihnen unverzichtbar.

1.12.

Bei der Umsetzung der Richtlinie muss die Hemmung der Verjährungsfristen im Einklang mit den allgemeinen Verjährungsvorschriften der Mitgliedstaaten stehen.

1.13.

Es ist angezeigt, den NWB die uneingeschränkte Prozessfähigkeit zuzugestehen, da andernfalls ihre Wirksamkeit in einigen Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird.

1.14.

Der EWSA betont, dass es den NWB gestattet sein muss, alle Arten von Beweismitteln zu verwenden, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind.

1.15.

Angesichts weit verbreiteter Unkenntnis der Wettbewerbsregeln besteht ein Bedarf an Informationskampagnen.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1.

Die EU-Mitgliedstaaten sind wichtige Partner der Europäischen Kommission bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union. Seit 2004 sind die nationalen Wettbewerbsbehörden der EU-Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates befugt, gemeinsam mit der Kommission die Wettbewerbsvorschriften der EU anzuwenden. Seit mehr als einem Jahrzehnt setzen die Kommission und die NWB das Wettbewerbsrecht der Union in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN) durch. Das Europäische Wettbewerbsnetz wurde im Jahr 2004 zu eben diesem Zweck eingerichtet.

2.2.

Die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union durch die Kommission und die NWB ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines offenen, wettbewerbsbasierten und innovativen Binnenmarkts, und sie ist von großer Bedeutung für die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum in wichtigen Wirtschaftszweigen, insbesondere im Energiesektor, in der Telekommunikations- und der Digitalbranche sowie im Verkehrssektor.

2.3.

Das Wettbewerbsrecht der Union bildet eine der wesentlichen Säulen des Binnenmarkts, denn wenn der Wettbewerb verfälscht wird, kann der Binnenmarkt weder sein Potenzial voll entfalten noch die notwendigen Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen. Wenn eine Vertiefung und fairere Gestaltung des Binnenmarkts erreicht werden soll, muss gewährleistet werden, dass die Binnenmarktvorschriften zum Wohle der Verbraucher wirksam durchgesetzt werden.

2.4.

Auf sich allein gestellt hätte die Kommission eine so umfassende Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union nie erreichen können. Während die Kommission vor allem wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen oder Vereinbarungen nachgeht, die Auswirkungen auf den Wettbewerb in drei oder mehr Mitgliedstaaten haben, oder aber eingreift, wenn die Schaffung eines europaweit geltenden Präzedenzfalls zweckmäßig ist, werden die NWB insbesondere dann tätig, wenn der Wettbewerb in ihrem eigenen Hoheitsgebiet spürbar beeinträchtigt wird. Die NWB verfügen über die erforderlichen Kenntnisse über die Funktionsweise der Märkte in ihrem eigenen Mitgliedstaat, was für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts von großem Wert ist.

2.5.

Die Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch die NWB kann weiter verbessert werden. In der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 wird nicht auf die Mittel und Instrumente eingegangen, mit deren Hilfe die NWB das EU-Wettbewerbsrecht in den Mitgliedstaaten anwenden, und viele NWB haben nicht alle Mittel und Instrumente zur Verfügung, die für eine wirksame Durchsetzung der Artikel 101 und 102 AEUV erforderlich sind.

2.6.

Die Lücken und Beschränkungen bei den Instrumenten und Garantien, mit denen die NWB ausgestattet sind, führen dazu, dass wettbewerbswidrig handelnde Unternehmen abhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie tätig sind, unter Umständen ganz unterschiedlich behandelt werden: In einigen Mitgliedstaaten müssen sie möglicherweise keinerlei Durchsetzungsmaßnahmen auf der Grundlage der Artikel 101 oder 102 AEUV befürchten und in anderen können sie von einer nur begrenzt wirksamen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts profitieren, weil es dort beispielsweise nicht möglich ist, entsprechende Beweismittel zu erheben, oder weil Unternehmen sich der Verpflichtung zur Zahlung der Geldbußen entziehen können. Eine unterschiedlich strenge Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union führt zu einer Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt und untergräbt das System der dezentralen Durchsetzung, das durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 eingeführt wurde.

2.7.

Die Kommission vertritt daher die Auffassung, dass es eines Legislativvorschlags bedarf, mit dem zwei strategische Ziele verfolgt werden:

mit der Rechtsgrundlage des Artikels 103 AEUV sollen die NWB in die Lage versetzt werden, die Wettbewerbsprinzipien der EU wirksamer umzusetzen, indem ihnen die erforderlichen Garantien im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit, Ressourcen und Befugnisse gegeben werden;

mit der Rechtsgrundlage des Artikel 114 AEUV wird darauf abgezielt, den Binnenmarkt weiter zu stärken, indem die nationalen Hemmnisse beseitigt werden, die die NWB daran hindern, die Vorschriften wirksam anzuwenden, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und eine einheitlichere Anwendung der Vorschriften zu bewirken, was für Verbraucher und Unternehmen von Vorteil ist.

2.8.

Wenn die NWB im Übrigen in die Lage versetzt werden, einander wirksam Amtshilfe zu leisten, sorgt dies für einheitlichere Wettbewerbsbedingungen und stärkt die enge Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der seiner Auffassung nach für die wirksame Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unverzichtbar ist. Die Einrichtung eines europäischen Wettbewerbssystems erfordert die Beseitigung der Defizite und Hindernisse für die vollständige Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV, die es derzeit in einigen Mitgliedstaaten gibt.

3.2.

Die Dezentralisierung der Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 hat entgegen entsprechender Befürchtungen nicht zu einer Fragmentierung der Durchsetzungsbefugnisse für die Wettbewerbspolitik geführt. Obwohl Unterschiede bestehen bleiben, hat sich durch eine freiwillige Harmonisierung eine deutliche Konvergenz zwischen den Systemen in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, wobei die EU-Normen als Bezugspunkt dienten (1).

3.3.

Der EWSA betont, dass das Bestehen paralleler Zuständigkeiten auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen Anstrengungen zur Anpassung der Gesetze und Institutionen auf nationaler Ebene erfordert. Mit dem System zur Einleitung von Verfahren (case allocation) im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes muss auf jeden Fall eine eventuelle Doppelung von Maßnahmen verschiedener Mitgliedstaaten vermieden werden.

3.4.

Nach Auffassung der Kommission ist eine Richtlinie das geeignete Rechtsinstrument, weil durch sie „die Rechtstraditionen und die institutionellen Besonderheiten der Mitgliedstaaten“ hinreichend berücksichtigt werden können. Damit die Vorschriften durch die NWB insbesondere in Bezug auf den Katalog von Sanktionen (Kapitel V) und den Erlass bzw. die Ermäßigung von Geldbußen (Kapitel VI) einheitlich und kohärent angewendet werden können, muss die derzeitige große Vielfalt überwunden werden. Der EWSA schlägt deshalb vor, künftig die Regulierung der zivil- und verwaltungsrechtlichen Inhalte durch eine Verordnung zu erwägen, wobei die Mitgliedstaaten volle Autonomie bezüglich des Strafrechts behielten.

3.5.

Die Wettbewerbspolitik muss Chancengleichheit gewährleisten. Der EWSA betont die Bedeutung der angemessenen Ausstattung der NWB mit den notwendigen Mitteln und Rechtsinstrumenten zur Bekämpfung geheimer Kartelle (gemäß der Definition in Artikel 2 Absatz 9 des Vorschlags) und unterstreicht des Weiteren die großen Schäden, die die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung — in der Regel durch große Unternehmen oder Konzerne — anderen Unternehmen (insbesondere KMU), den Verbrauchern und den Nutzern verursachen kann.

3.6.

Angesichts des unzureichenden Bekanntheitsgrads der Wettbewerbsregeln in der Öffentlichkeit sollten die Mitgliedstaaten die Durchführung von Informationskampagnen in Erwägung ziehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Grundrechte

4.1.1.

Im Vorschlag der Kommission wird auf die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2) Bezug genommen, wodurch u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte der Unternehmen, die unternehmerische Freiheit, das Eigentumsrecht, das Recht auf gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 16, 17, 41 und 47 der Charta) garantiert wird.

4.1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Anerkennung der weitreichenden Befugnisse, über die die NWB zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügen müssen, die Einführung von Schutzmechanismen und Garantien für die Rechte der von der Untersuchung betroffenen Parteien erfordert und dass dies mit der vollständigen Umsetzung von Art. 101 und 102 AEUV vereinbar sein muss. Die NWB und ggf. die Gerichte müssen die tatsächliche Anwendung dieser Garantien gewährleisten. Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU (EuGH) ist die Unschuldsvermutung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (Art. 48 Abs. 1 der Charta), den die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts beachten müssen (3). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zudem die Anwendung von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Verfahren) (4) bestätigt und sich zur demokratischen Legitimität der Kommission (5) und dem Grundsatz „ne bis in idem“ (6) im Bereich der wettbewerbsrechtlichen Verfahren geäußert.

4.2.    Unabhängigkeit und Ressourcen

4.2.1.

Die Gewährleistung der Unabhängigkeit bedeutet, dass die Behörden ihre Befugnisse „unparteiisch und im Interesse der wirksamen und einheitlichen Durchsetzung“ der Vorschriften ausüben (Art. 4 Abs. 1).

4.2.2.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Mitarbeiter und Mitglieder der Entscheidungsgremien der NWB ihre Aufgaben (Art. 4 Abs. 2)

unabhängig von politischer und anderer äußerer Einflussnahme erfüllen;

weder um Weisungen von einer Regierung oder einer anderen öffentlichen oder privaten Stelle ersuchen noch solche Weisungen annehmen;

jede Handlung unterlassen, die mit der Erfüllung ihrer Aufgaben unvereinbar ist;

außerdem gilt:

sie dürfen nur entlassen werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben nicht mehr erfüllen oder wenn sie sich eines schweren Fehlverhaltens nach nationalem Recht schuldig gemacht haben;

die Gründe für eine Entlassung sollten im Voraus im nationalen Recht festgelegt werden;

sie dürfen nicht aus Gründen entlassen werden, die mit der ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Aufgaben und Ausübung ihrer Befugnisse zusammenhängen.

4.2.3.

Der EWSA zeigt sich besorgt angesichts der diesbezüglichen gravierenden Mängel, die laut Kommission derzeit in vielen Mitgliedstaaten festzustellen sind. Ausreichende personelle, finanzielle und technische Ressourcen (Artikel 5) sind von grundlegender Bedeutung, damit die NWB ihre Aufgaben wahrnehmen können. Die Unabhängigkeit beinhaltet eine weitreichende Selbstbestimmung in der staatlichen Struktur (7), die folgende Aspekte nicht ausschließt:

die richterliche Aufsicht;

die Unterrichtung des Parlaments;

regelmäßige Tätigkeitsberichte;

die Überwachung ihrer Mittelzuweisungen.

4.2.4.

Für den EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die NWB von den Behörden tatsächlich unabhängig sind. In diesem Sinne müssen die leitenden Verantwortlichen unabhängige Experten mit nachweislicher Erfahrung sein. Ferner bedarf es eines festen Personalstamms mit angemessener beruflicher Bildung.

4.3.    Befugnisse

4.3.1.

Zu den Befugnissen, über die die NWB verfügen müssen (Artikel 6 bis 11), zählen:

Durchführung von Nachprüfungen in betrieblichen Räumlichkeiten ohne Vorwarnung und — je nach dem, was die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorsehen — mit oder ohne richterlichen Beschluss: dies beinhaltet mindestens das Recht, die „Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der betroffenen Unternehmen […] zu betreten“, die Bücher und sonstigen geschäftlichen Aufzeichnungen zu prüfen, Kopien „gleich welcher Art“ anzufertigen oder zu erlangen, die „Räumlichkeiten und Bücher oder Aufzeichnungen […] zu versiegeln“ und Erläuterungen zu verlangen. Widersetzt sich ein Unternehmen einer administrativen oder richterlichen Nachprüfung, „so haben die nationalen Wettbewerbsbehörden Anspruch auf die für die Durchführung der Nachprüfung erforderliche Unterstützung durch die Polizei oder eine entsprechende gesetzlich ermächtigte Behörde“, die „auch vorsorglich […] gewährt werden“ kann;

Durchführung von Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten ohne Vorwarnung und ohne richterlichen Beschluss: diese kann erfolgen, wenn ein „begründeter Verdacht“ besteht, dass es Elemente gibt, die zum Nachweis einer schweren Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV von Bedeutung sein könnten;

Auskunftsverlangen;

Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen;

Einstweilige Maßnahmen: anwendbar „in dringenden Fällen, in denen die Gefahr eines ernsten, nicht wieder gutzumachenden Schadens für den Wettbewerb besteht, auf der Grundlage einer prima facie festgestellten Zuwiderhandlung“. Die Maßnahme muss eine befristete Geltungsdauer haben und ist verlängerbar;

Die Verpflichtungszusagen, die Unternehmen unterbreitet haben, können für bindend erklärt werden.

4.3.2.

Es ist in vielen Fällen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Schäden zu beheben, die aufgrund wettbewerbswidriger Verhaltensweisen entstehen, weshalb der EWSA empfiehlt, dass die Befugnisse, die den nationalen Wettbewerbsbehörden zugewiesen werden, auch für präventive Maßnahmen eingesetzt werden.

4.4.    Geldbußen und Zwangsgelder

4.4.1.

„Wirksame, angemessene und abschreckende“Geldbußen können verhängt werden, wenn die Unternehmen „vorsätzlich oder fahrlässig“ eine Nachprüfung nicht dulden, Siegel gebrochen haben, unrichtige oder irreführende Antworten erteilen, unrichtige Angaben machen oder einstweiligen Maßnahmen zuwiderhandeln. Zwangsgelder werden im Unterlassungsfall verhängt, z. B. wenn eine Nachprüfung nicht geduldet wird (Art. 12 und 15).

4.4.2.

Entsprechend dem üblichen sanktionsrechtlichen Kriterium muss im Rahmen der von den Mitgliedstaaten zu verhängenden Geldbußen „sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer“ berücksichtigt werden; der Höchstbetrag wird „auf mindestens 10 %“ des „weltweiten Gesamtumsatzes in dem der Entscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr festgesetzt“ (Art. 13 Abs. 1 und Art. 14). Im Falle von Unternehmensvereinigungen sind unterschiedliche Szenarien bezüglich der Zahlung der Geldbußen vorgesehen (Art. 13 Abs. 2).

4.4.3.

Es sei darauf hingewiesen, dass durch die Ausweitung der Haftung für die Zahlung der Geldbußen auf alle Mitglieder von Unternehmensvereinigungen (Artikel 13.2) ein Schlupfloch in den geltenden Rechtsvorschriften geschlossen wird (8).

4.4.4.

Der Anwendungsbereich des Vorschlags erstreckt sich nur auf Unternehmen, gegen die verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden können. Verhaltensweisen, die eine Straftat darstellen könnten, fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bereits zur Frage der Kompatibilität verwaltungs- und strafrechtlicher Sanktionen geäußert (9).

4.4.5.

Der EWSA, der bereits darauf hingewiesen hat, dass die Höhe der Sanktionen abschreckend wirken und im Wiederholungsfalle höher ausfallen muss (10), stimmt der Ansicht zu, dass die Befugnis der durchführenden Behörde zur Verhängung von Sanktionen ein wesentliches Element der Wettbewerbspolitik ist. Er äußert zudem Bedenken, dass das Wettbewerbsrecht aufgrund der großen Vielfalt an Vorschriften und Strukturen der NWB derzeit nicht ausreichend durchgesetzt wird.

4.5.    Erlass bzw. Ermäßigung von Geldbußen (Kronzeugenregelung)

4.5.1.

Den Mitgliedstaaten wird die Zuständigkeit für die Festlegung der Gründe und Verfahren für den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen zugewiesen, dies jedoch innerhalb eines detailliert festgelegten Rahmens, der folgende Aspekte umfasst:

Voraussetzungen für den Erlass (Art. 16) und die Ermäßigung (Art. 17);

Bedingungen für die Anwendung solcher Maßnahmen (Art. 18);

Form der Anträge (Art. 19);

Marker für einen förmlichen Antrag auf Geldbußenerlass (Art. 20);

Kurzanträge, wenn sich ein Unternehmen gleichzeitig an die Kommission und an eine NWB wendet (Art. 21);

Garantien für Personen, die einen Antrag auf Geldbußenerlass gestellt haben (Art. 22).

4.5.2.

Dieser Vorschlag wird damit begründet, dass die deutlichen Unterschiede zwischen den (die für die Aufdeckung geheimer Kartelle unerlässlichen) nationalen Rechtsvorschriften und ihrer wirksamen Umsetzung zu Rechtsunsicherheit führen, die Anreize für regelkonformes Verhalten schwächen und in der Ineffizienz der Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union resultieren. Außerdem wird angeführt, dass die Mitgliedstaaten das Muster-Kronzeugenprogramms des Europäischen Wettbewerbsnetzes (11) nicht umsetzen, dessen grundlegende Aspekte daher in die neue Verordnung aufgenommen werden.

4.5.3.

Für den EWSA ist die einheitliche Anwendung der Kronzeugenregelung durch die NWB von großer Bedeutung, damit es ein echtes europäisches Wettbewerbsrecht gibt; die Erfahrung der Kommission, die solche Maßnahmen regelmäßig anwendet (12), ist als positiv zu betrachten. Allerdings sollte die Kronzeugenregelung die Geschädigten (einschließlich die Verbraucher) nicht daran hindern, durch Sammelklagen eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erwirken.

4.6.    Gegenseitige Amtshilfe

4.6.1.

Die Zusammenarbeit zwischen den NWB erfordert angesichts der neuen Befugnisse, die ihnen mit diesem Vorschlag zugewiesen werden, Unterstützung und Hilfestellung bei Nachprüfungen (Artikel 23), weshalb die Mitgliedstaaten die Zustellung vorläufiger Beschwerdepunkte (Artikel 24) und die Vollstreckung von Entscheidungen (Artikel 25) gewährleisten müssen. Die Zuständigkeiten für die Streitigkeiten werden festgelegt (Artikel 26).

4.6.2.

Der EWSA hält es für erforderlich, diese Verpflichtungen angesichts des grenzüberschreitenden Charakters der Wettbewerbspolitik verbindlich vorzuschreiben.

4.7.    Hemmung der Verjährungsfristen für die Verhängung von Sanktionen

4.7.1.

Im Vorschlag der Kommission sind zwei besondere Fälle der Hemmung solcher Fristen vorgesehen: „für die Dauer von Verfahren vor nationalen Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten oder vor der Kommission, die sich auf eine Zuwiderhandlung betreffend dieselbe Vereinbarung, Entscheidung einer Unternehmensvereinigung oder abgestimmte Verhaltensweise beziehen“ (Art. 27 Abs. 1) und solange ein Verfahren anhängig ist (Art. 27 Abs. 2).

4.7.2.

Der EWSA verweist darauf, dass bei der Umsetzung der Richtlinie mögliche Konflikte mit einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, die ebenfalls Unterbrechungen der Fristen im Fall von Rechtsstreitigkeiten vorsehen, gelöst werden müssen.

4.8.    Uneingeschränkte Prozessfähigkeit der NWB

4.8.1.

Im Vorschlag ist vorgesehen, dass die NWB über die Prozessfähigkeit verfügen sollte, um direkt Klage bei der Justizbehörde erheben zu können; außerdem muss sie sich eigenständig als Klägerin, Beklagte oder Antragsgegnerin an diesen Verfahren beteiligen können, wobei ihr dieselben Rechte eingeräumt werden wie den anderen Parteien des Verfahrens (Artikel 28).

4.8.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Fehlen einer solchen Befugnis das Handeln der NWB in einigen Mitgliedstaaten derzeit erschwert (13), weshalb die Zuerkennung dieser Befugnis unerlässlich ist, damit die NWB den Anforderungen gerecht werden können, die im Rahmen der Wettbewerbspolitik der EU an sie gestellt werden.

4.9.    Zulässigkeit von Beweismitteln vor den NWB  (14)

4.9.1.

Der EWSA hebt hervor, dass die NWB die Möglichkeit haben müssen, „mündliche Erklärungen, Aufzeichnungen und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind“ (Art. 30), als Beweismittel zu verwenden.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „An academic View on the Role and Powers of National Competition Authorities“, Europäisches Parlament, 2016.

(2)  Urteil in der Rechtssache Karlsson u. a. (C-292/97, Rn. 37).

(3)  Urteile in den Rechtssachen Eturas u. a. (C-74/14, Rn. 38), E.ON Energie/Kommission (C-89/11 P, Rn. 72) und VEBIC (C 439/08, Rn. 63).

(4)  Rechtssache Menarini Diagnostics S.R.L./Italien.

(5)  C-12/03P, Kommission/Tetra Laval (2005).

(6)  Rechtssache Menarini Diagnostics S.R.L./Italien.

(7)  „Independence and accountability of competition authorities“, Unctad 2008.

(8)  Urteil in der Rechtssache Akzo Nobel NV/Kommission, C-97/08 P, Rn. 45 und 77.

(9)  Urteil vom 26.2.2013 — Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson.

(10)  Stellungnahme zum „Bericht über die Wettbewerbspolitik 2014“ (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 33).

(11)  Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. C 298 vom 8.12.2006, S. 17).

(12)  Siehe „Cartel leniency in EU: overview“, Thompson Reuters. Beispiele für die Ermäßigung bzw. den Erlass von Geldbußen durch die Kommission: Riberebro 50 % (ABl. C 298 vom 8.12.2006, S. 17); Hitachi 30 %, u. a.; Philipps, Erlass; Hitachi 50 %; Schenker u. a. 55 %-40 %; DHL, Straffreiheit (C-428/14, DHL/AGCM); Eberspächer 45 % und Webasto, Straffreiheit.

(13)  In ihrer Antwort auf den Fragebogen der Kommission gab die deutsche Wettbewerbsbehörde, das Bundeskartellamt, diesen Mangel als eine der Ursachen für erhebliche Fehlfunktionen des Systems an.

(14)  Beschränkungen bei der Informationsverwendung (Art. 29). Die Kommission hat mitgeteilt, dass der Wortlaut dieses Artikels möglicherweise geändert wird.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den grenzüberschreitenden Austausch von Kopien bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände in einem zugänglichen Format zwischen der Union und Drittländern zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen“

(COM(2016) 595 final — 2016/0279 (COD))

(2017/C 345/12)

Berichterstatter:TBL

Pedro ALMEIDA FREIRE

Befassung

Rat: 5.4.2017

Europäisches Parlament: 28.6.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

 

 

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

215/3/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stimmt dem Kompromissvorschlag des Vorsitzes zu, der eine rasche Ratifizierung des Vertrags von Marrakesch (1) ermöglicht.

1.2.

Nach Ansicht des Ausschusses ist eine rasche Umsetzung des Vertrags von Marrakesch durch die EU wichtig und erforderlich, da dadurch viele EU-Bürger, die blind, sehbehindert oder sonst lesebehindert sind, Zugang zu einer größeren Zahl von Werken und damit zu Kultur, Bildung und Beschäftigung erhalten, was ihre Integration in die Gesellschaft erleichtert.

1.3.

Der Ausschuss befürwortet die vorgeschlagene Verordnung (2) und die vorgeschlagene Richtlinie (3) zur Umsetzung des Vertrags von Marrakesch, da damit eine verbindliche Ausnahme eingeführt und die Herstellung und der Austausch von Kopien in einem zugänglichen Format innerhalb des Binnenmarkts und auch außerhalb der EU ermöglicht wird.

1.4.

Der Ausschuss begrüßt das Ziel, einen grenzüberschreitenden Austausch solcher Vervielfältigungsstücke zwischen der EU und Drittländern, die Parteien des Vertrags von Marrakesch sind, zu ermöglichen.

1.5.

Innerhalb eines angemessenen Zeitraums sollte eine Bewertung der Umsetzung des Vertrags von Marrakesch in der EU durchgeführt werden.

2.   Vorschläge der Kommission und des Vorsitzes

2.1.

Die vorgeschlagene Verordnung wurde von der Kommission am 14. September 2016 als Teil des Pakets zum Urheberrecht (4) angenommen, das eine Reihe legislativer Maßnahmen mit vier Zielen enthält:

Gewährleistung eines umfassenderen Online-Zugangs zu Inhalten in der EU und Erschließung neuer Publikumsschichten;

Anpassung bestimmter Ausnahmeregelungen an das digitale und grenzüberschreitende Umfeld;

Förderung eines gut funktionierenden und fairen Marktes für das Urheberrecht;

ein besserer Zugang blinder, sehbehinderter oder sonst lesebehinderter Menschen zu geschützten Werken und sonstigen Schutzgegenständen.

2.2.

Mit dieser Verordnung schlägt die Kommission eine Rechtsvorschrift zur Umsetzung des Vertrags von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Menschen zu veröffentlichten Werken vor.

2.3.

Der Vertrag von Marrakesch wurde im Jahr 2013 im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) mit dem Ziel angenommen, die Bereitstellung und den grenzüberschreitenden Austausch von Büchern und anderem gedruckten Material in barrierefrei zugänglichen Formaten weltweit zu erleichtern. Er wurde von der Europäischen Union im April 2014 unterzeichnet (5).

2.4.

Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen soll im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) (6) sichergestellt werden, dass das Urheberrecht keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für die uneingeschränkte Teilhabe aller Bürger an der Gesellschaft bildet. Zudem soll der Austausch von Kopien in einem zugänglichen Format innerhalb der Union und mit Drittländern, die Vertragsparteien des Vertrags von Marrakesch sind, ermöglicht werden, um so Doppelarbeit und Ressourcenverschwendung zu vermeiden.

2.5.

Im Zuge des Ratifizierungsprozesses kam jedoch die rechtliche Frage auf, ob die Union die ausschließliche Zuständigkeit für die Ratifizierung des Vertrags hat.

2.6.

Daher beschloss die Kommission im Juli 2015, ein Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union dazu einzuholen.

2.7.

In der Zwischenzeit nahm die Kommission ihren Vorschlag COM(2016) 595 final an und stützte sich dabei auf Artikel 207 AEUV als Rechtsgrundlage. Die Konsultation des EWSA war daher nicht zwingend erforderlich.

2.8.

Am 14. Februar 2017 hat der Gerichtshof nun die ausschließliche Zuständigkeit der EU bestätigt (7) und außerdem darauf hingewiesen, dass der Vertrag von Marrakesch nicht unter die gemeinsame Handelspolitik fällt.

2.9.

In seiner Sitzung vom 22. März hat sich der Ausschuss der Ständigen Vertreter auf einen Kompromissvorschlag des Vorsitzes geeinigt, mit dem die Rechtsgrundlage von Artikel 207 AEUV (gemeinsame Handelspolitik) zu Artikel 114 AEUV geändert wurde, woraus sich die obligatorische Konsultation des EWSA durch den Rat ergibt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.    Zur Rechtsgrundlage

3.1.1.

Unter Berücksichtigung des Gutachtens des Gerichtshofs kann der EWSA dem vom Vorsitz vorgeschlagenen Kompromiss, der eine rasche Ratifizierung des Vertrags von Marrakesch ermöglicht, nur zustimmen.

3.1.2.

Die Änderung der Rechtsgrundlage bringt es mit sich, dass der EWSA konsultiert werden muss, was den Bemerkungen, die der Ausschuss in seiner jüngsten Stellungnahme zum Paket zum Urheberrecht (8) zu diesem Thema bereits vorgebracht hat, noch mehr Gewicht verleiht.

3.2.    Zum Inhalt

3.2.1.

In seiner Stellungnahme zum Urheberrechtspaket hat der EWSA bereits auf den hier behandelten Vorschlag Bezug genommen. Der Ausschuss bekräftigt, dass eine rasche Ratifizierung des Vertrags von Marrakesch durch die EU wichtig und notwendig ist. Dieser Vertrag dient der Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken und ist am 30. September 2016 in Kraft getreten. Durch den Vertrag werden viele EU-Bürger, die blind, sehbehindert oder sonst lesebehindert sind, Zugang zu einer größeren Zahl von Werken und damit zu Kultur, Bildung und Beschäftigung erhalten, was ihre Integration in die Gesellschaft erleichtert.

3.2.2.

Die im Urheberrechtspaket enthaltenen Vorschläge für eine Verordnung und eine Richtlinie versetzen die Union in die Lage, ihren internationalen Verpflichtungen gemäß dem Vertrag von Marrakesch nachzukommen. Sie stehen auch im Einklang mit den Verpflichtungen der Union aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

3.2.2.1.

Mit der vorgeschlagenen Richtlinie wird eine verpflichtende Ausnahme festgelegt und ihre Durchsetzung sichergestellt, damit die entsprechenden Vervielfältigungsstücke in zugänglichen Formaten auf dem Binnenmarkt hergestellt und gehandelt werden können.

3.2.2.2.

Diese Ausnahme gilt für die ausschließliche Nutzung durch begünstigte Personen gemäß der in Art. 2 Abs. 2 der vorgeschlagenen Verordnung enthaltenen Definition.

3.2.2.3.

Der Vorschlag für eine Verordnung soll den grenzüberschreitenden Austausch solcher Vervielfältigungsstücke zwischen der EU und Drittländern, die Parteien des Vertrags von Marrakesch sind, ermöglichen.

4.   Weitere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA stimmt der Auffassung zu, dass eine Verordnung das einzig geeignete Rechtsinstrument zur Beseitigung der bestehenden rechtlichen Unterschiede in den Mitgliedstaaten ist.

4.2.

Der Ausschuss betont, dass den Mitgliedstaaten, wie in der Richtlinie dargelegt, eine wichtige Rolle zukommt, wenn es darum geht, den begünstigten Personen die verfügbaren Werke im eigenen Land und auch in Drittstaaten, die Vertragsparteien des Vertrags von Marrakesch sind, zugänglich zu machen und dadurch deren Nutzung zu fördern.

4.3.

Der EWSA erklärt seine Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an dem Bewertungsprozess, der sowohl in der Verordnung als auch in der Richtlinie vorgesehen ist.

4.4.

Bei der Bewertung sollte insbesondere die in der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit berücksichtigt werden, dass die Mitgliedstaaten Ausgleichsregelungen für Rechteinhaber anwenden. Wie ebenfalls in der Richtlinie vorgesehen, sollte aufmerksam überwacht werden, dass sich solche Ausgleichsregelungen nicht negativ auf die Verfügbarkeit und Bereitstellung zugänglicher Werke für die begünstigten Personen auswirken.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für blinde, sehbehinderte oder sonst lesebehinderte Personen.

(2)  COM(2016) 595 final.

(3)  COM(2016) 596 final.

(4)  COM(2016) 593 final, COM(2016) 594 final, COM(2016) 596 final (ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 27).

(5)  ABl. L 115 vom 17.4.2014, S. 1.

(6)  UNCRPD.

(7)  ABl. C 112 vom 10.4.2017, S. 3, Gutachten 3/15 des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. Februar 2017.

(8)  ABI. C 125 vom 21.4.2017, S. 27.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer“

(COM(2016) 755 final — 2016/0371 (CNS)),

zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen“

(COM(2016) 757 final — 2016/0370 (CNS))

und zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in Bezug auf die MwSt.-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften“

(COM(2016) 758 final — 2016/0374 (CNS))

(2017/C 345/13)

Berichterstatter:

Amarjite SINGH

Befassung

Rat der Europäischen Union, 20.12.2016 und 21.12.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

5.5.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt das Modernisierungspaket für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr und unterstützt sowohl die Zielsetzungen als auch den Fokus auf die Bedürfnisse der KMU. Die vorgeschlagenen Vorschriften werden deutlich spürbare Auswirkungen auf Unternehmen haben, die Gegenstände und Dienstleistungen über das Internet anbieten. Die Vorteile für die Unternehmen ergeben sich nicht nur aus den gerechteren Regelungen und niedrigeren Befolgungskosten, sondern auch daraus, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen mit Nicht-EU-Unternehmen geschaffen werden. Auf lange Sicht werden die Vorschläge auch dazu beitragen, das EU-Mehrwertsteuersystem zukunftsfähig zu machen.

1.2.

Durch die Umsetzung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA) für die Mehrwertsteuer wurden die Befolgungskosten erheblich reduziert. Allerdings konnten nicht alle Unternehmensgrößen gleichermaßen hohe Einsparungen verzeichnen. Insbesondere KMU hatten Schwierigkeiten bei der Einhaltung einiger Vorgaben der KEA und haben erhebliche Bedenken geäußert. Der EWSA begrüßt daher, dass die vorgeschlagenen Änderungen bezüglich der KEA diesen Bedenken Rechnung tragen.

1.3.

Da sich die KEA für die Mehrwertsteuer bisher sehr positiv auf die Reduzierung von Befolgungskosten für Unternehmen im grenzübergreifenden Handel ausgewirkt hat, ist nur folgerichtig, dass sie auch auf andere als die derzeit inbegriffenen Dienstleistungen sowie den Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen innerhalb der EU erweitert wird. Abgesehen von der möglichen Reduzierung der Befolgungskosten schafft dies auch gleiche Wettbewerbsbedingungen im elektronischen Geschäftsverkehr, was sich insbesondere auf KMU positiv auswirken könnte. Mit der Erweiterung der KEA auf Gegenstände werden die Voraussetzungen für die mögliche Aufhebung der Regelung für die Mehrwertsteuerbefreiung für geringfügige Lieferungen (Low Value Consignment Relief — LVCR) geschaffen, eine Regelung, die Wettbewerbsverzerrungen zur Folge hatte, sodass Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU gegenüber den in der EU ansässigen einen Wettbewerbsvorteil haben. Daher begrüßt der EWSA die vorgeschlagene Erweiterung der KEA.

1.4.

Durch die Änderungen der Vorschriften für MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen würde nicht länger zwischen Veröffentlichungen auf physischen und nicht-physischen Trägern unterschieden und so Neutralität auf diesem Markt sichergestellt werden. Der EWSA begrüßt zwar, dass diese Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden soll, aber ihm ist auch das entsprechende Risiko für die MwSt.-Bemessungsgrundlage bewusst. Der EWSA nimmt zudem zur Kenntnis, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen von der Europäischen Kommission als Auftakt zu einer umfassenden Reform der Struktur der MwSt.-Sätze in der EU angesehen werden. Er ist besorgt über die Auswirkungen, die eine solche Entharmonisierung auf den grenzübergreifenden Handel, insbesondere der KMU, haben würde.

2.   Hintergrund

2.1.

Als Teil des Modernisierungspakets für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen B2C-Handel (Business-to-Consumers) hat die Kommission praktische neue Maßnahmen vorgeschlagen. Mit diesen soll der grenzübergreifende elektronische Geschäftsverkehr bei der Einhaltung der Mehrwertsteuervorschriften unterstützt werden, indem die Mehrwertsteuerbarrieren für Online-Unternehmen, insbesondere Start-ups und KMU, beseitigt werden und die Mehrwertsteuerhinterziehung über das Internet, wie sie von Nicht-EU-Unternehmen praktiziert wird, bekämpft wird.

2.2.

Diese Maßnahmen umfassen insbesondere:

2.2.1.

Änderungen der derzeitigen KEA („kleine einzige Anlaufstelle“), die bestimmten Unternehmen die Möglichkeit bietet, ihre mehrwertsteuerlichen Pflichten im jeweiligen Mitgliedstaat über ein digitales Online-Portal zu erfüllen, das von der eigenen Steuerverwaltung und in ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt wird. Die Änderungen umfassen die Einführung eines Schwellenwerts für den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der EU und neue vereinfachte Compliance-Anforderungen;

2.2.2.

Erweiterung der derzeitigen KEA auf Dienstleistungen innerhalb der EU, abgesehen von denen, für die sie bereits gilt, und auf Fernverkäufe von Gegenständen sowohl innerhalb der EU als auch aus Drittländern;

2.2.3.

Abschaffung der für Fernverkäufe innerhalb der EU geltenden Schwellenwerte und der Mehrwertsteuerbefreiung bei der Einfuhr von Kleinsendungen aus Drittländern;

2.2.4.

Änderungen der geltenden Vorschriften, damit Mitgliedstaaten auf elektronische Veröffentlichungen, wie elektronische Bücher und Online-Zeitungen, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden können, wie dies bei gedruckten Medien bereits der Fall ist.

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

2.3.

Das KEA-System ist seit dem 1. Januar 2015 voll funktionsfähig und wurde mit dem Ziel eingerichtet, die Einhaltung der mehrwertsteuerlichen Pflichten für Unternehmen im grenzübergreifenden Geschäftsverkehr in der EU zu vereinfachen. Statt dass diese sich in jedem Mitgliedstaat, in dem sie ihre Gegenstände oder Dienstleistungen verkaufen, registrieren sowie Mehrwertsteuer anmelden und entrichten müssen, ermöglicht es die KEA den Unternehmen, die vierteljährlichen Mehrwertsteuererklärungen einfach online bei der entsprechenden nationalen Behörde einzureichen.

2.4.

Den Änderungsvorschlägen ging eine intensive Konsultation durch die Kommission von Februar bis September 2015 voraus. Im Mittelpunkt des Verfahrens, bestehend aus Evaluierung, Konsultation, Seminaren und Folgenabschätzungen, stand die Frage, wie sich die derzeitigen Regelungen der KEA für die Mehrwertsteuer auf KMU auswirken. Dabei kristallisierten sich spezifische Fragestellungen heraus, wie z. B.: die Notwendigkeit eines Schwellenwerts, die Anwendung der Herkunftslandvorschriften auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten wie Rechnungsstellung und Buchführung, sowie die Prüfungskoordinierung. Diese Hauptanliegen der KMU werden in den Änderungsvorschlägen berücksichtigt.

2.5.

Gemäß der vorgeschlagenen Regelung soll innerhalb der EU ein neuer grenzüberschreitender Mehrwertsteuer-Schwellenwert von 10 000 EUR eingeführt werden. Bei Online-Unternehmen, deren grenzüberschreitende Umsätze unterhalb des Schwellenwerts liegen, werden diese Verkäufe als Inlandsverkäufe betrachtet, sodass die Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung ihres Landes zu entrichten ist. Was die Einhaltung betrifft, wurde die verpflichtende Vorlage von zwei Beweismitteln für Anbieter elektronischer Dienstleistungen mit einem Umsatz von weniger als 100 000 EUR gelockert. Darüber hinaus sollen Online-Anbieter die Möglichkeit haben, diejenigen Vorschriften in Bereichen wie Rechnungsstellung und Führung von Aufzeichnungen anzuwenden, die in ihrem Land gelten, wodurch die Einhaltung der Mehrwertsteuervorschriften erleichtert wird. Außerdem sollen neue koordinierte Prüfungen eingeführt werden, damit diese Anbieter nicht auf separate Prüfungsanfragen einzelner Staaten eingehen müssen.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

2.6.

Derzeit gilt die KEA ausschließlich für Telekommunikations- und Rundfunkdienstleistungen sowie für elektronisch erbrachte Dienstleistungen. Gemäß den vorgeschlagenen Änderungen soll der Anwendungsbereich der KEA auch auf andere innerhalb der EU erbrachte Dienstleistungen sowie auf Fernverkäufe von Gegenständen, sowohl innerhalb der EU als auch aus Drittstaaten, erweitert werden. Nach der vorgeschlagenen Regelung würde diese Erweiterung stufenweise in Kraft treten, nachdem die Änderungen der bestehenden KEA-Regelung in Kraft getreten sind, was für den 1. Januar 2021 vorgesehen ist.

2.7.

Die vorgeschlagene Erweiterung der KEA auf die Einfuhr von über das Internet bestellten Gegenständen wird die Erhebung der Mehrwertsteuer deutlich vereinfachen. Daher ist die Kommission der Auffassung, dass durch diese Erweiterung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die Regelung für die Mehrwertsteuerbefreiung für geringfügige Lieferungen, auch bekannt als LVCR, abzuschaffen. Gemäß diesem Modell muss nämlich für die Einfuhr von Gegenständen von geringem Wert (also mit einem Gesamtwert von bis zu 22 EUR) keine Mehrwertsteuer entrichtet werden. Der Vorschlag sieht daher die Aufhebung dieser Ausnahmeregelung ab dem 1. Januar 2021 vor.

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

2.8.

Nach den geltenden Vorschriften haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Veröffentlichungen auf jedem physischen Träger mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu besteuern. Die MwSt.-Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten jedoch daran, auf elektronische Veröffentlichungen dieselben MwSt.-Sätze anzuwenden wie auf Veröffentlichungen auf physischen Trägern. Dies hat der Gerichtshof jüngst in einer Reihe von Urteilen im Zusammenhang mit der Anwendung ermäßigter Steuersätze auf elektronische Veröffentlichungen durch mehrere Mitgliedstaaten bestätigt (1).

2.9.

Gemäß den vorgeschlagenen Vorschriften könnten Mitgliedstaaten die MwSt.-Sätze für elektronische Veröffentlichungen an die derzeitigen MwSt.-Sätze für Druckveröffentlichungen anpassen, unabhängig davon, welchen Mehrwertsteuersatz sie anwenden. Dieser Vorschlag entstand unter Berücksichtigung der verschiedenen Optionen, um die MwSt.-Sätze für elektronische Veröffentlichungen an die MwSt.-Sätze für Veröffentlichungen auf physischen Trägern anzugleichen, und würde es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ermäßigte MwSt.-Sätze unterhalb des Mindeststeuersatzes von 5 % anzuwenden, wenn sie diese auch für Veröffentlichungen auf physischen Trägern anwenden.

2.10.

Die vorgenannten Vorschläge enthalten Änderungen für die folgenden drei Rechtsinstrumente:

Richtlinie 2006/112/EG vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwSt.-Richtlinie) (2);

Verordnung (EU) Nr. 904/2010 vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (3);

Richtlinie 2009/132/EG vom 19. Oktober 2009 zur Festlegung des Geltungsbereichs von Artikel 143 Buchstaben b und c der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter endgültiger Einfuhren von Gegenständen (4).

2.11.

Das Gesamtpaket dürfte zu einem Anstieg der Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedstaaten bis 2021 um jährlich 7 Mrd. EUR führen und die Verwaltungslasten für Unternehmen um jährlich 2,3 Mrd. EUR reduzieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Mehrwertsteuer ist mit derzeit über 20 % eine der Haupteinnahmequellen der EU-Mitgliedstaaten. Seit 1995 ist hier ein Anstieg von über 10 % zu verzeichnen (5). Die Bedeutung von Steuereinnahmen für die Gesamteinnahmen der Mitgliedstaaten hat im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise verhältnismäßig zugenommen, da die Mitgliedstaaten dazu übergegangen sind, haushaltspolitische Probleme über die Mehrwertsteuer zu lösen. Zwischen 2008 und 2014 erhöhten 23 Mitgliedstaaten die MwSt.-Sätze und/oder erweiterten die MwSt.-Bemessungsgrundlage (6). Für die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten und den Erhalt der Sozialausgaben spielt die Mehrwertsteuer eine (zunehmend) bedeutende Rolle.

3.2.

Die MwSt.-Bemessungsgrundlage muss unbedingt sowohl vor potenziellen Betrugsfällen als auch vor ihrer Aushöhlung durch die weitreichende Anwendung ermäßigter Steuersätze geschützt werden. 2014 wurde die MwSt.-Lücke in der EU-27 auf 159,5 Mrd. EUR geschätzt, also auf 14 % der gesamten Mehrwertsteuereinnahmen (7). Diese Lücke schließt MwSt.-Verluste aufgrund von beispielsweise Fehlern, Insolvenzen und Steuerumgehung mit ein, wird jedoch in erster Linie durch Steuerhinterziehung verursacht. Die Aushöhlung der MwSt.-Bemessungsgrundlage in der EU-27 ist ebenfalls hoch, da fast 50 % des gesamten Verbrauchs mit keinem oder einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz besteuert werden.

3.3.

Der EWSA begrüßt deshalb das Modernisierungspaket für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr und unterstützt sowohl die Zielsetzungen als auch den Fokus auf die Bedürfnisse der KMU. Diese vorgeschlagenen Vorschriften werden deutlich spürbare Auswirkungen auf Unternehmen haben, die Gegenstände und Dienstleistungen über das Internet anbieten. Die Vorteile für die Unternehmen ergeben sich nicht nur aus den gerechteren Regelungen und niedrigeren Befolgungskosten, sondern auch daraus, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen mit Nicht-EU-Unternehmen geschaffen werden. Auf lange Sicht werden die Vorschläge auch dazu beitragen, das EU-Mehrwertsteuersystem zukunftsfähig zu machen.

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

3.4.

Die schrittweise Umsetzung der KEA für die Mehrwertsteuer, deren letzte Etappe am 1. Januar 2015 in Kraft trat, war eine der bedeutendsten Änderungen des Mehrwertsteuersystems der EU seit der Abschaffung der Steuergrenzen 1993. Das System ermöglicht es Unternehmen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig sind, einen einzigen Mitgliedstaat als Heimatstaat und somit als einzige Anlaufstelle für die MwSt.-Registrierung zu wählen, um dort die Mehrwertsteuererklärung einzureichen und die Mehrwertsteuer zu entrichten, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten anfällt.

3.5.

Eine von der Europäischen Kommission durchgeführte Bewertung der Umsetzung der KEA für die Mehrwertsteuer ergab, dass die Maßnahme sich erheblich auf die Reduzierung der Befolgungskosten ausgewirkt hat. Im Vergleich zu einem direkten Registrierungs- und Zahlungsverfahren bescherte die KEA den Unternehmen Einsparungen von 500 Mio. EUR — durchschnittlich 41 000 EUR pro Unternehmen —, was einer Verringerung der Kosten um 95 % entspricht.

3.6.

Allerdings konnten nicht alle Unternehmensgrößen gleichermaßen hohe Einsparungen verzeichnen. Die von der Kommission durchgeführten Konsultationen ergaben, dass KMU zwar theoretisch von den geringeren Registrierungsanforderungen profitieren würden, sich die Einhaltung einiger Vorgaben der KEA für sie in der Praxis jedoch schwierig gestaltete. Davon waren besonders KMU mit Sitz in denjenigen Mitgliedstaaten betroffen, in denen der Schwellenwert für die MwSt.-Registrierung am höchsten ist, wie z. B. im Vereinigten Königreich.

3.7.

Der EWSA begrüßt, dass die vorgeschlagenen Änderungen der KEA diesen Bedenken Rechnung tragen.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

3.8.

Die Erweiterung der KEA hat bei der Europäischen Kommission seit 2011 hohe Priorität (8). Da sich die KEA für die Mehrwertsteuer bisher sehr positiv auf die Reduzierung von Befolgungskosten für Unternehmen im grenzübergreifenden Handel ausgewirkt hat, ist nur folgerichtig, dass sie auch auf andere als die derzeit inbegriffenen Dienstleistungen sowie den Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen innerhalb der EU erweitert wird.

3.9.

Abgesehen von der möglichen Reduzierung der Befolgungskosten schafft dies auch gleiche Wettbewerbsbedingungen im elektronischen Geschäftsverkehr, was sich insbesondere auf KMU positiv auswirken könnte. Außerdem wird die Diskrepanz zwischen den Unternehmen im elektronischen Handel, die die KEA nach den geltenden Vorschriften in Anspruch nehmen können, und denjenigen, die ebenfalls im grenzüberschreitenden elektronischen Handel tätig sind, aber aufgrund der Art der Dienstleistungen oder Gegenstände, die sie erbringen bzw. liefern, bislang nicht die gleichen Vorteile des Systems nutzen konnten, abgeschafft. Von der Erweiterung profitieren auch Unternehmen im grenzüberschreitenden elektronischen Handel, die bislang mit Verpflichtungen sowohl im Rahmen der KEA als auch im Rahmen des normalen Systems konfrontiert waren, und für die nun nur noch die Regelungen der KEA gelten werden.

3.10.

Mit der Erweiterung der KEA auf Gegenstände werden die Voraussetzungen für die mögliche Aufhebung der LVCR-Regelung geschaffen. Diese Regelung stellte in der Vergangenheit zwar eine willkommene Vereinfachung dar, aber der Umfang der unter diese Regelung fallenden Gegenstände ist im Zeitraum zwischen 1999 und 2013 Berichten zufolge um 286 % gestiegen, was vermutlich durch die Zunahme des Online-Shoppings von Privatpersonen zu erklären ist (9). Dieser Anstieg führte wiederum dazu, dass sämtlichen Mitgliedstaaten zunehmend Mehrwertsteuereinnahmen entgehen.

3.11.

Die LVCR-Regelung brachte auch gewisse Wettbewerbsverzerrungen mit sich: So haben Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den in der EU ansässigen. Dieser Wettbewerbsvorteil hat zwei weitere Probleme zur Folge: den Missbrauch der LVRC-Regelung und Verzerrungen der Strukturen in den Bereichen Handel und Einfuhr.

3.12.

Daher begrüßt der EWSA die vorgeschlagene Erweiterung der KEA.

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

3.13.

Die Liste der Produkte, die unter die ermäßigten MwSt.-Sätze gemäß der MwSt.-Richtlinie fallen können, stammt aus dem Jahr 1992. Die Entwicklungen in Technologie und Verbraucherverhalten in den letzten 25 Jahren haben zu zahlreichen rechtlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Bestandteile dieser Liste geführt. Dies zog zahlreiche Rechtsstreitigkeiten vor dem EuGH nach sich.

3.14.

Vor Kurzem hat der EuGH in mehreren Urteilen festgestellt, dass die Liste der Veröffentlichungen auf physischen Trägern nicht durch Rechtsauslegung um elektronische Veröffentlichungen erweitert werden könne. Daher könne dieses Ziel nur durch rechtliche Änderungen der geltenden Vorschriften in der MwSt.-Richtlinie erreicht werden.

3.15.

Unter den vorgeschlagenen Regelungen würde nicht länger zwischen Veröffentlichungen auf physischen und nicht-physischen Trägern unterschieden werden und somit für Neutralität in diesem Markt gesorgt werden. Der EWSA begrüßt zwar, dass diese Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden soll, aber ihm ist auch das entsprechende Risiko für die MwSt.-Bemessungsgrundlage bewusst. Wenn elektronische Veröffentlichungen in die Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden kann, aufgenommen werden, führt dies nicht nur zu sofortigen Einnahmeausfällen, sondern könnte auch den Boden für das Argument bereiten, dass andere Produkte ebenfalls in die Liste aufgenommen werden sollten. Dadurch würde die Bemessungsgrundlage zusätzlich ausgehöhlt werden. Darüber hinaus könnte die Erweiterung der Anwendung ermäßigter Steuersätze unterhalb des Mindestsatzes von 5 % auf elektronische Veröffentlichungen entsprechend den Sätzen auf Veröffentlichungen auf physischen Trägern zu weiteren Anträgen auf Anwendung von Steuersätzen unterhalb dieses Mindestmaßes führen. Eine solche Entwicklung würde den Sinn des Mindestsatzes infrage stellen und ebenfalls zur Aushöhlung der Bemessungsgrundlage beitragen.

3.16.

Zudem stellt der EWSA fest, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen von der Europäischen Kommission als Auftakt zu einer umfassenderen Reform der europäischen Grundstruktur der MwSt.-Sätze angesehen werden (10). Derzeit werden zwei Optionen in Betracht gezogen, allerdings würde diese umfassendere Reform den Mitgliedstaaten durch die wirksame Entharmonisierung der Steuersätze allgemein mehr Freiheit und Flexibilität bei der Anwendung ermäßigter Steuersätze bieten.

3.17.

Der EWSA ist besorgt über die Auswirkungen, die eine solche Entharmonisierung auf Unternehmen im grenzüberschreitenden Handel haben würde, insbesondere KMU, denen es schwer fallen würde, die für ihre Produkte innerhalb der EU geltenden MwSt.-Sätze festzusetzen.

3.18.

Dem EWSA ist auch bewusst, dass Artikel 113 AEUV, der die rechtliche Grundlage für die Annahme von Mehrwertsteuervorschriften der EU bildet, den EU-Institutionen lediglich die Kompetenz verleiht, Vorschriften zur Harmonisierung der MwSt.-Sätze mit dem Ziel der Schaffung und Verbesserung des Binnenmarktes anzunehmen.

4.   Besondere Bemerkungen

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

4.1.

Für KMU mit Sitz in Ländern mit hohem Schwellenwert hat die Umsetzung der KEA dazu geführt, dass sie sich erstmals für die Mehrwertsteuer registrieren und der Mehrwertsteuerpflicht nachkommen müssen. Da viele von ihnen Gefahr laufen, durch die neu entstehenden Befolgungskosten aus dem Geschäft verdrängt zu werden, haben mehrere Kleinstunternehmen, die meisten davon mit Sitz im Vereinigten Königreich, eine Interessengruppe (11) eingerichtet, um die EU-Institutionen und die britischen Steuerbehörden auf ihre Bedenken aufmerksam zu machen.

4.2.

Die Festlegung eines Schwellenwerts von 10 000 EUR, der es KMU ermöglicht, sich bis zu seinem Erreichen für die Anwendung der MwSt.-Vorschriften in ihrem eigenen Land zu entscheiden, ist zu begrüßen und wird die Geschäfte für kleine Unternehmen und Teilzeitunternehmen zweifellos vereinfachen. Allerdings ist sich der EWSA, obwohl er diese Vorkehrungen für Kleinstunternehmen begrüßt, bewusst, dass junge und wachsende Unternehmen diese Schwelle rasch überschreiten könnten.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

4.3.

Ein erheblicher Missbrauch der LVCR-Regelung wurde im Vereinigten Königreich (über die Kanalinseln) und in Finnland (über die Ålandinseln) gemeldet, wohin Unternehmen ihre Geschäfte außerhalb der EU verlagern, um die Regelung in Anspruch nehmen zu können (12). Dieser Missbrauch verstärkt den Wettbewerbsnachteil für Unternehmen innerhalb der EU und insbesondere für KMU, die in der Regel stärker betroffen sind. Im Jahr 2010 gründeten mehrere britische KMU eine Gruppe, um gegen den mutmaßlichen Missbrauch der LVCR-Regelung auf den Kanalinseln vorzugehen (13).

4.4.

In jüngster Zeit hat eine andere Gruppe britischer KMU mit dem Namen VAT Fraud  (14) auf das Problem des von Nicht-EU-Händlern online verübten mutmaßlichen Betrugs in Verbindung mit der LVCR-Regelung hingewiesen. Da Gegenstände betroffen sind, deren Wert außerhalb des von der Regelung abgedeckten Bereichs liegt, wird vermutet, dass die Regelung selbst ein Grund für die erschwerte Mehrwertsteuerbeitreibung ist, da die Zollbeamten nur schwer feststellen können, welche Lieferungen in den Geltungsbereich fallen.

4.5.

Die LVCR-Regelung hat sich Berichten zufolge auch auf Handelsmuster und das Importverhalten von Verbrauchern in mehreren Mitgliedstaaten (Slowenien, Deutschland, Schweden, Dänemark und das Vereinigte Königreich) ausgewirkt (15).

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

4.6.

Die rechtlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Bestandteile der Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann, basieren auf einem grundlegenden Dilemma des EU-Mehrwertsteuersystems: Entweder wird der Umfang der Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann, erweitert, um potenzielle Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen, was die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage verstärken würde, oder der Umfang der Liste der Produkte bleibt zum Schutz der Steuerbemessungsgrundlage weiterhin beschränkt und es werden damit Wettbewerbsverzerrungen in Kauf genommen.

4.7.

Der EuGH verfolgt für derartige Auslegungsschwierigkeiten einen kasuistischen Ansatz. In den Urteilen über die Aufnahme elektronischer Veröffentlichungen in die Liste ist der Gerichtshof jedoch zu dem Schluss gelangt, dass ihr Umfang nicht auf diese Produkte ausgedehnt werden kann, und hat damit die Vorschriften streng juristisch ausgelegt.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Rechtssachen C-219/13, K Oy; C-479/13, Kommission/Frankreich; C-502/13, Kommission/Luxemburg; und C-390/15, RPO.

(2)  ABl. L 347 vom 11.12.2006 S. 1.

(3)  ABl. L 268 vom 12.10.2010 S. 1.

(4)  ABl. L 292 vom 10.11.2009 S. 5.

(5)  R. de la Feria: Blueprint for Reform of VAT Rates in Europe (Entwurf für eine Reform der MwSt.-Sätze in Europa), 2015, Intertax 43 (2), S. 154-171.

(6)  Ebd.

(7)  CASE: Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States: 2016 Final Report (Studie und Berichte zur MwSt.-Lücke in den Mitgliedstaaten der EU-28: Abschlussbericht für 2016), TAXUD/2015/CC/131, 2016.

(8)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Zukunft der Mehrwertsteuer — Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren Mehrwertsteuersystem, das auf den Binnenmarkt zugeschnitten ist, KOM(2011) 851 endgültig, 6. Dezember 2011.

(9)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.

(10)  Europäische Kommission: Öffentliche Konsultation über die Reform der MwSt.-Sätze (Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die Vorschriften für die Anwendung der MwSt.-Sätze).

(11)  EU VAT Action (www.euvataction.org).

(12)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.

(13)  Die Gruppe gab sich den Namen RAVAS — Retailers Against VAT Avoidance Schemes (Einzelhändler gegen Mehrwertsteuervermeidung) (www.ravas.org.uk).

(14)  www.vatfraud.org.

(15)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004“

(Text von Bedeutung für den EWR und die Schweiz)

(COM(2016) 815 final — 2016/0397 (COD))

(2017/C 345/14)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Mitberichterstatterin:

Christa SCHWENG

Befassung

Europäische Kommission, 17.2.2017

Rat, 15.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 48 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Plenums

05/07/2017

 

 

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

13.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

135/2/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Ansicht, dass der Vorschlag zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit darauf abzielen sollte, die Mobilität von Arbeitsuchenden und Arbeitnehmern zu erleichtern und nicht, sie zu beschränken. Der Grund hierfür ist, dass eine verbesserte Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtert, indem Leistungen sowohl für die Arbeitnehmer (Kompetenzentwicklung und verbesserte Anpassungsfähigkeit) als auch für die Arbeitgeber (motivierte Arbeitskräfte mit Fachwissen) bereitgestellt werden. Sie hilft auch der Wirtschaft insgesamt, indem Unterschiede im Bereich der Arbeitslosigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten angegangen, eine effizientere Zuweisung von Humanressourcen gefördert sowie zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in der EU beigetragen wird.

1.2.

Gut funktionierende und gerechte Vorschriften für mobile Bürger wie auch für alle anderen sind wichtige Faktoren für die politische Akzeptanz von Mobilität. Der EWSA ist der Auffassung, dass das Ziel der Änderung darin bestehen sollte, ein gerechteres Verhältnis zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern zu erreichen.

1.3.

Bezüglich der Bedingungen für Bürger, die bei einem Umzug ins Ausland Anspruch auf den Export von Leistungen bei Pflegebedürftigkeit haben, ist der EWSA der Auffassung, dass die neuen Vorschriften einen besseren Schutz der Bürger in grenzüberschreitenden Fällen bieten. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die neuen Vorschriften keinen neuen Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit in allen Mitgliedstaaten begründen, da dieser Anspruch davon abhängt, ob im Aufnahmestaat solche Leistungen überhaupt gewährt werden.

1.4.

Der EWSA weist zudem darauf hin, dass sowohl der Vorschlag zur Überarbeitung der EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als auch die Entsenderichtlinie von Bedeutung für die Arbeitskräftemobilität sind. Da diese beiden Instrumente unterschiedliche Aspekte berühren, befürchtet der EWSA jedoch, dass Verweise auf Begriffsbestimmungen aus dem Vorschlag für eine überarbeitete Entsenderichtlinie in der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der Praxis für weniger rechtliche Klarheit sorgen werden.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass durch die vorgeschlagene Bestimmung, der zufolge ein Arbeitnehmer mindestens drei Monate im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet haben muss, bevor er Anspruch auf Arbeitslosenleistungen hat, die „Zusammenrechnung von Zeiten“, die den Anspruch auf Leistungen begründen, tatsächlich verzögert wird. Während dies die Vorschriften für die Zielländer gerechter machen könnte, könnte dies auch die Motivation zur Mobilität negativ beeinflussen.

1.6.

Dem EWSA ist nicht klar, inwiefern der Vorschlag, den Zeitraum für den Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit von derzeit drei auf mindestens sechs Monate zu verlängern, tatsächlich Beschäftigungschancen für Arbeitsuchende eröffnen kann, da diese von der Lage auf dem Arbeitsmarkt abhängig sind, die von Land zu Land unterschiedlich ist.

1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine größere Einheitlichkeit bei den Leistungen, die Zusammenrechnung und die Inanspruchnahme zur Verbesserung und Erleichterung der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit beitragen werden. Die öffentlichen Arbeitsverwaltungen sollten zudem mobile Arbeitsuchende bei ihrer Suche nach geeigneter Beschäftigung effektiver unterstützen.

1.8.

Der EWSA fordert, dass sich die Mitgliedstaaten stärker dafür einsetzen, dass nicht erwerbstätige mobile Bürger in verhältnismäßigem Umfang und gemäß dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu einem Krankenversicherungssystem im Aufnahmemitgliedstaat beitragen können. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten die Vorteile berücksichtigen, die mit der Aufnahme mobiler Bürger im Allgemeinen verbunden sind — auch im Falle von Personen, die zwar nicht erwerbstätig sind, aber auf die eine oder andere Weise einen Beitrag zur Wirtschaft (und kulturellen Vielfalt) des Aufnahmestaats leisten.

1.9.

Schließlich ist der EWSA der Ansicht, dass die vorgeschlagenen neuen Vorschriften in keiner Weise die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte einschränken dürfen.

2.   Vorgeschlagene Änderungen der Vorschriften zur Koordinierung der sozialen Sicherheit

2.1.

Die Entwicklung eines grenzübergreifenden Arbeitsmarkts schreitet kontinuierlich voran, und auch die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit sind Änderungen unterworfen. Daher besteht ein offenkundiger Bedarf an einer Aktualisierung bzw. Anpassung bestehender Vorschriften. Dies ist neben der Notwendigkeit einfacherer Durchsetzungsverfahren die Begründung für die von der Europäischen Kommission in ihrer Mitteilung vom 13. Dezember 2016 vorgeschlagenen Änderungen.

2.2.

Dieser Vorschlag soll für mehr Klarheit sowie für gerechte und durchsetzbare Vorschriften zur Förderung der Arbeitskräftemobilität sorgen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist nach wie vor eine tragende Säule des Binnenmarktes. Allerdings sind die nationalen Behörden auch dringend aufgefordert, gegen Missbrauch und Betrug bei Sozialleistungen vorzugehen.

2.3.

Die wichtigsten vorgeschlagenen Änderungen betreffen folgende Aspekte:

i)

Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit: Der Zeitraum für den Export von Arbeitslosenleistungen (in diesem Zeitraum werden Leistungen während der Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat dorthin exportiert) soll von einem Mindestzeitraum von drei auf sechs Monate verlängert werden, mit der Möglichkeit, die Leistung für die gesamte verbleibende Anspruchszeit zu exportieren.

ii)

Bei der Beurteilung, ob ein Arbeitsuchender Anspruch auf Arbeitslosenleistungen hat, wird ein Mitgliedstaat dazu verpflichtet, alle früheren Versicherungszeiten in anderen Mitgliedstaaten zu prüfen und anzurechnen (wie im Fall der geltenden Vorschriften). Dies ist allerdings nur möglich, wenn die betreffende Person mindestens drei Monate in diesem Mitgliedstaat gearbeitet hat (neuer Vorschlag). Ist die Person nicht anspruchsberechtigt, wird die Zuständigkeit für die Gewährung dieser Leistungen dem Mitgliedstaat übertragen, in dem die Person zuvor beschäftigt war.

iii)

Arbeitslosenleistungen für Grenzgänger: Den vorgeschlagenen Vorschriften zufolge soll der Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung zur Gewährung der Arbeitslosenleistungen verpflichtet werden, wenn der Grenzgänger dort mindestens 12 Monate gearbeitet hat. Den geltenden Vorschriften zufolge führen Grenzgänger jedoch derzeit Sozialversicherungsbeiträge und Steuern an den Mitgliedstaat ab, in dem sie arbeiten. Bei Beschäftigungszeiten von weniger als 12 Monaten wird die Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit dem Wohnmitgliedstaat übertragen.

iv)

Sozialleistungen für nicht erwerbstätige Personen: In diesem Fall soll mit dem Vorschlag die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kodifiziert werden, der zufolge nicht erwerbstätige Bürger, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, nur dann Zugang zu Sozialleistungen erhalten, wenn sie die in der Richtlinie über die Freizügigkeit festgelegte Bedingung des rechtmäßigen Aufenthalts erfüllen. Allerdings erfordert der rechtmäßige Aufenthalt nicht erwerbstätiger Personen, dass sie nachweisen können, dass sie über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Diese Bedingung gilt nicht für aktiv Arbeitsuchende: ihr Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat erwächst unmittelbar aus Artikel 45 AEUV.

v)

Soziale Sicherheit für entsandte Arbeitnehmer: Mit dem Vorschlag sollen erklärtermaßen die Verwaltungsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für entsandte Arbeitskräfte verschärft werden, damit die nationalen Behörden über angemessene Mittel zur Überprüfung des sozialversicherungsrechtlichen Status solcher Arbeitnehmer verfügen und gegen potenziell unlautere Praktiken und Missbrauch vorgehen können.

vi)

Familienleistungen: Mit dem Vorschlag werden die Vorschriften für Leistungen für den Elternurlaub aktualisiert, die Eltern als Ausgleich für entgangenes Einkommen oder entgangenen Lohn während Zeiten der Kindererziehung gezahlt werden. Der Vorschlag bewirkt keine Änderung der bestehenden Vorschriften zum Export von Leistungen für Kinder. Auch ist keine Indexierung von Leistungen für Kinder vorgesehen.

3.   Übersicht über die Systeme der sozialen Sicherheit in der EU

3.1.

Die Systeme der sozialen Sicherheit decken in der Regel Leistungen in Bereichen wie Krankheit, Mutterschaft bzw. Vaterschaft, Familienleistungen, Leistungen im Alter, bei Arbeitslosigkeit und ähnliche Leistungen ab und fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der einzelstaatlichen Behörden. Das bedeutet, dass jedes Land für die Gestaltung seines Systems der sozialen Sicherheit zuständig ist. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Leistungen der sozialen Sicherheit, die Bürger in der EU erhalten, sehr stark sowohl in Bezug auf die tatsächlich gewährten Leistungen als auch bezüglich der Art und Weise, wie die Systeme organisiert sind.

3.2.

Ein Thema, das den EWSA ernsthaft beunruhigt, sind die großen Unterschiede bei der Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten: Die besten Systeme tragen zu einer Verringerung des Armutsrisikos um 60 % bei, das schwächste System verringert das Armutsrisiko um weniger als 15 %, der EU-Durchschnitt liegt bei 35 % (1). Die unterschiedlichen sozialen Bedingungen für die Bürger in der EU sind zum Teil durch diese Unterschiede begründet. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die EU-Mitgliedstaaten auf Grundsätze wirksamer und verlässlicher Sozialleistungssysteme verständigen, so wie dies der EWSA bereits in seinen Stellungnahmen zu den „Grundsätzen wirksamer und verlässlicher Sozialleistungssysteme“ (2) und zur „europäischen Säule sozialer Rechte“ (3) gefordert hat. Die gemeinsamen europäischen Werte und die wirtschaftliche Entwicklung erfordern in allen Mitgliedstaaten die Sicherung eines Mindesteinkommens, der grundlegenden Gesundheitsversorgung, der Bereitstellung geeigneter Sozialdienstleistungen und der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies kann sowohl zur Steigerung der Solidarität in den Mitgliedstaaten wie auch zur Reduzierung makroökonomischer Ungleichgewichte beitragen.

3.3.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist eine der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union, die nach Auffassung des EWSA in ihren unterschiedlichen Dimensionen wirksamer gefördert und geachtet werden muss, da es in der Praxis keine Freizügigkeit der Arbeitnehmer gibt, wenn die sozialen Rechte mobiler Bürger und Arbeitnehmer auf der Grundlage des Grundsatzes der Gleichbehandlung, wie nachstehend ausgeführt, nicht geachtet werden. Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist eine dieser Dimensionen. Generell ist diese Koordinierung eine Erfolgsgeschichte, die bereits seit mehreren Jahrzehnten dazu beiträgt, dass die vielen Millionen von Arbeitnehmern, die ihre Vorteile genutzt haben, zu den besten „Botschaftern“ für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer geworden sind.

3.4.

Damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Bürger erleichtert wird, müssen die Systeme der sozialen Sicherheit besser koordiniert werden, um mehr Klarheit und Garantien in Bezug auf die Leistungen zu verschaffen, auf die sie Anspruch haben. Zu diesem Zweck verfügt die Europäische Union über Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Darin ist festgelegt, durch welches System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats ein Bürger oder Arbeitnehmer abgedeckt ist. Außerdem sollen die Vorschriften dazu beitragen, einen doppelten Versicherungsschutz in grenzüberschreitenden Fällen zu vermeiden und gleichzeitig Garantien für die Personen bieten, die in einem anderen Land arbeiten oder EU-weit eine Arbeit suchen.

3.5.

Es sollte darauf hingewiesen werden, dass es bei den geltenden Vorschriften um die Koordinierung, nicht aber um die Harmonisierung der Systeme der sozialen Sicherheit geht. Die Vorschriften sind in den Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009 enthalten. Die EU-Vorschriften beruhen auf vier Grundsätzen:

i)

ein Mitgliedstaat: Eine Person ist jeweils nur im System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats versichert, d. h. sie führt nur in einem Land Beiträge ab und erhält nur in einem Land Leistungen.

ii)

Gleichbehandlung: Eine Person hat die gleichen Rechte und Pflichten wie die Staatsangehörigen des Landes, in dem sie versichert ist.

iii)

Zusammenrechnung von Versicherungszeiten: Je nach dem individuellen Fall ist, wenn eine Person eine Leistung beantragt, ein Nachweis von Versicherungs-, Arbeits- oder Aufenthaltszeiten in anderen Mitgliedstaaten erforderlich (zum Beispiel, um nachzuweisen, dass die Person eine Mindestversicherungszeit nach einzelstaatlichem Recht für den Anspruch auf Leistungen erfüllt).

iv)

Exportierbarkeit: Hat eine Person Anspruch auf Gewährung einer Leistung durch einen Mitgliedstaat, kann sie diese Leistung erhalten, auch wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

3.6.

Die Bestimmungen der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009 gelten für Versicherte, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um sich dort auf Dauer niederzulassen oder vorübergehend dort zu arbeiten oder zu studieren. Dazu gehören auch Grenzgänger. Darüber hinaus können Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Arbeit suchen, während eines bestimmten Zeitraums während der Arbeitssuche Arbeitslosenleistungen aus ihrem Herkunftsmitgliedstaat beziehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

2015 hatten in der EU-28 rund 11,3 Mio. EU-Bürger im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) ihren Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat, und davon waren 8,5 Mio. erwerbstätig oder Arbeit suchend (die Zahlen bezüglich beider Aspekte variieren zwischen den Mitgliedstaaten). Dies macht 3,7 % der EU-Erwerbsbevölkerung aus. EU-weit gab es 1,3 Mio. Grenzgänger (Arbeitnehmer, die zwischen dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, und dem Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten, pendeln). Die Zahl der entsandten Arbeitnehmer lag bei ca. 1,92 Mio. Dies entsprach 0,7 % der Gesamtbeschäftigung in der EU, bei einer durchschnittlichen Entsendedauer von vier Monaten.

4.2.

Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erleichtert die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, indem sie den Arbeitnehmern und indirekt den Arbeitgebern sowie der Wirtschaft insgesamt Leistungen gewährt und so zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit beiträgt. Die überwiegende Mehrheit der mobilen Bürger in der EU möchten ihre Lebensbedingungen und Beschäftigungsaussichten verbessern.

4.3.

Aus Arbeitnehmersicht bietet das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, nicht nur Arbeitsmöglichkeiten, sondern erleichtert auch die Entwicklung neuer Kompetenzen, stärkt die Anpassungsfähigkeit und bereichert den Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin selbst durch neue Arbeitserfahrungen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit trägt auch zur Behebung eines Arbeitskräftemangels und von Qualifikationsdefiziten bei. Ferner trägt sie tendenziell zur Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen im Aufnahmemitgliedstaat bei und kann zum Ausgleich eines Teils der steuerlichen Belastung der durch die Bevölkerungsalterung verursachten geringeren Beiträge beitragen.

4.4.

Aus makroökonomischer Sicht trägt die Arbeitskräftemobilität zum Ausgleich von Unterschieden bei der Arbeitslosigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie zu einer effizienteren Allokation der Humanressourcen bei. Untersuchungen haben ferner ergeben, dass die EU-Binnenmobilität entscheidend dazu beigetragen hat, weitere Instabilität in der Folge der Finanzkrise und der Rezession zu verhindern.

4.5.

Die Mobilität von Arbeitskräften unter gerechten Bedingungen kann sich als nutzbringend für die Arbeitnehmer, die Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes erweisen. Sie kann eine großartige Chance zur persönlichen Entfaltung und wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung für die Bürger und die Arbeitnehmer eröffnen und muss daher erleichtert werden. Gut funktionierende und gerechte Vorschriften für mobile Bürger wie auch für alle anderen sind wichtige Faktoren für die politische Akzeptanz von Mobilität. Insgesamt sollte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bestimmungs- und Herkunftsländern angestrebt werden.

4.6.

Vor diesem Hintergrund sollten alle vorgeschlagenen Änderungen nach Auffassung des EWSA darauf abzielen, die Mobilität von Arbeitsuchenden und Arbeitnehmern zu erleichtern und nicht, sie zu beschränken. Der EWSA ist auch der Ansicht, dass die Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit den Zugang zu Arbeitsplätzen für Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen erleichtern sollten. Die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern aus der EU und inländischen Arbeitnehmern im Hinblick auf aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ist von entscheidender Bedeutung, um soziale Spaltungen zu überwinden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

In Bezug auf das System zur Koordinierung der Leistungen für Grenzgänger nimmt der EWSA den Vorschlag zur Kenntnis, die Zuständigkeit für die Gewährung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit dem Mitgliedstaat der letzten Erwerbstätigkeit zu übertragen, sieht jedoch in der Verpflichtung, dass der Grenzgänger dort mindestens 12 Monate lang gearbeitet haben muss, eine mögliche Beschränkung der positiven Effekte, die sich aus dieser Änderung ergeben. Der EWSA ist sich bewusst, dass der Vorschlag auch eine Herausforderung für die Mitgliedstaaten darstellt, die für die Gewährung der Leistungen zuständig werden.

5.2.

Bezüglich der Bedingungen für Bürger, die bei einem Umzug ins Ausland Anspruch auf den Export von Leistungen bei Pflegebedürftigkeit haben, ist der EWSA der Auffassung, dass die neuen Vorschriften einen besseren Schutz der Bürger in grenzüberschreitenden Fällen bieten. Besondere Relevanz haben die neuen Vorschriften unter Berücksichtigung der demografischen Alterung und der Förderung einer größeren Unabhängigkeit und Mobilität für Menschen mit Behinderungen, da zunehmend mehr Bürger, die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit benötigen, ihren Wohnmitgliedstaat wechseln. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die neuen Vorschriften keinen neuen Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit in allen Mitgliedstaaten begründen, da dieser Anspruch davon abhängt, ob im Aufnahmestaat solche Leistungen überhaupt gewährt werden.

5.3.

Nach Ansicht des EWSA werden die neuen Vorschriften das Verfahren zur Rückforderung nicht geschuldeter Leistungen der sozialen Sicherheit erleichtern. Die Mitgliedstaaten verfügen so über einen einheitlichen Vollstreckungstitel zur Rückforderung nicht geschuldeter Leistungen der sozialen Sicherheit sowie über klarere Verfahren für grenzüberschreitende Rechtshilfe.

5.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass sowohl der Vorschlag zur Überarbeitung der EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als auch die Entsenderichtlinie von Bedeutung für die Arbeitskräftemobilität sind. Die beiden Instrumente haben jedoch unterschiedliche Themen zum Gegenstand. Während die Entsenderichtlinie die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (einschließlich Entlohnung) für entsandte Arbeitnehmer regelt, soll durch die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit festgelegt werden, welches System anwendbar ist. Mit dem neuen Vorschlag werden weder der Geltungsbereich der EU-Vorschriften zur Koordinierung der sozialen Sicherheit noch die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern geändert. Der EWSA befürchtet deshalb, dass Verweise auf Begriffsbestimmungen aus dem Vorschlag für eine überarbeitete Entsenderichtlinie in der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die auf die Erleichterung ihrer Anwendung abzielt, in der Praxis für weniger Klarheit sorgen werden. Ein Verweis auf eine Richtlinie (die für die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Ergebnisses verbindlich ist) in einer Verordnung (die verbindlich und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar anwendbar ist), wirft rechtliche Bedenken auf.

5.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass einheitliche Bedingungen für die Anwendung der spezifischen Bestimmungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Bezug auf entsandte Arbeitnehmer gewährleistet werden müssen. Dies umfasst die Bestimmung der Fälle, in denen das Formular A1 ausgestellt wird, die Elemente, die vor der Ausstellung zu prüfen sind, und den Widerruf, falls die Richtigkeit bzw. Gültigkeit bestritten wird. Da diese Aspekte von entscheidender Bedeutung für die praktische Anwendung von Artikel 12 und Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sein können, ist der EWSA besorgt angesichts der Übertragung solch ungenau definierter Befugnisse auf die Europäische Kommission. Der EWSA würde sich Rückmeldungen bezüglich der Umsetzung dieser Ermächtigung und eine anschließende Bewertung der Auswirkungen der neuen Verfahren wünschen, da die Entsendung von Arbeitnehmern ein wirklich heikles Thema ist. Ferner bereitet die kumulative Wirkung der neuen Vorschriften über die Entsendung, der vorgenannten technischen Änderungen der Verordnung über die soziale Sicherheit und der wachsenden Zahl nationaler Initiativen zur Kontrolle von Arbeitnehmern aus anderen EU-Ländern dem EWSA Sorgen. Die zunehmende Komplexität aufgrund der Kombination dieser verschiedenen Verordnungen dürfte die transnationale Mobilität einschränken und sollte auf europäischer Ebene genau beobachtet werden. Darüber hinaus gilt es, die Vorschriften über die soziale Sicherheit bezüglich entsandter Arbeitnehmer zu achten.

5.6.

Nach den neuen Vorschriften muss ein mobiler EU-Bürger mindestens drei Monate im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet haben, bevor er dort einen Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit hat. Der EWSA sieht in diesem Vorschlag eine Beschränkung des Zugangs zu Leistungen bei Arbeitslosigkeit für mobile Arbeitnehmer im Aufnahmestaat im Vergleich zu den derzeitigen Bedingungen (denen zufolge es reicht, nur einen Tag dort gearbeitet zu haben, um diesen Anspruch zu erwerben). Aufgrund des im Vorschlag gewählten Ansatzes wird die „Zusammenrechnung von Zeiten“ (unabhängig vom letzten Wohnort), die den Anspruch auf Leistungen begründen, in Wirklichkeit verzögert. Einerseits könnte sich dies negativ auf die Motivation zur Ausübung von Mobilität auswirken, andererseits aber die Vorschriften für die Zielländer gerechter machen.

5.7.

Den vorgeschlagenen neuen Vorschriften zufolge wird der Mindestzeitraum, in dem Arbeitsuchende, die Ansprüche in einen anderen Mitgliedstaat erworben wurde, Leistungen bei Arbeitslosigkeit exportieren, von derzeit drei auf mindestens sechs Monate verlängert, während die derzeit geltende Verordnung die Entscheidung — drei oder sechs Monate — dem Mitgliedstaat überlässt, der die Leistung exportiert. Der EWSA erkennt in dieser Änderung die Anerkennung seitens der Kommission der Probleme, in einem anderen Mitgliedstaat schnell einen Arbeitsplatz zu finden. Dem EWSA ist jedoch nicht klar, inwiefern der Vorschlag, die Dauer für den Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu verlängern, Beschäftigungschancen für Arbeitsuchende bieten kann, da diese von der Lage auf dem Arbeitsmarkt abhängig sind, die von Land zu Land unterschiedlich ist. Ferner hegt der EWSA Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Vorschlags in Zeiten anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und insbesondere hoher Jugendarbeitslosigkeit in mehreren EU-Mitgliedstaaten.

5.8.

Nach Auffassung des EWSA beheben die vorgeschlagenen neuen Vorschriften nicht die bestehenden Schwachstellen eines koordinierten Systems der sozialen Sicherheit, das ursprünglich für Mitgliedstaaten mit relativ ähnlich hohen Kaufkraftparitäten und ähnlichen Systemen der sozialen Sicherheit konzipiert worden war. Daher sind wirksamere Maßnahmen erforderlich, um Einheitlichkeit in Bezug auf die Dauer der Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit, die Höhe der bezogenen Leistungen und die Zusammenrechnung von Zeiten der Inanspruchnahme von Leistungen bei Arbeitslosigkeit herbeizuführen. Dies würde zu einer besseren und einfacheren Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit beitragen. Die Frage, wie diese Einheitlichkeit zu erreichen ist, muss losgelöst von dieser Stellungnahme erörtert werden. Zumindest prinzipiell sorgen die vorgeschlagenen neuen Vorschriften über den Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit für eine engere Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsverwaltungen auf allen Ebenen. Mit der Überarbeitung werden die Verpflichtungen der Arbeitsverwaltung im Aufnahmemitgliedstaat in Bezug auf die Unterstützung von Arbeitsuchenden bei der Arbeitssuche sowie in Bezug auf die Überwachung und die Berichterstattung über ihre Tätigkeiten an den für die Zahlung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständigen Mitgliedstaat präzisieren. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die öffentlichen Arbeitsverwaltungen insbesondere angesichts des begrenzten Zeitraums für die Arbeitssuche mehr tun sollten, um mobile Arbeitsuchende dabei zu unterstützen, eine sichere und nicht-prekäre Beschäftigung zu finden und damit — wie bereits in der vorherigen Ziffer erwähnt — zu einer stärkeren Vereinheitlichung beizutragen.

5.9.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der Zugang zu bestimmten Sozialleistungen für mobile EU-Bürger, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen (d. h. in den Aufnahmemitgliedstaat) umziehen und weder erwerbstätig sind noch aktiv Arbeit suchen, gemäß den vorgeschlagenen neuen Vorschriften davon abhängig gemacht werden kann, ob die betreffende Person nachweist, dass sie nach EU-Recht ein gesetzliches Aufenthaltsrecht genießt, das wiederum davon abhängt, ob sie über die Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Anders ausgedrückt müssen die Mitgliedstaaten die Bedingungen einhalten, die in der Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG) festgelegt sind. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten die Vorteile berücksichtigen, die mit der Aufnahme mobiler Bürger im Allgemeinen verbunden sind, auch im Falle nicht erwerbstätiger Personen, die zwar keine Beiträge zu den Systemen der sozialen Sicherheit abführen, aber auf die eine oder andere Weise doch einen Beitrag zur Wirtschaft (und zur kulturellen Vielfalt) des Aufnahmestaats leisten.

5.10.

So besagt Erwägungsgrund (5b) des Kommissionsvorschlags, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass nicht erwerbstätigen mobilen EU-Bürgern ein umfassender Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat nicht vorenthalten wird. Dies bedeutet auch, dass solchen Bürgern erlaubt werden sollte, in verhältnismäßigem Umfang Krankenversicherungsbeiträge im Aufnahmemitgliedstaat zu entrichten. Der EWSA fordert ein stärkeres Engagement der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung dieser Möglichkeit.

5.11.

Der EWSA ist der Ansicht, dass in den vorgeschlagenen neuen Vorschriften in keiner Weise die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte eingeschränkt werden dürfen, insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen (Artikel 1), das Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Artikel 34) und das Recht auf Gesundheitsschutz (Artikel 35).

5.12.

Als Fazit erkennt der EWSA zwar an, dass die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen Aufnahme- und Herkunftsmitgliedstaat, wenn es um die Arbeitssuche geht, nicht vernachlässigt werden darf, er kommt aber zu dem Schluss, dass die vorgeschlagenen neuen Vorschriften die Mobilität von Arbeitsuchenden nicht zwangsläufig erleichtern. Die anfälligsten und schwächeren Teile der europäischen Gesellschaften werden so schutzbedürftig bleiben wie bisher, ebenso wenig werden sich die sozioökonomischen Unterschiede zwischen den und innerhalb der Mitgliedstaaten der EU verringern.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=751&langId=de.

(2)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 40.

(3)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/91


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft: Europäische Nachhaltigkeitspolitik“

(COM(2016) 739 final)

(2017/C 345/15)

Berichterstatter:

Etele BARÁTH

Befassung

Europäische Kommission, 8.12.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Plenums

13.12.2016

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

124/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bedauert, dass in der Mitteilung der Kommission Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft der Eindruck erweckt wird, dass alle wesentlichen Ziele und Anforderungen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung bereits durch die bestehenden Politikbereiche der EU abgedeckt und bewältigt wurden. In der Mitteilung wird versäumt, den Paradigmenwechsel in die EU-Politikbereiche einzuführen, der durch die Agenda 2030 mit Blick auf ein neues Entwicklungsmodell geschaffen wurde, das wirtschaftlich nachhaltiger, sozial inklusiver und langfristig umweltfreundlicher ist. Wie vom Europäischen Zentrum für politische Strategie (1) und auch in früheren Stellungnahmen des EWSA betont wurde, ist solch ein Paradigmenwechsel dringend erforderlich, damit die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung in der EU unter Berücksichtigung der zunehmenden sozialen Ungleichheiten und hohen Arbeitslosenquoten in Europa sowie des nicht nachhaltigen ökologischen Fußabdrucks ihrer Wirtschaft ordnungsgemäß umgesetzt werden.

1.2.

Der EWSA hat stets begrüßt, dass die Kommission bei der Konzeption der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung eine Führungsrolle übernommen hat. Nun, da die 17 Nachhaltigkeitsziele in die Praxis umgesetzt werden müssen, ist der EWSA der Auffassung, dass die EU solche eine konkrete Führungsrolle vermissen lässt, da sie weder einen ehrgeizigen Fahrplan für Maßnahmen zur Umsetzung dieser Ziele mit einem Zeithorizont bis 2030 vorgelegt noch die Bereitschaft gezeigt hat, ihre derzeitige Politik kritisch zu überprüfen und zu ändern.

1.3.

Bislang wurde die Agenda 2030 nicht als Gelegenheit genutzt, um ein neues, proaktives, transformatives und positives Narrativ für Europa zu schaffen, wie der EWSA, das EP und zahlreiche Stimmen der Zivilgesellschaft gefordert haben: eine neue Vision eines nachhaltigeren und sozial inklusiven Europas, das seinen Bürgern nützt und niemanden zurücklässt; eine zukunftsorientierte Vision auf der Grundlage der Werte, durch die Europa zu einem Erfolgsmodell wurde: Solidarität und Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, Demokratie und Teilhabe, Unternehmergeist und Umweltbewusstsein. Weder in dem Weißbuch der Kommission über die Zukunft Europas noch in der Erklärung von Rom anlässlich des 60. Jahrestags der EU wird der Wert einer langfristig nachhaltigen Entwicklung in Europa für die europäischen Bürger hinreichend anerkannt.

1.4.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission es versäumt hat, einen partizipativen Prozess einzuleiten, der in eine übergreifende und integrierte Strategie für ein nachhaltiges Europa 2030 und darüber hinaus mündet. Es bedarf einer solchen Strategie, um den für die Umsetzung der UN-Agenda 2030 notwendigen langfristigen Zeithorizont sowie die politische Koordinierung und Kohärenz der Maßnahmen zu schaffen. Sie sollte Teil eines neuen, einheitlichen, langfristigen strategischen Rahmens für die Zeit nach 2020 sein.

1.5.

Der EWSA ist besorgt über die mangelnde Koordinierung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Agenda 2030. Die genannte übergreifende Strategie sollte den gemeinsamen Rahmen für ein koordiniertes Vorgehen bilden.

1.6.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission geleistete Arbeit, durch die sie den potenziellen Beitrag ermittelt hat, den ihre zehn Prioritäten zur Umsetzung der Agenda 2030 leisten können. Der EWSA betont jedoch, dass die unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeitsziele durchgeführte Bestandsaufnahme der EU-Maßnahmen durch eine eingehende Analyse der tatsächlichen Lücken ergänzt werden muss, die momentan in der EU hinsichtlich der Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele offen zutage treten. Nur durch einen Tatsachenabgleich kann die EU Bereiche, in denen Vorarbeiten nötig sind, ermitteln und die Wirksamkeit der derzeitigen EU-Maßnahmen hinsichtlich der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele kritisch prüfen.

1.7.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, eine Multi-Stakeholder-Plattform für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU einzurichten (2). Dabei ist nach Ansicht des EWSA zu gewährleisten, dass nichtstaatliche Akteure zusammen mit Vertretern der Institutionen in dieser Plattform auf Augenhöhe zusammenarbeiten können, um den Multi-Stakeholder-Ansatz der Agenda 2030 der Vereinten Nationen in die EU-Politik für nachhaltige Entwicklung zu übertragen. Diese Plattform muss ein breites Spektrum nichtstaatlicher Akteure in den gesamten Zyklus der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU einbeziehen — von der Entwicklung neuer Politikinitiativen, langfristiger Strategien und Sensibilisierungsmaßnahmen bis zur Überprüfung und Überwachung der Umsetzung der Politik und zum Austausch bewährter Verfahren. Außerdem sollte die Plattform die Zusammenarbeit sowie Partnerschaften einer Vielzahl von Akteuren erleichtern. Der EWSA wird die Arbeit der Plattform unterstützen, indem er ein Mitglied benennt, das ihn in der Plattform vertritt und Fachwissen einbringt, und indem er Kontakte zur Zivilgesellschaft erleichtert und anderweitig einen Beitrag leistet.

1.8.

Hinsichtlich der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist der EWSA der Auffassung, dass der mehrjährige Finanzrahmen für die Zeit nach 2020 auf die Prioritäten für nachhaltige Entwicklung in der EU abgestimmt werden muss. Hierdurch sollte der Anteil der Eigenmittel und Einnahmen erheblich gesteigert und die Umsetzung effektiver und effizienter gemacht werden.

1.9.

Der EWSA hält es für unerlässlich, neben dem allgemein anerkannten BIP-Indikator, der sich bisher als geeignet erwiesen hat, andere Indikatoren einzuführen, mit denen nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch dessen Auswirkungen und Ergebnisse hinsichtlich des Wohlergehens der Bürger und des Zustands der Umwelt gemessen werden können (3). Das ist deswegen wichtig, weil die Durchführbarkeit der bis 2030 gewünschten Entwicklung nur durch Sicherstellung und Überwachung komplexer Veränderungen in Gesellschaft und Umwelt gewährleistet werden kann.

2.   Einleitung

2.1.

Mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt 2015 auf einen in dieser umfassenden Art bisher noch nie dagewesenen Aktionsplan geeinigt, mit dem die Armut beseitigt, der Planet geschützt, die Menschenrechte gewahrt und Wohlstand für alle Menschen gewährleistet werden soll. Die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) für 2030 erfordern sowohl von den Industrie- als auch den Entwicklungsländern umfassende Veränderungen.

2.2.

Auf der Grundlage der Ergebnisse verschiedener Konferenzen hat der EWSA im Jahr 2016 seine Empfehlungen für die Umsetzung der Agenda 2030 in der EU mit einer Reihe von drei Stellungnahmen (4) ausgesprochen.

2.3.

Mit der Mitteilung Nächste Schritte für eine nachhaltige Zukunft Europas  (5) hat die Kommission ihr Konzept zur Umsetzung der Agenda 2030 im Rahmen der internen und externen politischen Maßnahmen der EU vorgestellt. Zusammen mit der Mitteilung wurden mehrere andere Papiere vorgelegt, insbesondere eine Mitteilung über einen neuen europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik und eine Mitteilung über eine erneuerte Partnerschaft mit den AKP-Staaten. Der EWSA hat seinen Standpunkt zu diesen beiden Mitteilungen in gesonderten Stellungnahmen genauer zum Ausdruck gebracht (6).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

In der Einleitung zu der Mitteilung heißt es, dass die EU fest entschlossen ist, eine Vorreiterrolle bei der Umsetzung der Agenda 2030 zu übernehmen (7).

3.2.

Allerdings ist es der Kommission nicht gelungen, durch die Vorlage eines ehrgeizigen Fahrplans für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele Führungsstärke zu zeigen.

3.3.

Die Mitteilung wird ihrem Zweck nicht gerecht, der in dem Arbeitsprogramm der Kommission für 2016 beschrieben wurde, nämlich „ein neues Konzept [vorzulegen], um Wirtschaftsentwicklung und soziale und ökologische Nachhaltigkeit in Europa über das Jahr 2020 hinaus zu gewährleisten und die Nachhaltigkeitsziele in der internen und externen Politik der EU in einem integrierten Ansatz zu verwirklichen“.

3.4.

Der Mitteilung zufolge umfasst die Reaktion der EU auf die Agenda 2030 zwei Ansätze: die uneingeschränkte Einbeziehung der Nachhaltigkeitsziele in die derzeitigen EU-Maßnahmen und Überlegungen zur langfristigen Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele über 2020 hinaus.

3.5.

Der EWSA würdigt die Bemühungen der Kommission, wie in der vorliegenden Mitteilung dargelegt, die Nachhaltigkeitsziele mit allen derzeitigen EU-Maßnahmen und den zehn Prioritäten des Arbeitsprogramms der Kommission zu verknüpfen. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Mitteilung allzu sehr auf den laufenden Geschäften der EU-Politik. Die Kommission versteht die Agenda 2030 nicht als Aufforderung, ihre eigene Politik kritisch zu überprüfen und zu ändern. In der Mitteilung wird der durch die Nachhaltigkeitsziele ausgelöste Paradigmenwechsel nicht widergespiegelt (8): „ein neues, wirtschaftlich nachhaltigeres, sozial inklusiveres und ökologisch dauerhaft tragfähiges Entwicklungsmodell […], das sicherstellt, dass die Ressourcen unseres Planeten in gerechter Weise mit der wachsenden Weltbevölkerung geteilt werden“ (9).

3.6.

Bislang wurde die Agenda 2030 weder von der Kommission noch vom Rat als Gelegenheit genutzt, um ein neues, proaktives, transformatives und positives Narrativ für Europa zu schaffen, wie der EWSA, das EP (10) und zahlreiche Stimmen der Zivilgesellschaft gefordert haben; eine neue Vision eines nachhaltigeren und sozial inklusiveren Europas, das seinen Bürgern nützt und niemanden zurücklässt (11). Weder das Weißbuch der Kommission über die Zukunft Europas noch die Erklärung von Rom durch die führenden Vertreter von 27 Mitgliedstaaten, der Kommission, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments anlässlich des 60. Jahrestags der EU spiegeln den Wert einer langfristig nachhaltigen Entwicklung für die europäischen Bürger und die Notwendigkeit eines vereinten Europas zur Erreichung dieses Ziels hinreichend wider.

3.7.

Außerdem fehlt in der Mitteilung der dringend erforderliche Rahmen für künftige Maßnahmen zur Umsetzung der Agenda 2030. Bisher plant die Kommission nicht die Einleitung eines partizipativen Prozesses, um eine übergreifende und integrierte Strategie für ein nachhaltiges Europa 2030 und darüber hinaus zu konzipieren, wie der EWSA gefordert hat (12). Derzeit reichen die strategischen Rahmen der EU bis zum Jahr 2020. Dies ist inakzeptabel, nicht nur, weil in der Agenda der Vereinten Nationen ein Zeithorizont bis 2030 und im Klimaschutzübereinkommen von Paris sogar eine noch längerfristigere Perspektive festgelegt sind, sondern auch angesichts der Dauer der Prozesse wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung. Es sollte eine einzige umfassende Strategie für die Zeit nach 2020 konzipiert werden, die auf den zehn Prioritäten des Arbeitsprogramms der Europäischen Kommission, der Strategie Europa 2020 mit ihren sieben Leitinitiativen und den elf thematischen Zielen der EU-Kohäsionspolitik aufbaut und den mehrjährigen Finanzrahmen für die Zeit nach 2020 mitberücksichtigt.

3.8.

Die Kommission beherzigt den in der Agenda 2030 erläuterten Multi-Stakeholder-Ansatz selbst nicht ganz. Anders als der Prozess, der zur Annahme der Agenda 2030 geführt hat, ist der Ansatz der Kommission bislang nicht sehr transparent und inklusiv.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Darstellung der EU-Politikfelder, die zu den Nachhaltigkeitszielen beitragen (Kapitel 2.1 der Mitteilung)

4.1.1.

Diese Darstellung scheint reine Schreibarbeit zu sein: eine Zusammenstellung von EU-Maßnahmen, die auf irgendeine Weise Fragen im Zusammenhang mit den 17 Nachhaltigkeitszielen betreffen. Die Bestandsaufnahme spiegelt die Gegebenheiten in Europa nicht hinreichend wider. Die Darstellung rechtfertigt nicht die Schlussfolgerung der Kommission, dass allen 17 Nachhaltigkeitszielen durch die EU-Politik entsprochen wird, da nicht bewertet wurde, ob diese Politik auch tatsächlich wirksam ist oder durch andere widersprüchliche Maßnahmen untergraben wird. So wird beispielsweise angeführt, dass die Nachhaltigkeitsziele in den Bereichen Armut und Ungleichheit mit der Strategie Europa 2020 angegangen werden, aber unerwähnt bleibt, dass die entsprechenden Kernziele der Strategie Europa 2020 nicht erreicht werden.

4.1.2.

Deshalb muss die Darstellung der EU-Politikfelder durch eine eingehende Bedarfsanalyse ergänzt werden, um zu beurteilen, wie weit die EU bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele tatsächlich ist (13). Nur ein Tatsachenabgleich würde es den europäischen Entscheidungsträgern ermöglichen, die richtigen Prioritäten für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu ermitteln. Die Schlussfolgerungen der Kommission aus der Bestandsaufnahme sind nicht glaubwürdig und beruhen nicht auf Tatsachen.

4.1.3.

Zeitgleich mit dem Erscheinen der Mitteilung veröffentlichte Eurostat einen ersten statistischen Überblick über die derzeitige Lage in den Mitgliedstaaten der EU hinsichtlich der Nachhaltigkeitsziele (14). Allerdings hat die Kommission nicht versucht, die nötigen Verknüpfungen zwischen der Bestandsaufnahme, den statistischen Daten und der Ermittlung politischer Prioritäten für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele herzustellen.

4.1.4.

Der EWSA hofft, dass die Einführung eines umfassenden Überwachungsrahmens für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU einen stärker auf Tatsachen gestützten Ansatz zur Ermittlung der größten Lücken und Herausforderungen für die EU mit Blick auf die Agenda 2030 ermöglichen wird.

4.1.5.

Wie vom EWSA bereits unterstrichen, muss sich die EU vor allem für die Verringerung ihres ökologischen Fußabdrucks und die Schaffung eines sozial inklusiveren Europas einsetzen, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen: Ziel 12 (nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster); Ziel 13 (Bekämpfung des Klimawandels); Ziele 14 und 15 (Schutz der Ökosysteme); Ziel 2 (nachhaltige Landwirtschaft); Ziel 9 (Investitionen in Infrastruktur und Innovation); Ziel 10 (Verringerung von Ungleichheiten); Ziel 8 (produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit); Ziel 1 (Beendigung der Armut); Ziel 5 (Geschlechtergleichstellung); Ziel 4 (Bildung) (15).

4.2.    Beitrag der zehn Kommissionsprioritäten zur Agenda 2030 (Kapitel 2.2 der Mitteilung)

4.2.1.

Die Mitteilung zeigt auf, wie die zehn Arbeitsprioritäten der Kommission zu der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele beitragen können. Allerdings sollte die Kommission auch den Mut haben, ihre Arbeitsprioritäten erforderlichenfalls zu ändern bzw. anzupassen, um alle potenziellen Synergien mit den Arbeiten zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele voll zu nutzen.

4.2.2.

Nach Ansicht des EWSA sollte stärker auf die kulturelle Dimension der nachhaltigen Entwicklung und die Bedeutung einer guten Kommunikation zur Förderung der Agenda 2030 geachtet werden.

4.3.    Politische Steuerung (Kapitel 3.1 der Mitteilung)

4.3.1.

Der EWSA empfiehlt parallel zu der langfristigen Strategie für die Umsetzung der Agenda 2030 die Einführung eines Rahmens zur Steuerung und Koordinierung, um die Kohärenz zwischen zentralen und dezentralen Maßnahmen zu gewährleisten und die organisierte Zivilgesellschaft auf nationaler und regionaler Ebene einzubinden.

4.3.2.

Das Europäische Semester sollte zu einem Instrument ausgebaut werden, das der vertikalen Koordinierung auf mehreren Ebenen mit Blick auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in den Mitgliedstaaten dient (16). Leider lässt die Kommission in ihrer Mitteilung die Gelegenheit, das Europäische Semester in diese Richtung weiterzuentwickeln, verstreichen.

4.3.3.

Nach Auffassung des EWSA wurde die nachhaltige Entwicklung seit 2010 zwar in die Strategie Europa 2020 einbezogen, doch wurde keine Kohärenz zwischen den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen erreicht. Mechanismen zur Gewährleistung der Kohärenz der nachhaltigen Entwicklung müssen gestärkt werden.

4.3.4.

Der EWSA begrüßt den stärker integrierten Ansatz der neuen Struktur der Kommission und die Koordinierungsfunktion des Ersten Vizepräsidenten bei den Arbeiten zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Allerdings müssen die koordinierenden Dienststellen der Kommission mit ausreichenden Kapazitäten ausgestattet sein, um diese Arbeiten mit dem entsprechenden Nachdruck voranzutreiben.

4.3.5.

Es ist an den führenden Politikern der EU, das Potenzial für eine bessere Regierungsführung auszuschöpfen, die Verwaltung zu stärken und sich über die Bedeutung einer bereichsübergreifenden Koordinierungsmethode klar zu werden, mit der Interaktionen verbessert und die Kontrolle in der Vorbereitungsphase möglicherweise den sozioökonomischen Akteuren übergeben würde, um die „Partizipation“ wirkungsvoller zu machen. Dadurch werden sie von den enormen verborgenen Kräften profitieren können, die während des Umsetzungsprozesses zutage treten werden.

4.3.6.

Leider wird in der Kommissionsmitteilung nicht die Frage thematisiert, wie sich dieser Prozess erkennen und verbessern lässt.

4.4.    Finanzierung (Kapitel 3.2 der Mitteilung)

4.4.1.

Die Aufstellung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Zeit nach 2020 sollte als Gelegenheit genutzt werden, um die Verwendung der EU-Mittel mit der Umsetzung der Prioritäten für die nachhaltige Entwicklung in der EU abzustimmen.

4.4.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die EU ihr finanzielles Unterstützungssystem auf territorialer, regionaler und lokaler Ebene weiterentwickeln sollte, durch das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gesteigert und das Gemeinwohl gefördert sowie gleichzeitig der Nachhaltigkeitsbedarf berücksichtigt wird. Wirtschaftlicher Wohlstand sollte die wirtschaftliche Grundlage für die Nachhaltigkeitsziele bilden, aber es sollten Regelungen eingeführt werden, um sicherzustellen, dass die sozialen und ökologischen Ziele erreicht werden. Nach Ansicht des EWSA könnte eine Reform des europäischen Steuersystems die Erhöhung der Haushaltsmittel konsolidieren und eine bessere Umsetzung der Agenda 2030 fördern.

4.4.3.

Die Kommission misst Fragen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Finanzierung besonderes Gewicht bei. Besonders notwendig ist es nach Auffassung des EWSA, die richtigen Rahmenbedingungen für private und öffentliche Investoren für die massiven langfristigen Investitionen in die Modernisierung der Infrastruktur und Innovationen, die für den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft unerlässlich sind (17), zu schaffen.

4.5.    Messung der Fortschritte (Kapitel 3.3 der Mitteilung)

4.5.1.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, eine ausführlichere regelmäßige Kontrolle der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im EU-Kontext vorzunehmen und sich dabei auf das breite Spektrum der laufenden Überwachungsprozesse in der Kommission, den Agenturen, im Europäischen Auswärtigen Dienst und in den Mitgliedstaaten zu stützen. Allerdings fehlen spezifische Informationen darüber, wie dieses Kontrollsystem aussehen soll.

4.5.2.

Der EWSA begrüßt die Arbeiten von Eurostat zu Indikatoren für die Überwachung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU. Er betont, dass Entscheidungen zur Überwachung und insbesondere die Gestaltung der Indikatoren weitreichende politische Auswirkungen haben. Die weitere Entwicklung der Indikatoren muss deshalb erörtert und die Zivilgesellschaft auf transparente Weise konsultiert werden.

4.5.3.

Der EWSA geht davon aus, dass nach der Veröffentlichung eines regelmäßigen Überwachungsberichts durch Eurostat und dem Ablauf einer ausreichenden Zeitspanne, in der die Organisationen der Zivilgesellschaft die von ihnen vertretenen Gruppen zu Rate ziehen können, über die Multi-Stakeholder-Plattform ein Dialog über die aus dem Überwachungsprozess gezogenen Schlussfolgerungen und die erforderlichen Maßnahmen zur Überprüfung der Politik entsteht.

4.5.4.

Mehrere Studien des EWSA haben belegt, dass neben dem allgemein anerkannten BIP-Indikator, der sich bisher als geeignet erwiesen hat, unbedingt ein weiterer Indikator eingeführt werden muss, mit dem nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch dessen Auswirkungen und Ergebnisse (Bruttoinlandsergebnis) gemessen werden können. Die Überwachung des angestrebten Entwicklungsprozesses bis 2030 muss auf einem komplexen Geflecht wirtschaftlicher, sozialer und umweltbezogener Indikatoren beruhen (18).

4.5.5.

Der Überwachungsrahmen sollte auch mit dem Europäischen Semester verknüpft sein.

4.5.6.

In der UN-Agenda 2030 werden die Staaten verpflichtet, einen Rahmen zur Überwachung und Überprüfung zu schaffen, d. h. Instrumente für den gesamten Politikzyklus der Planung, Umsetzung, Überwachung und Überprüfung von Strategien einzuführen. Die Überprüfungsphase wurde in der Mitteilung nicht berücksichtigt. Das könnte daran liegen, dass eine übergreifende Strategie und ein übergreifender Aktionsplan für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele, die regelmäßig überprüft werden könnten, fehlen.

4.6.    Gemeinsame Verantwortung und ein Multi-Stakeholder-Ansatz

4.6.1.

Die Nachhaltigkeitsziele bilden eine Agenda für eine Vielzahl von Interessenträgern. Sie können nur dann in die Praxis umgesetzt werden, wenn Zivilgesellschaft, Unternehmen, Gewerkschaften, lokale Gemeinschaften und andere Interessenträger eine aktive und eigenverantwortliche Rolle übernehmen. Durch partizipative Steuerungssysteme muss die Beteiligung der Zivilgesellschaft auf allen Ebenen sichergestellt werden: von der lokalen über die nationale und die europäische Ebene bis hin zur UN-Ebene. Die Nachhaltigkeitsziele setzen voraus, dass Institutionen und Interessenträger auf integrierte Weise über die verschiedenen Sektoren hinweg zusammenarbeiten.

4.6.2.

Mit einem vor kurzem gefassten Beschluss hat die Kommission eine Multi-Stakeholder-Plattform zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU ins Leben gerufen (19). Der EWSA begrüßt dieses neue Projekt und bietet seine Hilfe an, um die Plattform zum Erfolg zu führen.

4.6.3.

Er ist jedoch enttäuscht, dass die Kommission in ihrer Mitteilung nicht auf den Vorschlag des EWSA zur Schaffung eines Europäischen Forums für nachhaltige Entwicklung in Partnerschaft mit der Europäischen Kommission und seine Empfehlungen zur Gestaltung eines solchen Forums einging (20), die sich auf die Ergebnisse von Präsentationen zu dem vorgeschlagenen Forum im Rahmen von Konferenzen, in Arbeitsgruppen des Rates, in der Kommission sowie von Konsultationen von Interessenträgern stützten, bei denen die Teilnehmer Unterstützung für das Forum bekundeten.

4.7.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in ihrem Beschluss zur Gründung der Multi-Stakeholder-Plattform die Aufgaben der Plattform hinsichtlich der Weiterverfolgung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und des Austauschs bewährter Verfahren erweitert und den Vertretern der Zivilgesellschaft eine beratende Rolle in den Überlegungen zur langfristigen Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele sowie deren Beteiligung an der Überwachung und Überprüfung der Maßnahmenumsetzung zugedacht hat. Außerdem sollte die Plattform die Zusammenarbeit sowie Partnerschaften einer Vielzahl von Akteuren erleichtern. Der EWSA ist überzeugt, dass dieser Form der partizipativen Plattform eine entscheidende Rolle bei einer neuen Art des Regierens in Europa, die durch eine gemeinsame Verantwortung gekennzeichnet ist, zukommen sollte.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  EPSC Strategic Notes, Sustainability Now! A European Vision for Sustainability, 20. Juli 2016; Stellungnahme des EWSA zum Thema Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73); Stellungnahme des EWSA zum Thema Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41).

(2)  C(2017) 2941 final.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Neue Maßnahmen für eine entwicklungsorientierte Governance und Durchführung — Bewertung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds und diesbezügliche Empfehlungen (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 1); siehe auch OECD, Measuring Well-being and Progress: Well-being Research http://www.oecd.org/statistics/measuring-well-being-and-progress.htm.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73); Stellungnahme des EWSA zum Thema Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41); Stellungnahme des EWSA zum Thema Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 58).

(5)  COM(2016) 739 final.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 58).

(7)  COM(2016) 739 final, S. 3.

(8)  „Unsere Wirtschaftsweise muss grundlegend verändert werden“, Rede von Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans auf dem Gipfel der Vereinten Nationen am 27. September 2015.

(9)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41, Ziffer 3.4.

(10)  Entschließung vom 12. Mai 2016, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2016-0224+0+DOC+XML+V0//DE.

(11)  Gemeinsamer Aufruf der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften an die europäische Führung, 21. März 2017„The Europe we want“ (Das Europa, das wir wollen) https://concordeurope.org/wp-content/uploads/2017/03/EuropeWeWant_Statement_English_201703.pdf?1855fc; Ausführungen von Solidar zu „Our Common Future“ (Unsere gemeinsame Zukunft) http://www.solidar.org/en/news/statement-our-common-european-future.

(12)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41, Ziffer 1.5.

(13)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41, Ziffer 1.7.

(14)  Eurostat, Sustainable Development in the European Union (Nachhaltige Entwicklung in der Europäischen Union), 2016.

(15)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41, Ziffer 4.1.

(16)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41, Ziffer 1.11; (Stellungnahme des EWSA zum Jahreswachstumsbericht 2017, ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 73).

(17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41); siehe auch Stellungnahme des EWSA zu dem Grünbuch — Langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft (ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11); siehe auch The Green Book, UK government https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/220541/green_book_complete.pdf.

(18)  Siehe unter: Genuine Progress Indicator (GPI — Indikator für den tatsächlichen Fortschritt), Happy Planet Index (HPI — Index des glücklichen Planeten), footprint index (Index des Fußabdrucks) usw.

(19)  C(2017) 2941 final.

(20)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Ein Nachhaltigkeitsforum der europäischen Zivilgesellschaft (ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 73).


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/97


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission — Ökodesign-Arbeitsprogramm 2016-2019“

(COM(2016) 773 final)

(2017/C 345/16)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Befassung

Kommission, 27.1.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Präsidiums

13.12.2016

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

130/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Geltungsbereich des Ökodesign-Arbeitsprogramms 2016-2019 ist zu begrenzt, als dass davon starke Impulse für einen Wandel von Verhaltensmustern im Großhandel ausgehen könnten, der über die Lieferketten für Waren und Dienstleistungen und in einem Tempo stattfindet, das den ehrgeizigen Zielen des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft angemessen wäre.

1.2.

Das Ökodesign von Produkten und Dienstleistungen muss über reine Energieaspekte hinausgehen. Auch wenn diese Aspekte wichtig sind, muss der Schwerpunkt auf dem gesamten Produktlebenszyklus liegen, wobei auch Faktoren wie Langlebigkeit, einfache Instandhaltung und Reparatur, Möglichkeiten zur gemeinsamen Nutzung und zur Digitalisierung, Wiederverwendung, Nachrüstbarkeit, Wiederverwertbarkeit und tatsächliche Weiternutzung der Sekundärrohstoffe für auf den Markt gelangende Produkte zu berücksichtigen sind.

1.3.

Vor dem Hintergrund der Digitalisierung, der Wirtschaft des Teilens und der Functional Economy müssen in das Ökodesign die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft einbezogen werden, um eine Kohärenz zwischen den verschiedenen Strategien herzustellen, mit denen ein neues Wirtschaftsmodell begründet werden soll.

1.4.

Die Bestandteile eines Produkts sollten einfach zur Wiederverwendung und/oder Wiederaufarbeitung rückgewinnbar sein und der Schaffung eines starken Markts für Sekundärrohstoffe förderlich sein.

1.5.

Kennzeichnungsanforderungen können besseren Ökodesign-Strategien dienen, die Verbraucher bei der Entscheidungsfindung unterstützen und so Verhaltensänderungen anstoßen. Die Kennzeichnung sollte auch Angaben zur erwarteten Lebensdauer eines Produkts und/oder zu seinen wesentlichen Bestandteilen umfassen.

1.6.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt seine Unterstützung für die Anwendung einer erweiterten Herstellerverantwortung als Instrument zur Begünstigung des Übergangs zu Geschäftsmodellen der Kreislaufwirtschaft und betont, dass auch dies bei der Förderung des Ökodesigns eine Rolle spielen kann.

2.   Hintergrund

2.1.

Das Ökodesign-Arbeitsprogramm 2016-2019 ist ein Beitrag zu den neuen Initiativen der Kommission im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Das übergeordnete Ziel besteht darin, den Übergang zu einem Kreislaufwirtschaftsmodell zu fördern, bei dem der gesamte Lebenszyklus der Produkte und ihrer Bestandteile berücksichtigt wird.

2.2.

Mit dem Arbeitsprogramm wird an frühere Ökodesign-Arbeitsprogramme für die Jahre 2009-2011 und 2012-2014 angeknüpft. Den rechtlichen Kontext bilden die Ökodesign-Rahmenrichtlinie 2009/125/EG und die Rahmenrichtlinie für die Energiekennzeichnung 2010/30/EG. In Artikel 16 Absatz 1 der Ökodesign-Richtlinie sind regelmäßige Arbeitsprogramme vorgesehen.

2.3.

Das Arbeitsprogramm soll als Instrument zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und gleichzeitig zur Förderung der Beschäftigung dienen.

2.4.

Zum Teil wurde erwartet, dass eine Überarbeitung der Ökodesign-Richtlinie bzw. eine Aktualisierung des Arbeitsprogramms zu einer Erweiterung des Wirkungsbereichs früherer Ökodesign-Initiativen führen würde.

3.   Das Ökodesign-Arbeitsprogramm 2016-2019 im Überblick

3.1.

Der Regelungsrahmen für das Ökodesign und die Energiekennzeichnung dient zwei Zielen (1): Erstens soll dafür gesorgt werden, dass durch Ökodesign nach und nach mehr effiziente Produkte auf dem EU-Markt zugelassen werden. Zweitens sollen die Verbraucher durch die Energiekennzeichnung die Möglichkeit zum Kauf der effizientesten Produkte erhalten und zu dieser Wahl ermutigt werden.

3.2.

Im aktuellen Arbeitsprogramm werden die verabschiedeten Durchführungsmaßnahmen aufgeführt, darunter 28 Ökodesign-Verordnungen, 16 delegierte Verordnungen für die Energiekennzeichnung und drei anerkannte freiwillige Vereinbarungen.

3.3.

Andere Arbeitsbereiche umfassen die Ökodesignmaßnahme für Luftheizungs- und -kühlungsprodukte in Form einer künftigen Verordnung sowie mehrere Änderungen von Verordnungen zur Verbesserung der Produkterprobung und Reduzierung der Möglichkeiten für Betrug durch Ökodesign und Energiekennzeichnung. Dabei handelt es sich um ergänzende Initiativen zu dem Arbeitsprogramm, die zwar genannt werden, jedoch nicht konkret Gegenstand des Programms sind.

3.4.

Bei der Bewertung und Darstellung der bestehenden und laufenden Arbeiten geht es vor allem um Energiekennzeichnung und um die Verwirklichung von Ökodesign-Aspekten lediglich vor dem Hintergrund einer effizienten Leistung.

3.5.

In das Verzeichnis der Produktgruppen wurden neue Gruppen von Produkten aufgenommen, die im Mittelpunkt bestehender Rechtsvorschriften oder Überprüfungen stehen, namentlich:

Automatisierungs- und Kontrollsysteme von Gebäuden

Elektrische Wasserkocher

Handtrockner

Aufzüge

Solarmodule und Solarwechselrichter

Kühlcontainer

Hochdruckreiniger.

4.   Grundsätze des Ökodesigns

4.1.

Ökodesign kann zur Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch beitragen, indem weniger Material und Energie verbraucht, höhere Recyclingraten erreicht und weniger Abfälle produziert werden (2). Die Stärke eines Kreislaufwirtschaftsmodells liegt darin, dass die Schaffung von wirtschaftlichem Wohlstand, sozialen Vorteilen und Umweltnutzen miteinander verzahnt wird. Das Ökodesign kann ein wichtiger Impulsgeber für soziale Nachhaltigkeit sein.

4.2.

Die Ökodesign-Richtlinie wurde zwar zur Verbesserung der Energieeffizienz von Produkten eingesetzt, könnte jedoch auch viel intensiver dazu genutzt werden, ein der Kreislaufwirtschaft entsprechendes Produktdesign anzuregen, indem z. B. Design-Strategien ausgeschlossen werden, die die Reparatur oder den Austausch defekter Teile behindern (3).

4.3.

Das Ökodesign bringt Produkt-Dienstleistungssysteme und Produkte hervor, für die weniger Ressourcen erforderlich sind, wiederverwertbare Werkstoffe und nachwachsende Rohstoffe genutzt und gefährliche Stoffe vermieden werden; zudem wird auf Komponenten zurückgegriffen, die langlebiger und einfacher instandzuhalten, zu reparieren und nachzurüsten sind sowie leichter wiederverwertet werden können. Zwei Ansätze sind zu unterscheiden: Zum einen ein Neudesign von Produkten basierend auf schrittweisen Verbesserungen bestehender Produkte und zum anderen das Design neuer Produkte, mit dem neue ressourceneffiziente Produkte entwickelt werden sollen, die repariert, nachgerüstet und wiederverwertet werden können (4). Im Zuge der Umsetzung der Ökodesign-Richtlinie wurde bislang vor allem auf den schrittweisen Ansatz gesetzt, doch sollte nun die Anwendung des zweiten Ansatzes vorangetrieben werden, flankiert durch die Entwicklung einer neu gestalteten, angemessenen Kennzeichnung und unterstützt durch die fortlaufende Arbeit der europäischen Normungsorganisationen in diesem Bereich.

4.4.

Ein wichtiger Aspekt des Kreislaufdesigns ist, dass ein Produkt zu einer Dienstleistung werden kann, wobei eine Schwerpunktverlagerung vom Eigentum zur Nutzung, vom Verkauf eines Produkts hin zu leistungsbasierten Verträgen stattfindet, z. B. Produkt-Dienstleistungssysteme (PSS) und Dienstleistungsvereinbarungen (SLA).

4.5.

In der Agrar- und Lebensmittelproduktion sollte darauf hingewiesen werden, dass nachhaltige Lebensmittelerzeugungssysteme, wie insbesondere ökologische, sowohl Beispiele für das Kreislaufprinzip als auch für das Ökodesign sind.

4.6.

Die jüngst angelaufene gemeinsame Initiative des EWSA und der Europäischen Kommission zur Einrichtung einer europäischen Plattform für die Kreislaufwirtschaft, an der verschiedene Interessenträger beteiligt sind, kann die Erfassung bewährter Verfahren auf diesem Gebiet erleichtern und dazu beitragen, politische Hindernisse für den Übergang zum Ökodesign zu ermitteln.

5.   Lücken und Schwachstellen

5.1.    Integrierter Ansatz

5.1.1.

Das Ökodesign von Produkten und Dienstleistungen muss über reine Energieaspekte hinausgehen. Auch wenn diese Aspekte wichtig sind, muss der Schwerpunkt auf dem gesamten Produktlebenszyklus liegen, wobei auch Faktoren wie Langlebigkeit, einfache Instandhaltung und Reparatur, Möglichkeiten zur gemeinsamen Nutzung und zur Digitalisierung, Wiederverwendung, Nachrüstbarkeit, Wiederverwertbarkeit und tatsächliche Weiternutzung der Sekundärrohstoffe für auf den Markt gelangende Produkte zu berücksichtigen sind. Ökodesign muss Teil eines integrierten Ansatzes sein, bei dem sowohl die Energieeffizienz als auch die Produktleistung zusammen und gleichberechtigt mit der Effizienz und Leistung in puncto Ressourcen- und Materialnutzung berücksichtigt werden.

5.1.2.

In dem aktuellen Arbeitsprogramm werden die Grenzen einer vorrangigen Schwerpunktsetzung auf die Energieleistung anerkannt. Es liegt auf der Hand, dass aus Gründen der Kohärenz und Klarheit eine umfassendere Ökodesign-Strategie erforderlich ist. Die Ökodesign-Richtlinie an sich ist nicht auf die Energieleistung energieverbrauchsrelevanter Produkte beschränkt, es geht in ihr vielmehr auch um den größeren Rahmen der Bestandteile und Werkstoffe dieser Produkte sowie die weitergehenden Auswirkungen und Kosten mangelnder Ressourceneffizienz.

5.1.3.

Nach den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft sind haltbare, wiederverwendbare, reparierbare und wiederverwertbare Produkte und Dienstleistungen gefordert. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung, der Wirtschaft des Teilens (5) und der Functional Economy (6) sind beim Ökodesign diese Grundsätze einzubeziehen, um für Kohärenz zwischen den verschiedenen Strategien zu sorgen, mit denen ein neues Wirtschaftsmodell (7) begründet werden soll. Die mit der derzeit mangelnden Kohärenz verbundenen Risiken können zu Unsicherheiten für die Wirtschaft führen, wodurch wiederum Innovationen oder Investitionen in Geschäfts- und Unternehmensmodelle, die auf einem umfassenderen Kreislaufwirtschaftsmodell beruhen, gehemmt werden. Eine weitere Folge werden Entwicklungen sein, mit denen Ressourceneffizienz auf Kosten einer übermäßigen Energienutzung angestrebt wird und umgekehrt. Die gegenwärtige und künftige Auswahl der Produkte, die bislang auf dem Kriterium der Energieeffizienz beruhte, sollte auf Produkte und Dienstleistungen mit hoher Ressourceneffizienz ausgeweitet werden.

5.1.4.

Ein starker Sekundärrohstoffmarkt ist für die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft von entscheidender Bedeutung. Das Ökodesign sollte zu einer Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen beitragen, die eine Trennung der Bestandteile eines Produkts ermöglicht, d. h. die Bestandteile eines Produkts sollten leicht zur Wiederverwendung und/oder Wiederaufarbeitung rückgewinnbar sein. Das Design sollte eine solche Rückgewinnung von Sekundärrohstoffen ermöglichen, um den Markt mit sauberen und hochwertigen Materialien zu versorgen.

5.1.5.

Das Design muss auch angesichts der Bedeutung von Nachhaltigkeit und Modularität im Design als treibende Kraft für einen starken Sekundärrohstoffmarkt eingesetzt werden.

5.2.    Änderung von Verhaltensmustern

5.2.1.

Es sollten verschiedene Strategien eingesetzt werden, um einen Wandel des Verbraucherverhaltens herbeizuführen. Die Kennzeichnung allein wird nicht ausreichen, um umfangreiche Verhaltensänderungen zu bewirken. In früheren Stellungnahmen des EWSA wurde im Zusammenhang mit den Instrumenten für die Verwirklichung des Übergangs bereits herausgestellt, dass dazu wirtschaftliche Instrumente (8), Angaben zur Produktlebensdauer (9) und die Verhaltensökonomie (10) (insbesondere das Nudge-Konzept (11)) eingesetzt werden sollten.

5.2.2.

Nicht nur die Verbraucher und Endnutzer müssen ihre Verhaltensmuster ändern. Auch die Wirtschaft braucht Unterstützung durch Anreize und eine klar vorgegebene politische Richtung, um den Wandel zu fördern. Dies wird vor allem in den mittelständischen Unternehmen (KMU) wichtig sein, denn hier können das Verständnis und die Anwendung der Ökodesign-Grundsätze durch Schulungs- und Unterstützungsinstrumente gefördert werden; es sollte dafür gesorgt werden, dass der Übergang ggf. mit einer Neuzuweisung von Arbeitnehmern einhergeht, um Arbeitsplatzverlagerungen so weit wie möglich zu verhindern.

5.2.3.

Der EWSA bekräftigt seine Unterstützung für die Anwendung einer erweiterten Herstellerverantwortung als Instrument zum Übergang zu Geschäftsmodellen der Kreislaufwirtschaft und betont, dass auch dies bei der Förderung des Ökodesigns eine Rolle spielen kann.

5.2.4.

In der Stellungnahme des EWSA zum Paket zur Kreislaufwirtschaft (12) wird auf die Rolle neuer Eigentumsmodelle verwiesen, die auch das Leasing von Produktdienstleistungen umfassen würden. Dieser Ansatz kann auch zur Förderung des Ökodesigns als zwingendes Gebot für die Vermarktung beitragen, wovon sowohl die Umwelt als auch die Gesellschaft als Ganzes profitieren werden.

5.3.    Überprüfungsklauseln

5.3.1.

Die meisten Durchführungsmaßnahmen zu Ökodesign und Energiekennzeichnung enthalten Klauseln, die eine Überprüfung in den kommenden Jahren vorsehen. Gegenstand werden insbesondere die Ressourceneffizienz, Reparierbarkeit, Wiederverwertbarkeit und Langlebigkeit der Produkte sein.

5.3.2.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass diese Grundsätze unbedingt auf die laufenden Studien zum bestehenden Produktverzeichnis angewandt werden müssen und nicht nur auf die neuen Produktgruppen, die in das Arbeitsprogramm aufgenommen werden sollen.

5.3.3.

Die Anwendung dieser Grundsätze sollte nicht nur auf die Überprüfungen ausgelagert werden, sondern nunmehr Teil des Ökodesign-Arbeitsprogramms sein.

5.4.    Erstellung eines sachdienlichen aktuellen Ökodesign-Arbeitsprogramms

5.4.1.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass das aktuelle Ökodesign-Arbeitsprogramm im Lichte des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft überarbeitet wurde. Die gemäß Artikel 18 der Ökodesign-Richtlinie erforderliche Anhörung des Konsultationsforums zu den Vorschlägen aus dem Entwurf des Ökodesign-Arbeitsprogramms wurde jedoch Ende Oktober 2015 durchgeführt, d. h. vor der Vorlage des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft.

5.4.2.

Das Konsultationsforum sollte den offiziellen Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft, der durch die Arbeiten des EWSA zum Ausdruck gebracht wird, zur Kenntnis nehmen.

5.4.3.

In Bezug auf Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wird in dem Arbeitsprogramm lediglich angeführt, dass sie aufgrund der Komplikationen und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Produkten, die sich rasch weiterentwickeln, sowie wegen der Unwägbarkeiten künftiger Marktentwicklungen einer „separaten Behandlung“ unterzogen werden sollten. Es wird darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der Kennzeichnung bei diesen Produkten in der Regel zu viel Zeit in Anspruch nimmt (durchschnittlich vier Jahre) und dass freiwillige Vereinbarungen nicht durchschlagend und rasch genug zu wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen führen.

5.4.4.

Die separate Behandlung von IKT-Produkten in dem Arbeitsprogramm hat erhebliche Bedeutung. Es ist wichtig, für diesen Bereich eine genaue und klare Richtung sowie Ziele vorzugeben, um die Innovation des Ökodesigns für die betreffenden Produkte anzustoßen. Die Anwendung des Ökodesigns auf Mobiltelefone beispielsweise könnte diese Geräte zu „Botschaftern“ des Ökodesigns machen. So könnte ein Kommunikationsgerät dazu genutzt werden, einem breiten Publikum die praktischen Aspekte des Ökodesigns zu vermitteln und über dessen Auswirkungen und Vorteile für den Einzelnen aufzuklären.

5.4.5.

Das Energy-Star-Abkommen zwischen der EU und den USA läuft 2018 aus. Mit diesem Abkommen werden in beiden Rechtsräumen dieselben freiwilligen Effizienzanforderungen für Bürogeräte festgelegt. Angesichts der neuen politischen Dynamik in den USA könnte die Verlängerung des Abkommens gewisse Risiken bergen. Bei einer Überarbeitung sollten die Wettbewerbsvorteile berücksichtigt werden, die mit einer starken Unterstützung des Ökodesigns für Unternehmen in Europa verbunden sind. Die EU hat die Chance, auf diesem Gebiet eine weltweite Führungsrolle zu übernehmen. Die Bedeutung von auf Gegenseitigkeit beruhenden Ansätzen und internationalen Vereinbarungen ist nicht zu unterschätzen, wenn eine durchgängige Berücksichtigung des Ökodesigns erreicht werden soll.

5.4.6.

Es wird ausdrücklich erwähnt, dass ein größerer Abschnitt im Arbeitsprogramm zum Beitrag des Ökodesigns zur Kreislaufwirtschaft erarbeitet werden soll. Es ist zu begrüßen, dass die Notwendigkeit eines erweiterten Anwendungsbereichs anerkannt wird; zugleich sollten allerdings konkrete und kurze Umsetzungsfristen festgelegt werden.

5.4.7.

Die Entwicklung eines Instrumentariums der Kreislaufwirtschaft für das Ökodesign — wie der jüngst von der Ellen-MacArthur-Stiftung veröffentlichte Leitfaden zum Kreislaufdesign (Circular Design Guide) — kann den Wandel begünstigen, muss jedoch durch solide, angemessene Rechtsvorschriften flankiert werden, die durch Hintergrundanalysen, eine umfassende Anhörung der Interessenträger und Unterstützung bei der Normung untermauert werden. Sowohl aus der Verbraucher- als auch der Unternehmensperspektive wird die Nutzung eines solchen Instrumentariums vom Produktpreis und den wirtschaftlichen Anreizen abhängen. Bewährte Verfahren in diesem Bereich können durch das Verursacherprinzip unterstützt werden.

5.4.8.

Die Herausforderungen in den Bereichen Marktüberwachung und internationale Zusammenarbeit sollten nicht unterschätzt werden. Der EWSA weist darauf hin, dass auf Ebene der Mitgliedstaaten zunehmend eine Umsetzung und Berichterstattung im Wege der Marktüberwachung erforderlich ist. Bleibt dies aus, könnten verstärkte, auf einzelstaatlicher Ebene umzusetzende Überwachungsverfahren vonnöten sein, die entweder direkt oder indirekt durch eine Aufsicht auf EU-Ebene koordiniert werden. Eventuell sollte auch erwogen werden, andere als die derzeit üblicherweise im Ökodesign und bei der Energiekennzeichnung verwendeten Überwachungs- bzw. Kontrollverfahren anzuwenden, damit Hersteller und Importeure, die als „Trittbrettfahrer“ auftreten, möglichst vom EU-Markt verdrängt und Investitionen von Unternehmen, die bewährte und transparente Verfahren im Ökodesign, bei der Kennzeichnung und bei der Bereitstellung von Produktinformationen und -deklarationen verfolgen, geschützt und belohnt werden.

5.4.9.

Die Kennzeichnung ist für die Verbraucher und unter dem Gesichtspunkt der Transparenz von entscheidender Bedeutung. Allerdings ist die Kennzeichnung kein Allheilmittel und vor allem nicht unbedingt das angemessenste Instrument, wenn es um Produkte bzw. Dienstleistungen im Business-to-business-Bereich geht. Die Kennzeichnung sollte Angaben zu der zu erwartenden Lebensdauer enthalten und nicht ausschließlich auf die Energieleistung abstellen. So kann ein Gebäude z. B. aufgrund seiner Energieleistung hoch bewertet sein, aber auch noch eine höhere Einstufung aufgrund der beim Bau verwendeten Werkstoffe verdienen. Oder ein umfangreiches und komplexes Produkt (wie etwa ein Heiz-, Kühl- oder Ventilationsproduktsystem) sollte aufgrund der verwendeten Materialien und ihrer Reparierbarkeit, Austauschbarkeit, Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit zusätzlich gewürdigt werden.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 6.

(2)  Ellen MacArthur Foundation, Towards the circular economy: Opportunities for the consumer goods sector (Auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft: Möglichkeiten für den Verbrauchsgütersektor, liegt nur auf Englisch vor), 2013. Dokument abrufbar unter: https://www.ellenmacarthurfoundation.org/assets/downloads/publications/TCE_Report-2013.pdf.

(3)  Europäische Umweltagentur, Environmental indicator report 2014: Environmental impacts of production-consumption systems in Europe (Bericht 2014 über Umweltindikatoren: Umweltauswirkungen der Produktions- und Verbrauchssysteme in Europa, liegt nur auf Englisch vor). Dokument abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/environmental-indicator-report-2014.

(4)  Umweltprogramm der Vereinten Nationen und Technische Universität Delft: Design for sustainability — A step-by-step approach (Design im Sinne der Nachhaltigkeit — ein schrittweiser Ansatz, liegt nur auf Englisch vor), 2009. Dokument abrufbar unter:

http://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/8742/DesignforSustainability.pdf?sequence=3&isAllowed=y.

(5)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 36.

(6)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 1.

(7)  Europäische Umweltagentur, Circular by design — Products in the circular economy (Kreislaufwirtschaft durch Design — Produkte in der Kreislaufwirtschaft, liegt nur auf Englisch vor), Bericht Nr. 6-2017, Juni 2017. Dokument abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/circular-by-design. Der EWSA beschäftigt sich derzeit im Rahmen einer Stellungnahme (SC/048, voraussichtliche Verabschiedung im 2. Halbjahr 2017) mit dem Gesamtpotenzial neuer nachhaltiger Wirtschaftsmodelle.

(8)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1.

(9)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 23.

(10)  Europäische Umweltagentur, Circular by design — Products in the circular economy (liegt nur auf Englisch vor), ebd., S. 31.

(11)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 28.

(12)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Der Beitrag der energetischen Verwertung von Abfällen zur Kreislaufwirtschaft“

(COM(2017) 34 final)

(2017/C 345/17)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Mitberichterstatter:

Antonello PEZZINI

Befassung

Europäische Kommission, 17.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

140/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet die Einhaltung der Abfallhierarchie bei Entscheidungen über die Abfallbewirtschaftung (1) und Optionen für die energetische Verwertung von Abfällen.

1.2.

Mittels einer koordinierten Strategie sollten die Bürger für die allererste Stufe der Abfallhierarchie, d. h. die Abfallvermeidung, sensibilisiert werden.

1.3.

Der EWSA begrüßt den Grundsatz nachhaltigkeitswirksamer öffentlicher Ausgaben der EU („sustainability proofing“) im Kontext der Nachhaltigkeitsziele (SDG) (2). Öffentliche Mittel sollten zur Verbesserung des Wohlergehens der Bürger in Europa beitragen und keinesfalls Tätigkeiten fördern, die den Bürgern schaden.

1.4.

Schwachstellen in geltenden Rechtsvorschriften zur Abfallbehandlung müssen in künftigen Legislativakten behoben werden, um eine gerechte, kohärente und systemische Umstellung auf ein Kreislaufmodell zu gewährleisten.

1.5.

Das Erreichen höherer Recyclingquoten darf nicht durch Hemmnisse infrastruktureller Art in Form von Investitionen in veraltete Verfahren der energetischen Verwertung behindert werden.

1.6.

Obwohl die getrennte Abfallsammlung insbesondere für stark auf Deponien angewiesene Mitgliedstaaten eine Priorität ist, muss sie mit einer Zunahme der Recyclingquoten einhergehen, um einen Mehrwert für die Verwirklichung einer höheren Kreislauforientiertheit zu bringen.

1.7.

Die in einigen Mitgliedstaaten derzeit hohe Zahl an Verbrennungsanlagen steht im Widerspruch zu dem Ziel höherer Recyclingquoten gemäß dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (3). Die Aufgabe besteht nun darin, diese Mitgliedstaaten aus der Abhängigkeit von der Verbrennung zu führen und ihren Übergang zum breiten Spektrum an Abfallbewirtschaftungslösungen mittels u. a. folgender Push- und -Pull-Faktoren zu fördern:

Einführung von Gebühren;

schrittweise Abschaffung von Förderregelungen;

Einführung eines Moratoriums für neue Anlagen und Stilllegung älterer Anlagen.

1.8.

Der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft wird in der EU durch fehlende geeignete Preissignale beeinträchtigt. Dies wird durch die andauernde ungerechtfertigte Subventionierung der nicht nachhaltigen Erzeugungssysteme, insbesondere fossiler Brennstoffe, noch verschärft (4). Der EWSA begrüßt, dass der Zugang zu Kohäsionsfondsmitteln ausdrücklich an die nationalen Abfallbewirtschaftungspläne wie auch den Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft gekoppelt wird. Die Verzahnung mit dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) könnte stärker sein.

1.9.

Biogas bietet vielerlei Vorteile auf EU-Ebene, u. a. Schaffung neuer Arbeitsplätze, Emissionsminderung und Verbesserung der Kraftstoffversorgungssicherheit. Zur optimalen Nutzung der damit verbundenen Möglichkeiten muss ein Rechts- und Politikrahmen ausgehend von bewährten Verfahren der Mitgliedstaaten wie auch anderer Länder auf- und ausgebaut werden.

1.9.1.

Anaerobe Gärung zur Erzeugung von Biomethan, das als Kraftstoff verwendet werden kann, steht im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris. In einer vor Kurzem veröffentlichten Bewertung der Kommission (5) ist festgehalten, dass die Biogaserzeugung in der EU vom derzeitigen Niveau bis 2030 mindestens verdoppelt und sogar verdreifacht werden könnte.

1.10.

Verhaltensänderungen und ein kultureller Wandel tun Not; sie können durch Erziehung und Bildung auf allen Ebenen der Gesellschaft erreicht werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Am 2. Dezember 2015 hat die Kommission einen Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft angenommen, der im Sinne der Verpflichtungen, die die EU im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung eingegangen ist, eine Transformationsagenda mit großem Beschäftigungs- und Wachstumspotenzial beinhaltet und die Förderung nachhaltiger Verbrauchs- und Produktionsmuster zum Ziel hat. Der Schwerpunkt dieser Mitteilung liegt auf der energetischen Verwertung von Abfällen und deren Beitrag zur Kreislaufwirtschaft. „Energie aus Abfall“ ist ein weit gefasster Begriff, der sehr viel mehr bedeutet als nur Abfallverbrennung.

2.2.

Mit dieser Mitteilung soll in erster Linie sichergestellt werden, dass die energetische Verwertung von Abfall in der EU die Ziele des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft fördert und sich streng an den Grundsätzen der EU-Abfallhierarchie orientiert. Außerdem wird geprüft, inwieweit Verfahren der energetischen Verwertung von Abfällen so optimiert werden können, dass sie zu den Zielen der Strategie für die Energieunion und des Übereinkommens von Paris beitragen. Gleichzeitig soll mit dem hier präsentierten Konzept für Energie aus Abfall, indem auf eine nachweislich energieeffiziente Technologie aufmerksam gemacht wird, ein Anreiz für Innovationen geboten und die Schaffung dauerhafter hochqualifizierter Arbeitsplätze gefördert werden.

2.3.

In dieser Stellungnahme wird der Standpunkt des EWSA zu den drei Bereichen der Mitteilung festgemacht, und zwar:

Positionierung von Verfahren der energetischen Verwertung von Abfällen in der Abfallhierarchie und Frage der Förderung aus öffentlichen Mitteln;

Verfahren der energetischen Verwertung von Restabfällen: das richtige Gleichgewicht finden;

Optimierung des Beitrags von Verfahren zur energetischen Verwertung von Abfällen zu den Klima- und Energiezielen der EU im Rahmen der Kreislaufwirtschaft.

Auf bereits bekannten Standpunkten des EWSA aufbauend werden außerdem weitere Überlegungen vorgebracht, die aus Sicht der Zivilgesellschaft berücksichtigt werden müssen.

2.4.

Der EWSA betont, dass die unmittelbaren Abfallbewirtschaftungserfordernisse der EU im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften und mit der bestehenden Infrastruktur für die Abfallbewirtschaftung angegangen werden müssen. Einige suboptimale Praktiken werden fortgeführt werden, das übergeordnete langfristige Ziel ist jedoch ein abfallarmes Modell, in dem Abfallvermeidung, Wiederverwendung, Wiederaufarbeitung und Recycling die Nachgebrauchsphase der Stoffströme dominieren. Es gilt, einen zügigen und konstanten gerechten Übergang hin zu den langfristigen Zielen zu fördern.

2.5.

Bei einem Siedlungsabfallaufkommen in der EU von durchschnittlich 480 kg je Einwohner im Jahr 2015 schwankt die Menge der deponierten Siedlungsabfälle je nach Land zwischen 3 kg im effizientesten Mitgliedstaat und mehr als 150 kg im am wenigsten effizienten Mitgliedstaat.

3.   Positionierung von Verfahren der energetischen Verwertung von Abfällen in der Abfallhierarchie und Frage der Förderung aus öffentlichen Mitteln

3.1.

Der EWSA befürwortet die Einhaltung der Abfallhierarchie bei Entscheidungen über die Abfallbewirtschaftung (6) und Optionen für die energetische Verwertung von Abfällen.

3.2.

Die energetische Verwertung von Abfällen steht indes nicht immer im Einklang mit den Zielen oder Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft. So ist die Verbrennung von Abfällen, die für Wiederverwendung oder Recycling hätten vorbereitet werden können, nicht die beste Lösung in puncto Energieeffizienz oder optimaler Rohstoffnutzung. Gleichermaßen würde auch die Verbringung von Abfällen über große Entfernungen zu hohen Energiekosten bei vergleichsweise niedrigeren Energiegewinnen durch eine energetische Verwertung Nettoenergiekosten und damit verbunden Klimafolgen verursachen. Dies sind nicht die einzigen Beispiele.

3.3.

Die folgende Abbildung illustriert die Rangfolge der in der Mitteilung genannten Verfahren der energetischen Verwertung und die Abfallhierarchie.

Image

3.4.

Die Abfallhierarchie allein reicht nicht aus, um die Zweckmäßigkeit der Verfahren der energetischen Verwertung zu bestimmen. Der EWSA begrüßt den Grundsatz nachhaltigkeitswirksamer öffentlicher Ausgaben der EU („sustainability proofing“) im Kontext der Nachhaltigkeitsziele (SDG). Öffentliche Mittel sollten zur Verbesserung des Wohlergehens der Bürger in Europa beitragen und keinesfalls Tätigkeiten fördern, die den Bürgern schaden.

3.5.

Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Schwachstellen in der Abfallrahmenrichtlinie sich nicht in den Initiativen zur Kreislaufwirtschaft fortsetzen, beispielsweise die Möglichkeit für Mitgliedstaaten, von den Verpflichtungen zur Getrenntsammlung ausgenommen zu werden, falls diese technisch oder wirtschaftlich nicht durchführbar ist. Im Mittelpunkt sollte die Nutzung öffentlicher Mittel für den Abbau technischer Schwierigkeiten bzw. die Nutzung wirtschaftspolitischer Instrumente zum Abbau finanzieller Hürden bei der Umsetzung bewährter Verfahren stehen. Für Materialien mit einem Gehalt an toxischen Substanzen gibt es berechtigte Gründe, die Beseitigung oder energetische Verwertung der Wiederverwendung oder dem Recycling vorzuziehen.

3.6.

Diese Mitteilung stellt eine umfassende Weiterentwicklung des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft dar; sie enthält ehrgeizige Ziele für eine verbesserte Effizienz bei Verfahren der energetischen Verwertung und setzt verstärkt auf die Abfallhierarchie als Maßstab für die Kreislauforientiertheit verschiedener Verfahren. Allerdings enthalten die Rechtsvorschriften, auf denen diese Mitteilung fußt, insbesondere die Abfallrahmenrichtlinie, seit jeher Schwachstellen, die auch weiterhin Probleme verursachen und die Mitteilung schwächen werden, sollten sie nicht behoben werden. Die Einstufung von Abfällen muss überarbeitet werden, möglicherweise auf der Grundlage von Möglichkeiten, die sich aufgrund neuer Technologien für Verfahren der energetischen Verwertung eröffnen (z. B. wird eine beschädigte Tomate erst gar nicht auf den Markt gebracht, wohingegen eine unverkaufte Tomate Abfall ist). Außerdem könnte auch kommunaler Klärschlammbei der Biogärung verwertet werden. Zur Einbeziehung dieser Aspekte in den Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft sind entsprechende Anpassungen der Rechtsvorschriften auf allen relevanten Ebenen Rechnung erforderlich.

3.7.

Aufgrund von gesetzlichen Regelungen der energetischen Abfallverwertung kann die Platzierung der Verfahren in der Abfallhierarchie zu Unklarheiten führen. Diese Platzierung wird auf der Grundlage von gesetzlich verankerten Definitionen vorgenommen und beruht nicht auf einer wissenschaftlichen Analyse der tatsächlichen Auswirkungen der betreffenden Verfahren.

3.8.

Darüber hinaus beinhaltet die Berechnungsmethodik auch technische Aspekte, die mit Begriffsbestimmungen und Schwellenwerten der Abfallrahmenrichtlinie verbunden sind. Anhand dieser Berechnungsmethoden wird die Rangfolge der verschiedenen Verfahren der energetischen Verwertung von Abfällen in der EU-Abfallhierarchie festgelegt. Die Kommission sollte diese detaillierten Berechnungen überprüfen, um sicherzustellen, dass sie insbesondere im Rahmen der Kreislaufwirtschaft, aber auch im Kontext der Nachhaltigkeitsziele, der Energieunion und des Übereinkommens von Paris strapazierfähig sind.

3.9.

Die Verpflichtungen zur Getrenntsammlung von Abfällen, die in den europäischen Abfallvorschriften (7) verankert sind, sind für die Verwirklichung einer verbesserten Abfallbewirtschaftung von entscheidender Bedeutung.

3.10.

Technologische Fortschritte werden weiterhin bessere Möglichkeiten für die Maximierung der Effizienz von Produkten und Energieströmen bieten, die wiederum innovative Lösungen für effizientere Verfahren anstoßen.

3.11.

Nach seiner Ausweitung auf alle Produkte und Dienstleistungen wird das Ökodesign als Teil eines gesamteuropäischen Systems im Zuge der Errichtung einer Kreislaufwirtschaft eine Verringerung des Abfallaufkommens auf ein Minimum bewirken. Dieses Element des Ökodesign ist wesentlich, um saubere reparierbare, wiederverwertbare, rezyklierbare modulare Produkte zu schaffen und wird letztlich zur vollständigen Vermeidung von Abfall nach unserem heutigen Verständnis führen.

3.12.

Dies alles bedeutet auch eine zunehmend geringere Menge an gemischten Abfällen, die in Verbrennungsanlagen verwertet werden, weshalb die einschlägigen Beihilfen in den Mitgliedstaaten abgeschafft und keine neuen Investitionen in diesem Bereich in Betracht gezogen werden sollten, es sei denn für die ressourcen- und energieeffiziente Modernisierung bestehender Infrastruktur.

4.   Verfahren der energetischen Verwertung von Restabfällen: das richtige Gleichgewicht finden

4.1.

Das Erreichen höherer Recyclingquoten darf nicht durch Hemmnisse infrastruktureller Art in Form von Investitionen in veraltete und nicht energieeffiziente Verfahren der energetischen Verwertung behindert werden.

4.2.

Im Jahr 2013 wurden 2,5 Mt Abfälle (Ersatzbrennstoffe) zur energetischen Verwertung zwischen den Mitgliedstaaten verbracht (8).

4.3.

Bei der Bewertung der energetischen Verwertung von Abfällen muss diesem Aspekt der Verbringung Rechnung getragen werden: Erst wenn die Abfallverbringung in die Berechnung der Emissionen in Verbindung mit verschiedenen Abfallbewirtschaftungskonzepten einfließt, können die tatsächlichen Auswirkungen der Verfahren in punkto Emissionen festgelegt werden.

4.4.

Die Verbrennungskapazitäten sind in der EU ungleich verteilt. Auf Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Italien entfällt der größte Teil der Verbrennungsanlagen in Europa. Ganz allgemein sind viele Mitgliedstaaten nach wie vor übermäßig stark auf Deponien angewiesen. Dies muss sich ändern, um die neuen Herausforderungen und Ziele der Abfallvorschriften in Verbindung mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft zu verwirklichen.

4.5.

Stark auf Deponien angewiesene Mitgliedstaaten mit geringer oder ohne Verbrennungskapazität sollten sich in erster Linie auf die getrennte Abfallsammlung konzentrieren. Die Getrenntsammlung von Abfällen an der Quelle ist für die Bereitstellung von qualitativ hochwertigem Abfall für Recycling von entscheidender Bedeutung; dies muss gefördert werden.

4.6.

Viele Mitgliedstaaten weisen indes eine hohe Quote getrennt gesammelter Abfälle auf, wohingegen ihre Recyclingquote im Verhältnis dazu zu niedrig ist. Dieser offensichtliche Widerspruch muss über maßgeschneiderte politische Instrumente angegangen werden.

4.7.

In dieser Mitteilung werden die Regierungen dazu aufgefordert, ihre Fördermittel und -strategien auf andere Optionen als Verbrennungsanlagen auszurichten und Amortisierungsdauer, Verfügbarkeit von Ausgangsstoffen und Kapazitäten in den Nachbarländern zu prüfen.

4.8.

De Nutzung einer Verbrennungsanlage in einem Nachbarland könnte in einigen Fällen die beste Lösung sein, allerdings sollte zunächst eine Lebenszyklusanalyse durchgeführt werden, bei der die wirtschaftlichen und ökologischen Kosten der Abfallverbringung einer kritischen Berechnung unterzogen werden.

4.9.

Abgesehen von einigen äußerst spezifischen Fällen ist es aufgrund der technologischen Fortschritte unwahrscheinlich, dass die Verbrennung die ressourceneffizienteste oder bewährteste Lösung für die Bewältigung der Herausforderungen in Verbindung mit der Abfallbewirtschaftung ist.

4.10.

Die in einigen Mitgliedstaaten derzeit hohe Zahl an Verbrennungsanlagen steht im Widerspruch zu dem Ziel höherer Recyclingquoten. Die Aufgabe besteht nun darin, den Ausstieg dieser Mitgliedstaaten aus der Verbrennung mittels u. a. folgender Push- und-Pull-Faktoren zu fördern:

Einführung von Gebühren;

schrittweise Abschaffung von Förderregelungen;

Einführung eines Moratoriums für neue Anlagen und Stilllegung älterer Anlagen.

4.11.

Der EWSA betont, dass die Einführung von Gebühren für die Verbrennung ohne gleichzeitige Bereitstellung erschwinglicher und zugänglicher Alternativen für die Endnutzer lediglich zu höheren Kosten für die Bürger führen wird. Die Nutzung von Gebühren als wirtschaftliches Instrument muss zielgerichtet und intelligent erfolgen.

4.12.

Für Anträge auf Genehmigungen für Abfallbewirtschaftungstätigkeiten und ihre Erteilung muss ein effizientes Verfahrens in allen Mitgliedstaaten entwickelt werden.

5.   Optimierung des Beitrags von Verfahren zur energetischen Verwertung von Abfällen zu den Klima- und Energiezielen der EU im Rahmen der Kreislaufwirtschaft

5.1.

Der EWSA stimmt der Aussage zu, dass die energetische Verwertung von Abfällen den Beitrag der Kreislaufwirtschaft zur Dekarbonisierung im Einklang mit der Strategie für die Energieunion und dem Übereinkommen von Paris nur maximieren kann, wenn die Abfallhierarchie eingehalten wird. Anaerobe Gärung zur Erzeugung von Biomethan, das als Kraftstoff verwendet werden kann, steht im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris. Mit Biomethan angetriebene Fahrzeuge können ein wirksames Instrument zur Verringerung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen in Europa sein.

5.2.

Für die Optimierung des Beitrags von Verfahren der energetischen Verwertung von Abfällen zu den Klima- und Energiezielen der EU im Rahmen der Kreislaufwirtschaft müssen dabei die effizientesten Techniken und Technologien zum Einsatz kommen. Dies steht im Einklang mit den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen der Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Diese Kriterien sollten größenunabhängig auf alle neuen Anlagen, einschl. kleinerer Anlagen unter 20 MW, Anwendung finden.

5.3.

Die Einführung von Gebühren für die Abfallsammlung hat zunehmende Auswirkungen auf die Ressourcen der Haushalte und Unternehmen. Daher sollte dieses Instrument vorausschauend und unter Berücksichtigung des Umweltschutzes eingesetzt werden.

5.4.

Der öffentliche und der private Sektor sollten für langfristige Projekte zusammenarbeiten können, um die Kreislaufkultur konkreter auszugestalten. Die soziale Verantwortung der Unternehmen kann ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Umstellung auf nachhaltigere Optionen für die Abfallbewirtschaftung spielen.

5.5.

Der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft wird in der EU durch fehlende geeignete Preissignale beeinträchtigt. Dies wird durch die andauernde ungerechtfertigte Subventionierung der nicht nachhaltigen Erzeugungssysteme, insbesondere fossiler Brennstoffe, noch verschärft (9). Der EWSA begrüßt, dass der Zugang zu Kohäsionsfondsmitteln ausdrücklich an die nationalen und regionalen Abfallbewirtschaftungspläne wie auch den Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft gekoppelt wird.

5.6.

Die Verbindung zu Fördermitteln aus dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) könnte stärker sein, um sicherzugehen, dass diese Investitionen vorrangig für Projekte verwendet werden, die die Ziele des Aktionsplans zur Kreislaufwirtschaft fördern. Außerdem könnten weitere Anreize sondiert werden, um den Aufbau einer geeigneten nachgelagerten Kette, beispielsweise den Vertrieb von Kraftstoffen und/oder sekundären Rohstoffen, zu fördern, oder um weitere brauchbare Produkte zu entwickeln.

6.   Weitere Möglichkeiten

6.1.    Biomethan

6.1.1.

In der Mitteilung wird auch die Möglichkeit der Erzeugung von Biogas durch anaerobe Gärung genannt, die für verschiedene Mitgliedstaaten eine Chance ist und daher eingehender beleuchtet werden sollte. In einer vor Kurzem veröffentlichten Bewertung der Kommission (10) ist festgehalten, dass die Biogaserzeugung in der EU vom derzeitigen Niveau bis 2030 mindestens verdoppelt und sogar verdreifacht werden könnte.

6.1.2.

Biogas ist in vielen Mitgliedstaaten, insbesondere in Italien und Deutschland, ein funktionierendes Arbeitsmodell. Diese Länder können als Vorbilder auch wertvolle Erfahrung in der praktischen Umsetzung bieten.

6.1.3.

Derzeit liegen die Kosten für Biomethan über den Kosten für fossiles Methan. Die Nutzung von Biomethan ist jedoch aufgrund der indirekten Kosten gerechtfertigt, die durch Mutagene und Karzinogene, beispielsweise NOx und Ölrauch bei der Nutzung fossiler Brennstoffe, entstehen (11).

6.1.4.

Vor allem lassen sich die möglichen höheren Kosten für Biomethan auch mit den Zielen des Übereinkommens von Paris zur Verringerung der Klimagasemissionen traditioneller Kraftstoffe vereinbaren (12).

6.1.5.

Die Ausgangsstoffe für die anaerobe Gärung dürfen keine oder nur geringe indirekte Landnutzungsänderungen bewirken und die Nahrungsmittelerzeugung nicht negativ beeinflussen. Biogasanlagen werden am besten dort angesiedelt, wo Ausgangsstoffe (in erster Linie Agrarabfälle) anfallen, und als Option für die Abfallbewirtschaftung und zur Deckung des Energiebedarfs genutzt. Hingegen muss vermieden werden, dass durch den Bau anaerober Fermenter überhaupt erst eine Nachfrage nach Ausgangsstoffen, Abfall oder Getreide geschaffen wird.

6.1.6.

Der Standort von Biogasanlagen ist von entscheidender Bedeutung. Die effiziente Nutzung der erzeugten Energie muss erwiesen sein, damit nicht effizient erzeugte Energie wieder verschwendet wird. Außerdem sind anaerobe Fermenter keine Patentlösung für alle landwirtschaftlichen Gebiete in der EU; ihre Förderung sollte auf Gebiete beschränkt sein, in denen die Ausgangsstoffe als derzeit problematische Abfälle verfügbar sind.

6.1.7.

Der Aufbau einer gut geplanten Infrastruktur für die Erzeugung und Nutzung von Biogas kann indes eine ausgesprochen effiziente Möglichkeit für die Behandlung von Agrarabfällen und potenziell umweltschädlichen Substanzen bieten und deren sichere Entsorgung erleichtern. Außerdem kann die Wärme- und Kraftstoffversorgung von Gemeinschaften einbezogen werden.

6.1.8.

Die anaerobe Gärung kann zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit beitragen, Dünger bereitstellen, den Klimagasausstoß verringern und ein praktisches Beispiel für die Kreislaufwirtschaft bieten.

6.1.9.

Die anaerobe Gärung zeigt die größte Wirkung, wenn die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft angewendet werden, insbesondere das Konzept der kleinen Kreisläufe, in denen die Ausgangsstoffe für die Fermentierung vor Ort vorhanden sind und die erzeugte Energie ebenso vor Ort genutzt wird (mit Ausnahme der Nutzung von Kraftstoffen in Form von Gas in Lastkraftwagen). Investitionen müssen im Einklang mit dem Ziel stehen, die Notwendigkeit der Abfallverbringung nach Möglichkeit auf 0 Kilometer zu verringern.

6.1.10.

Die positiven Auswirkungen der Entwicklung eines Biogas-Anteils im nationalen oder regionalen Energiemix auf Beschäftigung und Wirtschaft sollten untersucht und herausgestellt werden. Möglichkeiten zur Erleichterung und Beschleunigung der Verwaltungsverfahren zur Erteilung von Baugenehmigungen für Fermenter sollten ebenfalls geprüft werden.

6.1.11.

Die politische und wirtschaftliche Unterstützung von Projekten, die alle Kriterien erfüllen, wird Innovation fördern und kann zur Erleichterung der Energiewende beitragen.

6.1.12.

Die Überarbeitung des Normungsmandats des CEN (M/475) für europäische Normen für Biogas sollte dahingehend ausgeweitet werden, dass Biomethan aus derzeit nicht zugelassenen Quellen wie beispielsweise Deponiegas, Klärgas, Klärschlamm und nicht getrennten städtischen und sonstigen Abfällen in die Erdgasnetze eingespeist werden kann. Diese Art von Biomethan ist bereits verfügbar.

6.1.13.

Die Nutzung des EFSI ist für die Aufnahme anaerober Gärungsverfahren in Projekten, die noch nicht finanziell tragfähig sind, von entscheidender Bedeutung.

6.1.14.

Für die Förderung der Nutzung von mit Biogas angetriebenen Fahrzeugen sollten Anreize nach dem Vorbild der traditionellen Anreize für fossile Kraftstoffe geschaffen werden. Diese Anreize sollten Vorteile für die Endnutzern bringen, indem erschwingliche und zugängliche Beförderungsalternativen für die Verbraucher angeboten werden.

6.2.    Kulturwandel und Bildung

6.2.1.

Die aus kulturellen Unterschieden herrührenden Probleme müssen bedacht werden. Verhaltensänderungen zur Getrenntsammlung von Abfällen an der Quelle sollten unter dem Blickwinkel eines erforderlichen Kulturwandels angegangen werden. Hierfür können viele Instrumente zum Einsatz kommen, u. a. das Nudge-Konzept (13).

6.2.2.

Mittels einer koordinierten Strategie sollten die Bürger für die allererste Stufe der Abfallhierarchie, d. h. die Abfallvermeidung, sensibilisiert werden.

6.2.3.

Verhaltensänderungen können auch durch die Entwicklung einschlägiger Lerninhalte in den Schulen erreicht werden. Dies sollte für alle Bildungsebenen gelten, vom Kindergarten und der Grundschule bis hin zur Universität und zur Berufsbildung, um Kinder und Erwachsene im Wege einer Langzeitstrategie zu erziehen und zu informieren.

6.2.4.

Universitäten und öffentliche Einrichtungen können zur Legitimierung neuer Technologien und Verfahren beitragen und somit als Vorbilder für bewährte Verfahren und regionale Botschafter für Verfahren der energetischen Verwertung dienen (14).

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Paket zur Kreislaufwirtschaft“, Ziffer 4.3 (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98).

(2)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU“, Ziffer 4.3.5.5 (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41).

(3)  Mitteilung der Europäischen Kommission „Den Kreislauf schließen — Ein Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft“, COM(2015) 614 final, 2. Dezember 2015.

(4)  David Coady, Ian Parry, Louis Sears, Baoping Shang, „How Large Are Global Energy Subsidies?“, IMF Working Papers, WP/15/105, Mai 2015.

(5)  Europäische Kommission, „Optimal use of biogas from waste streams. An assessment of the potential of biogas from digestion in the EU beyond 2020“, März 2017.

(6)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Paket zur Kreislaufwirtschaft“, Ziffer 4.3 (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98).

(7)  Richtlinie 2008/98/EG, insbesondere Artikel 11 (Papier, Metall, Kunststoff und Glas; Bau- und Abbruchabfälle) und 22 (Bioabfall) — (ABl. L 312 vom 22.11.2008, S. 3).

(8)  European Topic Centre on Waste and Materials in a Green Economy (ETC/WMGE), „Assessment of waste incineration capacity and waste shipments in Europe“, Januar 2017.

(9)  David Coady, Ian Parry, Louis Sears, Baoping Shang, „How Large Are Global Energy Subsidies?“, IMF Working Papers, WP/15/105, Mai 2015.

(10)  Europäische Kommission, „Optimal use of biogas from waste streams. An assessment of the potential of biogas from digestion in the EU beyond 2020“, März 2017.

(11)  COM(2017) 11 final — 2017/04 (COD).

(12)  „L’opera loda l’artefice“, so Machiavelli.

(13)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Für eine Berücksichtigung des Nudge-Konzepts in den politischen Maßnahmen der EU“ (ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 28).

(14)  In einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt es bereits einschlägige Beispiele; so verfügt das University College Cork in Irland über eine eigene Kleinanlage zur anaeroben Gärung zu Forschungszwecken.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/110


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/65/EU zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten“

(COM(2017) 38 final — 2017/0013 (COD))

(2017/C 345/18)

Berichterstatter:

Brian CURTIS

Befassung

Rat, 20.2.2017

Europäisches Parlament, 1.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

526

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

139/0/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält die Änderung dieser Richtlinie für zeitgemäß und notwendig, um Handelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen in der EU zu vermeiden.

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass eine umfassende Konsultation der Interessenträger und eine Folgenabschätzung durchgeführt worden sind, deren Ergebnisse in den Kommissionsvorschlag eingeflossen sind.

1.3.

Er unterstützt den Ausschluss von Pfeifenorgeln aus dem Geltungsbereich der Richtlinie aus wirtschaftlichen wie auch aus kulturellen Gründen, denn so werden ein Verlust von bis zu 90 % der Arbeitsplätze in diesem Sektor und ein jährlicher Verlust von bis zu 65 Mio. EUR bis 2025 vermieden.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass bewegliche, nicht für den Straßenverkehr bestimmte Maschinen mit Netzantrieb aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen werden. Hierdurch wird die industrielle Entwicklung in diesem Sektor gefördert, indem die Ungleichbehandlung von Maschinen beseitigt wird.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Richtlinie allein nicht ausreicht, um der obersten Priorität in der Abfallhierarchie, der Abfallvermeidung, zu entsprechen. Der EWSA empfiehlt, zur Erreichung dieser Ziele die RoHS-Richtlinie in Verbindung mit der Ökodesign-Richtlinie und der Richtlinie über Elektro- und Elektronik-Altgeräte anzuwenden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.    Gründe und Ziele des Vorschlags

2.1.1.

Die Richtlinie 2011/65/EU (RoHS-2-Richtlinie) enthält Bestimmungen zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten. Die Bestimmungen der RoHS-2-Richtlinie gelten für alle auf dem EU-Markt in Verkehr gebrachten Elektro- und Elektronikgeräte, unabhängig davon, ob sie in der EU oder in Drittländern hergestellt werden. Die Richtlinie betrifft in erster Linie industrielle Hersteller, Importeure und Vertreiber von Elektro- und Elektronikgeräten sowie die Kunden, die diese Geräte erwerben.

2.1.2.

Gegenstand der Richtlinie ist die Abfallvermeidung, die oberste Priorität in der Abfallhierarchie. Abfallvermeidung umfasst Maßnahmen zur Verringerung des Gehalts an schädlichen Stoffen in Werkstoffen und Produkten. Die Verringerung der Menge gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronik-Altgeräten ist für die Bewirtschaftung dieser Abfälle von Vorteil. Mit der Richtlinie wird die Wiederverwendung der Produkte und die Wiederverwertung der verwendeten Werkstoffe gefördert und so die Kreislaufwirtschaft unterstützt.

2.1.3.

Die RoHS-2-Richtlinie ist notwendig, um Handelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen in der EU zu vermeiden, die entstehen könnten, wenn die Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Verwendung gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten in einzelnen Mitgliedstaaten voneinander abweichen. Sie trägt außerdem zum Schutz der menschlichen Gesundheit und zur umweltgerechten Verwertung und Beseitigung von Elektro- und Elektronik-Altgeräten bei.

2.1.4.

Die RoHS-2-Richtlinie ist eine Neufassung der vorherigen RoHS-Richtlinie 2002/95/EG (RoHS 1). Beide Richtlinien haben zur Verringerung gefährlicher Stoffe weltweit geführt. So haben mehrere Länder, darunter China, Korea und die USA, Rechtsvorschriften ausgearbeitet, die der RoHS-Richtlinie ähneln. Mit der RoHS-2-Richtlinie wurden neue Begriffsbestimmungen eingeführt und der Geltungsbereich wurde auf medizinische Geräte sowie auf Überwachungs- und Kontrollinstrumente ausgeweitet. Die Auswirkungen dieser Bestimmungen wurden im Rahmen des Vorschlags der Kommission von 2008 geprüft. Mit der RoHS-2-Richtlinie wurden jedoch noch weitere Änderungen eingeführt, nämlich der „offene Geltungsbereich“ mittels einer neuen Kategorie 11: „Sonstige Elektro- und Elektronikgeräte, die keiner der bereits genannten Kategorien zuzuordnen sind“. Aufgrund dieser Änderungen gilt die Richtlinie für alle Elektro- und Elektronikgeräte (mit Ausnahme derjenigen, die ausdrücklich ausgeschlossen wurden) und wird der Begriff „Elektro- und Elektronikgeräte“ breiter ausgelegt (neue Definition der Abhängigkeit von Elektrizität). Diese Bestimmungen zum „offenen Geltungsbereich“ wurden bei der Aufnahme in die RoHS-2-Richtlinie nicht eigens geprüft.

2.1.5.

Die Kommission hat die Aufgabe zu prüfen, ob der Geltungsbereich der Richtlinie in Bezug auf den mit der Neufassung von 2011 eingeführten offenen Geltungsbereich abgeändert werden muss. Die Kommission hat diese Prüfung durchgeführt und eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit dem Geltungsbereich der RoHS-2-Richtlinie ausgemacht, die geklärt werden müssen, damit die Rechtsvorschriften keine unbeabsichtigten Folgen haben. Ohne einen Vorschlag der Kommission würden nach dem 22. Juli 2019 folgende Probleme auftreten:

Verbot von Sekundärmarkttätigkeiten (z. B. Weiterverkauf, Gebrauchtwarenhandel) für neu in den Geltungsbereich aufgenommene Elektro- und Elektronikgeräte (sogenannter Hard-Stop);

Wegfall der Möglichkeit, eine Untergruppe von neu in den Geltungsbereich aufgenommenen Elektro- und Elektronikgeräten mit Ersatzteilen zu reparieren, sofern sie vor dem genannten Zeitpunkt rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden;

unterschiedliche (wettbewerbsverzerrende) Behandlung von nicht für den Straßenverkehr bestimmten beweglichen Maschinen mit Netzkabel gegenüber ansonsten identischen Maschinen, die mit Batterie oder Motor angetrieben werden (und derzeit aus dem RoHS-Geltungsbereich ausgeschlossen sind);

De-facto-Verbot des Inverkehrbringens von Pfeifenorgeln auf dem EU-Markt (nicht RoHS-konform aufgrund des zur Erzeugung des gewünschten Klangs verwendeten Bleis).

Diese vier Probleme könnten sich auf den EU-Markt, die Hersteller und die Bürger auswirken und negative wirtschaftliche, ökologische, soziale und kulturelle Folgen haben.

Mit dem Vorschlag der Kommission werden daher den Geltungsbereich betreffende Probleme angegangen, die sich weder durch die Substitution von Stoffen noch durch Ausnahmen und Leitlinien lösen lassen. Dies gilt z. B. für bestimmte Produktgruppen mit permanenten Konformitätsproblemen oder Fälle, in denen der Geltungsbereich zu Marktverzerrungen führt, insbesondere in Bezug auf Folgendes:

Sekundärmarkttätigkeiten für unter die RoHS-2-Richtlinie fallende Elektro- und Elektronikgeräte, die aus dem Geltungsbereich der RoHS-1-Richtlinie ausgeschlossen waren;

Ersatzteile für unter die RoHS-2-Richtlinie fallende Elektro- und Elektronikgeräte, die aus dem Geltungsbereich der RoHS-1-Richtlinie ausgeschlossen waren;

nicht für den Straßenverkehr bestimmte bewegliche Maschinen mit Antrieb über Netzkabel;

Pfeifenorgeln.

Des Weiteren werden in dem Vorschlag im Einklang mit seinen allgemeinen Zielen und den Erfordernissen der Rechtsklarheit Erfahrungen aus der Durchführung der RoHS-2-Richtlinie berücksichtigt.

2.2.    Folgenabschätzung

2.2.1.

In dem Bericht über die Folgenabschätzung der Kommission wird festgestellt, dass die Wiederherstellung des Sekundärmarkts und die höhere Verfügbarkeit von Ersatzteilen für Elektro- und Elektronikgeräte folgende positive Auswirkungen haben:

Verringerung von Kosten und Verwaltungsaufwand sowohl für Unternehmen, einschließlich KMU, als auch für Behörden;

zusätzliche Marktchancen für die Reparaturbranche und den Weiterverkauf;

positive soziale Auswirkungen, auch für Krankenhäuser in der EU, die nach 2019 rund 170 Mio. EUR einsparen würden, da sie weiterhin gebrauchte medizinische Geräte weiterverkaufen und kaufen könnten;

Umweltvorteile in Form eines verringerten Gesamtabfallaufkommens: Dank der Möglichkeit einer längeren Verwendung von Elektro- und Elektronikgeräten werden das Ende ihrer Lebensdauer und die Entsorgung und somit die Entstehung gefährlicher Abfälle (Elektro- und Elektronik-Altgeräte) hinausgezögert. Die Umweltauswirkungen der Herstellung zusätzlicher Ersatzteile sind in den meisten Fällen gegenüber dem Nutzen, der sich aus der Weiterverwendung des gesamten Gerätes ergibt, vernachlässigbar. Mit dieser Maßnahme wird in der EU die Entstehung von jährlich über 3 000 Tonnen gefährlicher Abfälle vermieden, was die Kreislaufwirtschaft unterstützen würde. Die längere Lebensdauer von Elektro- und Elektronikgeräten würde auch zu zusätzlichen Einsparungen von Energie und Rohstoffen führen.

3.   Kohärenz mit den bestehenden Vorschriften in diesem Politikbereich

3.1.

Mit diesem Vorschlag soll die RoHS-2-Richtlinie wieder in vollem Umfang mit den allgemeinen Grundsätzen der Produktrechtsvorschriften der EU in Einklang gebracht werden, indem das Problem von Sekundärmarkttätigkeiten angegangen wird.

3.2.

Gemäß der RoHS-2-Richtlinie dürfen Elektro- und Elektronikgeräte, die nicht in den Geltungsbereich der RoHS-1-Richtlinie fielen, jedoch nicht RoHS-2-konform wären, bis zum 22. Juli 2019 weiterhin auf dem Markt bereitgestellt werden. Nach diesem Datum sind jedoch sowohl das erstmalige Inverkehrbringen als auch Sekundärmarkttätigkeiten (z. B. der Wiederverkauf) für nichtkonforme Elektro- und Elektronikgeräte verboten. Von diesem „Hard-Stop“ für Sekundärmarkttätigkeiten betroffen sind medizinische Geräte, Überwachungs- und Kontrollinstrumente und andere neu in den Geltungsbereich aufgenommene Elektro- und Elektronikgeräte. Dieses Hindernis für Sekundärmarkttätigkeiten ist mit der allgemeinen Harmonisierung der Produktvorschriften der EU nicht vereinbar. Die Kommission schlägt daher vor, den „Hard-Stop“ für Sekundärmarkttätigkeiten aufzuheben.

3.3.

Die RoHS-2-Richtlinie sieht eine Ausnahme (von der allgemeinen Stoffbeschränkung) für Kabel und Ersatzteile für die Reparatur, die Wiederverwendung, die Aktualisierung von Funktionen oder die Erweiterung des Leistungsvermögens der schrittweise in den Geltungsbereich aufgenommenen Gruppen von Elektro- und Elektronikgeräten vor. Andere neu in den Geltungsbereich aufgenommene Elektro- und Elektronikgeräte als medizinische Geräte oder Überwachungs- und Kontrollinstrumente sind jedoch nicht aufgelistet. Dies führt dazu, dass nach dem 22. Juli 2019 keine Ersatzteile mehr verwendet werden dürfen, und zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung. Die Kommission schlägt deshalb die Einführung einer spezifischen Bestimmung vor, nach der Ersatzteile von der Stoffbeschränkung ausgenommen sind, sodass sämtliche in den Geltungsbereich der RoHS-2-Richtlinie fallenden Elektro- und Elektronikgeräte, die auf dem EU-Markt in Verkehr gebracht wurden, jederzeit repariert werden können.

3.4.

In der RoHS-2-Richtlinie sind zehn besondere Arten von Geräten aufgelistet, die von den Bestimmungen zum „offenen Geltungsbereich“ ausgenommen sind. Eine ausgenommene Art von Geräten („bewegliche Maschinen, die nicht für den Straßenverkehr bestimmt sind und ausschließlich zur professionellen Nutzung zur Verfügung gestellt werden“) umfasst nur Maschinen mit eigener Energieversorgung. Diese Bestimmung führt dazu, dass Arten von Maschinen, die ansonsten identisch sind, allein aufgrund ihrer unterschiedlichen Energieversorgung (eigene bzw. externe Versorgung) unter zwei unterschiedliche Regelungen fallen. Die Kommission schlägt vor, die Begriffsbestimmung für „bewegliche Maschinen, die nicht für den Straßenverkehr bestimmt sind und ausschließlich zur professionellen Nutzung zur Verfügung gestellt werden“ zu ändern, um auch Maschinen mit Netzantrieb zu erfassen.

3.5.

Ferner schlägt die Kommission vor, Pfeifenorgeln in die Liste von ausgenommenen Geräten aufzunehmen, da es keine Alternativen gibt, die sich für eine Substitution eignen würden.

3.6.

Gemäß der RoHS-2-Richtlinie sollten Ausnahmen von den Stoffbeschränkungen eine festgelegte begrenzte Dauer haben.

3.7.

In Artikel 5 Absatz 5 ist keine besondere Frist für die Entscheidung der Kommission über Anträge auf neue Ausnahmen vorgesehen, wohingegen die Kommission spätestens sechs Monate vor Auslaufen einer bestehenden Ausnahme über einen Antrag auf Erneuerung der Ausnahme zu entscheiden hat, was sich in der Praxis als nicht durchführbar erwiesen hat. In Verbindung mit der Anforderung, dass ein Antrag auf Erneuerung einer Ausnahme spätestens 18 Monate vor Auslaufen der Ausnahme gestellt werden muss, bedeutet die genannte Frist, dass die Kommission über Anträge auf Erneuerung bestehender Ausnahmen innerhalb von zwölf Monaten nach Einreichung des Antrags entscheiden muss, es sei denn, eine andere Frist ist aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt. Aufgrund der verschiedenen obligatorischen Verfahrensschritte, die für die Bewertung eines Antrags auf Erneuerung erforderlich sind, ist die Einhaltung dieser Frist de facto nicht möglich. Die Bestimmung zur Festsetzung einer Frist, innerhalb deren die Kommission über einen Antrag auf Erneuerung einer Ausnahme zu entscheiden hat, sollte daher gestrichen werden.

4.   Kohärenz mit anderen Politikbereichen der EU

4.1.

Die Änderungen, die Gegenstand des vorliegenden Vorschlags sind, ändern nichts am grundsätzlichen Ansatz der RoHS-2-Richtlinie und ihrer Kohärenz mit anderen Rechtsvorschriften. Die RoHS-2-Richtlinie und die REACH-Verordnung stehen hinsichtlich des Ineinandergreifens der Politikbereiche miteinander im Einklang.

4.2.

Die RoHS-2-Richtlinie steht auch im Einklang mit anderen produktbezogenen Rechtsvorschriften wie der Richtlinie 2012/19/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Elektro- und Elektronik-Altgeräte und der Richtlinie 2000/53/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Altfahrzeuge. Andere EU-Rechtsvorschriften enthalten unter Umständen eigene Verpflichtungen in Bezug auf die Nutzungsphase von Elektro- und Elektronikgeräten, doch gibt es keine Überschneidungen mit RoHS-2-Anforderungen.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/114


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Überprüfung der Umsetzung der EU-Umweltpolitik — Gemeinsame Herausforderungen und Anstrengungen für bessere Ergebnisse“

(COM(2017) 63 final)

(2017/C 345/19)

Berichterstatter:

Mihai MANOLIU

Befassung

23.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 33 und Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Beschluss des Plenums

24.1.2017

 

 

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

15.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

139/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) hat die Überprüfung der Umsetzung des Umweltrechts (EIR-Initiative) klar ergeben, dass die fragmentierte und uneinheitliche Umsetzung des europäischen Umweltrechts ein ernsthaftes Problem in vielen Mitgliedstaaten der EU ist. Eine Ursache der unzulänglichen Umsetzung scheint der fehlende politische Willen vieler Regierungen in den Mitgliedstaaten zu sein, wesentliche Verbesserungen zu einer politischen Priorität zu machen und ausreichende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die EIR-Länderberichte zeigen, wie sehr sich die EU darum bemühen muss, die Ziele und Zwischenziele des 7. Umweltaktionsprogramms (7. UAP) zu erreichen:

Schutz, Erhaltung und Verbesserung des Naturkapitals der Union;

Übergang zu einer ressourceneffizienten, umweltschonenden und wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaftsweise;

Schutz der europäischen Bürger vor umweltbedingten Belastungen, Gesundheitsrisiken und Beeinträchtigungen ihrer Lebensqualität.

1.2.

Der EWSA betont, dass die ordnungsgemäße Umsetzung des europäischen Umweltrechts im Interesse der EU-Bürger ist und einen echten wirtschaftlichen und sozialen Nutzen bringt. Für gesunde Bürger braucht es eine gesunde Umwelt. Funktionierende Ökosysteme sind eine Voraussetzung für die Landwirtschaft und viele andere Wirtschaftsaktivitäten. Eine einheitliche Umsetzung der Umweltnormen in allen Mitgliedstaaten sichert gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen. Arbeitet die Wirtschaft ökologisch verantwortungsvoll, so entsteht ein erhebliches Potenzial für die wirtschaftliche Modernisierung, für Innovationen, für die Unternehmen und Beschäftigungschancen sowie für gute Arbeitsbedingungen.

1.3.

In erster Linie sind es die Mitgliedstaaten, die für die Umsetzung zuständig sind; die Kommission spielt eine wichtige Rolle als Wächterin über eine angemessene und einheitliche Durchführung. Der politische Wille zur Verzahnung der Umweltpolitiken mit anderen Politikbereichen sowie zur aktiven Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Beschlussfassung und die Überprüfung sind auf Ebene der Mitgliedstaaten die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung der Rechtsvorschriften im Umweltbereich.

1.4.

Die Bürger Europas schätzen es, dass die EU für hohe Umweltstandards eintritt. Die unzureichende Umsetzung der Standards untergräbt die Glaubwürdigkeit der EU, die doch für eine einheitliche Einhaltung in allen Mitgliedstaaten sorgen müsste.

1.5.

Der EWSA begrüßt die EIR-Initiative als einen neuen Ansatz und wichtigen Schritt in einem laufenden Prozess, bei dem es um ein gemeinsames Engagement der Kommission und der Mitgliedstaaten zur Durchführung der Umweltpolitik und des Umweltrechts geht. Dieser Prozess muss dahingehend fortgesetzt werden, dass Synergien, ein umfassender Ansatz, Transparenz und Inklusivität erreicht werden.

1.6.

Der EWSA unterstützt den integrierten politischen Ansatz der EIR-Initiative mit dem Verweis darauf, dass dies auch für die Integration von Umwelt- und Sozialpolitik gelten muss. Die Umsetzung der Umweltziele kann nur verbessert werden, wenn die sozialen Auswirkungen — darunter die Folgen für den Arbeitsmarkt, die Verbraucher und insbesondere die schutzbedürftigen Gruppen — sorgfältig und weit im Vorfeld berücksichtigt werden. Marktbasierte Instrumente wie Umweltsteuerreformen sind wichtige Hebel, um die Verwirklichung der Ziele der Umweltgesetzgebung vorantreiben zu können. Der EWSA weist darauf hin, dass die Verpflichtungen, umweltschädliche Subventionen abzuschaffen, in die Praxis umgesetzt werden müssen.

1.7.

Der EIR-Prozess sollte in den kommenden Jahren weiterentwickelt werden, indem er auf weitere Bereiche wie Klima und Chemikalienrecht ausgedehnt wird.

1.8.

Bei der Umsetzung des Umweltrechts sollten die übrigen Politikbereiche einem integrierten Ansatz folgend berücksichtigt werden. Damit bereichsübergreifende Lösungen leichter verwirklicht werden können, sollen gemeinsame Beratungen im Rat der EU-Umweltminister und in weiteren Ratsformationen geführt werden. Das Verhältnis zwischen dem Europäischen Semester und dem EIR-Prozess sollte weiter präzisiert werden, damit das Potenzial der verschiedenen Instrumente optimal ausgeschöpft wird.

1.9.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission um die Einrichtung strukturierter Dialoge mit den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Ergebnisse der Länderberichte. Um wirksam zu sein, muss ein solcher Dialog transparent sein und zu klaren Ergebnissen und Folgemaßnahmen führen. Eine Reihe von Vorbedingungen für einen wirksamen Dialog sollten in Betracht gezogen und für alle beteiligten Parteien festgehalten werden.

1.10.

Der EWSA verweist darauf, dass die wirkungsvolle Umsetzung der Umweltmaßnahmen auch durch die aktive Rolle der Zivilgesellschaft (Arbeitgeber, Arbeitnehmer und weiterer Vertreter der Gesellschaft) zu erreichen ist. Diese Akteure müssen eine Möglichkeit zur Überwachung und Kontrolle der Umsetzung des Umweltrechts bekommen, und zu diesem Zweck muss es einen freien Zugang zu Umweltinformationen, eine Teilnahme an der umweltpolitischen Gestaltung sowie einen Zugang zur Justiz geben. Die Bürger müssen Zugang zu korrekten Informationen über die Umsetzung des Umweltrechts an ihrem Lebens- und Arbeitsort haben. Alle positiven Entwicklungen im Umweltschutz sind das Ergebnis einer maßgeblichen Beteiligung der Zivilgesellschaft, die über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln wacht.

1.11.

Der EWSA bedauert, dass die Schlüsselrolle der Zivilgesellschaft im EIR-Rahmen keine ausreichende Beachtung erfährt. Die stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft könnte das EIR-Projekt wesentlich stärken. Die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen auf nationaler Ebene die Möglichkeit bekommen, ihr Fachwissen und ihre Erkenntnisse in die Länderberichte einfließen zu lassen sowie zu den länderspezifischen strukturierten Dialogen und den Folgemaßnahmen beitragen zu können. Der EWSA ist bereit, eine Mittlerfunktion für den Dialog mit der Zivilgesellschaft auf EU-Ebene wahrzunehmen.

2.   Einleitung

2.1.

Im Mai 2016 leitete die Kommission die Überprüfung der Umsetzung des EU-Umweltrechts (EIR-Initiative) (1) ein, um die Durchführung der Umweltvorschriften der EU in den Mitgliedstaaten zu verbessern. Die EIR-Initiative ist eine Maßnahme, bei der Information und Kooperation im Vordergrund stehen, jedoch keine neuen rechtlichen Verpflichtungen oder Meldepflichten begründet werden. Sie ist als ein fortlaufender Prozess angelegt, in dem Halbjahresberichte der Kommission und Beratungen mit den Mitgliedstaaten vorgesehen sind.

2.2.

Im Februar 2017 veröffentlichte die Kommission die erste Serie der 28 EIR-Länderberichte sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Maßnahmen, die sie durchführen wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Im Umweltrecht hat die EU einen sehr großen Besitzstand geschaffen, dessen sachgemäße Umsetzung allerdings noch große Defizite aufweist. Die EIR-Länderberichte lassen eine fragmentierte und uneinheitliche Umsetzung des Umweltrechts in den Mitgliedstaaten der EU erkennen. Die EIR liefert eine korrekte Beschreibung der Vorteile einer ordnungsgemäßen Umsetzung: die Lebensqualität der EU-Bürger wird verbessert und es entstehen gleiche Bedingungen für die Unternehmen und neue Arbeitsplätze (2). Die Kosten aufgrund der mangelhaften Umsetzung belaufen sich schätzungsweise auf 50 Mrd. EUR pro Jahr (3).

3.2.

Das Siebte Umweltaktionsprogramm (7. UAP) wurde vom Europäischen Parlament und dem Rat im Jahr 2013 verabschiedet (4); darin hat die bessere Umsetzung der Rechtsvorschriften einen herausgehobenen Stellenwert. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission eine praktische Umsetzung im Wege der EIR-Initiative folgen lässt.

3.3.

Die in den Länderberichten zusammengefassten Informationen sind nicht völlig neu. Ihr deutlicher Mehrwert liegt hingegen darin, dass erstmalig die Umsetzungslücken umfassend und übergreifend für die wichtigsten Bereiche des Umweltrechts und die Gesamtheit der Mitgliedstaaten aufgezeigt werden. Durch diese neuartige Bewertungsweise können gemeinsame Ursachen analysiert, strukturelle Hindernisse für eine bessere Umsetzung aufgedeckt und Lösungen und zweckdienliche Instrumente entwickelt werden.

3.4.

Dank der EIR-Initiative ist es zudem möglich, nicht mehr nur auf die unzureichende Umsetzung der Rechtsvorschriften durch Vertragsverletzungsverfahren zu reagieren, sondern bereits vorausblickend etwas gegen die Ursachen einer mangelhaften Umsetzung zu unternehmen. Es sind die Mitgliedstaaten der EU, die in erster Linie für die Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften im Umweltbereich zuständig sind. Nicht selten muss den Regierungen in vielen Mitgliedstaaten ein mangelnder politischer Willen attestiert werden, grundlegende Verbesserungen politisch zu priorisieren und die ausreichenden Finanzmittel dafür bereitzustellen, worin der tiefere Grund für die schlechte Umsetzung des Umweltrechts zu liegen scheint (5). Der EWSA würde es deshalb begrüßen, wenn die EIR-Initiative dazu beitragen könnte, die Notwendigkeit einer besseren Umsetzung auf der politischen Tagesordnung in den EU-Mitgliedstaaten und in den Tagungen des Rates zu verankern.

3.5.

Die Kommission muss auf die schlechte einzelstaatliche Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften mit angemessenen und stringenten Maßnahmen reagieren, zu denen auch Vertragsverletzungsverfahren gehören. Der EWSA hält es für bedenklich, dass sich diese Maßnahmen bislang als unwirksam erwiesen haben. Die Bürger Europas schätzen an der EU gerade auch, dass sie für hohe Umweltstandards eintritt. Wenn diese Standards kaum eingehalten werden, leidet die Glaubwürdigkeit der EU in den Augen ihrer Bürger.

3.6.

Die Länderberichte bilden einen guten Ausgangspunkt für einen strukturierten Dialog zwischen der Europäischen Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat. Zudem können die Mitgliedstaaten so voneinander lernen, gemeinsame Probleme erkennen und bewährte Praktiken übernehmen, nach dem Motto, dass mit Wissensaustausch mehr erreicht werden kann.

3.7.

Da die Bürger, lokale Gemeinschaften und Unternehmen die eigentlichen umweltpolitischen Handlungsträger sind, muss die Zivilgesellschaft eine aktive Rolle im EIR-Zusammenhang einnehmen. Die Zivilgesellschaft ist ein Partner, der bei diesen Bemühungen zwingend mit beteiligt werden muss.

3.8.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die Einbindung der Zivilgesellschaft als wichtigen Faktor für die Folgemaßnahmen zur EIR ansieht. Bedauerlicherweise bleibt die EIR-Initiative jedoch in Bezug auf die Einbindung der Zivilgesellschaft sehr im Vagen. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft muss im gesamten EIR sichergestellt werden, nicht nur bei den Folgemaßnahmen. Dieser Aspekt der EIR muss weiter ausgestaltet werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Bereichsabdeckung der EIR-Initiative

4.1.1.

Die EIR-Initiative bezieht sich auf Kreislaufwirtschaft, Abfallbewirtschaftung, Natur, biologische Vielfalt, Luftqualität, Lärm sowie Wasserqualität und Wasserbewirtschaftung — sie erfasst mithin einen erheblichen Teil des Umweltrechts. Andere Problemfelder, die eng mit diesen Feldern verknüpft sind, sollten in der nächsten Runde angegangen werden. Dies gilt insbesondere für die Milderung des Klimawandels und die Anpassung an den Klimawandel, die für viele umweltpolitische Maßnahmen zentrale Bedeutung haben, wie etwa für den Schutz der Natur und der Artenvielfalt und die Wasserbewirtschaftung. Die Umsetzung des Chemikalienrechts ist von entscheidender Bedeutung für das Wohlbefinden, die gesunde Umgebung und eine saubere Kreislaufwirtschaft.

4.2.    Länderberichte

4.2.1.

Die Länderberichte verschaffen einen sehr guten Überblick über die Umweltprobleme in den Mitgliedstaaten und deren Bemühungen zur Umsetzung des Umweltrechts. Der EWSA sieht es ebenfalls positiv, dass in den Länderberichten Bezug auf die Ziele für die nachhaltige Entwicklung genommen wird, die an diesen Problemen ansetzen. Dies zeigt, dass die Verbesserung der Umwelt als Teil eines weiteren Ansatzes der nachhaltigen Entwicklung wahrgenommen wird, bei dem wirtschaftliche, soziale und ökologische Fortschritte auf integrierte, ganzheitliche und ausgewogene Weise erreicht werden sollen.

4.2.2.

Die Länderberichte liefern den Bürgern und den Organisationen der Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern einen Mehrwert; sie bieten den NRO nicht nur eine gute Übersicht über die Situation in ihrem Heimatland, sondern ermöglichen auch Leistungsvergleiche mit anderen Mitgliedstaaten und die Herausarbeitung von Schwachstellen und unausgeschöpften Potenzialen. Die Länderberichte sind als wertvolles Mittel für die Zivilgesellschaft in den EU-Mitgliedstaaten zu sehen, mit dem sie ihre Regierungen zur Rechenschaft ziehen können, etwas für eine gesunde Umwelt zu unternehmen. Sie ermöglichen es der Zivilgesellschaft, sich für eine bessere Umsetzung des Umweltrechts einzusetzen.

4.2.3.

Dieses Potenzial könnte jedoch weiter ausgeschöpft werden, indem die Zivilgesellschaft stärker in die Erstellung der Länderberichte, strukturierten Dialoge und Folgemaßnahmen sowie die Überprüfung der Berichte im nächsten halbjährlichen Zyklus einbezogen würde. Die Organisationen der Zivilgesellschaft verfügen über umfangreiches Fachwissen, das genutzt werden kann, um die wichtigsten ökologischen Probleme im jeweiligen Land zu ermitteln. Sie sollten daher von Anfang an konsultiert werden.

4.2.4.

Um der EIR-Initiative Kontinuität zu verleihen, müssen die Fortschritte bei der Umsetzung der Empfehlungen vorausgegangener Länderberichte erfasst und die Ergebnisse für die folgende EIR-Runde zusammengestellt werden.

4.3.    Tiefere Ursachen der mangelhaften Umsetzung und Abhilfemaßnahmen

4.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die EIR-Initiative als eine Chance zur Analyse der gemeinsamen tieferen Ursachen für die schlechte Umsetzung betrachtet. Die in der Mitteilung vorgesehene Anfangsbewertung sollte mit den Mitgliedstaaten weitergeführt werden, und zwar unter Berücksichtigung der unmittelbaren Erfahrungen und Kenntnisse nichtstaatlicher Akteure, von Wissenschaftlern, Denkfabriken und des Netzes der Europäischen Union für die Durchführung und Durchsetzung des Umweltrechts (IMPEL).

4.3.2.

Die Kommission hat bereits die wichtigsten allgemeinen Gründe herausgearbeitet: schlechte Koordinierung zwischen lokalen, regionalen und nationalen Behörden, Mangel an Verwaltungskapazität und Mitteln, Mangel an Kenntnissen und Daten, nicht ausreichende Mechanismen zur Sicherstellung der Befolgung sowie mangelnde Integration und politische Kohärenz.

4.3.3.

Die Kommission nennt einige Beispiele für eine bessere politische Koordinierung und Integration, wie z. B. koordinierte politische Konzepte für saubere Luft und Mobilität. Der EWSA unterstützt den integrierten politischen Ansatz des EIR und weist darauf hin, dass dies auch für die Verknüpfung von Umwelt- und Sozialpolitik gelten muss. Die Umsetzung der Umweltziele kann nur verbessert werden, wenn die sozialen Auswirkungen — darunter die Folgen für den Arbeitsmarkt, die Verbraucher und insbesondere die schutzbedürftigen Gruppen — sorgfältig und weit im Vorfeld berücksichtigt werden.

4.3.4.

Letztlich ist es der Mangel an politischem Willen, der hinter vielen Problemen steht (6). Daher ist es wichtig, dass die EIR-Initiative ihr Ziel erreicht, die Umsetzung des Umweltrechts als politisches Problem auf die Tagesordnung der EU zu bringen.

4.3.5.

Der EWSA unterstreicht ferner, dass die Kompetenzen und Kenntnisse der Behörden Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Umsetzung sind. Zusätzlich dazu sind die Sensibilisierung und die Kommunikation entscheidend dafür, dass der Zivilgesellschaft zur Teilnahme am EIR-Prozess verholfen wird.

4.3.6.

Die Kommission sieht in marktbasierten Instrumenten und Investitionen grundlegende Werkzeuge zur Verbesserung der Ziele des Umweltrechts. Der EWSA hat in einer früheren Stellungnahme auf das Potenzial von Reformen der Umweltsteuer verwiesen, bei denen die Steuerlast von der Arbeit auf den Ressourcenverbrauch verlagert wird, um so für die Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftliche Innovationen zu sorgen und zugleich die negativen Umweltauswirkungen zu verringern (7).

4.3.7.

In der gleichen Stellungnahme hat der EWSA die laufenden umweltschädlichen Subventionen angeprangert. Diesbezüglich konnten nur unwesentliche Fortschritte erzielt werden. Sowohl die Steuerreform als auch die Abschaffung umweltschädlicher Subventionen werden in der Kommissionsmitteilung als wichtige Faktoren für eine bessere Umsetzung herausgestrichen. Allerdings wird kein Konzept vorgelegt, um den Stillstand zu überwinden.

4.4.    Ausblick

4.4.1.

Wie die Kommission ausführt, liegt die Verantwortung für die ordnungsgemäße Umsetzung des EU-Besitzstands in erster Linie bei den Mitgliedstaaten. Dennoch gibt es sicherlich auch auf EU-Ebene bedeutende Aspekte, die eine ordnungsgemäße Umsetzung behindern oder unterstützen. Die intelligente Zusammenführung von Umweltzielen und anderen Politikbereichen muss auf EU-Ebene mit einer intelligenten, einheitlichen Regulierung und einer entsprechenden Zuweisung von Mitteln beginnen. Die Ökologisierung der GAP ist ein gutes Beispiel, aus dem Lehren gezogen werden könnten. Mehr politische Kohärenz für eine nachhaltige Entwicklung auf EU-Ebene könnte außerdem zur Verbesserung der Umweltleistung in den EU-Mitgliedstaaten beitragen. Der EIR-Prozess sollte auch als Mechanismus für Rückmeldungen dazu eingesetzt werden, ob umgesetzte EU-Politiken oder Rechtsvorschriften korrigiert oder aktualisiert werden sollten.

4.4.2.

Ausgehend von den Ergebnissen der ersten Runde der EIR-Initiative bietet die Kommission den Mitgliedstaaten an, sie in ihren Bemühungen durch einen strukturierten Umsetzungsdialog mit jedem Mitgliedstaat zu unterstützen, der eine gezielte Unterstützung für die Fachleute der Mitgliedstaaten durch ihre Kollegen in den anderen Mitgliedstaaten und eine Erörterung gemeinsamer struktureller Probleme im Rat beinhaltet. Der EWSA begrüßt diese Maßnahmen, hegt jedoch Zweifel, ob sie ausreichen, um eine Verbesserung der Gesamtqualität im Umweltschutz der Mitgliedstaaten zu erreichen.

4.5.    Strukturierte Dialoge

4.5.1.

Die Einführung strukturierter Dialoge nach dem Vorbild des Europäischen Semesters war bereits im 7. UAP vorgesehen (8). In der Mitteilung mangelt es an Informationen über die praktischen Modalitäten für diese Dialoge, die nicht im Ermessen der Regierungen der Mitgliedstaaten gelassen werden sollten. Eine Reihe von Vorbedingungen für einen wirksamen Dialog sollten in Betracht gezogen und für alle beteiligten Parteien festgehalten werden.

4.5.2.

Es muss eine vernünftige Beteiligung eines breiten Spektrums nichtstaatlicher Akteure sowie regionaler und lokaler Behörden gewährleistet werden. Sie müssen eingeladen werden, weit im Vorfeld sachdienliche Informationen bereitzustellen, damit entsprechende Beiträge ausgearbeitet werden können.

4.5.3.

Um wirksam zu sein, müssen solche Dialoge ergebnisorientiert angelegt werden. Die Ergebnisse und die nächsten Schritte, die Verpflichtungen der Teilnehmer und die Fristen sollten eindeutig festgelegt und überwacht werden. Im 7. UAP ist von „partnerschaftlichen Durchführungsvereinbarungen“ zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten die Rede. Dieses Instrument sollte auch für die EIR-Initiative in Erwägung gezogen werden. Ein Engagement könnte auch von nichtstaatlichen Akteuren, wie von der Industrie, der Landwirtschaft oder vom Einzelhandel kommen.

4.6.    Gegenseitige Unterstützung

4.6.1.

Der EWSA begrüßt die Schaffung einer gegenseitigen Unterstützung zwischen den Experten der Mitgliedstaaten. Die vielfältigen und langjährigen Erfahrungen des EU-Netzes für die Anwendung und Durchsetzung des Umweltrechts (IMPEL) sollten berücksichtigt werden.

4.6.2.

Neben dem Austausch einzelner Sachverständiger sollte es allgemeinere Programme zur gegenseitigen Unterstützung zwischen den Mitgliedstaaten geben, etwa nach dem Vorbild der Partnerschaftsprojekte des Phare-Programms, die erfolgreich die Anpassung an den Besitzstand der Union während des EU-Erweiterungsprozesses (2004-2007) unterstützt haben. Erwogen werden sollte die Einführung von Programmen zur gegenseitigen Begutachtung, ähnlich wie das OECD-Programm mit den Umweltprüfberichten (9).

4.7.    Erörterungen gemeinsamer struktureller Probleme im Rat

4.7.1.

Die Kommission beabsichtigt, gemeinsame strukturelle Probleme, die die ordnungsgemäße Umsetzung hemmen, im Rat zu erörtern. Dadurch würde die Frage der Umsetzung auf die politische Tagesordnung gebracht. Leider werden keine Informationen über den geplanten Ablauf gegeben.

4.7.2.

Im Zuge der „Ökologisierung“ des Europäischen Semesters wurde in den letzten Jahren versucht, diesen zentralen Koordinierungsmechanismus zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten ebenfalls für die Verbesserung der Umweltleistung einzusetzen. So würden Probleme bei der Umweltleistung direkt zur Kenntnis der Staats- und Regierungschefs gelangen, und integrierte Lösungen würden erleichtert.

4.7.3.

Die Ökologisierung des Europäischen Semesters ist bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Die Kommission hat nicht die Absicht, die Ökologisierung des Europäischen Semesters durch die EIR-Initiative zu ersetzen. Allerdings sollte an dieser Stelle für eine weitere Klärung des Verhältnisses zwischen dem Europäischen Semester und dem EIR-Prozess gesorgt werden, damit das Potenzial der verschiedenen Instrumente optimal ausgeschöpft wird.

4.7.4.

Beratungen in den Sitzungen des Rates der Umweltminister werden alleine wahrscheinlich nicht ausreichen. Um integrierte und sektorübergreifende Lösungen zu erleichtern, sollten gemeinsame Beratungen mit anderen Ratsformationen angestrebt werden, wie etwa gemeinsame Diskussionen mit den Ministern für Verkehr, Beschäftigung und Soziales.

4.8.    Rechtsdurchsetzung

4.8.1.

Die Kommission hat völlig korrekt dargelegt, dass die EIR-Initiative nicht an die Stelle rechtlicher Maßnahmen zur Verbesserung der Umsetzung des Umweltrechts treten soll, denn dies läge außerhalb des Anwendungsbereichs der EIR-Initiative. Die EIR-Initiative ist stärker auf Zusammenarbeit ausgerichtet; sie wird nur dann erfolgreich sein, wenn von der Möglichkeit, Sanktionen und Rechtsfolgen einzusetzen, glaubwürdig und wirksam Gebrauch gemacht wird. Dies gilt für Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission im Falle von Verstößen gegen das Umweltrecht, sowie in Bezug auf die rechtlichen Mittel für die Bürger und die Zivilgesellschaft, durch die sie Regierungen auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene zur Rechenschaft ziehen können.

4.8.2.

Der EWSA möchte die Kommission und die Mitgliedstaaten daran erinnern, dass bestimmte Maßnahmen zur Verbesserung der Durchsetzung des Umweltrechts im 7. UAP vorgesehen waren, jedoch bislang nicht weiter verfolgt worden sind:

Ausweitung verbindlicher Kriterien für wirksame Kontrollen und Überwachung durch die Mitgliedstaaten auf das gesamte europäische Umweltrecht;

Sicherstellung kohärenter und wirksamer Mechanismen auf nationaler Ebene für die Behandlung von Beschwerden über die Anwendung des Umweltrechts der Union.

4.8.3.

Der EWSA wird die anstehende Mitteilung der Kommission über den Zugang der Bürger zur Justiz in Umweltangelegenheiten in einer gesonderten Stellungnahme behandeln.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2016) 316 final.

(2)  COM(2017) 63 final, S. 2.

(3)  Europäisches Parlament, At a glance, Environmental Implementation Review.

(4)  ABl. L 354 vom 28.12.2013, S. 171.

(5)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“ (ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 77, Ziffer 1.2).

(6)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“– 7. Umweltaktionsprogramm der EU (ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 77).

(7)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente zur Förderung einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft in der EU“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1).

(8)  7. Umweltaktionsprogramm, Ziffer 59.

(9)  https://www.oecd.org/site/peerreview/environmentalperformancereviews.htm.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Energiepreise und -kosten in Europa“

(COM(2016) 769 final)

(2017/C 345/20)

Berichterstatterin:

Laure BATUT

Befassung

Europäische Kommission, 17.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachkommission

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

127/15/4

1.   Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass mit dem Paket für die Energieunion der Verbraucher in den Mittelpunkt des Energiesystems gestellt werden soll, und fordert nun eine Definition und Konkretisierung dieses Konzepts. Die Verbraucher können ihre neue Rolle nur dann wahrnehmen, wenn sie sich auf klare Rechtsvorschriften stützen können, die ihnen die notwendigen Handlungskompetenzen einräumen. Für den Erfolg der Energieunion muss den europäischen Bürgern und Unternehmen klar aufgezeigt werden, welche Vorteile ihnen daraus erwachsen, zum Beispiel mehr Gleichbehandlung.

1.2.

Der EWSA betont, dass die Bürger und Unternehmen durch die Sensibilisierung für ihren Energiebedarf (Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen) zu mehr Selbstverantwortung bei ihren Energieentscheidungen und ihrem Energieverhalten bewogen werden können. Die Energieeffizienz kann in den Energiebedarfsbilanzen verbucht werden, zur Senkung des Energieverbrauchs beitragen und die Energiekosten somit selbst bei steigenden Energiepreisen beeinflussen. Sie kann jedoch die Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der Versorgungssicherheit oder der Armut nicht alleine lösen (1). Energieeffizienz und Energieeinsparungen sind keine Energiequelle.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, die Prüfung der Daten in den kommenden Jahren durch die Berücksichtigung einer breiteren Palette an Energieträgern auszuweiten; außerdem sollten drei Arten von Verbrauch untersucht werden: der Verbrauch der Haushalte, der Industrie und der Dienstleitungsunternehmen.

1.4.

Der Bericht sollte ferner eine Bewertung der Energieversorgungslösungen beinhalten, um beurteilen zu können, inwieweit der Energiebedarf zu erschwinglichen Preisen gedeckt wurde (Artikel 14 AEUV).

1.5.

Der EWSA empfiehlt darüber hinaus, in dem Bericht auf die Mittel einzugehen, die von den Unternehmen und/oder Verbrauchern für FuE und die Berücksichtigung der Energiespeicherforschung bereitgestellt werden und sich in den Energiepreisen und den Kosten für die Netzfinanzierung niederschlagen dürften.

1.6.

Die Umweltkosten sollten ebenfalls bewertet und allgemein leicht zugänglich gemacht werden.

1.7.

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass am Beginn der zweijährlichen Kommissionsberichte über die Energiepreise und -kosten ein Glossar eingefügt wird, in dem grundlegende Begriffe erläutert und so für alle Verbraucher verständlich gemacht werden.

1.8.

Im Sinne der Transparenz fordert der EWSA die Europäische Kommission außerdem auf, ein Merkblatt für jeden untersuchten Mitgliedstaat mit fünf Referenzwerten pro Energieträger hinzuzufügen:

Spanne zwischen Großhandels- und Endkundenpreis pro Jahr;

Aufschlüsselung der Anteile „Rohstoff“, „Netz“ und „Steuern“ am Endkundenpreis;

jährliche Gewinnrate der Unternehmen in der Wertekette, aber vor allem der nationalen Anbieter;

Prozentsatz und Aufteilung der europäischen Fördermittel für den Mitgliedstaat und die Unternehmen;

Anteil der regulierten Tarife und Sozialtarife am Endkundengesamtpreis.

2.   Einleitung

2.1.

Im Jahr 2014 legte die Europäische Kommission einen ersten Bericht über Energiepreise und -kosten in der Europäischen Union vor. Aufgrund der Unzulänglichkeit der erfassten Daten schlug sie eine Verordnung über europäische Erdgas- und Strompreisstatistik (2) vor.

2.2.

Ziel ist es, den Stand der Entwicklung des Energiebinnenmarkts, der nur teilweise vollendet ist, zu prüfen und zur Festlegung weiterer Maßnahmen beizutragen, um Energieeffizienz und Energiesicherheit in diesem Bereich geteilter Zuständigkeit zu erhöhen.

3.   Zusammenfassung des Kommissionsberichts

3.1.

Der in dieser Stellungnahme behandelte Bericht ist der zweite Bericht der Europäischen Kommission. Darin werden die Energiepreise in den Sektoren Strom, Gas und Erdölerzeugnisse und ihre Auswirkungen auf die Haushalte und die Industrie bewertet und strategische Maßnahmen der EU zur Verwirklichung der Energieunion hervorgehoben.

4.   Strompreise

4.1.

Die Europäische Kommission nennt als Faktoren zur Beeinflussung der Strompreise u. a. die Erhöhung der Energieeffizienz und die Nutzung alternativer Energiequellen; in letzterem Bereich will die EU weltweit die Führungsrolle übernehmen.

4.2.

Die Nettoeinfuhren von Strom aus fossilen Brennstoffen durch die Mitgliedstaaten sind gestiegen, was wiederum die Abhängigkeit der Mitgliedstaaten erhöht und erneut die problematischen Diskussionen über Schiefergas und -öl angefacht hat.

4.3.

Die Großhandelspreise sind seit 2008 stetig zurückgegangen und haben sich im Binnenmarkt angeglichen, wodurch die Preise für Kohle und Erdgas gesunken sind. Allerdings verhindern zahlreiche national bedingte Faktoren die Umlegung dieser Preissenkungen auf die Endkundenpreise, die immer weiter steigen. So stieg der durchschnittliche Preis für Haushalte im gleichen Zeitraum um 3,2 %:

Die Energiekomponente ging zwischen 2008 und 2015 um 15 % zurück;

Die Netzkomponente stieg durchschnittlich jährlich um 3,3 %;

Auch die Komponente Steuern und Abgaben, die in zehn Unterkomponenten (3) gegliedert ist, die u. a. Mehrwertsteuer, Sozialtarife, beschäftigungspolitische Maßnahmen, Tarifausgleich, Versorgungssicherheit, Konzessionsabgaben umfassen, nahm um 10 % zu und stieg von 28 % auf 38 %.

4.4.

Die Strompreise für die Industrie zeigen geringere Anstiege, und zwar zwischen 0,8 und 3,1 % pro Jahr im Zeitraum 2008-2015, da große Energieverbraucher in den Genuss angepasster Tarife kommen.

4.5.

Die Europäische Kommission betont, dass zwischen den Mitgliedstaaten deutliche Unterschiede bestehen, wobei die Preise aufgrund der Komponente Steuern und Abgaben für Haushalte bis ums Dreifache variieren können (von 59 % in Dänemark bis zu 5 % in Malta).

4.6.

Die durchschnittlichen europäischen Strompreise liegen über den US-amerikanischen, aber deutlich unter den japanischen Strompreisen.

5.   Gaspreise

5.1.

Auf Gas entfallen 23 % des Primärenergieverbrauchs in Europa. Gas wird bei der Erzeugung von 15 % des Stroms verwendet und deckt fast ein Drittel des Endenergiebedarfs von Haushalten und Industrie.

5.2.

Da die EU für 69 % ihres Gasverbrauchs von Einfuhren und einer begrenzten Anzahl an Anbietern abhängig ist, muss sie den weltweiten Preisschwankungen folgen.

5.3.

Die Großhandelspreise sind seit 2013 um 50 % gefallen, insbesondere aufgrund der schwachen globalen Nachfrage, der Förderung von Schiefergas in den Vereinigten Staaten und der Ölpreisbindung.

5.4.

Die Gaspreise für Privathaushalte sind seit 2008 um fast 2 % pro Jahr gestiegen. Auch hier ist der Anteil der Komponente Steuern und Abgaben hoch und verzeichnete einen Anstieg um 4,2 % pro Jahr, der neben den Netzkosten die erheblichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten erklärt, in denen der höchste Preis (Schweden) viermal so hoch wie der niedrigste Preis (Rumänien) ist.

5.5.

Für die Industrie und industrielle Großkunden sind die Preise gesunken; die Energiekomponente gibt bei der Preisbildung den größten Ausschlag; durch die Weitergabe vom Großhandelspreis an den Endkundenpreis wird somit eine größere Konvergenz auf dem Binnenmarkt ermöglicht.

5.6.

Weltweit liegt Europa im Durchschnitt der konvergierten Preise mit einem Abwärtstrend seit 2013, bleibt allerdings über den US-amerikanischen und russischen Preisen.

6.   Erdölproduktpreise

6.1.

In den 19 Monaten von Mai 2014 bis Januar 2016 sind die Rohölpreise in USD zunächst um 77 % gefallen und dann wieder gestiegen; derzeit liegen sie bei der Hälfte der Preise von 2014.

6.2.

Aufgrund der Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar hatte dies geringere Auswirkungen auf die Endkundenpreise; außerdem bleiben Steuern und Abgaben eine wichtige Preiskomponente.

Die EU setzte Mindestverbrauchssteuersätze (4) fest, aber fast alle Mitgliedstaaten entschieden sich für höhere Sätze: 2015 machten die Steuern 63 % des durchschnittlichen Endkundenpreises bei Benzin und 57 % bei Diesel aus, wobei es allerdings Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gibt.

6.3.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Preise für die drei großen Energiequellen seit dem letzten Bericht gesunken sind und diese Preissenkungen sich auf die Großhandelspreise ausgewirkt haben. Sie haben auch zu fallenden Endkundenpreise für Erdölerzeugnisse geführt, wohingegen die Endkundenpreise für Strom und Gas aufgrund der steigenden Netzkosten und vor allem Steuern und Abgaben angestiegen sind.

7.   Ausgaben der Haushalte für Energie

7.1.

Für die Haushalte ist der Verbrauch bei Strom, Gas und Heizöl seit 2008 relativ stabil geblieben.

Aufgrund des Anstiegs der Endkundenpreise für Strom und Gas (ohne Verkehr) sind ihre Energieausgaben gestiegen. In Bezug auf den Anteil der Haushaltsaugaben für Energie bestehen große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, wobei dies ärmere Haushalt natürlich stärker betrifft (8,6 % im Jahr 2016 gegenüber 6,2 % im Jahr 2004). Der Energieverbrauch der Haushalte ist in diesem Zeitraum um 4 % zurückgegangen.

7.2.

Die Europäische Kommission unterstreicht, dass soziale Maßnahmen für wirtschaftlich schwächere Verbraucher erforderlich sind, um Energiearmut entgegenzuwirken.

8.   Energiekosten für die Industrie

8.1.

In 14 energieintensiven Sektoren sind die Energiekosten der Unternehmen zwischen 2008 und 2013 zurückgegangen; in den letzten Jahren betrug der Anteil der Energiekosten an den Produktionskosten durchschnittlich zwischen 5 und 10 %. Dies ist auf den Rückgang der Preise für Großverbraucher sowie auf Steuerbefreiungen und -senkungen und nicht unbedingt auf Energieeffizienzmaßnahmen zurückzuführen.

8.2.

Nach Ansicht der Europäischen Kommission ist die Europäische Union im internationalen Vergleich keine sehr energieintensive Wirtschaft. Ein wettbewerbsfähiger und ordnungsgemäß funktionierender Energiemarkts sollte die von Haushalten und Industrie benötigte Energie in der kosteneffizientesten Weise liefern können, ohne die Inflation anzukurbeln und ohne öffentliche Subventionen, die zu ungerechtfertigten Wettbewerbsverzerrungen führen. 2012 beliefen sich die Subventionen auf 113 Mrd. EUR, 17,2 Mrd. EUR davon in Form direkter Subventionen. 2014 betrugen die Einnahme aus Energiesteuern 263 Mrd. EUR, das entspricht 1,88 % des BIP der EU.

9.   Allgemeine Bemerkungen

9.1.

Energie ist ein zentrales Element für die Industrie und die Haushalte. Der Energieverbrauch ist mit CO2-Emissionen verbunden, die Mensch und Klima schaden. Die Europäische Union hat den Wandel hin zu einer Niedrigemissionswirtschaft angestoßen. Das Wissen über die Mechanismen für die Festsetzung der Energiekosten und -preise sollte zu einer besseren Energiewende und zur Bekämpfung von Energiearmut beitragen (5).

9.2.

Aus dem Bericht der Europäischen Kommission geht hervor, dass es nicht einen Energiepreis in der EU gibt, sondern Preise für die verschiedenen Energieträger, die je nach geografischer Lage, nationalen Gepflogenheiten, Zeitpunkt und Verbrauchsgewohnheiten der Nutzer unterschiedlich sind.

9.3.

In mehreren europäischen Ländern wird ein „Energiepreisbarometer“ (Europäische Klimastiftung ECF) für die Haushalte veröffentlicht; die Europäische Kommission legt ihrerseits seit zwei Jahren einschlägige Berichte vor.

10.   Die Energieträger

10.1.

Erdöl, Kohle und Erdgas, die nach wie vor den überwiegenden Teil der weltweit verbrauchten Energie erzeugen, wie auch Biomasse, Kernkraft und Strom, können nicht in gleicher Weise gespeichert oder transportiert werden:

Erdöl kann leicht transportiert werden: In großen geografischen Gebieten kann der Erdölpreis homogen sein;

Gas muss verflüssigt werden: Hierfür sind teure, von verschiedenen Stellen unterstützte Infrastrukturen erforderlich;

Strom, der aus anderen Energiequellen erzeugt wird, kann nicht gespeichert werden, erfordert eine eigene Erzeugungs- und Übertragungsinfrastruktur und hat unterschiedliche Endkosten für die Haushalte und die Industrie.

10.2.

Der Energiepreis wiederum wirkt sich je nach direktem Energieverbrauch und Energieverbrauch für Vorleistungskosten für die Erzeugung eines Produkts auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Sektors aus. Ein niedriger Energiepreis kann die Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen (siehe das Beispiel Schiefergas in den USA), ohne gleichzeitig ein struktureller Produktivitätsfaktor zu sein.

10.3.

Zahlreiche Mitgliedstaaten importieren Energie von ihren EU-Nachbarn oder Drittländern; daher hat auch die geopolitische Situation Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit und den Preis.

10.4.

Der Preis für ein Barrel Erdöl ist nach wie vor in US-Dollar festgelegt; die Währungskurse und somit die Entwicklung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wirken sich auf den Wettbewerb und die Preisbildung für die Endverbraucher aus.

10.5.

Die Auswirkungen der Energiepreise für Unternehmen und Haushalte haben wiederum Folgen für die globale Nachfrage. Der EU-Handel findet großteils im EU-Binnenmarkt und mit Verarbeitungserzeugnissen statt, die von Energiepreisschwankungen beeinflusst werden.

11.   Preise und Kosten

11.1.    * Preise

11.1.1.

Kosten oder Preise? In der Alltagssprache werden diese beiden Begriffe häufig in einen Topf geworfen. Der Kommissionsbericht (COM(2017) 769 final) wäre durch eine Präzisierung dieser Begriffe klarer geworden.

11.1.2.

Der Preis ist am eindeutigsten zu definieren. Er steht für den Handelswert einer energetischen Einheit, Ware oder Dienstleistung. In einem vollkommen „freien“ Markt würde er zum Marktgleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage führen.

11.1.3.

Auf einem ausgereiften globalen Markt gibt es genauso viele Preise wie Märkte. In jeder Transaktionsetappe wirken auch externe Elemente (Externalitäten) auf den Preis ein. Darüber hinaus beeinflussen auch die Elemente der internen Politik der Mitgliedstaaten den Preis wie beispielsweise die Struktur des Energiesektors, das Steuerwesen, das Klima, die Kaufkraft der Haushalte oder die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.

11.1.4.

Unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips könnte die Energieunion diese Elemente ausgleichen, die Unterschiede und Ungerechtigkeiten zwischen den Unionsbürgern bedingen.

11.2.    * Kosten

11.2.1.

Die Kosten entsprechen dem Preis für die energetischen Rohstoffe, die für die Herstellung einer Ware bzw. einer Dienstleistung und ihre Bereitstellung für die Verbraucher erforderlich sind („Les prix et les coûts des sources d’énergie“, Jean-Marie Martin-Amouroux, 20. Februar 2017). Je nach gewählter Energiequelle kann es erhebliche Kostenunterschiede geben (SWD(2016) 420 final).

11.2.2.

Betreffend KMU, die 90 % des europäischen Wirtschaftsgefüges ausmachen, kann der Preis, zu dem sie ihre Energie kaufen, und der Preis für die Energie, die in den von ihnen verarbeiteten Primärerzeugnissen erhalten ist, trotz ihres vergleichsweise geringen Energieverbrauchs erhebliche Auswirkungen auf die Gestehungskosten ihrer Erzeugnisse und deren Verkauf haben.

11.2.3.

Außerdem sind die Energiekosten kein einfach zu ändernder Faktor, sie sind eine Zwangsausgabe; wenn die Energiekosten ein wichtiger Faktor in den Produktionskosten sind, wirken sie sich auf den Verkaufspreis der Erzeugnisse und somit die Kaufkraft der Verbraucher aus; das Nachfragewachstum kann dadurch ebenfalls gebremst werden (siehe den Automobilsektor). Für die Unternehmen bleiben die Energiequellen ersetzbar; wird Erdöl zu teuer, steigen sie auf Gas usw. um.

11.2.4.

Die Frage der Energiekosten steht auch in Verbindung mit der europäischen Diplomatie und der Definition einer europäischen Industriepolitik, und zwar nicht nur für energieintensive Industriezweige.

12.   Besondere Bemerkungen

12.1.

Dieser Bericht, in dem die Europäische Kommission Bilanz der Energiepreise und -kosten in Europa zieht, ist Teil des Pakets „Saubere Energie für alle Europäer“ (6). Der EWSA bedauert, dass die Perspektive der Energiewende nicht stärker herausgestellt wird. Die je nach Energieträger unterschiedliche Kostenaufschlüsselung wäre verständlicher. Der Energiegehalt einer Ware hängt von der gesamten Produktionskette und den Energiekosten ab. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und darüber hinaus ihre Fähigkeit, nachhaltige Arbeitsplätze zu schaffen und die Umwelt zu erhalten, stehen auf dem Spiel.

12.2.

Aufgrund ihrer Rechtsvorschriften ist die EU zur gemeinsamen Referenz im internationalen Kampf gegen Klimagasausstoß und für die Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien geworden. Die Entscheidung über den Energiemix liegt allerdings bei den Mitgliedstaaten, die ihrerseits unterschiedliche Ansätze bei der Besteuerung und dem Klimaschutz verfolgen. Diese Situation führt zu Dumping und erschwert die Governance der Energieunion (7).

12.3.

Ein Ansatz nach dem Motto „Wettbewerb ist alles“ wie in den 1980er-Jahren trägt weder der weltweiten Realität des Energiesektors noch dem Paradigmenwechsel der EU Rechnung: Der Verbraucher steht im Mittelpunkt des Systems und es kann nicht mehr über die „Unzulänglichkeiten des Marktes“ oder über das breite Spektrum an öffentlichen Maßnahmen für den Energiesektor, die nichts weniger als Subventionen sind, oder über die erheblichen Steuereinnahmen der öffentlichen Hand geklagt werden. Man könnte dies auch als Umverteilung zum Ausgleich der sozialen Kosten der Energie bezeichnen, die für zahlreiche Bürger nicht mehr tragbar sind.

12.4.

Der Anstieg der Energiepreise, insbesondere der Strompreise, kann zur Verlagerung von Arbeitsplätzen führen. Eine stabile öffentliche Politik ist für die Arbeitnehmer, Unternehmer und Investoren von grundlegender Bedeutung.

12.5.

Es gibt nach wie vor Ungleichheiten zwischen den Bürgern wie auch zwischen den Mitgliedstaaten. Derartige Unterschiede bestehen auch zwischen den Unternehmen, d. h. zwischen den energieintensiven und den übrigen Unternehmen, sowie zwischen Unternehmen und Privatpersonen. Die Liberalisierung des Binnenmarktes, mit der nationale Monopole zugunsten des Wettbewerbs zerschlagen wurden, was Vorteile für die Verbraucher bringen sollte, hat eine Erhöhung der Gas- und Stromrechnungen für die Endverbraucher bewirkt und das Entstehen von außerwettbewerblichen Oligopolen nicht verhindert. Nach Meinung des EWSA könnte die Idee einer Gleichbehandlung der Verbraucher durch Ausgleichsregelungen zu einem europäischen Konzept werden.

12.6.

In ihrer Mitteilung „Schnellere Innovation im Bereich saubere Energien“ (8) bekräftigt die Europäische Kommission selbst, dass „das Energiesystem einen Wendepunkt erreicht [hat]“ und „die Kosten erneuerbarer Energieträger […] zunehmend wettbewerbsfähig [sind]“. Der Europäische Rat hat Vorschläge zur Dekarbonisierung der Wirtschaft und zur Integration des Energiemarktes angenommen. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung wächst ständig. Die Energieintensitätswerte, mit denen der Energieverbrauch im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gemessen wird, gehen vor allem in entwickelten Ländern ständig zurück.

12.7.

In dieser Mitteilung wird ein auf folgende drei übergeordnete Zielsetzungen gestütztes Legislativpaket vorgeschlagen:

Vorrang für Energieeffizienz;

Europas weltweite Führung auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien;

ein faires Angebot für die Verbraucher.

12.8.

Die EU muss ihr Konzept für die Energiepreise und -kosten radikal überarbeiten, sie muss den Anforderungen schutzbedürftiger Verbraucher Rechnung tragen und klar darlegen, inwieweit die erneuerbaren Energien durch öffentliche Mittel finanziert werden dürfen, damit die Haushalte nicht zu hart von der damit verbundenen Besteuerung getroffen werden. Die Europäische Kommission regt einen intuitiveren und verbrauchernahen regionalen Ansatz für die Vollendung des Binnenmarkts an.

12.9.

Die Europäische Kommission unterstreicht, dass soziale Maßnahmen für wirtschaftlich schwächere Verbraucher erforderlich sind, um Energiearmut entgegenzuwirken. Dies ist positiv, doch werden diese Maßnahmen nicht aus den Gewinnspannen der großen Energieunternehmen finanziert, sondern von den Bürgern über ihre Steuern und somit aus den Staatshaushalten.

12.10.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass in dem Bericht zahlreiche Informationen enthalten sind, die bei vielen Interessenträgern eingeholt wurden, bedauert jedoch, dass sich diese Transparenz der Preise und der Kosten nicht bis auf die Ebene der Haushalte fortsetzt: Für erneuerbare Energien können die Netzkosten eine Erhöhung von 50 % bewirken („Rapport du Centre d’analyse stratégique“, 2012, Frankreich). Damit die Verbraucher ihre Wahl bzw. ihre Entscheidung treffen können, brauchen sie aussagekräftige Statistiken — wie in der in Fußnote 1 genannten Verordnung vorgesehen. Diese Statistiken müssen die Umweltkosten berücksichtigen und für die Bürger leicht zugänglich sein, für die diese Maßnahmen getroffen werden und die verstehen wollen, warum und wie sie ihre Energie erhalten und bezahlen.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  EWSA-Stellungnahme „Saubere Energie für alle Europäer“ (ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 64).

(2)  ABl. L 311 vom 17.11.2016, S. 1.

(3)  COM(2016) 769 final, S. 7, Fußnote 8.

(4)  ABl. L 283 vom 31.10.2003, S. 51.

(5)  ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 21.

(6)  COM(2015) 80 final.

(7)  EWSA-Stellungnahme „Governance der Energieunion“ (ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 34).

(8)  EWSA-Stellungnahme „Schnellere Innovation im Bereich saubere Energien“ (TEN/619), noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/126


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft“

(COM(2016) 818 final — 2016/0411 (COD))

(2017/C 345/21)

Berichterstatter:

Jacek KRAWCZYK

Befassung

Europäisches Parlament, 16.2.2017

Rat der Europäischen Union, 13.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

135/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die vorgeschlagene Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 (im Folgenden „der Vorschlag“) betrifft lediglich Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b. Nach Annahme der Änderung würde dieser Absatz mit den Worten „eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist, sofern in einer von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft nichts anderes bestimmt ist“ eingeleitet.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet die Absicht der Europäischen Kommission, einen Widerspruch zwischen den Bestimmungen von Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 und des Luftverkehrsabkommens EU-USA über Wet-Lease-Vereinbarungen auszumerzen. Durch die Beseitigung der Unstimmigkeiten und Beschränkungen für Wet-Lease-Vereinbarungen, die weder auf Gegenseitigkeit beruhen noch im Luftverkehrsabkommen EU-USA enthalten sind und unklar bleiben, würden die Möglichkeiten für EU-Luftfahrtunternehmen eingeschränkt und möglicherweise überzogene und unterschiedliche Auslegungen angestoßen. Die Europäische Kommission sollte Bedenken ernst nehmen, dass durch einen unangemessenen Wortlaut das Ziel der EU-Luftfahrtstrategie untergraben und der Weg für neue unbeabsichtigte hybride Geschäftsmodelle geebnet werden könnte.

1.3.

Angesichts der äußerst technischen Natur des Vorschlags und seines begrenzten Umfangs sowie im Hinblick auf künftige umfangreichere Präzisierungen der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 in Bezug auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen sowie Eigentums- und Kontrollbestimmungen ließe sich fragen, warum gerade diese spezifische Änderung herausgegriffen wird. Allerdings hatte die Europäische Kommission in ihrem Zeitplan für die Bewertung (1) bereits vorgesehen, die zeitliche Beschränkung von Wet-Lease-Vereinbarungen einer getrennten Prüfung zu unterziehen. Darüber hinaus rechtfertigen spezifische Aspekte des Luftverkehrsabkommens EU-USA und die langwierigen Diskussionen über diesen Aspekt im zuständigen Gemeinsamen Ausschuss eine eigenständige Lösung für diese spezifische Frage. Ferner ist diese Frage derart spezifischer Natur, dass sie nicht im gleichen Kontext wie politisch komplexe Aspekte, beispielsweise Eigentum und Kontrolle, behandelt werden sollte. Daher ist es gerechtfertigt, die vorgeschlagene Änderung als Einzelaspekt zu behandeln. Der EWSA hält fest, dass die Europäische Kommission eine Folgenabschätzung nicht als erforderlich erachtet. Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass Gewerkschaften und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen Bedenken in Bezug auf den Vorschlag vorgebracht haben.

1.4.

Der EWSA zeigt sich besorgt, dass Verhandlungsteilnehmer und möglicherweise auch Interessenträger die Änderung ohne weitere Präzisierungen des vorgeschlagenen Einleitungssatzes von Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b so auslegen könnten, dass sie Tür und Tor für die grundsätzliche Abschaffung von Beschränkungen für „außergewöhnliche Umstände“ öffnet; dies hätte nicht nur Folgen für die geplanten Verhandlungen über eine neue Wet-Lease-Vereinbarung mit den USA, sondern auch mit jedem anderen Drittland. Der EWSA ist zuversichtlich, dass durch umfassende Konsultationen des breitmöglichsten Spektrums an Interessenträgern aus Industrie und Zivilgesellschaft und nach angemessener Präzisierung des äußerst restriktiven Charakters der vorgeschlagenen Änderung sowohl in Bezug auf ihren Umfang als auch ihren Inhalt gewährleistet wird, dass unbeabsichtigte Auswirkungen der Änderung von Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 vermieden und die Diskussionen auf die Wet-Lease-Vereinbarung EU-USA beschränkt werden können. Die Europäische Kommission muss sicherstellen, dass alle relevanten Interessenträger einschl. die anerkannten Sozialpartner und weitere Organisationen der Zivilgesellschaft in ihre Konsultationen einbezogen werden.

1.5.

Der EWSA sieht der angekündigten umfassenderen Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 entgegen und betont, dass möglichst viele und verschiedene Interessenträger aus Industrie und Zivilgesellschaft in die Konsultation eingebunden werden müssen. Er ist bereit, eine derartige Debatte aktiv zu fördern.

1.6.

Angesichts des Fehlens verlässlicher Daten von beiden Seiten zur aktuellen Nutzung von Wet-Lease-Vereinbarungen sollten sich beide Vertragspartner bei der Aushandlung derartiger Vereinbarungen dafür einsetzen, dass alle Wet-Lease-Vereinbarungen zu statischen Zwecken im Gemeinsamen Ausschuss registriert werden. Dieses Register sollte nach Möglichkeit Informationen über die sozialen Bedingungen enthalten, damit nicht nur gerechte Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer, sondern auch die Rechte der Fluggäste gewährleistet werden, die ebenfalls betroffen sein könnten.

2.   Rechtlicher Rahmen

2.1.

Die vorgeschlagene Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 betrifft nur Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b und das Luftverkehrsabkommen EU-USA. In der aktuellen Fassung dieses Absatzes ist vorgesehen, dass neben dem Nachweis, dass alle Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, die denen der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft entsprechen (2), ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ein in einem Drittland eingetragenes Luftfahrzeug auf der Grundlage „Wet-Lease“ nur anmieten darf, um einen saisonalen Kapazitätsbedarf zu decken (3), betriebliche Schwierigkeiten zu bewältigen (4) oder einen außergewöhnlichen Bedarf zu decken, der auf einen Zeitraum von bis zu sieben Monaten begrenzt ist, der einmal um bis zu sieben weitere Monate verlängert werden kann (5). Nach Annahme der Änderung würde dieser Absatz mit den Worten „eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist, sofern in einer von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft nichts anderes bestimmt ist“ eingeleitet. Der vorgeschlagene Wortlaut beeinträchtigt daher weder die Rechte der Genehmigungsbehörde noch die grundlegende Anforderung, dass die Sicherheitsvorschriften der Gemeinschaft einzuhalten sind.

2.2.

Das einzige internationale Abkommen mit einem Drittland, das in diesem Kontext relevant ist, ist das Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. In Auslegungsleitlinien sollte präzisiert werden, dass die vorgeschlagene Änderung nötig ist, um widersprüchliche Bestimmungen zwischen Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b und dem Luftverkehrsabkommen EU-USA auszumerzen. Wird dies entsprechend präzisiert, würden die vorgeschlagenen Änderungen demnach nur auf ein ganz bestimmtes internationales Luftverkehrsabkommen Anwendung finden und keine grundlegende Änderung der Politik und Rechtsvorschriften für Wet-Lease-Vereinbarungen im Allgemeinen bedeuten.

2.3.

Wie die Europäische Kommission in der Begründung für den Vorschlag erläutert, hat diese Initiative ein sehr spezifisches Ziel und einen begrenzten Umfang; daher schlägt sie vor, von einer Folgenabschätzung abzusehen. Angesichts der Bedenken in Bezug auf mögliche überzogene Auslegungen der vorgeschlagenen Änderung und mittelfristig dadurch ausgelöster Diskussionen mit den USA und möglicherweise auch weiteren Drittländern sollte die Europäische Kommission ihren Vorschlag, von einer Folgenabschätzung abzusehen, ausführlicher begründen. Es muss eindeutig klar sein, dass sich die Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 aus dem Inhalt der kommerziellen Wet-Lease-Vereinbarungen zwischen den Parteien selbst und nicht aus der vorgeschlagenen geänderten Verordnung ergeben würden.

2.4.

In dem Zeitplan der Europäischen Kommission „Establishment of unrestricted wet-lease agreements between the EU and the USA through a wet-lease agreement between the parties“ (6) wird der Hintergrund für diesen Legislativvorschlag erörtert: Angleichung der vereinbarten Grundsätze der grenzüberschreitenden Übertragbarkeit von Luftfahrzeugen („cross-border transferability of aircraft“) zwischen der EU und den USA und Überwindung des Verhandlungspatts zwischen der EU und den USA im Gemischten Ausschuss.

2.5.

Der Vorschlag entspricht den Anforderungen der Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft. Das Luftverkehrsabkommen EU-USA wurde 2007 unterzeichnet und sieht eine offene Wet-Lease-Regelung zwischen den Vertragsparteien vor. Der Zeitraum für die Bewältigung betrieblicher Schwierigkeiten und zur Deckung saisonalen Kapazitätsbedarfs ist durch den Wortlaut begrenzt; die Beschränkung auf einen Zeitraum von zweimal sieben Monaten zur Deckung eines „außergewöhnlichen Bedarfs“ kann im historischen Zusammenhang gesehen werden (7), erscheint jedoch willkürlich und beeinträchtigt die kommerziellen Möglichkeiten zur effizienten Übertragung des Luftfahrzeugs auf neue Betreiber. Da der normale Zeitraum für eine typische Wet-Lease-Vereinbarung 36 Monate beträgt, sind EU-Luftfahrtunternehmen aufgrund der Beschränkung auf 7 + 7 Monate mit rechtlichen und kommerziellen Unsicherheiten konfrontiert.

2.6.

Die Europäische Kommission behauptet, dass der Vorschlag keine erheblichen arbeitsrechtlichen Auswirkungen hat. Wet-Lease-Vereinbarungen sind ganz allgemein ein äußerst sensibles Thema für Arbeitnehmerverbände. Die Kostenzwänge, die von Luftfahrtunternehmen aus Drittländern mit niedrigen Sozialstandards und damit einhergehend mit einer niedrigen Kostengrundlage auferlegt werden, wie auch Unterschiede in der Sozialgesetzgebung innerhalb der EU selbst haben dazu geführt, dass der Sektor des Wet-Leasing unter konstanter Beobachtung der Sozialpartner steht. Eine unbeabsichtigte und unbegründete Auslegung dieser Änderung könnte, vergleichbar der Büchse der Pandora, dazu führen, dass sich die Wet-Leasing-Thematik rasch zu einem erheblichen Problem ausweitet, obwohl doch eigentlich nur eine „technische Korrektur“ widersprüchlicher Rechtsvorschriften angestrebt war. Arbeitsrechtliche Erfordernisse müssen daher im Lichte künftiger Entwicklungen geprüft werden, sowohl in den Gesprächen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten über eine Wet-Lease-Vereinbarung im Rahmen des Luftverkehrsabkommens EU-USA als auch in der anschließenden Praxis auf dem Markt.

2.7.

Unter Verweis auf internationale Abkommen wird mit dem vorgeschlagenen Wortlaut der Änderung der Weg für ein spezifisches Wet-Lease-Abkommen zwischen der EU und den USA geebnet, ohne dass die Verhandlungen über das Luftverkehrsabkommen EU-USA insgesamt wiedereröffnet werden müssen. Mit der von der Europäischen Kommission gewählten Option werden daher Widersprüche zwischen einzelnen Bestimmungen gezielt, effizient und umgehend beseitigt, Planungssicherheit für die Wirtschaftsakteure wiederhergestellt und etwaige Vergeltungsmaßnahmen US-amerikanischer Parteien vermieden. Dies kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die Europäische Kommission angemessen klarstellt, dass mit der Änderung Verhandlungen mit den USA ermöglicht werden sollen, indem ein Widerspruch in den Rechtsvorschriften für dieses eine Land gelöst wird.

2.8.

Der EWSA hat sich in der Vergangenheit positiv zu dem Luftverkehrsabkommen EU-USA und seiner Umsetzung geäußert. In seiner früheren Stellungnahme ist festgehalten: „Das Konzept eines offenen Luftverkehrsraums […] ermöglicht die Bereitstellung von Luftfahrzeugen mit Besatzung (sog. Wet Leasing) zu nicht-diskriminierenden, transparenten Bedingungen“ (8).

3.   Bewertung des Vorschlags

3.1.

Die Europäische Kommission hat verschiedene Optionen für die Lösung des Problems geprüft (9).

3.1.1.

Eine Änderung des Luftverkehrsabkommens EU-USA wäre sehr zeitaufwändig. In der Vergangenheit haben die Vertragsparteien des Luftverkehrsabkommens EU-USA vereinbart, das Abkommen ab März 2008 vorläufig anzuwenden; der Ratsbeschluss nach Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedstaaten wurde 2016 getroffen. Angesichts der Chancen, die der Industrie entgehen könnten, wäre es unverhältnismäßig und ungerechtfertigt, ein derart langwieriges Verfahren zum Zwecke der Änderung der Wet-Lease-Bestimmungen neu aufzurollen.

3.1.2.

Die EU kann rein rechtlich keine US-spezifischen Ausnahmen von den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 erlassen, um den Anforderungen der EU und der USA für Wet-Leasing Rechnung zu tragen. Sämtliche Bestimmungen von EU-Verordnungen sind für die Mitgliedstaaten bindend.

3.1.3.

Eine gemeinsame Vereinbarung über gegenseitige Beschränkungen würde zwar für Klarheit sorgen, aber dem Geiste des Abkommens zuwiderlaufen und den kommerziellen Interessen der Luftfahrtunternehmen schaden.

3.1.4.

Die bevorzugte Lösung, wie von den Interessenträgern wiederholt betont, ist ein Wet-Lease-Abkommen zwischen der EU und den USA, das im Einklang mit dem Luftverkehrsabkommen EU-USA und nicht im Widerspruch zu den nationalen oder gemeinschaftlichen Vorschriften steht. Sämtliche Fragen zu den Details eines derartigen Abkommens wurden seit Januar 2014 erörtert. Es steht zu erwarten, dass rasch ein Konsens erzielt werden könnte. Es herrscht Einigkeit darüber, dass ein derartiges technisches Abkommen auf den aktuellen, in dem Luftverkehrsabkommen enthaltenen Verkehrsrechten beruhen und keine neuen Rechte schaffen bzw. bestehende Rechte ändern würde. Die Europäische Kommission sollte angemessen klarstellen, dass mit dieser Änderung keine Änderung, Überarbeitung oder Hinzufügung weiterer Verkehrsrechte zwischen den EU und den USA bezweckt wird. Eine derartige Vereinbarung würde jedoch eine Änderung von Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 notwendig machen, in dem eine Beschränkung auf 7 + 7 Monate für Wet-Lease-Vereinbarungen für EU-Luftfahrtunternehmen vorgesehen ist, die Wet Leasing mit Luftfahrtunternehmen aus Drittstaaten betreiben. Der vorgeschlagene Wortlaut steht voll und ganz im Einklang damit, dass Artikel 13 nur Anwendung finden soll, sofern im Hinblick auf Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b in einer internationalen Übereinkunft nichts anderes bestimmt ist.

3.2.

Die Europäische Kommission kommt in ihrer Bewertung zu dem Schluss, dass die vorgeschlagene Maßnahme angemessen, verhältnismäßig und rechtlich machbar ist, sowohl im Interesse der Mitgliedstaaten als auch der EU-Industrie liegt und keine Nachteile für die Interessenträger mit sich bringt.

4.   Hintergrund

4.1.

In dem Kommissionsvorschlag wird ausschließlich Wet-Leasing behandelt. Wet-Leasing ist in der Regel ein Mittel zur Bereitstellung von Kapazitäten in Spitzenverkehrszeiten, während der jährlichen gründlichen Wartungskontrollen und zur Bewältigung unerwarteter betrieblicher Schwierigkeiten in der Flugzeugflotte. Im Rahmen einer Wet-Lease-Vereinbarung führt ein Luftfahrtunternehmen (Vermieter) die Flüge unter Bereitstellung des Flugzeugs mit Besatzung für ein anderes Luftfahrtunternehmen (Anmieter) durch. Das Luftfahrtzeug wird unter dem Luftverkehrsbetreiberzeugnis und somit der betrieblichen Verantwortung des Vermieters betrieben.

4.2.

Wet-Lease-Vereinbarungen werden in der gesamten Branche als Vorteil für die betriebliche Flexibilität erachtet, der nicht willkürlich eingeschränkt werden sollte. Wie auch die EU-Luftfahrtindustrie und die meisten, wenn nicht sogar alle Mitgliedstaaten erwarten die US-amerikanische Luftfahrtindustrie und die US-amerikanische Regierung in den bilateralen Beziehungen eine Lösung dieser Frage in Bezug auf aktuelle und auch künftige Tätigkeiten von im Rahmen von Wet-Lease-Vereinbarungen angemieteten Luftfahrzeugen.

4.3.

Der Kommissionsvorschlag sollte keine Änderung der Politik oder der Grundsätze für Wet-Leasing bedeuten, sondern lediglich darauf abzielen, einen Widerspruch zwischen den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 und des Luftverkehrsabkommens EU-USA auszumerzen.

4.4.

Der EWSA empfiehlt ausdrücklich, dass der Gemischte Ausschuss statistische Daten über Wet-Leasing im Rahmen des Luftverkehrsabkommens EU-USA erfasst. Das entsprechende Register sollte nach Möglichkeit Informationen über die sozialen Bedingungen enthalten, damit nicht nur gerechte Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer, sondern auch die Rechte der Fluggäste gewährleistet werden, die ebenfalls betroffen sein könnten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA akzeptiert die Begründung der Europäischen Kommission für die Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, um uneingeschränkte Wet-Lease-Vereinbarungen auf Gegenseitigkeit zwischen europäischen und US-amerikanischen Luftfahrtunternehmen auf internationalen Flügen im Rahmen des Luftverkehrsabkommen EU-USA zu ermöglichen. Der vorgeschlagene neue Wortlaut darf jedoch weder im Rahmen des Luftverkehrsabkommens EU-USA noch eines etwaigen künftigen Luftverkehrsabkommens mit einem Drittland ein langfristiges Wet-Leasing aus anderen Gründen als den in Artikel 13 der Verordnung enthaltenen Gründen ermöglichen. Nach Ansicht des EWSA bietet der Vorschlag für das Luftverkehrsabkommen EU-USA eine flexiblere Regelung für Wet-Leasing auf Gegenseitigkeit für eine Dauer von in der Regel bis zu 36 Monaten. Derartige Vereinbarungen hätten keinerlei Auswirkungen auf die sozialen Bedingungen. Der EWSA wäre allerdings besorgt, wenn die vorgeschlagene Änderung in Bezug auf Wet-Lease-Vereinbarungen zur Sicherung längerfristiger Unterauftragsvergabevereinbarungen genutzt wird, um die Bedingungen und Rechte von Arbeitnehmern und Verbrauchern zu untergraben. Er fordert die Europäische Kommission daher auf, bei der Aushandlung der geplanten Wet-Lease-Vereinbarung zwischen der EU und den USA für die Aufnahme von Bestimmungen zu sorgen, die derartige Praktiken untersagen. Der Vorschlag darf keinesfalls als Instrument zur Anmietung von Luftfahrzeugen durch Luftfahrtunternehmen ausgelegt werden, um langfristig vorsätzlich oder versehentlich nationale Sozialvorschriften zu umgehen.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „Evaluation of the regulation (EC) No 1008/2008 on common rules for the operation of air services in the Community“, 21. November 2016, GD MOVE, Referat E.4, Kapitel C.1.

(2)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe a.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b Ziffer ii.

(4)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b Ziffer iii.

(5)  Verordnung (EG) Nr. 1008/2008, Artikel 13 Absatz 3 Buchstabe b Ziffer i.

(6)  Zeitplan vom 7. März 2016, GD MOVE, Referat E.1.

(7)  Diese Beschränkung wurde in der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 eingeführt, um die Unklarheiten der früheren Verordnungen (EWG) Nr. 2407/92, Nr. 2408/92 und Nr. 2409/92, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 ersetzt wurden, zur genauen Bedeutung des Begriffs „außergewöhnlichen Bedarf“ auszumerzen.

(8)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 1.

(9)  Zeitplan der Europäischen Kommission „Establishment of unrestricted wet-lease agreements between the EU and the USA through a wet-lease agreement between the parties“, S. 7.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/130


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft“

(COM(2017) 9 final)

(2017/C 345/22)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL

Befassung

Europäische Kommission, 17.2.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Schlussfolgerungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Mitteilung „Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft“, die die Nutzung von Daten als Grundvoraussetzung der neuen Wirtschaft zum Anliegen hat (1).

1.2.

In der Mitteilung geht es um nicht personenbezogene bzw. vollständig anonymisierte Daten. Gelten Daten als personenbezogen, finden die Datenschutzvorschriften, insbesondere die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), Anwendung.

1.3.

Wesentliche Herausforderung ist es, ein europäisches Datenökosystem als tragende Säule des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts aufzubauen, das die Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber starken Konkurrenten in den USA und Asien in einer von einem tiefgreifenden Wandel erfassten Welt gewährleisten kann. Zur Förderung von Konnektivität und Datenspeicherkapazitäten sind in ganz Europa dringend öffentlich-private Infrastrukturinvestitionen erforderlich.

1.4.

Voraussetzung für den Aufbau eines Datenökosystems ist eine Sensibilisierung der Unternehmen, der öffentlichen Dienste, der Gesellschaft und der Mitgliedstaaten. Das gegenseitige Vertrauen, die Offenheit und die Bereitschaft aller Interessenträger, untereinander Daten auszutauschen, müssen gestärkt werden.

1.5.

Der EWSA betont, dass es um weitaus mehr geht als rechtliche und praktische Bestimmungen. Die europäischen Kernkompetenzen müssen angesichts des derzeitigen tiefgreifenden Wandels dringend neu ausgerichtet werden. Europa ist dabei, in diesem strategischen Bereich den Anschluss zu verlieren. Unternehmen müssen proaktiv denken und ihre Kapazitäten ausbauen, um zunehmende Datenflüsse bewältigen und Massendaten (Big Data) verarbeiten zu können. Flexible und anpassungsfähigere Geschäftsmodelle müssen eingeführt werden.

1.6.

Instrumente zur Förderung von Innovation, die gleichzeitig die legitimen Interessen der Unternehmen und Bürger schützen, sind u. a. EU-weite Plattformen und Workshops, Vor-Ort-Labore („Field Labs“), Exzellenzzentren, Vergemeinschaftung, „Fabriken der Zukunft“, Experimentierfelder, Austauschverfahren, Programmierschnittstellen, Coaching zwischen Unternehmen, Musterverträge, die Interaktion zwischen Wissenschaft und Unternehmen, gemeinsame Technologieinitiativen sowie öffentlich-private Vertragspartnerschaften, in deren Rahmen der öffentliche und der private Sektor an groß angelegten Demonstrationsprojekten teilnehmen.

1.7.

Privates Beteiligungskapital und ein fortschrittlicherer europäischer Risikokapitalmarkt sind unerlässlich.

Empfehlungen

1.8.

Die Europäische Kommission sollte eine genaue Analyse des aktuellen Sachstands und eventueller Abwehrhaltungen in den Mitgliedstaaten gegenüber dem freien Datenverkehr durchführen, um unbegründete Hemmnisse durch angemessene rechtliche und technische Bestimmungen auszuräumen. Die Beseitigung ungerechtfertigter Einschränkungen des freien Datenverkehrs sollte integraler Bestandteil einer europaweiten Industriepolitik sein. Die Öffnung der nationalen Märkte sollte auch in den Rahmen des Europäischen Semesters eingebunden werden.

1.9.

Datenlokalisierung ist vor allem ein Problem für KMU und ein Innovationshemmnis. Der EWSA unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission, dass sich jedwede Art der Datenspeicherung in den Mitgliedstaaten auf den Grundsatz des freien Datenverkehrs stützen sollte. Der EWSA fordert die Aufstellung eines Fahrplans und die Festlegung von Fristen für die Öffnung der nationalen Märkte. Die Thematik sollte ebenfalls im Europäischen Semester berücksichtigt werden.

1.10.

Öffentliche Forschung ist eine sehr wichtige Datenquelle. Die Europäische Kommission sollte die weitere Verbreitung der Daten in Europa fördern.

1.11.

Im Privatsektor sollte grundsätzlich Vertragsfreiheit gewahrt bleiben. Ein allgemeiner EU-Normenrahmen ist wünschenswert, doch sollten Normen in keiner Weise Innovationen hemmen. Portabilität sollte gefördert werden.

1.12.

Haftung ist ein heikles Thema: Womöglich ist eine Überarbeitung der Produkthaftungsrichtlinie erforderlich und müssen spezifische Rechtsvorschriften für M2M-Anwendungen (Maschine-zu-Maschine) in Betracht gezogen werden.

1.13.

Die Europäische Kommission sollte die Aspekte von Daten in mehreren Sprachen in Verbindung mit freiem Datenverkehr und Datenzugang gebührend beachten.

1.14.

Der Faktor Mensch ist entscheidend. Beschäftigte und junge Menschen müssen über geeignete EU-Programme auf künftige Entwicklungen vorbereitet werden. Bildungs- und betriebliche Weiterbildungsmaßnahmen sind unverzichtbar, bspw. angesichts des enormen Bedarfs an Datenanalysten.

1.15.

Diese Prozesse müssen in den Unternehmen, seitens der Europäischen Kommission und in den Mitgliedstaaten korrekt überwacht werden, um europaweit für gleiche Wettbewerbsbedingungen zu sorgen.

2.   Hintergrund

2.1.

Es muss zwischen personenbezogenen und nicht personenbezogenen Daten unterschieden werden, also zwischen persönlichen Informationen und unspezifischen Massendaten. Beide Datenarten gehören zum digitalen Binnenmarkt, betreffen jedoch unterschiedliche Bereiche und sind Gegenstand separater EU-Rechtsvorschriften (2).

2.2.

In der Mitteilung zur Datenwirtschaft (3), die an die Mitteilung „Für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft“ (4) anknüpft, geht es um nicht personenbezogene oder anonyme Daten.

2.3.

Zwischen personenbezogenen und nichtpersonenbezogene Daten kann es in bestimmten Fällen aufgrund von Wechselbeziehungen zwischen den beiden Bereichen und zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor zu Überlagerungen kommen. So gibt es bspw. im Gesundheitssektor Überschneidungen zwischen dem persönlichen Interesse der Patienten, wirtschaftlichen Interessen und dem öffentlichen Interesse.

2.4.

Die Veränderungen sind vielschichtig und unvorhersehbar. Laufende Prozesse in Verbindung mit den vertikalen und horizontalen Auswirkungen von Daten ergeben immer mehr Möglichkeiten zur Datenerhebung, -analyse und -verarbeitung. Massendaten (Big Data) sind eine tragende Säule einer künftigen kundenbestimmten Wirtschaft.

2.5.

Daten haben umfangreiche Auswirkungen auf Produktionsketten, die Verflechtung von Dienstleistungs- und produzierendem Gewerbe sowie auf Wertschöpfungsketten. Sie verstärken die Fragmentierung von Wertschöpfungsketten.

2.6.

Die wachsenden Zahlen von Start-ups und Scale-ups veranschaulichen die entscheidende Bedeutung von Daten. KMU sind in hohem Maße auf günstige internationale (europäische) Rahmenbedingungen und auf Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen.

2.7.

Eine kundenbestimmte Wirtschaft stützt sich auf Massendaten, Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) sowie freien Datenverkehr und erzeugt hochentwickelte Produkte und Dienste. In allen Sektoren und auf allen Unternehmensebenen findet eine Anpassung an diese Veränderungen statt. Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Sektoren sowie zwischen großen und kleinen Unternehmen, unterschiedliche Positionen von Unternehmen in Wertschöpfungsketten, unterschiedliche Abhängigkeiten zwischen Unternehmen, unterschiedliche Perspektiven im produzierenden und im Dienstleistungsgewerbe, und folglich ein breites Spektrum unterschiedlicher Unternehmensstandpunkte.

2.8.

Wenn die EU das Potenzial der Digitalisierung nicht umfassend zum Tragen bringt, läuft sie Gefahr, bis 2025 einen Wertschöpfungsverlust von bis zu 605 Mrd. EUR zu erleiden. Der potenzielle Nutzeffekt hingegen ist noch beeindruckender: Laut einer BDI-Studie könnte Europa bis 2025 einen Zuwachs von 1,25 Billionen EUR an industrieller Bruttowertschöpfung erzielen.

2.9.

In der ganzen Welt finden ähnliche Entwicklungen statt. Obwohl die EU derzeit in mehreren Sektoren weltweit wirtschaftlich führend ist, zeigen Vergleichsstudien, dass sie in diesem Bereich hinterherhinkt.

2.10.

Die US-amerikanische und europäische Unternehmenskultur unterscheiden sich grundlegend. Treiber der Datenwirtschaft sind in Europa in erster Linie Teile der Fertigungsindustrie (5). In den USA hingegen wird Big Data vor allem von dienstleistungs- und datenbasierten Unternehmen, den sog. GAFA-Unternehmen und jüngst auch den NATU-Unternehmen (6), vorangetrieben. Die USA verfügen über einen großen und dynamischen Binnenmarkt und ausgezeichnete Finanzierungsmöglichkeiten. Die Unternehmer sind risikofreudig. US-Unternehmen können zudem auf schnelle Netze und riesige Speicherkapazitäten zugreifen. Desgleichen gibt es immer mehr große chinesische Plattformen.

2.11.

Europa hinkt der Entwicklung hinterher, doch die Europäische Kommission geht in ihrer Mitteilung befremdlicherweise nicht auf seine wichtigsten internationalen Konkurrenten ein, obwohl sie doch der Hauptgrund sind, warum Europa seine Leistungsfähigkeit steigern und seine strategische Koordinierung verbessern muss. In den USA und in China wurden kürzlich nationale Ziele zur Sicherung einer führenden Position in der Weltwirtschaft verabschiedet. Sie und andere, die ihrem Beispiel folgen, unterstützen und fördern gezielt Big-Data-Anwendungen, um US-amerikanischen bzw. chinesischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu sichern. Die US-Regierung unter Präsident Obama legte eine klare Strategie für die amerikanische dritte industrielle Revolution (die Entsprechung von Industrie 4.0 in der EU) als Grundlage für die Stärkung der US-amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftlichen Überlegenheit fest. Eine America first-Strategie dürfte diesen Ansatz untermauern. Der weitere Ausbau von Big Data ist hier zudem als geopolitischer Faktor einzustufen.

3.   Freier Datenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten

3.1.

Als einen der Gründe, warum „im Vergleich zu den USA die Datenrevolution von der digitalen Wirtschaft in Europa nur schleppend aufgenommen wurde und es zudem an vergleichbaren industriellen Kapazitäten fehlte“ (7), nennt die Europäische Kommission zu Recht den Zusammenhang zwischen Beschränkungen des freien Datenverkehrs und einer schwerfälligen Entwicklung des europäischen Markts.

3.2.

In den USA setzt der Datenschutz im Wesentlichen am Grundsatz der bewussten Weitergabe von Daten an und fällt in Bezug auf persönliche Daten unter den Verbraucherschutz. In den meisten europäischen Ländern hingegen gibt es Datenschutzgesetze, und häufig ist der Datenschutz ein verfassungsmäßiges Recht. Der europäische Datensicherheitsansatz ist einerseits ein Wettbewerbsvorteil; doch andererseits behindern die eingeschränkte Nutzung und Verarbeitung von Massendaten die Innovation.

3.3.

Die Marktfragmentierung muss überwunden werden. Die Europäische Kommission muss beauftragt werden, zu prüfen, wie und wie weit Abweichungen in den Herangehensweisen der Mitgliedstaaten beseitigt werden müssen, um Unterschiede bei der Entwicklung und Methodik zu verringern.

3.4.

Angesichts des im Zuge des Internets der Dinge, der „Fabriken der Zukunft“ und autonomer vernetzter Systeme ständig wachsenden Datenangebots sind Maßnahmen auf europäischer Ebene besonders angezeigt und von strategischer Bedeutung. Die rechtlichen und technischen Grundlagen für ungehinderte Datenflüsse in ganz Europa bilden einen Eckpfeiler beim Aufbau einer umfassenden und robusten digitalen Wirtschaft (8).

3.5.

Eine EU-Industriepolitik muss gestaltet werden. Unbegründete Einschränkungen des freien Datenverkehrs müssen beseitigt werden. Ein Binnenmarkt ist nicht mit 28 verschiedenen Industriepolitiken mit jeweils eigenen Instrumenten und Zielen zu vereinbaren. Dies gilt auch im digitalen Zeitalter (9). Die Europäische Kommission und die Regierungen sollten daher als Moderatoren agieren und eine langfristige Perspektive verfolgen, bei der die Wettbewerbs- und Rahmenbedingungen durch öffentlich-private Partnerschaften geprägt werden (10).

3.6.

Die Europäische Kommission geht richtigerweise auf die Argumente ein, mit denen nationale Behörden den Datenverkehr einschränken. Die Maßnahmen zur Datenlokalisierung, die praktisch digitale „Grenzkontrollen“ (11) wiedereinführen, müssen durch einen angemessenen europäischen Rahmen ersetzt werden.

3.7.

Der EWSA empfiehlt eine eingehende Analyse der gegenwärtigen Sachlage in den Mitgliedstaaten und der bestehenden enormen Unterschiede in Europa. Die hochmoderne Fertigungsindustrie in Deutschland liegt bei der Datenproduktion an der Spitze vor innovativen Fertigungsclustern in anderen — großen und kleinen — Ländern. In Frankreich und im Vereinigten Königreich sowie in einigen kleineren Volkswirtschaften hingegen wächst beispielsweise die dienstleistungsorientierte Massendatenproduktion stark an.

3.8.

Der freie Datenverkehr wird durch Abwehrhaltungen der Mitgliedstaaten ernstlich behindert. Bislang sind mindestens 50 rechtliche und administrative Hemmnisse ermittelt worden. Es gibt auch erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den Auflagen für das öffentliche Beschaffungswesen. Dies ist durch unterschiedliche Kulturen und Traditionen bedingt. Durch nationale Industriepolitiken entstehen unterschiedliche rechtliche Umfelder; es gibt keinen gemeinsamen industriepolitischen Rahmen. Durch unterschiedliche rechtliche Ansätze bei der Behandlung personengebundener Daten kann auch Misstrauen in Bezug auf den Umgang mit nicht personengebundenen Daten entstehen. Abwehrhaltungen von Regierungen und Unternehmen in verschiedenen Ländern verstärken sich gegenseitig.

3.9.

Ein Binnenmarkt, der Datenschutz gewährleistet und Innovation fördert, setzt jedoch ein gestärktes Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus.

3.10.

Nationale Zielsetzungen wie Innovationsförderung und zunehmende Wertschöpfung können am besten erreicht werden, wenn ein gemeinsamer Markt für Big Data geschaffen, eine sichere Datenspeicherung durch modernstes IKT-Management im großen Maßstab gewährleistet und Kapazitäten gebündelt werden.

3.11.

Neben der Beeinträchtigung von Transparenz und Innovation wirkt sich die Datenlokalisierung vor allem auf grenzüberschreitend tätige KMU negativ aus. Der EWSA unterstützt daher nachdrücklich den Standpunkt der Kommission, dass „sich die Mitgliedstaaten bei allen Maßnahmen, die sich auf die Speicherung oder Verarbeitung von Daten auswirken, vom ‚Grundsatz des freien Datenverkehrs in der EU‘ leiten lassen“ sollten (12).

3.12.

Der EWSA fordert, dass die Öffnung der nationalen Märkte für eine europaweite Datenverbreitung auch im Rahmen des jährlichen Europäischen Semesters überprüft und in die länderspezifischen Empfehlungen aufgenommen werden sollte. Die Offenheit öffentlicher Daten in ganz Europa wird zur Vollendung des Binnenmarktes und zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen beitragen. Die Datenschutz-Grundverordnung bietet eine gemeinsame Grundlage (13).

3.13.

Regionen und städtische Gebiete verfügen auch über dynamische Daten. Regionale Plattformen, an denen öffentliche und private Akteure beteiligt sind, können die regionale Wirtschaft fördern und regionale Cluster im internationalen Kontext stärken. Regionen und Städte sollten zu Offenheit angehalten werden. Auch hier kann die EU einen wichtigen Beitrag zum Austausch bewährter Verfahren und zur Weitergabe modernsten Know-hows an die Gebietskörperschaften leisten.

3.14.

Öffentliche Forschung ist eine wichtige Datenquelle. Da sie über Steuern finanziert wird, muss die weitere Verbreitung der Daten gewährleistet werden. Forschungsdatenbestände können vor allem für KMU von Vorteil sein.

3.15.

Diese öffentlichen Daten betreffen häufig private Tätigkeiten. Durch vertragliche Vereinbarungen mit der Wirtschaft kann natürlich der Umgang mit den Daten beeinflusst werden. Beispielsweise werden nicht personengebundene Daten im Verkehrssektor, im Energiesektor, durch Satelliten, durch Kataster und in anderen öffentlichen Diensten generiert.

3.16.

Angesichts des beklagenswerten Entwicklungsgefälles in Europa hebt der EWSA hervor, dass ein europaweit freier Datenverkehr die volkswirtschaftliche Konvergenz fördern könnte, was im Interesse sowohl der fortgeschritteneren als auch der rückständigeren Volkswirtschaften läge. Die Behörden könnten zur gegenseitigen Unterstützung und Beratung angehalten werden, um die geeigneten Mechanismen einzusetzen.

3.17.

In der Mitteilung werden die Aspekte von Daten in mehreren Sprachen in Verbindung mit freiem Datenverkehr und Datenzugang außer Acht gelassen. Da Sprachdaten auch einfach maschinell generiert werden könnten, sollte die Europäische Kommission nach Meinung des EWSA ihre Anstrengungen im Bereich Forschung, Innovation und Ausbau der maschinellen Übersetzung von in verschiedenen Sprachen generierten Daten in alle EU-Amtssprachen verstärken.

3.18.

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes und der Förderung gemeinsamer Zielvorstellungen im Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ und darüber hinaus, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Vertrauen ist entscheidend. Die Öffnung des europäischen Markts für den freien Verkehr nicht personengebundener Daten hat tief greifende politische Auswirkungen. Eine Vielzahl von Themen ist betroffen, beispielsweise die Stärkung der Grundlagen des Binnenmarkts und der Innovation in großen und kleinen Unternehmen, die Verbesserung der Aussichten für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, die Förderung der wirtschaftlichen Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und Wettbewerbsfähigkeit.

4.   Datenzugang und Datenübertragung auf dem Markt

4.1.

In der Mitteilung werden zahlreiche Möglichkeiten für datenbasierte Beziehungen zwischen Unternehmen aller Größen (business-to-business, B2B) betrachtet. Die öffentlichen Dienstleistungen sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Die Vielfalt des Datenangebots ist unendlich und seine Entwicklung deshalb nicht vorhersehbar.

4.2.

Die Europäische Kommission will zu Recht allem voran klären, wie sämtliche Marktteilnehmer Zugang zu großen und vielfältigen Datensätzen erhalten können. Sie nennt viele Hemmnisse für einen freien Zugang und stellt fest, dass „der Austausch von Daten insgesamt begrenzt“ bleibt (14).

4.3.

Es liegt auf der Hand, warum Unternehmen Daten für sich behalten wollen. Der Herstellung von Produkten und Diensten liegen unternehmenseigene Produktionspläne oder allgemein Unternehmensstrategien zugrunde, die nicht mit anderen geteilt werden. Vertragsfreiheit muss grundsätzlich gewahrt und gewährleistet werden (15).

4.4.

Es ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild. Große Unternehmen verfügen häufig über eigene Forschungskapazitäten und ein breit gefächertes Spektrum potenzieller Anwendungen. Kleinere Unternehmen haben naturgemäß weniger Möglichkeiten. In allen Fällen jedoch sprechen überwältigend viele Argumente für den Datenaustausch mit anderen Unternehmen, der für alle Betroffenen unmittelbare Vorteile bringt.

4.5.

Im Regelfall erstrecken sich Rechte des geistigen Eigentums nicht auf M2M-Daten. Für den rechtlichen Schutz spezifischer Anwendungen werden daher geltende EU-Rechtsvorschriften herangezogen. Ansonsten gelten für diese Daten und ihre Handhabung vertragliche Regelungen über bspw. das Dateneigentum und Preisfragen.

4.6.

Der Rechtsrahmen für Daten sollte den Schutz der Unternehmensrechte ebenso gewährleisten wie den Schutz von materiellen Gütern.

4.7.

Neue Rechtsvorschriften werden derzeit kaum benötigt. Die vorhandenen Regelungen decken die meisten Bereiche ab und können erforderlichenfalls an die besonderen Anforderungen des digitalen Zeitalters angepasst werden.

4.8.

In Anbetracht der dynamischen und unvorhersehbaren Entwicklungen sollte ein eventueller allgemeiner Normenrahmen keinesfalls Innovationen hemmen. Die bestehenden Normen stehen teilweise Innovationen im Weg, und neue Normen können kaum ohne eine bessere Kenntnis der weiteren Entwicklungen festgelegt werden. Deshalb müssen neue Möglichkeiten der Regulierung gesucht werden. Portabilität sollte gefördert werden.

4.9.

Haftung ist ein heikles Thema (16). Geltende Richtlinien müssen ggf. in Anpassung an die technische Entwicklung überarbeitet werden. So muss z. B. die Produkthaftungsrichtlinie auf die Erfordernisse des Internet der Dinge und der künstlichen Intelligenz abgestimmt werden. M2M erfordert eventuell besondere haftungsrechtliche Regelungen. In Anbetracht der vielfältigen und sich ständig verändernden Beziehungen zwischen Unternehmen im Datenbereich hält der EWSA die geltenden Regelungen für überwiegend ausreichend. Neue Regelungen sollten Innovation fördern und keinesfalls hemmen.

4.10.

Ein umfangreicherer Datenfluss oder -transfer kann durch Verträge zwischen Unternehmen, durch die Nutzung bestehender oder neuer, vorzugsweise internationaler Plattformen und Workshops, durch Anwendungsprogrammierschnittstellen (API) (17) sowie durch den Ausbau zielorientierter Beziehungen zwischen Wissenschaft und Unternehmen erreicht werden. Die Wissenschaft sollte ebenfalls auf Plattformen und in Workshops vertreten sein. Es gibt bereits einige für Industrie 4.0, beispielsweise regionale Vor-Ort-Labore. Die Weitergabe von über öffentliche Mittel finanzierten Forschungsdaten sollte verbindlich vorgeschrieben werden (18).

4.11.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Befürworter von mehr Offenheit durch Experimentierfelder und offene Marktplätze für Datenhandel zu unterstützen. Gemeinsamkeiten können ermittelt und gefestigt werden. Eine Organisation sollte dafür zuständig sein, den Bedarf an Experimentierfeldern zu ermitteln und eine konstruktive und qualitativ hochwertige Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Stellen zu fördern.

4.12.

Der EWSA verweist auf eine sehr sinnvolle Initiative der Europäischen Kommission und der Big Data Value Association (19). Kürzlich gaben die beiden Partner eine Erklärung ab, in der sie vier maßgebliche, im Rahmen von ÖPP anzuwendende Instrumente herausstellten:

groß angelegte Demonstrationsprojekte (Leuchtturmprojekte) in Industriezweigen;

Datenintegration und -experimente (Innovationsräume);

technische Vorhaben in Schlüsselbereichen;

Vernetzung, Aufbau von Gemeinschaften und Fördermaßnahmen.

Die Initiative hat Beispielcharakter für weitere europäische Initiativen. Neben ÖPP im Forschungsbereich gibt es noch gemeinsame Technologieinitiativen, in deren Mittelpunkt Innovation steht.

4.13.

Denkbar wären europäische Musterverträge für Zusammenarbeit.

5.   Sensibilisierung und Einstellung in den Unternehmen

5.1.

Neben rechtlichen und praktischen Bestimmungen setzt eine robuste digitale Wirtschaft mehr Offenheit der europäischen Unternehmen voraus. Ein proaktiver Umgang mit dem Paradigmenwechsel ist eine Frage der Sensibilisierung und der Einstellung.

5.2.

Die gesamte Weltwirtschaft durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Alle Industriebereiche, große und kleine, müssen darin einbezogen werden, egal, ob es traditionelle oder jüngere, „alte“ oder „neue“ Sektoren sind. Die europäischen Kernkompetenzen müssen schneller und wirksamer neu aufgestellt werden, und alle Industrien müssen in die Lage versetzt werden, kompetent daran mitzuwirken.

5.3.

Der Prozess ist weitgehend basisbestimmt, d. h. er geht von der Wirtschaft und den Unternehmen aus. Neben den von der Europäischen Kommission genannten konstruktiven Tools (20), die die Bereitschaft der Märkte zu proaktiven Anpassungen verbessern sollen, erachtet der EWSA eine Veränderung der Einstellungen in weiten Teilen der europäischen Wirtschaft als notwendig.

5.4.

Daten sind ein sensibles Thema in Unternehmen, das auch in Zukunft nichts an Sensibilität verlieren wird. Nur wenige Unternehmen befürworten offene Daten. Es wäre hilfreich, wenn die Europäische Kommission eine Liste mit Beispielen vorlegen würde. Zudem gehen viele Unternehmen immer noch fälschlich davon aus, dass ihnen ihr derzeitiges anspruchsvolles Fertigungsniveau auch künftig ihre Marktposition sichert.

5.5.

Die Unterschiede zwischen den USA und Europa sind auffallend. In Europa tendiert die Technikwissenschaft seit jeher zur Wagenburgmentalität. Vorausentwicklung und ein hochkompetenter Umgang mit Daten sind entscheidend für Wettbewerbsvorteile. In den USA sind die Kommunikations- und Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und Privatpersonen (business-to-consumer, B2C) weit entwickelt, und gegenüber dem freien Zugang zu Daten herrscht Aufgeschlossenheit. Europa liegt bei der Produktionsqualität und B2B-Beziehungen vorn, aber die Unternehmen wollen die Kontrolle über ihre Daten behalten.

5.6.

Es muss ernstlich geprüft werden, ob Europa derzeit überhaupt zu einem sachgerechten Umgang mit Massendaten in der Lage ist. Anders ausgedrückt stehen Unternehmen in der EU vor dem Problem, dass die Fähigkeit, Daten in Geschäftsmöglichkeiten zu verwandeln, weitgehend in den USA angesiedelt ist, d. h., dass Daten, die sie handhaben müssen, auf den Servern von US-Unternehmen gespeichert sind, genauso wie die passenden Algorithmen für Innovationen (21).

5.7.

Veränderungen sind dringend erforderlich. Am besten wäre die Umsetzung einer Strategie, die auf Erhaltung der bestehenden Stärken des produzierenden Gewerbes bei gleichzeitiger fortschreitender Öffnung des Datenverkehrs abhebt. Der Wandel kann nicht über Nacht, sondern nur schrittweise stattfinden. Die europäischen Unternehmen müssen einen europäischen Weg beschreiten, das heißt, nicht gegen den Strom schwimmen, sondern den Wandel in vernünftige Bahnen lenken (22).

5.8.

Viele europäische Unternehmen haben sowohl bei der Datenkompetenz als auch bei der industriellen Kompetenz Aufholbedarf. Auch wenn es seltsam anmutet, sollten diverse Unternehmen bei ihren internen Abläufen und Konzepten ansetzen, um zu einem offenen und transparenten Umgang mit Big Data zu gelangen.

5.9.

Ein wichtiger Aspekt ist die allmähliche Ersetzung der herkömmlichen vertikal integrierten Verarbeitungsindustrie durch flexiblere und anpassungsfähigere Geschäftsmodelle (23). Diese Geschäftsmodelle müssen eine effizientere Unternehmenstätigkeit in einem Umfeld mit immer mehr Produkten und Diensten und einer vollständigen Integration von Fertigung und Dienstleistungen ermöglichen. Manchmal müssen Unternehmen Nachteile hinnehmen, um sich weitere Vorteile zu verschaffen.

5.10.

Europaweit sollten Diskussionen stattfinden, um den Konflikt zwischen dem Schutz der identitätsstiftenden Unternehmensdaten und der unverzichtbaren Innovation in einem internationalen Umfeld zu erörtern und die am besten bewährten Ansätze für die Öffnung von Unternehmen zu ermitteln. Die Europäische Kommission kann diesen Austausch auf europäischer Ebene fördern.

5.11.

Über Ideenschmieden müssen Exzellenzzentren als Gegengewicht zum Silicon Valley und den großen US-amerikanischen Universitäten geschaffen werden.

5.12.

Als Beispiel wäre die Vertiefung des unterentwickelten europäischen Kapitalmarkts zu nennen. Ein dynamischer Umgang mit Big Data erfordert nicht nur erfolgreiche Start-ups, sondern vor allem auch Scale-ups, von denen es zu wenige gibt. Deshalb ist ein dynamischerer europäischer Risikokapitalmarkt dringend erforderlich. In Anlehnung an bewährte (beispielsweise das israelische) Verfahren sollten Maßnahmen zur Verbesserung und Förderung seiner Entwicklung ausgelotet und angepasst werden.

5.13.

Das Vereinigte Königreich hat eine dynamische, Daten erzeugende Wirtschaft. Nach Meinung des EWSA sollten die europäische und die britische Industrie im Hinblick auf eine transparente und offene Datenerzeugung weiterhin eng zusammenarbeiten.

6.   Gesellschaft und Arbeitsmarkt

6.1.

Standpunkte aus früheren Stellungnahmen des EWSA (24) zu den Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt sind für die Thematik des freien Datenverkehrs ebenso relevant. Einige Überlegungen sind zu bekräftigen.

6.2.

Es ist notwendig, dass die Gesellschaft und insbesondere die Beschäftigten in allen europäischen Unternehmen die Dynamik der Datenentwicklung und -verbreitung umfassend verstehen. Die Informationen müssen laufend aktualisiert werden, um einen ausreichenden Wissensstand und öffentliche Akzeptanz des tiefgreifenden Wandels sicherzustellen. Die Sozialpartner haben ihre Aufgabe zu erfüllen.

6.3.

Der Faktor Mensch ist entscheidend. Auf allen Ebenen sollte ein sozialer Dialog geführt werden, um die notwendigen Anpassungen vorzunehmen und Programme aufzulegen, die die Arbeitnehmer und die jungen Menschen auf die neue Realität vorbereiten. Es besteht nach wie vor ein großer Bedarf an Datenanalysten und Datenwissenschaftlern.

6.4.

In Verbindung damit stellt sich die Herausforderung neuer Organisationsformen für die Ausbildung und Zusammenarbeit von Beschäftigten in allen Schichten der Gesellschaft, für die es weniger Arbeit geben wird. Die Sozialsysteme sind bislang nicht auf diese Herausforderungen eingestellt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie bspw. in Finnland genutzte „Pufferunternehmen“, über die vormals regulär Beschäftigte zu Crowdworkern mit sozialer Absicherung werden. Es müssen sich alle darüber klar werden, dass sich das Arbeitsumfeld verändert.

6.5.

Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und soziale Inklusion sind ebenfalls Teil eines übergeordneten industriepolitischen Ansatzes. Die Vorhersagen schwanken zwischen bis zu 50 % Beschäftigungsverlust insbesondere im Angestelltenbereich und einem 20 %igen Zuwachs an neuen Arbeitsplätzen als Folge von Digitalisierung und modernster Fertigung. Alle Betroffenen sollten sich auf den Wandel konzentrieren, um Anpassungshemmnisse zu beseitigen und zu Lösungen zu gelangen, die neue Beschäftigungsmöglichkeiten, insbesondere im Bereich der Dienstleistungsentwicklung, eröffnen.

6.6.

Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen auf allen Beschäftigtenebenen sind in jedem Sektor und in jedem Land wesentlich und sollten sich nicht nur auf technische Bereiche erstrecken.

6.7.

Der EWSA hebt die unterstützende und wegweisende Rolle der Europäischen Kommission bei der Ermittlung von Problemen und Chancen hervor. EU-orientierte Workshops und Debatten, u. a. über bewährte Verfahrensweisen, sollten zusammen mit der Wirtschaft, den Sozialpartnern und Regierungen veranstaltet werden. In der kulturellen Vielfalt Europas müssen Gemeinsamkeiten und gemeinsame Ansätze aufgetan und entwickelt werden.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Mitteilung der Europäischen Kommission „Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft“, COM(2017) 9 final vom 10. Januar 2017. Siehe auch das Schreiben von 14 Staats- und Regierungschefs vom 2. Dezember 2016 an den Ratspräsidenten, in dem sie die Initiative zum freien Datenverkehr anmahnen: Non-paper on the Free Flow of Data initiative.

(2)  ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 65.

(3)  Mitteilung der Europäischen Kommission „Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft“, COM(2017) 9 final vom 10. Januar 2017.

(4)  Mitteilung COM(2014) 442 final vom 2. Juli 2014 (ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 61).

(5)  Die digitale Transformation der Industrie, Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie, 1. Februar 2015.

(6)  GAFA steht für Google, Apple, Facebook und Amazon. Zusammen erreichen die vier Internetunternehmen einen Umsatz von 468 Mrd. USD. NATU steht für Netflix, Airbnb, Tesla und Uber. Die GAFA haben derzeit einen kombinierten Marktwert von 2,3 Billionen EUR und liegen damit nur knapp unter dem Marktwert der EURO STOXX 50-Unternehmen (2,9 Billionen EUR). Dies verdeutlicht das finanzielle Potenzial und die enorme Wertschöpfung im Bereich Big Data und Plattformwirtschaft.

(7)  COM(2017) 9 final, S. 3.

(8)  Siehe auch das Schreiben von 14 Staats- und Regierungschefs von 2016 zu diesem Thema: Non-paper on the Free Flow of Data initiative. Ist es ein schlechtes Zeichen, dass außer dem Vereinigten Königreich kein großer Mitgliedstaat das Schreiben unterzeichnet hat?

(9)  ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 65 und ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 50.

(10)  Der niederländische Branchenverband für den technologisch-industriellen Wirtschaftsbereich FME-CWM empfahl am 16. März 2017 die Einsetzung eines Spitzenteams auf Ministerebene zur Koordinierung der Digitalisierung in den Niederlanden.

(11)  COM(2017) 9 final, S 5.

(12)  COM(2017) 9 final, S. 8.

(13)  Datenschutz-Grundverordnung vom Mai 2016. EWSA-Stellungnahme (ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90).

(14)  COM(2017) 9 final, S. 11.

(15)  Siehe auch das Positionspapier von Orgalime zu der geplanten Initiative der Europäischen Kommission zum Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft vom 21. September 2016 und das Konzeptpapier von DIGITALEUROPE zu der Mitteilung über den Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft vom 14 Februar 2017.

(16)  COM (2017) 9 final, S. 14 und 15.

(17)  COM(2017) 9 final, S. 10.

(18)  Die Wallonische Region plant eine entsprechende Verordnung.

(19)  Diese Initiative umfasst eine öffentlich-private Partnerschaft, in deren Rahmen die Europäische Kommission, die Industrie und Forschungseinrichtungen im Bereich datenbasierte Forschung und Innovation zusammenarbeiten, datenorientierte Gemeinschaften aufbauen und die Voraussetzungen für eine florierende datengesteuerte Wirtschaft in Europa schaffen (gemeinsame Erklärung der Europäischen Kommission und der Big Data Value Association).

(20)  COM (2017) 9 final, S. 12 bis 15.

(21)  Ein Paradebeispiel ist der Gegensatz zwischen der Kfz-Industrie auf der einen Seite, die europäische Leistungsstärke verkörpert, und völlig neuen Konzepten wie Google auf der anderen Seite, die nicht Autos, sondern über die Kundenschnittstelle Mobilität und Mobilitätspakete verkaufen.

(22)  Siehe das Weißbuch Digitale Plattformen — Digitale Ordnungspolitik für Wachstum, Innovation, Wettbewerb und Teilhabe, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, März 2017.

(23)  Dies kann am Beispiel der Automobilbranche veranschaulicht werden: siehe den Informationsbericht des EWSA CCMI/148 vom 22. Februar 2017.

(24)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.


13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/138


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten in der elektronischen Kommunikation und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/58/EG (Verordnung über Privatsphäre und elektronische Kommunikation)“

(COM(2017) 10 final — 2017/0003 (COD))

(2017/C 345/23)

Berichterstatterin:

Laure BATUT

Befassung

Europäisches Parlament, 16.2.2017

Rat, 9.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 16 und Artikel 114 AEUV

 

 

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

14.6.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Abstimmungsergebnis

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bedauert lebhaft, dass es angesichts der Überschneidung, des Umfangs und der Verflechtung der Rechtsvorlagen zum Datenschutz sowie des für ihr Verständnis notwendigen Hin- und Herblätterns unwahrscheinlich ist, dass sie, von Insidern abgesehen, wirklich gelesen und umgesetzt werden, und ihr Mehrwert für Bürger nicht ersichtlich ist, wobei dieser Aspekt in dem Verordnungsvorschlag ohnehin nicht berücksichtigt wird. Er empfiehlt, eine zusammenfassende Broschüre online zu stellen, in der sie für die Allgemeinheit verständlich erläutert und zugänglich gemacht werden.

1.2.

Der EWSA hebt hervor, dass die Europäische Kommission unter den im Rahmen der Folgenabschätzung geprüften Politikoptionen diejenige ausgewählt hat, die auf eine „maßvolle Stärkung der Privatsphäre“ abhebt. Steht dahinter das Bemühen um einen Ausgleich mit den Interessen der Industrie? Die Europäische Kommission legt nicht dar, inwiefern eine „weitreichende Stärkung der Privatsphäre“ die Interessen der Industrie beeinträchtigt hätte. Durch diese Haltung wird der Text von Anfang an geschwächt.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Europäische Kommission

1.

berücksichtigt, dass mittlerweile aus jeder Information Daten generiert und auf elektronischem Weg weitergegeben werden können, was sich auf die Privatsphäre von juristischen und natürlichen Personen auswirkt;

2.

verdeutlicht, dass sich der Vorschlag (Artikel 5, 8 und 11) auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Menschenrechtscharta stützt und inwiefern mittels nationaler Rechtsvorschriften Beschränkungen möglich sind (Erwägungsgrund 26);

3.

die Artikel 5 und 6 des Vorschlags überprüft. Internet und Mobiltelefonie, die elektronische Kommunikation ermöglichen, sind zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse geworden, die universell zugänglich, verfügbar und erschwinglich sein müssen, ohne dass die Verbraucher gezwungen sind, dafür der Verarbeitung ihrer Daten durch den Provider oder Betreiber zuzustimmen. Es muss daher die Verpflichtung vorgesehen werden, dass den Nutzern systematisch anhand verständlicher Informationen die Möglichkeit gegeben werden muss, Cookies, Webtracking usw. abzulehnen;

4.

klar ansagt, dass die zur Ergänzung der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) vorgeschlagene Lex specialis auch im Einklang mit deren Grundsätzen steht und nicht den dadurch gewährleisteten Schutz aushöhlt und dass jede Form der Verarbeitung, auch statistische Auswertungen (web audience measuring), auf der Grundlage der DS-GVO (Artikel 8) erfolgen müssen;

5.

dafür sorgt, dass der Wortlaut der Verordnung und der Inhalt der Durchführungsmaßnahmen verständlich formuliert sind, damit ein Zuviel an delegierten Rechtsakten vermieden und den Bürgern und Unternehmen Regulierungssicherheit geboten wird;

6.

eine Strategie entwickelt, aus der für alle Verbraucher klar hervorgeht, dass die EU weiterhin an der Wahrung der Menschenrechte festhält und dass es ihr ein Anliegen ist, den Schutz der Privatsphäre nicht nur seitens der Betreiber von elektronischen Kommunikationsdiensten, sondern auch seitens der „Over-the-top“ (OTT)-Anbieter sicherzustellen;

7.

verhindert, dass Datenschutzlücken im Gesundheitsbereich Einbrüche in die Privatsphäre und die Nutzung personenbezogener Daten zu gewerblichen Zwecken im Wege elektronischer Kommunikation ermöglichen;

8.

sich mit der kollaborativen Wirtschaft und der Übermittlung und Nutzung von Daten über elektronische Kommunikation auf digitalen Plattformen, die häufig außerhalb der EU angesiedelt sind, befasst;

9.

dem Internet der Dinge Rechnung trägt, das sehr invasiv ist und im Zuge der elektronischen Übermittlung von Daten Beeinträchtigungen des Privatlebens Tür und Tor öffnet;

10.

beachtet, was nach dem Datentransfer geschieht, und die von den Anwendern gespeicherten, zumeist privaten Daten schützt (schnittstellenunabhängig und einschließlich Cloud Computing);

11.

den Schutz automatisierter (Maschine-Maschine, M2M) Datenübertragung klärt und in einem Artikel, nicht nur in einem Erwägungsgrund (12), festlegt;

12.

ein (bei der GD Justiz angesiedeltes) allgemein zugängliches und verständliches europäisches Portal errichtet, über das die Bürger Zugang zu europäischen und nationalen Schriften, zu Rechtsmitteln und zu Gerichtsentscheidungen haben und das ihnen dabei hilft, sich im Dschungel der Schriften zurechtzufinden und ihre Rechte wahrzunehmen (beispielsweise zum Verständnis des Erwägungsgrunds 25 und der Artikel 12 und 13);

13.

den Überwachungsbehörden Mittel an die Hand gibt, ihre Aufgaben zu erfüllen (Europäischer Datenschutzbeauftragter, nationale Behörden);

14.

den Verbrauchern im Wege einer neuen Richtlinie, die über die Empfehlung C(2013) 3539 hinausgeht, die Möglichkeit gibt, europäische Sammelklagen einzureichen, um ihre Rechte geltend zu machen (1).

2.   Legislativer Hintergrund

2.1.

Seit dem Inkrafttreten der Richtlinien 95/46/EG und 2002/58/EG  (2) über den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation haben sich die elektronischen Kommunikationsnetze erheblich weiterentwickelt.

2.2.

2016 wurde die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) angenommen (Verordnung (EU) Nr. 2016/679), die Grundlage für die einschlägigen Maßnahmen ist und die grundlegenden Verfahrensweisen, auch für justizielle Daten, festlegt. Dieser Verordnung zufolge dürfen personenbezogene Daten nur unter Einhaltung strengster Regeln, für legitime Zwecke und unter Wahrung der Vertraulichkeit erhoben werden (Artikel 5 der DS-GVO).

2.2.1.

Die Europäische Kommission hat im Oktober 2016 einen 300 Seiten starken Vorschlag für eine Richtlinie über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (3) vorgelegt, der noch nicht angenommen worden ist, auf den sie sich jedoch für einige Definitionen stützt, die weder in der DS-GVO noch in der vorliegenden Richtlinie vorkommen.

2.2.2.

Im Januar 2017 legte die Europäische Kommission zwei Verordnungsvorschläge zu Datenschutzaspekten vor, in denen sie sich auf die DS-GVO stützt: zum einen den Vorschlag für eine Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (COM(2017) 8 final, Berichterstatter Jorge Pegado Liz) und zum anderen den Vorschlag für eine Verordnung über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten (COM(2017) 10 final), der Gegenstand dieser Stellungnahme ist.

2.3.

Diese drei Rechtsinstrumente sollen ab dem gleichen Zeitpunkt, dem 25. Mai 2018, gelten. Sie haben zum Ziel, die Rechte und die Überwachungsverfahren zu harmonisieren.

2.4.

Zur Erleichterung dieses Vorhabens wurde als Rechtsinstrument zur Sicherstellung des Schutzes der Privatsphäre eine Verordnung anstatt einer Richtlinie gewählt.

3.   Einleitung

3.1.

Die Zivilgesellschaft möchte wissen, ob die EU in der sich abzeichnenden digitalen Welt einen Mehrwert bringt und Freiräume für eine unbehelligte persönliche Entfaltung sicherstellt.

3.2.

Durch die laufende Erzeugung von Daten werden alle Nutzer überall erfassbar und identifizierbar. Die Datenverarbeitung, die zumeist in Zentren außerhalb Europas stattfindet, gibt Anlass zu Sorge.

3.3.

Big Data (Massendaten) sind zu einer Währung geworden; ihre intelligente Verarbeitung ermöglicht Data-Profiling und die gewinnbringende Vermarktung von Informationen über natürliche und juristische Personen, häufig ohne Wissen der Betroffenen.

3.4.

Vor allem aber macht das Auftreten neuer Akteure im Bereich der Datenverarbeitung, bei denen es sich nicht um Internet-Provider handelt, eine Überarbeitung der einschlägigen Rechtstexte erforderlich.

4.   Zusammenfassung des Vorschlags

4.1.

Mit diesem Verordnungsvorschlag möchte die Europäische Kommission einen Ausgleich der Verbraucher- und Industrieinteressen erreichen:

sie erlaubt die Weiterverwendung der Daten durch die Betreiber, überlässt die Kontrolle darüber aber dem Endnutzer, der ausdrücklich seine Einwilligung erteilen muss;

sie fordert von den Betreibern Auskunft über den Verwendungszweck;

sie wählt mit der Politikoption 3 eine „maßvolle Stärkung der Privatsphäre“ anstatt der in Politikoption 4 vorgesehenen „weitreichenden Stärkung der Privatsphäre“.

4.2.

Ziel des Vorschlags ist die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), die ebenso wie die Vertraulichkeit der personenbezogenen Daten und das Recht auf Vergessenwerden allgemeine Geltung hat, auf die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten im Rahmen der Telekommunikation; es wird die Einführung von strengeren Vorschriften zum Schutz des Privatlebens, von koordinierten Aufsichtsmaßnahmen und von Sanktionen vorgeschlagen.

4.3.

Es werden keine spezifischen Maßnahmen für von den Nutzern selbst verursachte Datenschutzverletzungen vorgesehen, doch wird von Anfang an (Artikel 5) der Grundsatz der Vertraulichkeit elektronischer Kommunikationsdaten bekräftigt.

4.4.

Provider können elektronische Kommunikationsinhalte verarbeiten,

um einen Dienst für einen Endnutzer zu erbringen, der seine Einwilligung gegeben hat;

wenn die betreffenden Endnutzer ihre Einwilligung gegeben haben (Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a und b).

4.5.

Nach Eingang bei den Empfängern müssen die Inhalte gelöscht oder anonymisiert werden.

4.6.

Gemäß Artikel 4 Absatz 11 der DS-GVO bedeutet die „‘Einwilligung“ der betroffenen Person jede freiwillig für den bestimmten Fall, in informierter Weise und unmissverständlich abgegebene Willensbekundung in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung, mit der die betroffene Person zu verstehen gibt, dass sie mit der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten einverstanden ist“.

4.7.

In dem Entwurf wird die Anforderung einer in der DS-GVO definierten ausdrücklichen Einwilligung aufrechterhalten, wobei der Nachweis von den Verantwortlichen zu erbringen ist.

4.8.

Die Verarbeitung beruht auf dieser Einwilligung. Der Verantwortliche muss „nachweisen können, dass die betroffene Person in die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten eingewilligt hat“ (Artikel 7 Absatz 1 DS-GVO).

4.9.

Durch Gesetzgebungsmaßnahmen der EU oder der Mitgliedstaaten können bestimmte Beschränkungen der (Rechte und Pflichten zur Gewährleistung der) Vertraulichkeit vorgenommen werden, um öffentliche Interessen zu wahren oder Überwachungsaufgaben wahrzunehmen.

4.10.

Natürliche Personen müssen vor Aufnahme in ein öffentlich zugängliches Verzeichnis ihre Einwilligung geben und die Möglichkeit haben, die sie betreffenden Daten zu überprüfen und zu berichtigen (Artikel 15).

4.11.

Ein Widerspruchsrecht wird jedem Nutzer die Möglichkeit geben, die Nutzung seiner einem Dritten (beispielsweise einem Händler) anvertrauten Daten zu unterbinden, auch bei jedem Versand einer Nachricht (Artikel 16). Die neuen Bestimmungen erleichtern den Nutzern die Kontrolle über ihre Einstellungen (Cookies, Kennungen) und unerbetene Kommunikation (Spams, Nachrichten, SMS, Anrufe) kann abgestellt werden, wenn der Nutzer keine Einwilligung gibt.

4.12.

Das Recht auf Anzeige der Rufnummer und die Sperrung unerwünschter eingehender Anrufe (Artikel 12 und 14) gilt auch für juristische Personen.

4.13.

Die Struktur des Aufsichtssystems steht im Einklang mit der DS-GVO (Kapitel VI über unabhängige Aufsichtsbehörden und Kapitel VII über deren Zusammenarbeit und Kohärenz).

4.13.1.

Die Mitgliedstaaten und ihre nationalen Datenschutzbehörden sind dafür zuständig, die Einhaltung der Vertraulichkeitsregeln zu überwachen. Die anderen Aufsichtsbehörden können im Rahmen einer gegenseitigen Amtshilfe Einwände formulieren, die dann nationalen Aufsichtsbehörden vorgelegt werden. Die Aufsichtsbehörden arbeiten im Rahmen eines Kohärenzverfahrens untereinander und mit der Europäischen Kommission zusammen (Artikel 63 DS-GVO).

4.13.2.

Der Europäische Datenschutzbeauftragte stellt die einheitliche Anwendung der erörterten Verordnung sicher (Artikel 68 und 70 DS-GVO).

Er kann Leitlinien, Empfehlungen und bewährte Verfahren bereitstellen, um die Anwendung der Verordnung zu erleichtern.

4.14.

Jede natürliche und juristische Person, die Endnutzer ist, kann Rechtsbehelfe nutzen, wenn ihre Interessen durch Verstöße beeinträchtigt werden; sie haben Recht auf Schadenersatz.

4.15.

Die vorgesehenen Geldbußen sollen der Abschreckung dienen. Bei Verstößen können sie sich auf bis zu 10 Mio. EUR bzw. für ein Unternehmen auf bis zu 2 % seines gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs belaufen, je nachdem, welche der Beträge höher ist (Artikel 23); für Verstöße, die keiner Geldbuße unterliegen, legen die Mitgliedstaaten die Sanktionen fest und informieren die Europäische Kommission.

4.16.

Der neue Rechtstext über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten soll ab dem 25. Mai 2018 gelten, genau wie die Datenschutz-Grundverordnung aus dem Jahr 2016, die Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und die vorgeschlagene Richtlinie über die Neufassung des europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (COM(2016) 590 final), sofern sie angenommen werden.

4.17.

Geltungsbereich der Lex specialis zur Umsetzung der DS-GVO:

ratione jure: Rechtsgrundlage

Rechtsgrundlagen sind Artikel 16 (Datenschutz) und Artikel 114 (Binnenmarkt) AEUV sowie Artikel 7 und 8 der Grundrechtscharta. Mit der Verordnung soll die DS-GVO im Hinblick auf Daten, die als personenbezogene Daten einzustufen sind, ergänzt werden.

ratione personae: Interessenträger

Interessenträger sind auf der einen Seite die Endnutzer, bei denen es sich gemäß dem europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation um natürliche oder juristische Personen handelt, und auf der anderen Seite sämtliche Provider von Kommunikationsdiensten, und zwar nicht nur die herkömmlichen Anbieter, sondern vor allem die neuen Akteure, deren neue Dienste den Nutzern keine Garantien bieten. Die sogenannten Over-the-Top-Kommunikationsdienste („OTT-Dienste“ — Sofortnachrichtenübermittlung, VoIP, multiple Schnittstellen usw.) werden vom geltenden Rechtsrahmen nicht erfasst.

ratione materiae: Daten

Der Vorschlag enthält keine Bestimmung zur Vorratsdatenspeicherung in der Cloud und überlässt es den Mitgliedstaaten, im Einklang mit Artikel 23 DS-GVO über Beschränkungen des Widerspruchsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU tätig zu werden (siehe Punkt 1.3 der Begründung).

Die Endnutzer müssen in die Speicherung der von den Systemen generierten Daten und Metadaten (Datum, Uhrzeit, Ort usw.) einwilligen, ansonsten sind diese Daten zu anonymisieren oder zu löschen.

ratione loci: wo?

Die in den Mitgliedstaaten niedergelassenen, mit der Datenverarbeitung befassten Unternehmen oder einer ihrer in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Vertreter müssen Auskünfte erteilen, die nationalen Aufsichtsbehörden kommen ihrer Aufgabe nach und der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) überwacht den gesamten Prozess.

4.18.

Die Ziele der EU mit Blick auf den digitalen Binnenmarkt:

Ein mit dem digitalen Binnenmarkt verfolgtes Ziel ist es, die Voraussetzungen für sichere digitale Dienste zu schaffen und das Vertrauen der Verbraucher zu stärken, um u. a. den Internethandel, Innovationen und dadurch wiederum Beschäftigung und Wachstum zu fördern (Begründung Punkt 1.1).

Mit dem Verordnungsvorschlag wird auch eine Angleichung der Rechtstexte untereinander und Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten angestrebt.

Alle drei Jahre führt die Europäische Kommission eine Bewertung der Durchführung der Verordnung durch und legt sie dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem EWSA vor (Artikel 28).

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1.

Der EWSA begrüßt die gleichzeitige und unionsweite Einführung eines kohärenten Gesamtregelwerks, das den Schutz der Rechte natürlicher und juristischer Personen bei der Nutzung digitaler Daten mittels elektronischer Kommunikation zum Ziel hat.

5.1.1.

Er ist erfreut, dass die EU sich für den Schutz der Bürger- und Verbraucherrechte einsetzt.

5.1.2.

Der EWSA gibt zu bedenken, dass ungeachtet der angestrebten Harmonisierung die Auslegung zahlreicher Bestimmungen den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, was der Verordnung Orientierungscharakter verleiht und einen großen Spielraum für die Vermarktung personenbezogener Daten lässt. Insbesondere im Gesundheitsbereich stehen Tür und Tor offen für die Erhebung ungeheurer Mengen an personenbezogenen Daten.

5.1.3.

In Artikel 11 Absatz 1, Artikel 13 Absatz 2, Artikel 16 Absatz 4 und 5 sowie Artikel 24 entsprechen eher der Art Durchführungsbestimmungen, die einer Richtlinie, nicht aber einer Verordnung angemessen sind. Den Betreibern wird in dem Bemühen, die Dienstqualität zu verbessern, zu viel Flexibilität gelassen (Artikel 5 und 6). Diese Verordnung sollte integraler Bestandteil des Richtlinienvorschlags über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (COM(2016) 590 final) sein.

5.1.4.

Der EWSA bedauert lebhaft, dass es angesichts der Überschneidung, des Umfangs und der Verflechtung dieser Rechtsvorlagen unwahrscheinlich ist, dass sie, von wenigen Insidern abgesehen, gelesen werden, zumal ständig dazwischen hin- und hergeblättert werden muss und ihr Mehrwert für Bürger nicht ersichtlich ist. Die Unlesbarkeit und Kompliziertheit des Vorschlags stehen im Widerspruch zum Leitgedanken des Programms zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT) und zum Ziel der besseren Rechtsetzung, erschweren die Auslegung und eröffnen Datenschutzlücken.

5.1.5.

Beispielsweise enthält der Verordnungsvorschlag keine Definition von „Betreiber“. Diese Definition ist im noch nicht in Kraft getretenen Entwurf für einen europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (4) festgelegt, durch den im Rahmen der Strategie für den digitalen Binnenmarkt die geltenden Vorschriften geändert werden, als da wären: die Rahmenrichtlinie 2002/21/EG, die Genehmigungsrichtlinie 2002/20/EG, die Universaldienstrichtlinie 2002/22/EG und die Zugangsrichtlinie 2002/19/EG in ihren geänderten Fassungen, die Verordnung (EG) Nr. 1211/2009 zur Einrichtung des GEREK, die Frequenzentscheidung 676/2002/EG, der Beschluss 2002/622/EG zur Einrichtung einer Gruppe für Frequenzpolitik und der Beschluss Nr. 243/2012/EU über ein Mehrjahresprogramm für die Funkfrequenzpolitik (RSPP). Das Basisreferenzdokument ist selbstredend die Datenschutz-Grundverordnung (siehe Ziffer 2.2), die der vorliegende Verordnungsvorschlag ergänzen soll und der er daher untergeordnet ist.

5.2.

Der EWSA verweist insbesondere auf Artikel 8 über den Schutz der in Endeinrichtungen gespeicherten Daten und potenzielle Ausnahmefälle, der von grundlegender Bedeutung ist, da er der Informationsgesellschaft Zugriffsmöglichkeiten auf personenbezogene Daten einräumt, sowie auf den die für Laien kaum verständlichen Artikel 12 über die Rufnummernunterdückung.

5.2.1.

Im Sinne von Artikel 2 der Richtlinie 95/46/EG bezeichnet der Ausdruck „‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘)“. Im neuen Verordnungsvorschlag wird der Datenschutz auf Massendaten (Big Data) ausgeweitet, und er bezieht sich künftig auf natürliche und juristische Personen. Es ist einmal mehr hervorzuheben, dass mit dem Verordnungsvorschlag zwei Ziele verfolgt werden: der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und die Gewährleistung des freier Verkehrs elektronischer Kommunikationsdaten und elektronischer Kommunikationsdienste in der EU (Artikel 1).

5.2.2.

Der EWSA gibt zu bedenken, dass das Bestreben, die Daten juristischer Personen zu schützen (Artikel 1 Absatz 2) zu Konflikten mit anderen Rechtstexten führen wird, wo dies nicht vorgesehen ist bzw. wo kein klarer Bezug zu juristischen Personen hergestellt wird (siehe die DS-GVO, der Datenschutz in den europäischen Institutionen).

5.3.

Der EWSA fragt sich, ob das eigentliche Ziel dieses Vorschlags nicht eher darin besteht, vor allem Artikel 1 Absatz 2 umzusetzen und „den freien Verkehr elektronischer Kommunikationsdaten und elektronischer Kommunikationsdienste in der Union“ zu gewährleisten, der aus Gründen der Achtung des Privatlebens und der Kommunikation natürlicher Personen weder beschränkt noch untersagt werden darf, und nicht in der in Artikel 1 Absatz 1 angekündigten Wahrung der „Rechte auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation und den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten“.

5.4.

Zentraler Grundsatz ist die Einwilligung der natürlichen oder juristischen Person. Nach Meinung des EWSA müssen die Nutzer deshalb informiert und geschult werden und Umsicht walten lassen, denn wenn sie einmal ihre Einwilligung gegeben haben, kann der Provider die Inhalte und Metadaten weiterverarbeiten, um möglichst viel Wirkung und Gewinn zu erzielen. Wie viele Nutzer sind sich vor ihrer Einwilligung wirklich darüber im Klaren, dass es sich bei einem Cookie um eine Verfolgungstechnik handelt? Der Befähigung der Nutzer, ihre Rechte wahrzunehmen, sowie der Anonymisierung bzw. Verschlüsselung der Daten sollten in dieser Verordnung Vorrang eingeräumt werden.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1.

Personenbezogene Daten sollten nur von Einrichtungen erhoben werden, die sehr strenge Regeln einhalten und bekannte und legitime Ziele verfolgen (DS-GVO).

6.2.

Der EWSA bedauert erneut „die allzu zahlreichen Ausnahmen und Einschränkungen, die sich auf die aufgeführten Grundsätze des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten auswirken“ (5). Markenzeichen der Europäischen Union sollte auch weiterhin die Ausgewogenheit von Freiheit und Sicherheit sein und nicht der Ausgleich von Grundrechten der Personen und Industrieinteressen. Die Artikel-29-Datenschutzgruppe hat in ihrer Stellungnahme zu dem Verordnungsvorschlag (WP247 vom 4.4.2017, Stellungnahme 1/2017, Ziffer17) kritisiert, dass das Schutzniveau der DS-GVO, insbesondere hinsichtlich der Lokalisierung der Endeinrichtungen und des uneingeschränkten Umfangs der Datenerhebung, ausgehöhlt wird und keine datenschutzfreundlichen Voreinstellungen (Ziffer 19) vorgesehen sind.

6.3.

Daten bilden eine Persönlichkeit ab und werden zur Schattenidentität. Einer Person gehören die Daten, die sie generiert, sie hat aber keinen Einfluss auf das, was nach ihrer Verarbeitung damit geschieht. Die Zuständigkeit für die Regelung der Datenspeicherung und der Datenübermittlung liegt bei den Mitgliedstaaten und aufgrund der in dem Verordnungsvorschlag vorgesehenen möglichen Beschränkungen der Rechte findet keine Harmonisierung statt. Dadurch, dass die Beschränkung der Rechte in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt wird, können Unstimmigkeiten entstehen.

6.4.

Eine Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf die Beschäftigten in Unternehmen: Wem gehören die Daten, die sie durch ihre Arbeit generieren? Wie sind sie geschützt?

6.5.

Die Kontrollstrukturen sind nicht besonders übersichtlich (6); trotz der Überwachung durch den Europäischen Datenschutzausschuss ist Willkür ist nicht hinreichend ausgeschlossen, und es liegt keine Einschätzung des erforderlichen Zeitaufwands bis zur Verhängung von Sanktionen vor.

6.6.

Der EWSA plädiert für die Errichtung eines europäischen Portals, auf dem alle europäischen und nationalen Schriften, alle Rechte, Rechtsmittel, Gerichtsentscheidungen und Verfahrensweisen zusammengetragen und aktualisiert werden, und das den Bürgern und Verbrauchern dabei hilft, sich im Dschungel der Schriften und Durchführungsvorschriften zurechtzufinden und ihre Rechte wahrzunehmen. Dieses Portal sollte sich zumindest an den Bestimmungen der Richtlinie (EU) 2016/2102 vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen und den Erwägungsgründen 12, 15 und 21 des Vorschlags für einen Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (COM(2015) 615 final — 2015/0278 (COD)) orientieren und allen Endnutzern leicht zugängliche und verständliche Inhalte bieten. Der EWSA ist bereit, an der Konzeption dieses Portals mitzuarbeiten.

6.7.

In Artikel 22 fehlt ein Verweis auf „Sammelklagen“, was der EWSA bereits in seiner Stellungnahme zum europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation angemahnt hat.

6.8.

Die Begrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs (Artikel 2 Absatz 2), die Ausweitung der erlaubten Verarbeitung von Daten ohne Einwilligung des betroffenen Nutzers (Artikel 6 Absatz 1 und 2), der unwahrscheinliche Fall, dass ALLE betroffenen Endnutzer ihre Einwilligung geben (Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe b und Artikel 8 Absatz 1, 2 und 3), die möglichen Beschränkungen der Rechte seitens der Mitgliedstaaten, wenn sie dies als „notwendige, geeignete und verhältnismäßige Maßnahme“ erachten, lassen allesamt so unterschiedliche Auslegungen zu, dass dies einen echten Schutz der Privatsphäre unmöglich macht. Besonderes Augenmerk sollte dem Datenschutz in Verbindung mit Minderjährigen gelten.

6.9.

Der EWSA begrüßt das in Artikel 12 vorgesehene Kontrollrecht, wobei aber die ausgesprochen kryptische Formulierung den Schwerpunkt auf Rufnummernunterdrückung zu legen scheint, als wäre Anonymität zu empfehlen, obwohl vom Prinzip der Rufnummernanzeige ausgegangen werden sollte.

6.10.

Unerbetene Kommunikation (Artikel 16) und Direktwerbung sind bereits Gegenstand der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (7). Als Standardregelung sollte die Einwilligung und nicht der Widerspruch zugrunde gelegt werden.

6.11.

Es ist vorgesehen, dass die Europäische Kommission alle drei Jahre eine Bewertung durchführt. Im digitalen Zeitalter ist diese Frist zu lang. Nach zwei Bewertungen wird sich die digitale Welt komplett verändert haben. Indes sollte die Befugnisübertragung (Artikel 25) zeitlich begrenzt werden und eventuell verlängerbar sein.

6.12.

Rechtsvorschriften müssen die Wahrung der Nutzerrechte (Artikel 3 EUV) und gleichzeitig Rechtssicherheit für die wirtschaftlichen Tätigkeiten gewährleisten. Der EWSA bedauert, dass die Datenübertragung zwischen Maschinen (M2M) in dem Vorschlag nicht berücksichtigt wird, sondern dass dafür der europäische Kodex für elektronische Kommunikation herangezogen werden muss (Richtlinienvorschlag, Artikel 2 und 4).

6.12.1.

Durch das Internet der Dinge (8) wird aus Big Data erst Huge Data und dann All Data. Sie sind der Schlüssel für die künftigen Innovationsschübe. Und damit kommunizieren kleine wie auch große Maschinen untereinander und leiten personenbezogene Daten weiter (bspw. messen intelligente Uhren die Herzfrequenz des Trägers und schicken sie an den jeweiligen Hausarzt u. dgl.). Zahlreiche digitale Akteure haben eine eigene Plattform für vernetzte Objekte errichtet: Amazon, Microsoft, Intel und in Frankreich Orange und La Poste.

6.12.2.

Im Alltag kann das Internet der Dinge leicht zum Ziel bösartiger Angriffe werden, zumal die Menge an fernablesbaren persönlichen Informationen (Geopositionierung, Gesundheitsdaten, Video- und Audiostreaming) wächst. Die Datenschutzlücken sind u. a. von Interesse für Versicherungsunternehmen, die anfangen, ihre Kunden für Vernetzung und Eigenverantwortung zu sensibilisieren.

6.13.

Diverse Internetgiganten versuchen, ihre ursprünglichen Anwendungen zu Plattformen zu machen. So ist zwischen der Facebook-App und der Facebook-Plattform zu unterscheiden, einer Entwicklerplattform für Anwendungen auf der Grundlage von Nutzerprofilen. Amazon begann als Online-Buchversand. Heute ist Amazon eine Plattform, die es Drittanbietern, von Einzelhändlern bis Großunternehmen, ermöglicht, ihre Produkte zu vermarkten und dafür die Amazon-Ressourcen wie Reputation, Logistik usw. zu nutzen. Grundlage für all das ist die Übertragung personengebundener Daten.

6.14.

In der kollaborativen Wirtschaft entstehen immer mehr Plattformen: „eine Plattform, normalerweise eine Online-Plattform, um eine breite Palette von Anbietern von Waren oder Dienstleistungen mit einer breiten Palette von Nutzern zu verbinden“ (9). Auch wenn sie positiv gesehen werden, weil sie Wirtschaftstätigkeit und Beschäftigung fördern, fragt sich der EWSA, wie die Übertragung der dort generierten Daten mittels der DS-GVO und der vorliegenden Verordnung kontrolliert werden kann.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Generaldirektion Justiz, IP/13/525 und Memo13/531 vom 11.6.2013.

(2)  In Artikel 13 der Richtlinie 2002/58/EG werden unerbetene Nachrichten (Spam) untersagt, und in der Änderungsrichtlinie von 2009 wird der Opt-in-Grundsatz eingeführt, demzufolge „Nachrichten zum Zwecke der Direktwerbung“ nur mit Einwilligung der betreffenden Teilnehmer oder Nutzer versandt werden dürfen.

(3)  COM(2016) 590 final vom 12.10.2016, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation, S. 2 (ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 56).

(4)  COM(2016) 590 und Anhänge 1 bis 11 vom 12.10.2016 (ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 56).

(5)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 56 sowie ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 83.

(6)  Kapitel IV Artikel 19 und 21 des erörterten Verordnungsvorschlags stützt sich seinerseits wiederum auf Kapitel VIII, insbesondere Artikel 68 der DS-GVO.

(7)  Richtlinie 2005/29/EG vom 11.5.2005, Artikel 8 und 9 (ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22).

(8)  WP247/17-Stellungnahme vom 1.4.2017, Ziffer 19 (ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 1).

(9)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 56.