ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 195

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

49. Jahrgang
18. August 2006


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II   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

427. Plenartagung am 17.-18. Mai 2006

2006/C 195/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bemerkungen zu der Fünfjahresbewertung der Forschungsaktivitäten der Gemeinschaft (1999-2003) durch ein hochrangiges unabhängiges SachverständigengremiumKOM(2005) 387 endg.

1

2006/C 195/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen pyrotechnischer GegenständeKOM(2005) 457 endg. — 2005/0194 (COD)

7

2006/C 195/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung von Perfluorooctansulfonaten (Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates)KOM(2005) 618 endg. — 2005/0244 (COD)

10

2006/C 195/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates sowie der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Überarbeitung der Richtlinien über MedizinprodukteKOM(2005) 681 endg. — 2005/0263 (COD)

14

2006/C 195/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern (kodifizierte Fassung)KOM(2006) 12 endg. — 2006/0007 (CNS)

19

2006/C 195/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Vorlage: Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und StraßeKOM(2005) 319 endg. — 2000/0212 (COD)

20

2006/C 195/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Förderung sauberer StraßenfahrzeugeKOM(2005) 634 endg. — 2005/0283 (COD)

26

2006/C 195/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung — Ein AktionsprogrammKOM(2005) 658 endg.

29

2006/C 195/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und Bekämpfung von HochwasserKOM(2006) 15 endg. — 2006/0005 (COD)

37

2006/C 195/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über ein Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz (Neufassung)KOM(2006) 29 endg. — 2006/0009 (CNS)

40

2006/C 195/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Grünbuch Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern — Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen UnionKOM(2005) 484 endg.

42

2006/C 195/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Flexicurity nach dänischem Muster

48

2006/C 195/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der DienstleistungKOM(2005) 334 endg. — 2003/0329 (CNS)

54

2006/C 195/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung Sitzlandbesteuerung — Skizzierung eines möglichen Pilotprojekts zur Beseitigung unternehmenssteuerlicher Hindernisse für kleine und mittlere Unternehmen im BinnenmarktKOM(2005) 702 endg.

58

2006/C 195/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung des Kohäsionsfonds (kodifizierte Fassung)KOM(2006) 5 endg. — 2003/0129 (AVC)

61

2006/C 195/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Das auswärtige Handeln der EU: Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft

62

2006/C 195/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens

64

2006/C 195/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der MitgliedstaatenKOM(2006) 32 endg. — 2006/0010 (CNS)

66

2006/C 195/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum ThemaMitteilung der Kommission: Aktionsplan für BiomasseKOM(2005) 628 endg.

69

2006/C 195/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum ThemaEntwicklung und Förderung alternativer Kraftstoffe für den Straßenverkehr in der EU

75

2006/C 195/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Besteuerung von PersonenkraftwagenKOM(2005) 261 endg. — 2005/0130 (CNS)

80

2006/C 195/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Luftqualität und saubere Luft für EuropaKOM(2005) 447 endg. — 2005/0183 (COD)

84

2006/C 195/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Situation der Zivilgesellschaft im Westbalkanraum

88

2006/C 195/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft

96

2006/C 195/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft

104

2006/C 195/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges LernenKOM(2005) 548 endg. — 2005/0221 (COD)

109

DE

 


II Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

427. Plenartagung am 17.-18. Mai 2006

18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bemerkungen zu der Fünfjahresbewertung der Forschungsaktivitäten der Gemeinschaft (1999-2003) durch ein hochrangiges unabhängiges Sachverständigengremium“

KOM(2005) 387 endg.

(2006/C 195/01)

Die Kommission beschloss am 24. August 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 25. April 2006 an. Berichterstatter war Herr BRAGHIN.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17. Mai 2006 mit 108 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Stellungnahme

1.1

Der EWSA begrüßt und unterstützt die bei der dritten Fünfjahresbewertung unternommenen Anstrengungen und die umfassende Hinzuziehung solch hochrangiger Experten. Nach Ansicht des EWSA sollten die in den verschiedenen Expertengruppen und insbesondere im für die allgemeine Bewertung zuständigen Gremium (1) ausgearbeiteten Empfehlungen bei der Umsetzung der Rahmenprogramme, bei der zukünftigen Gestaltung der Forschungs- und Innovationspolitik sowie im Allgemeinen bei den politischen Maßnahmen, die zur Umsetzung der Lissabonstrategie beitragen, einen festen Bezugspunkt bilden.

1.2

Der EWSA hat sich wiederholt für eine erhebliche Aufstockung des europäischen Forschungsbudgets ausgesprochen, bedauert folglich die angekündigte Kürzung dieses Betrags, da dies im Widerspruch zum vorrangigen Ziel der Entwicklung steht, das von den Herausforderungen des weltweiten Wettbewerbs und von der Lissabon-Strategie vorgegeben wird.

1.3

Der EWSA betont die Bedeutung einer umfassenderen Beteiligung und eines stärkeren Engagements der Industrie in Forschung und innovativer Entwicklung als Voraussetzung für die Erreichung des Ziels des Rates von Barcelona und ist der Auffassung, dass gezielter auf die Kommunikation und die Einbeziehung von Unternehmen, Herstellerorganisationen und -verbänden hingewirkt werden muss, auch um Themenbereiche zu ermitteln, in denen die europäische Forschung ihre Spitzenqualität unter Beweis stellen kann.

1.4

Nach Auffassung des EWSA müssen geeignete Instrumente zur Ankurbelung privater Investitionen in die Forschung und technologische Entwicklung (FTE) entwickelt werden, vom Risikokapital bis hin zur EIB-Finanzierung und zinsgünstigen Krediten für den Forschungsbereich, um die Umsetzung von Forschungsergebnissen in konkrete unternehmerische Initiativen zu erleichtern.

1.5

Der EWSA stimmt mit dem Sachverständigengremium darin überein, dass den Forschern (unter Einhaltung der ethischen Grundprinzipien) mehr Autonomie und Verantwortung eingeräumt und die wissenschaftlichen Berufe verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden müssen. Er teilt ferner die Auffassung, dass neben der räumlichen auch eine größere interdisziplinäre Mobilität gewährleistet werden sollte und dass die Marie-Curie-Stipendien mit den nationalen und regionalen Programmen verknüpft und dazu genutzt werden sollten, die Mobilität zwischen der öffentlichen und der privaten Forschung zu fördern.

1.6

Der EWSA fordert, dass vorrangig politische Maßnahmen konzipiert werden, die darauf abzielen, die Hochschulbildung in den Bereichen Wissenschaft und Ingenieurwesen auszubauen, den Anteil an Forscherinnen zu erhöhen, die Karriere im wissenschaftlichen Bereich attraktiver zu gestalten und Forscher, die im Ausland tätig sind, in die Europäische Union zurückzuholen. Wünschenswert wäre außerdem ein größeres naturwissenschaftlich-technisches Unterrichtsangebot in den höheren Schulen sowie eine Politik zur Förderung der Hochschulausbildung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich.

1.7

Zum Zwecke der Vereinfachung fordert der EWSA im Hinblick auf die Ausschreibungen eine Spezifizierung der verschiedenen Schemata, der verschiedenen Aktivitäten sowie der Kategorien der Teilnehmer, mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit für die Antragsteller sowie einfache Leitlinien für die verwaltungs- und finanztechnische Abwicklung, insbesondere für die vertraglichen Vereinbarungen der Teilnehmer.

1.8

Der EWSA schlägt eine kontinuierliche Bewertung der Qualität der angewandten Verfahren und der formellen Kontroll- und Bewertungsverfahren vor sowie, bei wohldefinierten Entwicklungsprojekten, die Festsetzung von Überprüfungen der Tätigkeiten und Ergebnisse, die an zuvor genau festgelegten Prüfpunkten des Projekts vorgesehen sind und an die die Mittelauszahlungen und die Weiterführung des Projekts geknüpft werden.

1.9

Ferner schlägt der EWSA vor, sich insbesondere der Anwendung einer Reihe von Indikatoren zu widmen, mit denen die tatsächliche Leistung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Entwicklung bewertet werden kann. Mit solchen Leistungsindikatoren im Bereich Forschung soll die Wirksamkeit der finanzierten Aktivitäten für den wissenschaftlichen Fortschritt und für die Gesamtentwicklung der EU gemessen werden, um daran die Prioritäten für die künftigen Aktivitäten auszurichten.

2.   Die Herausforderungen für die europäische Forschung

2.1

Die dritte Fünfjahresbewertung der Forschungsrahmenprogramme (1999-2003) ist aufgrund der inhaltlich umfassenden und tiefgreifenden Untersuchungen eine überaus bedeutende Analyse (2). Der EWSA schließt sich den Analysen und Empfehlungen des Sachverständigengremiums, die sich die Kommission zu Eigen gemacht hat, im Wesentlichen an. Angesichts des internationalen Wettbewerbsumfelds sowie der in der Lissabon-Strategie und auf der Tagung des Rates von Barcelona gesteckten Ziele betont der EWSA die Notwendigkeit und Dringlichkeit, die grundlegenden Prioritäten und Ziele der gemeinschaftlichen Forschung zu überdenken, insbesondere im Hinblick auf eine weitreichendere Beteiligung der Produktionssektoren.

2.2

Heutzutage verlaufen wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Innovation zunehmend auch in Prozessen, bei denen sich unterschiedliche Disziplinen gegenseitig befruchten und eine umfassende multidisziplinäre Interaktion zwischen Universität, Unternehmen und anderen Akteuren stattfindet. Sie folgen nicht mehr ausschließlich dem linearen Modell, wonach die Innovation im Rahmen der Grundlagenforschung (und meistens auf wissenschaftlicher Ebene) erfolgt, während die Entwicklung und Anwendung Aufgabe der industriellen Forschung ist. Die wissenschaftliche Entwicklung war noch bis vor kurzem (3) am linearen Modell ausgerichtet. Zusammenarbeit, interaktives Lernen, Ungewissheit und Risiko werden zu grundlegenden Merkmalen der Forschungstätigkeit.

2.3

Mit dem interaktiven Modell lässt sich der Erfolg der regionalen Cluster erklären. Diese Cluster bilden ein „System“, das das Verhalten von Wirtschaft und Hochschule positiv beeinflussen und ein geeignetes soziales und kulturelles Umfeld, einen wirksamen institutionellen und Organisationsrahmen, ein Infrastrukturnetz sowie den Herausforderungen des Wettbewerbs angemessene Regelungen hervorbringen kann.

2.4   Das internationale Wettbewerbsumfeld

2.4.1

Europa steht in Bezug auf internationale Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumspotenzial derzeit vor noch nie da gewesenen Herausforderungen. So bleibt es nicht nur hinter seinen traditionellen Konkurrenten, sondern auch hinter den größeren neu auf den Markt drängenden Ländern zurück. Insbesondere in Indien und China wachsen die Ausgaben für FTE mit ungemein hohen Raten, in China um bis zu 20 %, wobei erwartet wird, dass dieses Land im Jahr 2010 den gleichen Prozentsatz seines BIP für FTE aufwenden wird wie die EU. Viele europäische Unternehmen investieren nicht nur wegen der niedrigeren Kosten in China, sondern auch aufgrund der günstigen Kombination gut ausgebildeter Arbeitskräfte und großer dynamischer Technologie- und Hightech-Märkte (4). Da Forschung und Innovation für die Bewältigung solcher Herausforderungen ausschlaggebend sind (5), muss Europa angemessene Finanzmittel bereitstellen und sein ganzes intellektuelles Potenzial einsetzen, um Wissenschaft, Technologie und Innovation voranzutreiben (6).

2.4.2

Bedauerlicherweise sind die aktuellen Daten alarmierend: Die Forschungsaufwendungen liegen im Wesentlichen stabil bei 1,9 % des BIP von 2001, und ausgehend von der im Zeitraum 2000-2003 verzeichneten jährlichen Wachstumsrate von 0,7 % wäre bei einer Hochrechnung für das Jahr 2010 mit einem Anteil von lediglich 2,2 % des Bruttoinlandsprodukts zu rechnen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Forschung und Entwicklung in den USA aufgrund der ganz anderen Ausmaße des dortigen BIP absolut gesehen einen viel größeren Umfang haben und damit leichter die erforderliche kritische Masse erreicht wird. Die Kluft zwischen den Aufwendungen Europas für Forschung und Entwicklung und jener seiner größten Konkurrenten ist insbesondere auf die schwächere Beteiligung des privaten Sektors zurückzuführen (2002 war der private Sektor in der EU an den Gesamtausgaben mit 55,6 % beteiligt, im Vergleich zu 63,1 % in den USA und 73,9 % in Japan). Einen noch größeren Anlass zur Sorge gibt die Tatsache, dass die privaten Ausgaben in die Forschung in demselben Zeitraum geschrumpft sind und die europäische Wirtschaft offenbar wegen besserer Rahmenbedingungen verstärkt in andere Weltregionen investiert: Die europäischen Unternehmen haben ihre Investitionen in die US-amerikanische Forschung von 1997 bis 2002 real um 54 % erhöht, während bei den amerikanischen Investitionen in der EU lediglich ein Anstieg von 38 % zu verzeichnen war (7).

2.5   Die wichtigsten Ziele

2.5.1

Der EWSA schließt sich der Analyse an, die in die Festlegung der vier wichtigsten Ziele mündete:

für die besten Köpfe attraktiver zu werden und ihre Leistung angemessen zu vergüten;

ein optimales Umfeld für industrielle Forschung und technologische Entwicklung (FTE) zu schaffen;

Mittel für Innovation und nachhaltiges Wachstum zu mobilisieren;

Vertrauen in Wissenschaft und Technik herzustellen.

2.5.2

Das auf der Tagung des Rates von Barcelona gesteckte grundlegende Ziel, bis 2010 drei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung aufzuwenden und dabei den Anteil der vom privaten Sektor finanzierten Forschung auf 2/3 dieses Wertes zu erhöhen, macht einen Vergleich und eine Koordinierung der gemeinschaftlichen und nationalen Forschungspolitiken notwendig. Die Erreichung dieses Ziels setzt größere Anreize für Forschungsinvestitionen in Europa, eine höhere Effizienz des Forschungssystems mit geeigneten Rahmenbedingungen, eine bessere Hebelwirkung der öffentlichen Ausgaben auf die private Forschung sowie wirksamere und kohärentere forschungspolitische Maßnahmen sowohl auf der gemeinschaftlichen als auch auf der nationalen Ebene voraus (8).

2.5.3

Ausgehend von den im Rahmen des Bewertungsprozesses durchgeführten Analysen und den vorgetragenen Standpunkten zahlreicher Betroffener ist es nach Auffassung des Ausschusses erforderlich, mittels zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten abgestimmter Maßnahmen gezielter auf die Rahmenbedingungen einzuwirken, die für Forschungsaktivitäten nicht ausreichend förderlich sind. Es müssen direkte Maßnahmen zugunsten der Innovation und der Wettbewerbsfähigkeit des Systems auf europäischer Ebene festgelegt werden. Aufgrund der Zersplitterung und der mangelnden Koordinierung der Bemühungen ist es nicht möglich, die erforderliche kritische Masse und Konzentration zu erreichen. Ferner müssen die einzelstaatlichen Politiken nicht nur im Bereich der Forschung, sondern auch in den Bereichen Aus- und Weiterbildung der Arbeitskräfte, Schutz des geistigen Eigentums und Innovationsförderung mithilfe von steuerlichen Maßnahmen und einer konstruktiven und die Synergien nutzenden Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Wirtschaft usw. sehr viel stärker miteinander verglichen und koordiniert werden.

2.6   Bemerkungen zur künftigen europäischen Forschungspolitik

2.6.1

Der EWSA hat sich wiederholt für eine erhebliche Aufstockung des europäischen Forschungsbudgets ausgesprochen und seine Unterstützung für den Vorschlag der Kommission, die für das 7. RP bereitgestellten Mittel im Vorgriff auf eine weitere, langfristig angestrebte Erhöhung der Finanzmittel aufzustocken, nachhaltig bekräftigt (9). Die vom Rat angekündigte umfassende Kürzung dieses Betrags auf ungefähr 5 % des Gesamthaushalts der EU statt der von der Kommission angestrebten 8 % ist bedauerlich und steht im Widerspruch zum vorrangigen Ziel der Entwicklung, das von den Herausforderungen des weltweiten Wettbewerbs und von der Lissabon-Strategie vorgegeben wird.

2.6.2

Der EWSA unterstützt von jeher die Errichtung eines Europäischen Forschungsraums (EFR) (10) und hält auch die Schaffung eines Gremiums wie des Europäischen Forschungsrats für zweckmäßig, dem bei der Förderung von wissenschaftlicher Spitzenleistung durch im Zuge eines „bottom up“-Ansatzes ermittelte Forschungsschwerpunkte „an den Grenzen des Wissens“ eine Schlüsselrolle zukommt. Der EWSA begrüßt, dass man seinen Empfehlungen insbesondere im Hinblick auf die Unabhängigkeit des EFR und die Zusammensetzung seines wissenschaftlichen Ausschusses gefolgt ist, und bekräftigt, dass unbedingt Spitzenkräfte auch aus der Industrieforschung einbezogen werden sollten (11).

2.6.3

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es notwendig ist, eine breite Palette von koordinierten Maßnahmen zur bestmöglichen Integration der neuen Mitgliedstaaten zu ergreifen, hält die hierfür bislang vorgesehenen Instrumente jedoch für unzulänglich. Aufgrund des Umstellungsprozesses in diesen Ländern in der Zeit der fraglichen Bewertung ist es schwierig, die geeignetsten Methoden für die Schaffung einer Wirtschaft zu ermitteln, die auf der Entwicklung von Kenntnissen und Forschung basiert. Das verfolgte Ziel der „Stärkung der Forschung“ ist für die neuen Mitgliedstaaten sicherlich von besonderer Bedeutung, muss jedoch auf die „Erzeugung von Innovation“ ausgerichtet werden, um die für sie notwendigen Entwicklungsmaßnahmen zu fördern.

3.   Überlegungen zu den Empfehlungen für die RP

3.1   Die Beteiligung des privaten Sektors

3.1.1

Der EWSA schließt sich den Empfehlungen des Gremiums an und betont insbesondere die Bedeutung einer umfassenderen Beteiligung und eines stärkeren Engagements der Industrie als Grundvoraussetzung für die Erreichung des Ziels des Rates von Barcelona. Die Verfolgung dieses Ziel kann dadurch erleichtert werden, dass die Wirtschaft aktiver an den strategischen Entscheidungen und der Ermittlung jener Themenbereiche mitwirkt, in denen die Spitzenqualität der europäischen Forschung deutlicher hervortreten kann.

3.1.2

Um eine solche Beteiligung zu gewährleisten, ist es nach Auffassung des EWSA notwendig, gezielter auf die Kommunikation und die Einbeziehung von Unternehmen, Herstellerorganisationen und -verbänden hinzuwirken, auch um die Beteiligung von KMU zu erleichtern, und dadurch die derzeitige Teilnahmequote von 13 %, die alles andere als zufrieden stellend ist, anzuheben. Das 7. RP und das RP für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation dürfen aufgrund ihrer Natur nicht als Alternativen, sondern müssen als Ergänzungen zueinander betrachtet werden, die Synergien hervorbringen.

3.1.3

Nach Auffassung des EWSA sollten die bisherigen sowie die neuen, bereits für das 6. RP vorgesehenen Finanzierungsinstrumente (12) im Wesentlichen unverändert bleiben, damit nicht unabsichtlich neue Zugangsschranken geschaffen werden (die zu Beginn des 6. RP von den Sachverständigen festgestellt wurden). Vielmehr sollten diese Finanzierungsinstrumente auf der Grundlage der erworbenen Erfahrung angepasst und leichter nutzbar gemacht werden.

3.1.4

So sollten die Integrated Projects (IP) und die Specific Targeted Research Projects (STREP), auf die die KMU vorzugsweise zurückgreifen, optimiert werden, um die Beteiligung der KMU zu erleichtern. Die technologischen Plattformen sowie die Joint Technology Initiatives sind Instrumente, die sicherlich zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Die Network of Excellence, die bei den Universitäten und den öffentlichen Forschungszentren Wertschätzung und großen Zuspruch finden, sollten dahingehend weiterentwickelt werden, dass eine stärkere Beteiligung der Industrie gefördert wird und diese Instrumente zur Steigerung der Mobilität der Forschenden in Verbindung mit einem erstrebenswerten stärkeren Austausch zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor beitragen.

3.2   Einfachere Verwaltung und Verfahren

3.2.1

Die Vereinfachung der Verwaltung und der Verfahren kommt bei jeder Verlängerung der RP zur Sprache: Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Verbesserungen vorgenommen — von unterschiedlichen Dokumenten über die Vereinfachung bis hin zur vom Kommissionsmitglied Potočnik eingerichteten Konsultationsgruppe („sounding board“) aus Vertretern kleiner Forschungseinrichtungen -, doch scheinen die konkreten Vorschläge die Schwierigkeiten und Probleme der Teilnehmer nicht gelöst zu haben.

3.2.2

Ausgehend von den Erfahrungen der Fachleute und unmittelbar Beteiligten, die im Zuge der Konsultation erhoben wurden, schlägt der EWSA vor, die Schwierigkeiten, mit denen die Teilnehmer an den Projekten des derzeitigen RP zu kämpfen haben, systematisch festzuhalten und zu bewerten, um Mechanismen vorschlagen zu können, die besser an die derzeitigen Gegebenheiten angepasst sind. Dies könnte der kontinuierlichen Bewertung der Qualität der angewandten Verfahren sowie der formellen Kontroll- und Bewertungsverfahren förderlich sein.

3.2.3

Es wäre auch zweckmäßig, bei wohldefinierten Entwicklungsprojekten regelmäßige Überprüfungen der vorgesehenen Tätigkeiten und Ergebnisse festzusetzen. An diese Kontrolltermine für zuvor genau festgelegte Prüfpunkte des Projekts sollten die Mittelauszahlungen und die Weiterführung des jeweiligen Projekts geknüpft werden.

3.2.4

In Bezug auf die Teilnahmemodalitäten und die verwaltungs- und finanztechnische Abwicklung könnten sich ausführlichere und einheitlich ausgelegte Leitlinien für die vertraglichen Vereinbarungen der Teilnehmer, mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit für die Antragsteller sowie Ausschreibungen, in denen die verschiedenen Schemata, die verschiedenen Aktivitäten sowie die Kategorien der Teilnehmer spezifiziert sind, als nützlich erweisen.

3.2.5

Es hat sich herausgestellt, dass eine relativ kleine Gruppe von Organisationen mehrfach und an mehreren Programmen teilnahm — oftmals als Prime Contractors (Generalunternehmer) — und schätzungsweise ca. ein Fünftel der Projekte durchgeführt hat (13). Eine solche Konzentration gibt Anlass zur Sorge: Einerseits verdeutlicht sie die Schwierigkeiten bei der Teilnahme, mit denen insbesondere Erstteilnehmer an einer Ausschreibung im Bereich Forschung zu kämpfen haben. Andererseits schmälert diese Konzentration die Möglichkeit, neue, auf radikale Innovationen und risikobehaftete Forschung ausgerichtete Projekte (wie in Empfehlung 2 gefordert) durchzuführen.

3.3   Die Forschung vorantreiben

3.3.1

Die Modalitäten für die Ankurbelung privater Investitionen in die FTE sind nach wie vor nicht festgelegt, und die Marktmechanismen, die eine synergetische Kettenreaktion auslösen könnten, scheinen bislang nicht ermittelt und können somit nicht so schnell angewandt werden, wie sie eigentlich sollten. Steuerliche Anreize, Stärkung der Rechte an geistigem Eigentum, Erleichterungen beim Einsatz von Risikokapital und engere Beziehungen zwischen der Industrie und den Hochschulen sind Zielvorgaben und keine Handlungsinstrumente.

3.3.2

Insbesondere spricht sich der EWSA dafür aus, Instrumente zur Entfaltung des Unternehmergeistes der europäischen Forscher zu entwickeln sowie Mittel und Wege zu erschließen (vom Risikokapital bis hin zur EIB-Finanzierung und zinsgünstigen Krediten für den Forschungsbereich), um die Umsetzung von Forschungsergebnissen in konkrete unternehmerische Initiativen zu erleichtern.

3.3.3

Im Rahmen der Empfehlung, High-Tech-KMU stärker zu beteiligen, die der EWSA in vielen früheren Stellungnahmen selbst formuliert hat und der er sich hier in vollem Umfang anschließt, sollten neben den „gemeinsamen Technologieinitiativen“, den technologischen Plattformen und den Möglichkeiten des Programms „Ideen“ weitere spezifische Instrumente geschaffen werden. Der EWSA hält es für wünschenswert, dass dies ein vorrangiges Ziel darstellt und im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode besondere Berücksichtigung findet.

3.3.4

Um eine innovativere, auf konkurrenzfähige Ergebnisse ausgerichtete Forschung voranzutreiben, müssen nach Auffassung des EWSA die bislang ungelösten Probleme im Bereich der Rechte an geistigem Eigentum dringend angegangen werden — insbesondere Fragen im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftspatent, der Patentierbarkeit computergenerierter Erfindungen und Erfindungen in neuen Wissensbereichen sowie der vollständigen Umsetzung der Richtlinie über die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen.

3.4   Humanressourcen

3.4.1

Der EWSA hält es für vorrangig, die Karriere im wissenschaftlichen und technischen Bereich durch eine Aufwertung des Forscherberufs nicht nur unter dem finanziellen, sondern auch unter dem gesellschaftlichen Aspekt attraktiver zu machen. Die steigende Tendenz zu Postgraduierten-Studien und Forschungsaufenthalten in anderen Ländern im und außerhalb des Hochschulbereichs ist zweifellos eine positive Form der Mobilität im Ausbildungsprozess der Forschungskräfte, denn der Austausch von Wissen und Arbeitsmethoden stellt eine wertvolle Bereicherung dar. Diese Mobilität wird jedoch zu einem kritischen Faktor, wenn sie nur in einer Richtung besteht, weil die Forscher in ihrem Herkunftsland nicht die Arbeitsbedingungen, Karrierechancen, das soziale Ansehen und die entsprechende finanzielle Anerkennung finden, die sie zur Rückkehr bewegen könnten (14). Europa muss in allen seinen Mitgliedstaaten für junge Leute, die sich für eine Forschungskarriere entscheiden, attraktiv sein. Insbesondere wird angestrebt, dass jungen Forschungskräften aus aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie China und Indien unter anderem durch Formen des gesteuerten Austausches der Weg in die EU geebnet wird.

3.4.2

Die Programme zur Entwicklung der Humanressourcen und zur Förderung der Mobilität erscheinen nicht ausreichend, den Qualitätssprung zu schaffen, mit dem das erste der wesentlichen Ziele — für die besten Köpfe attraktiv zu werden und ihre Leistung angemessen zu vergüten — erreicht werden kann. Es fehlt eine klare Perspektive zum Status eines „europäischen Forschers“, der im Mittelpunkt einer solchen Aktion stehen sollte.

3.4.3

Um diese problematische Situation zu bewältigen, müssen innovative Maßnahmen ergriffen werden. Investitionen sind zu tätigen, um die Hochschulbildung in den Bereichen Wissenschaft und Ingenieurwesen auszubauen, was ein stärker naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtetes Unterrichtsangebot in den höheren Schulen sowie eine Politik zur Förderung der Hochschulausbildung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich voraussetzt. Zugleich ist der Anteil an Hochschulabsolventen in denjenigen Studiengängen zu senken, in denen kein entsprechendes Beschäftigungsangebot besteht (eine negative Situation, die in den neuen Mitgliedstaaten sowie in Italien, Portugal und Österreich verzeichnet wird), einen Anstieg des Anteils an Forscherinnen zu fördern (knapp ein Drittel aller Forscher, aber über 63 % aller Hochschulabsolventen in naturwissenschaftlichen und Ingenieurstudiengängen sind Frauen) (15) und die Karriere im wissenschaftlichen Bereich attraktiver zu gestalten.

3.4.4

Nach Ansicht des EWSA sollten diese politischen Maßnahmen, für die in erster Linie die Mitgliedstaaten verantwortlich sind, eingehender im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode behandelt werden, die sich für die Anwendung auf die Systeme der höheren und universitären Bildung sowie der Forschung anbietet, um vorbildliche Verfahren zu verbreiten, geeignete Formen des „Peer review“ zu ermitteln, zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen abgestimmte Maßnahmen zu ergreifen und prioritäre Themen für die grenzüberschreitende Forschung festzulegen.

3.4.5

Der Anteil der Forscher an der erwerbstätigen Bevölkerung ist in Europa wesentlich geringer als in den konkurrierenden Ländern (5,4‰ in der EU im Vergleich zu 9‰ in den USA und 10,1‰ in Japan; in allen neuen Mitgliedstaaten und in den südeuropäischen Ländern liegt der Anteil jedoch bei unter 5‰), und das Alter der Beschäftigten in Wissenschaft und Technologie gibt allmählich Anlass zur Sorge (35 %, in manchen Mitgliedstaaten gar 40 %, sind im Alter von 45-64 gegenüber 31 % im Alter von 25-34) (16). Ferner sollte die Tatsache, dass derzeit 150 000 europäische Forscher in den USA tätig sind, und dass für die Erreichung des Ziels von Barcelona in den nächsten zehn Jahren 500 000 — 700 000 weitere Forscher notwendig sein werden, ebenfalls zum Nachdenken veranlassen (17).

3.4.6

Der EWSA stimmt mit dem Sachverständigengremium darin überein, dass den Forschern (unter Einhaltung der ethischen Grundprinzipien) mehr Autonomie und Verantwortung eingeräumt und die wissenschaftlichen Berufe verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden müssen. Er teilt ferner die Auffassung, dass neben der räumlichen auch eine größere interdisziplinäre Mobilität gewährleistet werden sollte und dass die Marie-Curie-Stipendien mit den nationalen und regionalen Programmen verknüpft und dazu genutzt werden sollten, um die Mobilität zwischen der öffentlichen und der privaten Forschung zu fördern.

3.4.7

Der EWSA begrüßt ferner die Bemühungen der Kommission um eine „Europäische Charta für Forscher“ (18), die einen ersten Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist jedoch der Auffassung, dass sich auch die Mitgliedstaaten stärker und koordinierter um effizientere und besser aufeinander abgestimmte Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Karriere, Gehälter und Senkung der Sozialabgaben (einschließlich der Beitrags-, Renten- und Steuersysteme) bemühen müssen (19).

3.4.8

Die Lösung der Frage des Vertrauens in die europäische Wissenschaft und Forschung sowie deren Legitimierung, der der EWSA eine große Bedeutung beimisst, ist eine der Voraussetzungen für die Legitimierung der Forscher und die wirtschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit. Nicht zuletzt im Lichte dieses Ziels muss dringend eine aktive und zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten abgestimmte Politik konzipiert und mit angemessenen Instrumenten und Ressourcen ausgestattet werden.

3.5   Der Bewertungsprozess

3.5.1

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission sehr um eine Verbesserung des Bewertungsprozesses bemüht war und eine Reihe von Dokumenten ausgearbeitet hat, die der Arbeit der Bewertungsexperten dienten. Das tatsächliche Problem liegt vielmehr in der Ex-post-Bewertung: Wird diese auf die Überprüfung der formalen Kohärenz im Hinblick auf die Ziele beschränkt, so besteht die Gefahr, dass dabei das wahre strategische Ziel aus den Augen verloren wird: die Bewertung der strukturellen Auswirkungen der RP auf die Wirtschafts- und Forschungslandschaft der EU sowie der zu verfolgenden Prioritäten und der entsprechenden Mittelzuweisung.

3.5.2

Der EWSA schlägt vor, sich insbesondere der Anwendung einer Reihe von Indikatoren zu widmen, mit denen die tatsächliche Leistung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Entwicklung bewertet werden soll. Solche Leistungsindikatoren im Bereich Forschung sollten es ermöglichen, die Wirksamkeit der finanzierten Aktivitäten für die Gesamtentwicklung der EU zu messen und die künftigen Aktivitäten an den ermittelten Prioritäten auszurichten. Der EWSA ist sich jedoch dessen bewusst, dass eine automatische Bewertung keinesfalls die differenzierte und auf den Einzelfall abgestimmte Beurteilung durch die entsprechenden Experten ersetzen kann.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Five-Year Assessment of the EU Research Framework Programme 1999-2003, Europäische Kommission, GD Forschung, 15. Dezember 2004.

(2)  Im Zuge des Bewertungsprozesses wurden zahlreiche Dokumente und Berichte erstellt, die unter http://forum.europa.eu.int/Public/irc/rtd/fiveyearasskb/library abrufbar sind.

(3)  Vgl. Keith Smith, The Framework Programmes and the Changing Economic Landscape, Europäische Kommission, GBA-IPTS, Sevilla, Dezember 2004, S. 11-12.

(4)  Siehe Vorwort von J. Potočnik in „Key Figures 2005. Towards a European Research Area: Science, Technology and Innovation“. Europäische Kommission, GD Forschung, 2005, S. 5.

(5)  Siehe CESE 305/2004, Stellungnahme zur Mitteilung Forscher im europäischen Forschungsraum, Berichterstatter: Herr Wolf, ABl. C 110 vom 30.4.2004. ABl. C 65 vom 17.3.2006

(6)  Siehe Einleitung des Vorsitzenden der Expertengruppe, Erkki Ormala, zum Five-Year Assessment of the EU Research Framework Programmes 1999-2003.

(7)  Alle Angaben dieses Abschnitts aus: Key Figures 2005. S. 9-10.

(8)  Siehe Einleitung in Key Figures 2005, S. 3.

(9)  INT 269 - CESE 1484/2005, bereits zitiert, Ziffer 1.4, S. 2, und 4.1 bis 4.6, S. 9 u. 10. ABl. C 65 vom 17.3.2006

(10)  Zuletzt insbesondere in der Stellungnahme zu der Mitteilung „Wissenschaft und Technologie: Schlüssel zur Zukunft Europas“ (INT/246 - CESE 1647/2004, ABl. C 156 vom 28.6.2005, Berichterstatter: Herr WOLF) sowie in einer zusätzlichen Stellungnahme zum gleichen Thema (CCMI/015 - CESE 1353/2004, Berichterstatter: Herr VAN IERSEL, Ko-Berichterstatter: Herr GIBILLIERI).

(11)  INT 269 - CESE 1484/2005, bereits zitiert, Ziffer 4.11. ABl. C 65 vom 17.3.2006

(12)  Siehe dazu die in Vorbereitung befindliche Stellungnahme des Ausschusses INT/309.

(13)  Fünfjahresbewertung, S. 7.

(14)  Der EWSA hat sich zu dieser Frage bereits in zahlreichen Stellungnahmen geäußert, zuletzt in INT 269 - CESE 1484/2005, Ziffer 4.12ff. ABl. C 65 vom 17.3.2006

(15)  Key Figures 2005, S. 53-57.

(16)  Key Figures 2005, S. 47-51.

(17)  Fünfjahresbewertung 2005, S. 12.

(18)  Empfehlung der Kommission vom 11.3.2005 bezüglich der Europäischen Charta für Forscher und eines Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern, ABl. L 75 vom 22.3.2005, S. 67.

(19)  Vgl. die Stellungnahme des EWSA zu der Mitteilung „Forscher im europäischen Forschungsraum“ (CESE 305/2004, Berichterstatter: Herr Wolf, ABl. C 110 vom 30.4.2004).


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände“

KOM(2005) 457 endg. — 2005/0194 (COD)

(2006/C 195/02)

Der Rat beschloss am 25. November 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 25. April 2006 an. Berichterstatter war Herr CASSIDY.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 117 Stimmen gegen 1 Stimme bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

1.1

Der Richtlinienvorschlag soll

den freien Verkehr von pyrotechnischen Erzeugnissen innerhalb der EU sicherstellen,

die Sicherheit von Verbrauchern und professionellen Anwendern verbessern,

die Sicherheitsanforderungen in allen Mitgliedstaaten harmonisieren.

1.2

Im Großen und Ganzen unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss den Richtlinienentwurf der Kommission, unterbreitet jedoch die folgenden Empfehlungen.

1.2.1

Die Kommission sollte die Gewährung einer längeren Übergangszeit als der in dem gegenwärtigen Artikel 20 angegebenen erwägen. Die betreffende Übergangszeit für Feuerwerkskörper beträgt nur 24 Monate ab Veröffentlichung der Richtlinie, für andere pyrotechnische Gegenstände hingegen 5 Jahre. Angesichts der langen Reaktionszeit für Importeure von Feuerwerkskörpern aus China und anderen Ländern, die nach Schätzung von europäischen Großhändlern mindestens 3 Jahre beträgt, empfiehlt der EWSA, in Bezug auf Feuerwerkskörper die gleiche Zeitspanne wie für die anderen pyrotechnischen Gegenstände, also 5 Jahre, festzulegen.

1.2.2

Der Ausschuss weist darauf hin, dass Importeure und Großhändler durch die Vereinbarungen über die Prüfung von Feuerwerkskörpern und die Einhaltung der CEN-Spezifikationen in die Verantwortung genommen werden. Daher empfiehlt er, in der Richtlinie ausdrücklich festzulegen, dass Importeure bei ihren Bestellungen die Hersteller in aller Welt über die an den Erhalt der CE-Kennzeichnung gestellten Anforderungen informieren müssen. Die Verantwortung für die Prüfung und CE-Kennzeichnung sollte beim Hersteller liegen. Daneben sollte der Importeur an zweiter Stelle Verantwortung dafür tragen, dass Erzeugnisse, die mit der CE-Kennzeichnung versehen sind, auch wirklich den Anforderungen der CEN entsprechen, um so das Inverkehrbringen von gefälschten Erzeugnissen zu vermeiden.

1.2.3

Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass auch Zoll- und andere Behörden in den Mitgliedstaaten mit einbezogen werden sollten, wenn es darum geht, darüber zu wachen, dass Erzeugnisse, die die CE-Kennzeichnung tragen, auch wirklich den Anforderungen der CEN entsprechen.

1.2.4

Die von den Mitgliedstaaten an die Europäische Kommission übermittelten Unfallstatistiken sind unvollständig. Die Kommission ist sich dessen bewusst. Der Ausschuss bittet alle Mitgliedstaaten nachdrücklich um eine verbesserte Überwachung von Unfällen, die Verbraucher betreffen.

1.2.5

In Artikel 14 werden Verfahren zur umgehenden Benachrichtigung über Erzeugnisse, die eine ernsthafte Gefahr darstellen, festgelegt. Das RAPEX-System könnte bis zum Inkrafttreten der Richtlinie auch als Überbrückungsmaßnahme genutzt werden.

1.2.6

In Bezug auf die in der Automobilindustrie verwendeten pyrotechnischen Erzeugnisse wird in Artikel 12 Absatz 1 von den Herstellern verlangt, sicherzustellen, dass sie „in der (den) Amtssprache(n) des Landes, in dem sie an den Verbraucher verkauft werden sollen, richtig gekennzeichnet werden“. Nach Ansicht des Ausschusses ist die Erwähnung der Verbraucher irreführend, da die meisten pyrotechnischen Gegenstände in Kraftfahrzeuge eingebaut werden, während sich diese noch im Produktionsprozess befinden. Die Angaben zu Originalteilen können daher weiterhin in Englisch, der gegenwärtig benutzten Sprache, gemacht werden. Die Hersteller dieser Ausrüstungsgegenstände zeigen sich jedoch besorgt angesichts der Verpflichtung, die Gebrauchsanleitungen letztendlich in allen Amtssprachen der 25 Länder zu drucken, da sie keine Kontrolle darüber haben, in welchem Land das Gerät benutzt werden wird. Der Ausschuss ist überzeugt, dass das Sicherheitsdatenblatt des Herstellers ausreicht, da die darin enthaltenen Informationen hauptsächlich aus Diagrammen und statistischen Angaben bestehen.

Die Bestimmung über die Kennzeichnung der pyrotechnischen Gegenstände „in der (den) Amtssprache(n) des Landes, in dem sie an den Verbraucher verkauft werden sollen“ steht im Gegensatz zu den Grundprinzipien des gemeinsamen Marktes, da eine Kennzeichnung in den verschiedenen Sprachen ein Handelshemmnis darstellen würde. Der Ausschuss verweist außerdem darauf, dass Ersatzairbags und ähnliche Gegenstände nur in den seltensten Fällen an den Endverbraucher verkauft, sondern vielmehr von Kfz-Mechanikern eingebaut werden.

1.2.7

In Artikel 8 Absatz 4 des Richtlinienentwurfs werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Kommission zu unterrichten, wenn sie der Auffassung sind, dass bestimmte Produkte nicht uneingeschränkt den in Artikel 4 Absatz 1 genannten grundlegenden Sicherheitsanforderungen entsprechen, die als Rechtsgrundlage dienen werden. Der Ausschuss empfiehlt, in der Zwischenzeit das RAPEX-System zur Übertragung von Informationen über Unfälle und Gefahren an die Kommission einzusetzen, damit die Informationen auch andere Mitgliedstaaten erreichen.

1.2.8

Der Ausschuss hat erfahren, dass in einigen Mitgliedstaaten eine Anzahl von Kleinst-Unternehmen Feuerwerkskörper für besondere lokale Anlässe herstellt. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass diese Unternehmen die Sicherheitsbestimmungen der Richtlinie ebenfalls einhalten.

1.2.9

Pyrotechnische Geräte für Kraftfahrzeuge sollten eher einer Bestimmung der UN-ECE gemäß dem Abkommen von 1958 (WP 29 in Genf) als einer Norm unterliegen.

1.2.10

Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Kommission in Bezug auf pyrotechnische Geräte für Kraftfahrzeuge dazu bereit sein, eine Art Typgenehmigung zu akzeptieren.

2.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1

„Feuerwerkskörper“ werden üblicherweise zu Unterhaltungszwecken oder im Rahmen von besonderen Veranstaltungen, z.B. religiösen Festen, verwendet. Ihr Gebrauch ist Bestandteil der Kulturgeschichte vieler EU-Mitgliedstaaten. Die Richtlinie unterscheidet zwischen „Feuerwerkskörpern“ und „pyrotechnischen Gegenständen“; für die Zwecke der Richtlinie umfassen letztere explosive Vorrichtungen, die zur Aktivierung von Airbags und Insassenrückhaltesystemen in Kraftfahrzeugen verwendet werden.

2.2   Kategorien

Artikel 3 des Richtlinienentwurfs setzt vier Kategorien von Feuerwerkskörpern fest:

a.

Feuerwerkskörper

Kategorie 1: Feuerwerkskörper, die eine sehr geringe Gefahr darstellen und zur Verwendung in Wohngebäuden oder in geschlossenen Räumen vorgesehen sind,

Kategorie 2: Feuerwerkskörper, die eine geringe Gefahr darstellen und zur Verwendung unter beengten Verhältnissen im Freien vorgesehen sind,

Kategorie 3: Feuerwerkskörper, die eine mittelgroße Gefahr darstellen und zur Verwendung in weiten offenen Bereichen im Freien vorgesehen sind,

Kategorie 4: Feuerwerkskörper, die eine große Gefahr darstellen und nur zu professioneller Verwendung vorgesehen sind.

b.

Sonstige pyrotechnische Erzeugnisse

Kategorie 1: pyrotechnische Erzeugnisse außer Feuerwerkskörpern, die eine geringe Gefahr darstellen;

Kategorie 2: pyrotechnische Erzeugnisse außer Feuerwerkskörpern, die nur von Personen mit Fachkenntnissen verwendet oder gebraucht werden dürfen.

2.3   Altersbeschränkungen

2.3.1

Artikel 7 der Richtlinie verbietet den Verkauf von Feuerwerkskörpern

der Kategorie 1 an Personen unter 12,

der Kategorie 2 an Personen unter 16 und

der Kategorie 3 an Personen unter 18 Jahren.

Andere pyrotechnische Gegenstände dürfen Personen unter 18 Jahren weder verkauft noch zugänglich gemacht werden, es sei denn, diese verfügen über die hierfür nötige berufliche Ausbildung.

2.4

Die Bestimmungen über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände sowie die Unfallstatistiken und deren Erstellung weisen erhebliche Unterschiede zwischen den derzeitigen 25 Mitgliedstaaten auf. Zur Zeit beziehen sich die Daten der Mitgliedstaaten nur auf Feuerwerkskörper und nicht auf andere pyrotechnische Erzeugnisse wie sie in der Kraftfahrzeugindustrie, für Bühneneffekte oder Signalraketen verwendet werden.

2.5

Der Markt für pyrotechnische Erzeugnisse für Kraftfahrzeuge ist mit einem Wert von 5,5 Mrd. EUR jährlich der bedeutendere der beiden Branchen (3,5 Mrd. EUR für Airbagsysteme und 2 Mrd. EUR für Gurtstraffer). (2004 betrugen der Exportwert 223.438.297 EUR und der Importwert 16.090.411 EUR.)

2.6

Da die überwiegende Mehrheit der Feuerwerkskörper auf dem europäischen Markt aus China importiert wird, sind die Arbeitsplätze innerhalb der EU hauptsächlich in den KMU zu finden. Der Markt für Endverbraucher wird auf ca. 700 Mio. EUR jährlich geschätzt, der „professionelle“ Markt ist ungefähr genauso groß. Die Folgenabschätzung der Kommission beziffert die Beschäftigten auf ca. 3.000. Diese sind hauptsächlich auf dem Gebiet des Einkaufs, der Lagerung und des Verkaufs von Feuerwerkskörpern sowie der professionellen Feuerwerkskunst tätig. Malta bildet hier eine Ausnahme, da anlässlich zahlreicher religiöser Feste handgefertigte Feuerwerkskörper abgebrannt werden, die nicht zum Verkauf an Verbraucher bestimmt sind.

2.7

Die Unfallzahlen variieren je nach Genauigkeit der Statistik der Mitgliedstaaten von 1,36 pro Million Einwohner in Estland bis zu 60,1 pro Million im Vereinigten Königreich. Hochgerechnet auf die 455 Mio. Einwohner der EU geht die Kommission davon aus, dass die Gesamtzahl der durch Feuerwerkskörper verursachten Unfälle zwischen 7.000 und 45.000 beträgt.

2.8

Offensichtlich gibt es keine von Verkehrsunfällen im Allgemeinen getrennten Zahlen zu Unfällen, die durch pyrotechnische Gegenstände in Kraftfahrzeugen verursacht werden.

2.9   CE-Kennzeichnung

2.9.1

Trotz der im Mai 2003 veröffentlichten CEN-Norm gibt es zur Zeit keine Vorschriften für eine CE-Kennzeichnung von Feuerwerkskörpern. In den Artikeln 9 und 10 heißt es, dass sie nicht in Verkehr gebracht werden dürfen, bevor sie nicht Gegenstand der in diesen Artikeln festgelegten Verfahren waren.

2.9.2

Die Mitgliedsstaaten werden verpflichtet, die Kommission darüber zu informieren, wer auf ihrem Staatsgebiet zur Durchführung des Verfahrens benannt worden ist.

2.9.3

Feuerwerkskörper werden erst zugelassen, wenn ihre Herstellung den Anforderungen des Bewertungsverfahrens genügt.

2.10   Pyrotechnische Erzeugnisse für den Kraftfahrzeugsektor

2.10.1

Es gibt kein einheitliches Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen von Treibsätzen, Modulen und anderen Sicherheitsvorrichtungen für Kraftfahrzeuge.

2.11   Folgenabschätzung

2.11.1

Die Kommission geht davon aus, dass die Harmonisierung zu einer beträchtlichen Kosteneinsparung sowohl für Feuerwerkskörper als auch für pyrotechnische Erzeugnisse im Kraftfahrzeugsektor führt. Zur Zeit sind innerhalb der EU schätzungsweise 50.000 verschiedene Typen zugelassener Feuerwerkskörper in Gebrauch. Die Zulassung kostet zwischen 500 und 3.000 EUR pro Feuerwerkskörper pro Land. Die Kommission rechnet damit, dass die Kosten eines neuen Systems mit einem alle 25 Staaten abdeckenden Verfahren niedriger sein werden.

2.11.2

Die Kosten des Zulassungsverfahrens für einen Airbag können in einem Land (Deutschland) 25.000 EUR betragen; die Kommission hofft, dass der Wettbewerb der Prüfstellen untereinander die Kosten senken wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Während der Ausschuss die Ziele der Richtlinie — freier Verkehr pyrotechnischer Gegenstände, ein hohes Maß an Verbraucherschutz und grundlegende Sicherheitsbestimmungen — begrüßt, hat er vor allem in Bezug auf Feuerwerkskörper gewisse Vorbehalte.

3.2

Da die überwiegende Mehrheit der Feuerwerkskörper in China hergestellt wird und die dortigen Hersteller vermutlich nicht über die Mittel verfügen, EU-Normen einzuhalten, stellt sich die Frage, wer für die Tests verantwortlich sein soll — der Importeur, der Vertreter des Herstellers oder der Einzelhändler?

3.3

Wie soll sichergestellt werden, dass die CE-Kennzeichnung eines importierten Feuerwerkskörpers echt ist bzw. dass der Gegenstand, an dem die Kennzeichnung angebracht ist, keine Fälschung ist?

3.4

Welches Maß an Zusammenarbeit zwischen Verbraucherschutzgremien in der EU und den Behörden in den Herkunftsländern kann erreicht werden?

3.5

Der EWSA beurteilt die in der Folgenabschätzung der Kommission angegebenen Zahlen etwas skeptisch, besonders die große Spannbreite der Unfallzahlen — zwischen 7.000 und 45.000. Er teilt die Meinung der Kommission, dass „jeder Versuch, eine Gesamtzahl der Unfälle innerhalb der EU zu schätzen, mit großer Vorsicht zu genießen“ sei.

3.6

Dieselben Vorbehalte gelten für die wirtschaftliche Folgenabschätzung und, im Falle der pyrotechnischen Erzeugnisse für die Kraftfahrzeugindustrie, für das recht optimistische Vertrauen darauf, dass ein verstärkter Wettbewerb der Prüfstellen die Zulassungskosten senken werde.

3.7

Der EWSA stellt fest, dass die soziale Folgenabschätzung das Ziel, die durch Feuerwerkskörper verursachten Unfälle zu senken, positiv bewertet, während sich positive und negative Auswirkungen auf die Beschäftigung im Feuerwerk- und Kraftfahrzeugsektor die Waage halten.

3.8

Die Umweltverträglichkeitsprüfung lenkt die Aufmerksamkeit auf den Einfluss der Richtlinie 96/82/EG (Seveso II) des Rates vom 9. Dezember 1996 und deren Erweiterung durch die Richtlinie 2003/105/EG des Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 auf Standorte, an denen pyrotechnische Gegenstände produziert oder gelagert werden.

3.9

Trotz seiner Vorbehalte begrüßt der EWSA diese Folgenabschätzungen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Kraftfahrzeugsektor ist wirtschaftlich viel bedeutender als der der Feuerwerkskörper. Es handelt sich um eine der wichtigsten Exportbranchen, die eine große Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt. Der EWSA begrüßt jede Maßnahme, der die europäischen Hersteller darin unterstützt, sich auf einem Sektor zu behaupten, auf dem der Wettbewerb mit Herstellern aus Staaten außerhalb der EU zunimmt.

4.2

Der Ausschuss hofft, dass die Einführung einheitlicher Normen für das Inverkehrbringen sicherer Feuerwerkskörper zu einem Aufschwung der Produktion in der EU führen wird, da einheitliche Normen auf einem Markt mit einem Umfang von 1,4 Mrd. EUR (Endverbrauchermarkt 700 Mio. EUR, professioneller Markt ebenfalls 700 Mio. EUR) wirtschaftliche Größenvorteile bieten werden, die zur Zeit durch die Existenz von zu vielen sich einander oft widersprechenden einzelstaatlichen Normen verhindert werden.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung von Perfluorooctansulfonaten (Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates)“

KOM(2005) 618 endg. — 2005/0244 (COD)

(2006/C 195/03)

Der Rat beschloss am 2. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 25. April 2006 an. Berichterstatter war Herr SEARS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 126 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Vorschlag folgt auf eine Ankündigung des führenden Herstellers von Perfluorooctansulfonaten (PFOS), dass die Herstellung und das Inverkehrbringen von Verbrauchererzeugnissen, die diese Stoffe enthalten, eingestellt werde. Diese Entscheidung begründete der Hersteller mit einer möglichen Gesundheits- und Umweltgefährdung. Seither wurden diese Risiken zahlenmäßig erfasst und die Richtigkeit der Entscheidung in Bezug auf den fraglichen Endverbrauch bestätigt. Die größte Gefahr ist somit gebannt; es geht in diesem Richtlinienvorschlag darum sicherzustellen, dass dieses Problem nicht erneut auftritt. In der Zwischenzeit muss der Bedarf anderweitiger Nutzer abgesichert werden, bis Ersatzstoffe oder neue Herstellungsverfahren zur Verfügung stehen und/oder bis die Ergebnisse einer umfassenden Verträglichkeitsprüfung vorliegen.

1.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag. Dies gilt vor allem für die Beschränkung des Inverkehrbringens und der Verwendung von PFOS und verwandten Stoffen, die Ausnahmen für die angegebenen anderweitigen Endverbrauchsarten und die Notwendigkeit einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung.

1.3

Der EWSA stellt fest, dass die Endverbrauchsarten, für die Ausnahmen zugelassen werden müssen, erhebliche Unterschiede aufweisen, und zwar in Bezug auf die verwendete Menge, auf Wahrscheinlichkeit und Umfang einer Gefährdung von Menschen und Umwelt und auf die Zeit, die zur Ermittlung, Entwicklung und Genehmigung geeigneter und sicherer Stoffe oder Herstellungsverfahren benötigt wird. Daher ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission die Ausnahmen auf Anraten des Wissenschaftlichen Ausschusses „Gesundheits- und Umweltrisiken“ (SCHER) jeweils einzeln einer Überprüfung unterziehen sollte. Der Punkt „besondere Bemerkungen“ enthält Angaben zu den Faktoren dieser Überprüfung. Der Zeitplan für etwaige Risikobewertungen oder Verträglichkeitsprüfungen sollte mit dem steigenden Bedarf an Risikobewertungen für Chemikalien im Zuge der Verordnung zu chemischen Stoffen „REACH“ vereinbar sein. Zur rechtzeitigen und sachkundigen Erfüllung dieser Obliegenheiten ist eine anhaltende Bereitstellung ausreichender kommissionseigener Ressourcen unerlässlich.

1.4

Der EWSA merkt an, dass sich die oben beschriebenen Maßnahmen als Reaktion auf eine unerwartete Veränderung der äußeren Umstände vom üblichen Verfahren eines Risikomanagements unterscheiden, bei dem Maßnahmen auf der Grundlage der von den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten durchgeführten Risikobewertungen derjenigen Stoffe festgelegt werden, deren Untersuchung gemäß einer zuvor ermittelten Rangfolge von hoher Priorität ist. Die hier in Frage stehende Herangehensweise wird jedoch durch REACH voraussichtlich — und wie beabsichtigt — des Öfteren auftreten. Ein angemessenes, tragbares und wirksames Ergebnis für PFOS sollte als Modell für die künftige Anwendung von REACH dienen.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1

Der Vorschlag der Kommission beruht auf einer im November 2002 abgeschlossenen Gefahrenbeurteilung der OECD sowie auf einem im Juli 2005 fertiggestellten Risikobewertungsbericht des Vereinigten Königreichs. Diese und andere, vorwiegend US-amerikanische Untersuchungen wurden nach der Ankündigung des Herstellers „3M“ vom 16. Mai 2000 durchgeführt, auf PFOS und verwandte Stoffe bei deren Hauptanwendung zu verzichten, die darin besteht, Textilien, Teppiche, Papier und allgemein Beschichtungen fett-, öl- und wasserfest zu machen.

2.2

Die Kommission folgt der Stellungnahme des SCHER vom 18. März 2005, die besagt, dass die bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse trotz der Beschränkungen in Bezug auf die für diese Stoffe verfügbaren Testmethoden belegen, dass PFOS sehr persistent, hochgradig bioakkumulierbar und potenziell giftig und Maßnahmen zur Risikobegrenzung zur Verhinderung einer erneuten breiten Verwendung gerechtfertigt sind.

2.3

Die Kommission und der SCHER stimmen außerdem darin überein, dass es bestimmte Anwendungen in kleineren Mengen gibt, für die noch keine brauchbaren Ersatzerzeugnisse bzw. -verfahren zur Verfügung stehen. Da von der weiteren Verwendung von PFOS und verwandten Stoffen in diesen restlichen Anwendungen anscheinend keine zusätzlichen Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt ausgehen, sollten Ausnahmen von der allgemeinen Vermarktungs- und Verwendungsbeschränkung zugelassen werden. In dem Vorschlag werden die Endverbrauchsarten, für die Ausnahmen gelten müssen, aufgeführt und erörtert.

2.4

Es werden weitere Untersuchungen zu Expositionen, Quellen und Wegen sowie physikalisch-chemischen Parametern dieser Stoffe im Rahmen des Forschungsrahmenprogramms (PERFORCE) benötigt.

2.5

Durch den Vorschlag soll ein hohes Maß an Gesundheits- und Umweltschutz gewährleistet werden. Der Binnenmarkt für solche Erzeugnisse bleibt erhalten. Der Kostenaufwand für die betroffenen Branchen soll sehr gering sein. Konsultationen haben in großem Umfang stattgefunden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Fluorierte Chemikalien wurden in den späten Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und in zunehmenden Mengen dazu verwendet, inerte Flüssigkeiten mit geringer Oberflächenspannung (gut verteilbar) oder feste Oberflächen mit bestimmten Eigenschaften (gewöhnlich nicht haftend) zu erzeugen. Eine Untergruppe hiervon, nämlich PFOS-Erzeugnisse, wurden von Unternehmen wie „3M“ entwickelt, um eine Reihe von Anwendungen für Industrie und Verbraucher fett-, öl- und wasserfest zu machen. Bis zum Jahr 2000 wurden jährlich ca. 4.500 Tonnen in Erzeugnissen wie dem Mittel zur Teppich- und Stoffpflege von „3M Scotchgard™“ verarbeitet und in Verkehr gebracht. Nach dem Verzicht auf PFOS-enthaltende Stoffe wurden für diese Erzeugnisse andere fluorierte Chemikalien mit oberflächenaktiven Eigenschaften verwendet, die eine geringere Belastung für Gesundheit und Umwelt darstellen.

3.2

Wie der Name „Perfluorooctansulfonate“ besagt, handelt es sich um Erzeugnisse, bei denen alle („per“) Wasserstoffatome auf einer achtgliedrigen („octan“) Kohlenstoffkette durch Fluoratome („fluoro“) und eine SO3-Gruppe („sulfonate“) ersetzt wurden, um ein stabiles, negativ geladenes Teil (ein Anion) zu formen, das wiederum in Verbindung mit Metallen wie Lithium, Natrium oder Kalium bzw. mit anderen positiv geladenen Gruppen (Kationen) wie NH4 + (Ammonium) ein wasserlösliches, kristallartiges Salz bilden kann. „PFOS“ bezeichnet keinen einzelnen Stoff, sondern Bestandteile (oder Bausteine) von Stoffen gemäß den Rechtsvorschriften der EU über Stoffe und Zubereitungen. PFOS und verwandte Stoffe werden mithilfe eines bestimmten chemischen Prozesses namens „elektrochemische Fluorierung“ hergestellt.

3.3

Die Kombination aus „organischen“ (kohlenstoffbasiert, öllöslich) und „anorganischen“ (Metallsalz, wasserlöslich) Eigenschaften ist der Grund dafür, dass PFOS und verwandte Stoffe als hochwirksame oberflächenaktive Wirkstoffe (Tenside) in einer Reihe von Spezialanwendungen enthalten sind. Diese Stoffe oxidieren nicht (sie sind inert und nicht entzündlich) und widerstehen jeglichen Umwelteinflüssen (sie sind stabil und daher persistent). Aufgrund ihrer Öl- und Wasserlöslichkeit sind sie wahrscheinlich bioakkumulierbar. Ob sie für verschiedene Lebewesen giftig sind, hängt von den jeweiligen Expositionsbedingungen ab. Wie der SCHER bemerkte, führen ihre ungewöhnlichen physikalischen und chemischen Eigenschaften dazu, dass sich Labortestmethoden zur Messung der Auswirkungen auf die Umwelt als Ganzes als unzuverlässig erweisen könnten.

3.4

Vollständig fluorierte, aus einer kurzen Kette bestehende Polymere mit ähnlichen für Tenside typischen Eigenschaften wie PFOS und verwandte Stoffe, die jedoch weniger oder geringe Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben, können mittels eines „Telomerisation“ genannten Prozesses hergestellt werden. Diese Erzeugnisse (Telomere) werden in diesem Vorschlag nicht behandelt.

3.5

Gemäß einer Schätzung der OECD aus dem Jahre 2004, die der SCHER aufgreift, lag der jährliche Gesamtverbrauch von PFOS und verwandten Stoffen in der EU im Jahre 2 000 bei ca. 500 Tonnen, von denen 98 % zur Behandlung von Stoff, Papier oder Beschichtungen verwendet wurde. Die jährlichen Emissionen beliefen sich vermutlich auf 174 Tonnen. Bis zum Jahr 2004 hatte der weltweite Gebrauch erheblich abgenommen. Die jährlichen Emissionen in der EU wurden zu dem Zeitpunkt auf schlimmstenfalls 10 Tonnen geschätzt, wobei 9 Tonnen aus nicht regenerierten Abwässern der Galvanisierungsindustrie stammen. Neuere Erkenntnisse aus Deutschland legen nahe, dass auch hiervon viel regeneriert werden kann.

3.6

Der SCHER bemerkte darüber hinaus, dass die Analysetechniken zur Feststellung und verlässlichen Bestimmung der Konzentration von PFOS in Umweltproben erst in den letzten Jahren weit genug entwickelt wurden. Daher ist es schwierig, Veränderungen in Folge des oben genannten Rückgangs zu belegen. Der SCHER konnte aber zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Emissionen durch eine fortgesetzte Verwendung in den Bereichen, für die Ausnahmen vorgeschlagen werden, die PFOS-Konzentration nur in örtlich begrenztem Maße beeinflussen werden, während die Auswirkungen auf die allgemeine Konzentration in der Umwelt für unwesentlich gehalten werden. Genauer gesagt sieht der SCHER nur ein geringfügiges Gesamtrisiko für Umwelt und Bevölkerung durch eine fortwährende Verwendung in der Fotografie-, Halbleiter- und Luftfahrtindustrie. Die Verwendung in der Galvanisierungsindustrie errege jedoch Bedenken und sollte eingeschränkt werden.

3.7

Bezüglich der Gefährdung am Arbeitsplatz wird eine branchenabhängige Bewertung benötigt. Im Falle der Fotografie-, Halbleiter- und Luftfahrtindustrie fällt es jedoch angesichts ihrer spezifischen Eigenschaften und den bereits bestehenden weitreichenden Gesundheitsschutzmaßnahmen schwer, in der Verwendung von PFOS und verwandten Stoffen eine zusätzliche Gefährdung am Arbeitsplatz zu erkennen. Die Verwendung in der chromverarbeitenden Industrie gibt jedoch wiederum Anlass zur Sorge. Im Falle der Feuerlöschschäume muss jeglicher Entscheidung eine Gesundheits- und Umweltrisikobewertung der vorgeschlagenen Ersatzstoffe vorangehen. Darüber hinaus muss es eine Einigung über die ordnungsgemäße Entsorgung der bestehenden Bestände und des gebrauchten Löschschaums nach Großbränden geben.

3.8

Der EWSA befürwortet die oben genannten Einzelheiten des Vorschlags und vertraut darauf, dass die nötigen Maßnahmen in den Arbeitsplänen der Kommission enthalten sein werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA unterstützt die beiden Beschränkungen in Bezug auf PFOS und verwandte Stoffe wie im Vorschlag angegeben, nämlich dass sie weder (1) als Stoff oder Bestandteil von Zubereitungen in einer Konzentration von 0,1 Massen- % oder mehr in Verkehr gebracht oder verwendet noch (2) in Erzeugnissen oder Bestandteilen von Erzeugnissen in einer Konzentration von 0,1 Massen- % oder mehr in Verkehr gebracht werden dürfen.

4.2

Der EWSA unterstützt ebenfalls die unter Absatz (3) genannte Ausnahme, dass die Absätze (1) und (2) nicht für die in dem Vorschlag aufgeführten sechs spezifischen Fälle gelten, die im Folgenden erörtert werden.

4.2.1

Fotolithografie: Hiermit wird, kurz gesagt, der Prozess bezeichnet, durch den Computerchips mit Strukturinformation versehen werden. Neue Entwicklungen in der Halbleiterherstellung benötigen hochentwickelte Verarbeitungsflüssigkeiten, um eine sehr hohe Zuverlässigkeit, Dichte und Einheitlichkeit bei der Übertragung von Strukturinformation zu ermöglichen. PFOS und verwandte Stoffe weisen einzigartige elektrochemische und oberflächenaktive Eigenschaften auf und werden von der Halbleiterindustrie als unverzichtbar angesehen. Die Verarbeitungsflüssigkeiten sind in den fertigen Erzeugnissen nicht enthalten. Sie werden von jedem Hersteller in jedem Werk und für jede Technologie aufs genaueste spezifiziert und geprüft. Da sie in „Reinräumen“, d.h. einer Fertigungsumgebung, in der jegliche Verschmutzung ausgeschlossen sein muss, verwendet werden, besteht keinerlei Möglichkeit einer Gefährdung am Arbeitsplatz. Gemäß einer Massenbilanz für die Industrie aus dem Jahre 2002 lag die jährliche Gesamtmenge der Emissionen unter 45 Kilogramm. Die Produktentwicklung dauert bis zu 10 Jahre. Trotz umfangreicher weltweiter Forschung und Entwicklung wurden für diese übrigbleibenden Verwendungen kein Ersatz gefunden. Der wahrscheinlichste Weg zur Vermeidung von PFOS und verwandten Stoffen könnte eine neue Methode der Chipherstellung sein, die noch erfunden werden muss. Ohne diese Ausnahme könnte in der EU keine Fertigung stattfinden, obwohl sie anderswo problemlos fortgesetzt werden könnte. In Anbetracht dieser Tatsachen und solange keine neuen, Besorgnis erregenden Beweise vorliegen, empfiehlt der EWSA, von der Festlegung einer zeitlichen Beschränkung dieser Ausnahme abzusehen.

4.2.2

Fotografische Beschichtungen: PFOS und verwandte Stoffe werden in konzentrierten Lösungen erworben, die dann so stark verdünnt werden, dass sie eine Reihe von Eigenschaften aufweisen, die sowohl für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz als auch für die allgemeine Produktleistungsregulierung bei professionellen fototechnischen Anwendungen unabdingbar sind. Diese erwünschten Eigenschaften umfassen die Regulierung von elektrostatischer Ladung, Reibung und Haftvermögen, Schmutz abweisende und andere oberflächenaktive, zur Hochleistungsfotoproduktion benötigte Eigenschaften. Einige Produktionstechniken beinhalten das Auftragen von 18 Schichten auf einen schnell vorübergleitenden Filmstreifen, damit eine gleichmäßige Beschichtung entsteht, die üblicherweise weniger als 0,11 Millimeter dick ist. Die verwendeten Flüssigkeiten dürfen nicht fotoaktiv sein, sie müssen jedoch die gleichmäßige Verteilung und gute Haftung der aufeinanderfolgenden Schichten ermöglichen. Die antistatischen Eigenschaften sind unerlässlich, um das Feuer- und Explosionsrisiko und damit die Gefahr einer Schädigung der Angestellten oder der Betriebsausrüstung so gering wie möglich zu halten. Die Verwendung von PFOS und verwandten Stoffen ist in den letzten Jahren um mindestens 60 % zurückgegangen, was darauf zurückzuführen ist, dass sie teilweise durch weniger kritische Anwendungen ersetzt wurden und dass der Gebrauch an Filmen für viele Anwendungen im Verbraucher-, Gesundheits- und Industriebereich im Zuge der digitalen Fotografie allgemein rückläufig ist. Die übrigbleibende Verwendung belastet die Umwelt mit weniger als 8 Kilogramm jährlich. Mit der weiteren Verschiebung in Richtung digitale Fotografie steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die benötigten Mengen für die Filmherstellung weiter abnehmen, auch wenn eine bleibende Nachfrage für Fotopapier, z.B. zum Drucken digitaler Bilder, zu erwarten ist. Trotz intensiver Forschung wurde für diese wenigen verbleibenden Verwendungsarten von PFOS und verwandten Stoffen kein Ersatz gefunden. Hierzu werden neue Verfahren benötigt, die noch nicht erfunden sind und deren Entwicklung, Durchführung, Prüfung und Zulassung zehn Jahre oder länger dauern kann. Ohne diese Ausnahme könnte in der EU keine Fertigung stattfinden, obwohl sie anderswo problemlos fortgesetzt werden könnte. In Anbetracht dieser Tatsachen und solange keine neuen, Besorgnis erregenden Beweise vorliegen, empfiehlt der EWSA, von der Festlegung einer zeitlichen Beschränkung dieser Ausnahme abzusehen.

4.2.3

Antischleiermittel für das Verchromen: PFOS und verwandte Stoffe in verdünnter Lösung schützen die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter, die mit der Dekor- oder Schutzverchromung von Untergründen aus Metall oder Kunststoff für die Automobil- und sonstige Verbraucherindustrie beschäftigt sind. Sie dienen außerdem der Reduzierung der Oberflächenspannung und als Feuchtmittel, vor allem bei der Ätzradierung von Kunststoffen. Das Arbeitsumfeld in der Chromverarbeitung ist anerkanntermaßen rau und potenziell gefährlich, besonders bei Verfahren, die auf den als krebserregend bekannten Chrom(VI)-Verbindungen beruhen. Die Unterdrückung von Schleiern und einer erhöhten menschlichen Exposition ist daher unverzichtbar. Die Situation kann durch die Anwendung von Verfahren, die auf Chrom(III)-Verbindungen beruhen, verbessert werden; diese Verfahren stehen jedoch noch nicht in vollem Umfang zur Verfügung. Unter solchen Umständen haben sich bisher nur PFOS-basierte Tenside als stabil erwiesen. Der jährliche Verbrauch in Europa betrug im Jahr 2000 nach Angaben des SCHER ca. 10 Tonnen. Die Schätzungen bezüglich der gesamten jährlichen Freisetzung in die Umwelt weichen erheblich voneinander ab, je nach dem, welche Verfahren angewendet und in welchem Maße diese in Bezug auf Emissionen, Wiederverwertung und Abfallverbrennung kontrolliert werden. Eine Schätzung der deutschen Industrie, die von den dortigen besten Verfahren ausgeht, geht davon aus, dass sich die Emissionen insgesamt auf nur 500 Kilogramm im Jahr belaufen könnten, wenn die Ergebnisse auf Europa extrapoliert werden. Werden schlechtere Technologien und Kontrollen angewendet, könnten die Emissionen höher sein. In Anbetracht der Tatsache, dass die bedeutendste fortwährende Verwendung von PFOS und verwandten Stoffen im Rahmen der Chromverarbeitung stattfindet, sich die Technologie weiterentwickelt sowie Ersatzstoffe in einem gewissen Umfang schon zur Verfügung stehen, erscheint es angemessen, eine zeitliche Begrenzung für die diesbezüglich vorgeschlagene Ausnahme festzulegen. Darüber hinaus sollten, wie vom SCHER vorgeschlagen, Analysen zur Exposition am Arbeitsplatz und Langzeitbewertungen der Umweltrisiken unverzüglich ausgeführt werden. Diese sollten in Zusammenarbeit mit der Industrie durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass die Fertigung in der EU aufrecht erhalten werden kann. Niemand kann ein Interesse daran haben, einen kritischen Arbeitsschritt in der Fertigung von Kraftfahrzeugen zu beseitigen, wenn die offensichtliche Gefahr besteht, dass die übrige Fertigung unter Umständen dann ebenfalls verlagert wird. Desgleichen muss verhindert werden, dass eine verfrühte Verbannung von PFOS-enthaltenden Antischleiermitteln zu einer erhöhten Gesundheitsgefährdung für Arbeiter führt. Der EWSA empfiehlt, dass diese Ausnahme nur für eine Zeitspanne von fünf Jahren gelten solle, nach der eine Überprüfung durch die Kommission und den SCHER folgen muss.

4.2.4

Hydraulikflüssigkeiten für die Luftfahrt: Es handelt sich um die Flüssigkeiten, mit deren Hilfe sich die Steuerungsflächen und andere Luftfahrzeugbestandteile in der gewerblichen, militärischen und allgemeinen Luftfahrt bewegen lassen. Sie werden unter extremsten Bedingungen bezüglich Temperatur und Druck eingesetzt und müssen Tag für Tag den höchsten Ansprüchen an den Flugbetrieb genügen, um die Sicherheit der Flugzeuge und Passagiere zu gewährleisten. Die weltweit gehandelten Erzeugnisse, Bestandteile und Systeme unterliegen der umfassenden Prüfung und Zertifizierung durch die Hersteller von Luftfahrzeugen und durch die betreffenden staatlichen und internationalen Behörden. Das Durchlaufen eines Zulassungsverfahrens kann für eine neue Formel gewöhnlich bis zu 20 Jahre in Anspruch nehmen. PFOS und verwandte Stoffe werden in kleinen Mengen (ca. 0,1 Massen- %) dazu gebraucht, um mechanische Teile, Ventile, Röhren und Öffnungen gegen Erosion zu schützen. Trotz umfangreicher Tests wurden bis heute keine Ersatzstoffe bzw. Hinweise auf mögliche Ersatzstoffe gefunden. Die Stoffe werden in geschlossenen Systemen unter streng kontrollierten Bedingungen verwendet. In Anbetracht dieser Tatsachen und solange keine neuen, Besorgnis erregenden Beweise vorliegen, empfiehlt der EWSA, von der Festlegung einer zeitlichen Beschränkung dieser Ausnahme abzusehen.

4.2.5

Feuerlöschschäume: Seit vielen Jahren werden fluorierte Tenside für hochspezifische Feuerlöschschäume verwendet. Weitestgehend ersetzt wurden PFOS und verwandte Stoffe in neu hergestellten Schäumen für Löscharbeiten oder zur Bereitstellung von Löschschaumbeständen für neue Bauprojekte, Flughäfen, Ölraffinerien und Chemiewerke, Marineschiffe und Öltankanlagen. Die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt sind jedoch noch nicht umfassend bewertet worden. Alle Schäume müssen mit 15 bis 20 Jahre Garantie verkauft werden, da sie im Idealfall nie benutzt werden. Daher gibt es noch umfangreiche Bestände PFOS-enthaltender Schäume, um deren Entsorgung es jetzt in erster Linie geht. Die Tenside bewirken, dass sich wasserhaltige Schäume rasch auf der Oberfläche brennender Kohlenwasserstoffe verteilen lassen, anstatt auf den Grund zu sinken, sodass die Sauerstoffzufuhr unterbrochen und ein Wiederaufflammen verhindert wird. Tenside wie Schäume müssen unter äußersten Gebrauchsbedingungen stabil sein und dürfen nicht oxidieren. Die Festlegung der Leistungsstandards von Schäumen für verschiedene Arten von Bränden erfolgt durch staatliche und internationale Behörden. Vorräte von drei- bzw. sechsprozentigen Konzentraten werden in zentralen Lagerhäusern aufbewahrt, um im Brandfall ausgeteilt und vor Ort verdünnt zu werden. Die benötigte Menge kann recht groß sein; nach dem Brand kann ein erhebliches Entsorgungsproblem in Bezug auf das abgehende Wasser entstehen. Durch die brennenden Gegenstände, die Nebenprodukte einer unkontrollierten Verbrennung von Kohlenstoff bei niedriger Temperatur (polyaromatische Kohlenwasserstoffe und Dioxine) und die Bestandteile der Schäume wird das Abwasser zwangsläufig verschmutzt. Der noch nicht lange zurückliegende Brand in einem Vorratslager in Buncefield (UK) z.B. hinterließ 20 Millionen Liter verschmutzten Abgang. Die einzige Lösung ist das Verbrennen bei hoher Temperatur, was ineffizient und kostspielig ist, wenn das Material größtenteils aus Wasser besteht. Die jährlichen Emissionen in die Umwelt sind daher schwer zu bestimmen, da sie von der Zahl, dem Ausmaß und den Umständen der Brände abhängen. Sie sind auch vor allem davon abhängig, inwieweit die Abwässer durch Sperrwände zurückgehalten werden können. Der SCHER zitiert, dass die jährliche Freisetzung in die Umwelt in der EU unter 600 Kilogramm liegt und bemerkt, dass die tatsächliche Freisetzung niedriger liegen könnte. Der EWSA stimmt mit dem SCHER darin überein, dass die bestehenden Vorräte an PFOS-enthaltenden Schaumkonzentraten nicht verbrannt werden sollten, bis eine umfassende Auswertung anderer Möglichkeiten vorliegt. Daher empfiehlt der EWSA, die nötigen Folgenabschätzungen und Risikobewertungen so schnell wie möglich durchzuführen und die bestehenden PFOS-enthaltenden Schäume nur dort zu verwenden, wo es zur Ausführung von Löscharbeiten unbedingt notwendig ist und wo der Abgang durch Sperrwände zurückgehalten werden kann. Die Kommission sollte mit der Industrie und den zuständigen nationalen Behörden zusammenarbeiten, um eine angemessene Entsorgung der entstehenden großen Abfallmengen sicherzustellen. Angesichts der vielen Unsicherheiten sieht der EWSA keinerlei Sinn darin, diese Ausnahme zeitlich zu begrenzen. Er hält es hingegen für äußerst sinnvoll, die ausstehenden Probleme so schnell wie möglich anzugehen.

4.2.6

Andere überwachte geschlossene Systeme: Dies ist eine Standardausnahme für die Mehrheit der Stoffe (bzw. sollte es sein), die Beschränkungen bezüglich Inverkehrbringen und Verwendung durch die EU unterliegen. Unter der Voraussetzung, dass die Rohstoffe sicher dem System zugeführt und die Erzeugnisse und Abfallprodukte ihm sicher entnommen werden können, erlauben solche Systeme mit sehr geringen Emissionen eine Fortsetzung der Herstellung wichtiger Zwischenerzeugnisse mit minimalem Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Eine Untersuchung der Bedingungen, unter denen die Arbeitsabläufe stattfinden, sollte zu den regelmäßigen Gesundheits- und Sicherheitsinspektionen gehören. Solange keine neuen, Besorgnis erregenden Beweise vorliegen, empfiehlt der EWSA, von der Festlegung einer zeitlichen Beschränkung dieser Ausnahme abzusehen.

4.3

Die Kommission wird weiterhin eine Schlüsselstellung in Bezug auf die Gewährleistung einer zufriedenstellenden Lösung in jedem der oben genannten Bereiche innehaben. Innerhalb und außerhalb der betroffenen Bereiche wird ein weiterführendes Forschungsprogramm benötigt, um Ersatzerzeugnisse und -verfahren zu entwickeln. Die diese Bereiche betreffenden Richtlinien sollten abgeändert werden, wenn Veränderungen in der üblichen oder vorgeschlagenen weltweiten Praxis eine Reaktion erfordern.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates sowie der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Überarbeitung der Richtlinien über Medizinprodukte“

KOM(2005) 681 endg. — 2005/0263 (COD)

(2006/C 195/04)

Der Rat beschloss am 2. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 25. April 2006 an. Berichterstatter war Herr BRAGHIN.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17. Mai 2006 mit 128 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt der Stellungnahme

1.1

Der EWSA begrüßt den von den Mitgliedstaaten und den betroffenen Akteuren seit langem erwarteten Kommissionsvorschlag. Die Zielvorgaben sind vertretbar und die Vorschläge zumeist angemessen. Nichtsdestotrotz unterbreitet der EWSA einige konkrete Vorschläge, die für die Erreichung der Ziele der Rechtssicherheit, der Klarheit, der Vereinfachung und des Gesundheitsschutzes förderlich sind.

1.2

Nach Auffassung des EWSA sollte genauer festgelegt werden, welche Behörde für die umfassende Beurteilung von Verbindungen aus Produkten und Arzneimitteln aus menschlichem Blut und Gewebe zuständig und verantwortlich ist. Gleichzeitig spricht er sich für die Festlegung einer Frist für die Durchführung der Beurteilung durch die zuständigen Behörden sowie für Leitlinien über die spezifischen Zuständigkeiten und Modalitäten für eine solche Beurteilung aus.

1.3

Es wäre zweckmäßig, die Übermittlung einer Reihe von Informationen im Zusammenhang mit der Meldung, den klinischen Daten, den Bescheinigungen und der Überwachung verbindlich vorzuschreiben und die bereits genutzte europäische Datenbank auszubauen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, wie der Fluss an nicht vertraulichen Informationen zwischen den benannten Stellen und den zuständigen Behörden, aber auch zwischen den betroffenen Akteuren umfassender gestaltet werden kann.

1.4

Im Rahmen des Systems zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen sollte die Rolle und Verantwortung der medizinischen Leistungserbringer genauer definiert und eine angemessene Verbreitung der Informationen und der Ergebnisse dieses Überwachungssystems gewährleistet werden.

1.5

Der EWSA begrüßt die Vorschläge bezüglich der klinischen Prüfungen, die bei den Medizinprodukten die Sicherheit und Leistung des Produkts betreffen. Er schlägt einige Änderungen vor, um diese Vorschläge in Bezug auf den Zeitpunkt des Beginns der klinischen Prüfungen nach Erhalt der Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission in Abhängigkeit von der Einstufung der Medizinprodukte deutlicher zu formulieren.

1.6

Der EWSA ist nicht damit einverstanden, dass das Thema „Aufbereitung“ im Rahmen des Vorschlags keine Beachtung findet. Diese Praxis der Wiederverwendung von Medizinprodukten, die für die einmalige Verwendung entwickelt und hergestellt wurden, ist gesundheitsschädigend. Deshalb sollte der Träger, der Medizinprodukte wiederverwendet, zumindest eine Reihe von Daten vorlegen, die Aufschluss über die ergriffenen Maßnahmen geben. Ferner sollte er für das aufbereitete Produkt die gleiche Qualität und Sicherheit wie für das Originalprodukt garantieren, wobei die Anwender und Patienten davon in Kenntnis zu setzen sind.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1

Die mit der Durchführung der Richtlinien 90/385/EWG (1) über aktive implantierbare medizinische Geräte und 93/42/EWG (2) über Medizinprodukte gemachten Erfahrungen waren zwar generell positiv, doch ist eine legislative Änderung zur Unterstützung einer besseren Umsetzung erforderlich, um sowohl manche bestehenden Vorschriften zu präzisieren als auch um eine rechtliche Grundlage für geplante Initiativen zu schaffen.

2.2

In der Richtlinie 93/42/EWG ist festgelegt, dass die Kommission spätestens fünf Jahre nach ihrem Inkrafttreten dem Rat einen Bericht über bestimmte Anwendungsaspekte der Richtlinie vorlegen muss. Aus diesem Überprüfungsprozess ging ein Bericht über die Funktionsweise der Richtlinien über Medizinprodukte hervor, der im Juni 2002 veröffentlicht wurde. Die Kommission hat die Ergebnisse dieses Berichts in ihrer Mitteilung KOM(2003) 386 (3) dargelegt, die sowohl vom Rat in seinen Schlussfolgerungen vom Dezember 2003 als auch vom Parlament begrüßt wurde.

2.3

In dieser Mitteilung werden die wichtigsten Aspekte aufgeführt, die einer Verbesserung bedürfen:

die Konformitätsbewertung, insbesondere im Hinblick auf die Prüfung der Produktauslegung vonseiten der benannten Stellen (4);

das Vorliegen angemessener klinischer Daten für alle Produktklassen;

die Überwachung nach dem Inverkehrbringen, insbesondere im Hinblick auf eine bessere Koordinierung der Tätigkeiten;

benannte Stellen: die Zuständigkeit für die Aufgaben, für die sie benannt wurden, wird von ihnen unterschiedlich ausgelegt und es herrscht zu wenig Transparenz bei der Durchführung und Überwachung ihrer Tätigkeit;

mehr Transparenz für die breite Öffentlichkeit bei der Bewertung von Produkten.

Im Jahr 2003 leitete die Kommission eine Anhörung ein, die hauptsächlich über die Expertengruppe für Medizinprodukte (MDEG, Medical Devices Experts Group) der Kommissionsdienststellen erfolgte. Im Anschluss daran wurde eine öffentliche Anhörung im Internet durchgeführt (5).

2.4

Da der Vorschlag eher in einer Präzisierung der Vorschriften als in ihrer Änderung besteht, ist nicht mit deutlichen wirtschaftlichen Folgen zu rechnen und wurden keine Auswirkungen auf die Umwelt festgestellt. Mit dem Vorschlag bezweckt die Kommission

klarere Vorschriften zur Förderung eines hohen Schutzniveaus für die öffentliche Gesundheit;

größere Transparenz und Sicherheit für alle Marktteilnehmer und besonders für die Öffentlichkeit;

einen verbesserten Rechtsrahmen, um einen raschen technischen Fortschritt zu fördern und dabei dem Bürger Sicherheit zu bieten und Vertrauen zu schaffen.

2.5

Rechtsgrundlage des Vorschlags ist Artikel 95 des EG-Vertrags (ex-Artikel 100a), auf dem auch die Richtlinie 93/42/EWG beruht. Um das Ziel der Beseitigung technischer Handelshemmnisse und der Präzisierung bestehender Vorschriften in den Richtlinien 93/42/EWG und 90/385/EWG zu erreichen, ist es erforderlich und angezeigt, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über bestimmte Aspekte des Inverkehrbringens oder der Inbetriebnahme von Medizinprodukten anzugleichen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt den von den Mitgliedstaaten und den betroffenen Akteuren seit langem erwarteten Kommissionsvorschlag. Die Zielvorgaben sind durchaus vertretbar, und vorbehaltlich der folgenden Bemerkungen scheinen die konkreten Vorschläge geeignet, um mittels präziserer und vereinfachter Regelungen einen solch komplexen und vielseitigen Sektor besser zu harmonisieren.

3.2

Die Medizinprodukte gewinnen als Bereich des Gesundheitswesens zunehmend an Bedeutung und sind sowohl für die Gesundheit als auch für die öffentlichen Gesundheitsausgaben von großer Relevanz. Die Bestimmungen der vorgenannten Richtlinien gelten für über 10.000 Produktarten, die von einfachen Erzeugnissen (z.B. Mullbinden, Spritzen, Augengläser) bis hin zu hochentwickelten und komplexen Instrumentarien reichen (z.B. implantierbare lebenserhaltende Geräte oder bildgebende Diagnosegeräte).

3.3

In diesem Sektor kommen hochtechnologische Instrumentarien zum Einsatz, da sowohl die Bürger als auch die Gesundheitsbehörden nach immer moderneren und sichereren Medizinprodukten verlangen. Auch wirtschaftlich gesehen hat dieser Sektor einen hohen Stellenwert: Der europäische Markt liegt hinter dem amerikanischen an zweiter Stelle. Er hat ein Volumen von rund 55 Milliarden EUR, umfasst mehr als 8.000 Unternehmen und beschäftigt ca. 450.000 Personen.

3.4

Es sei herausgestellt, dass die EU eine große und wachsende Anzahl an Produkten einführt, weshalb ein klarerer und wirksamerer Rechtsrahmen und eine offenere Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden den Sektor neu beleben und das Risiko des Verlustes von Marktanteilen und Arbeitsplätzen minimieren würden.

3.5

Die von der Kommission vorgenommene Bewertung, wonach die wirtschaftlichen Folgen auf der makroökonomischen Ebene unerheblich sind, ist durchaus vertretbar, aber die Kombination aus den weiteren erhobenen Forderungen könnte zu höheren Kosten führen, die für manche operationellen Einheiten oder Produkte beträchtlich sein könnten.

3.6   Rechtssicherheit

3.6.1

Der Vorschlag enthält die in die vorgenannten Richtlinien einzubringenden Änderungen und erläutert im Vergleich zu anderen Richtlinien oder Verordnungen einige Durchführungsbestimmungen im Hinblick auf Fälle, in denen nicht ganz klar ist, welche Norm Anwendung findet (Medizinprodukte, die Arzneimittel (6) oder Derivate aus menschlichem Blut (7) enthalten oder Produkte aus der Züchtung menschlicher Gewebe (8)). Ferner wird in dem Vorschlag erklärt, dass die In-vitro-Diagnostika (9) nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie über Biozid-Produkte (10) fallen, die infolge dessen geändert wird.

3.6.2

Der EWSA stimmt dem Grundsatz zu, dass in Bezug auf Medizinprodukte, die ein ergänzendes Arzneimittel oder Derivat aus menschlichem Blut oder Produkt aus der Züchtung menschlicher Gewebe enthalten, die Richtlinien über Medizinprodukte Anwendung finden. Er fragt sich allerdings, warum die in einigen Anhängen aufgeführten Produkte unter Verwendung von Geweben tierischen Ursprungs nicht ausdrücklich erwähnt werden. Er befürchtet, dass die Definition des „ergänzenden“ Produkts in den Mitgliedstaaten und den benannten Stellen erneut zu unterschiedlichen Auslegungen führen kann, weshalb er sich für eine präzisere Begriffsbestimmung ausspricht.

3.6.3

Es sollte genauer festgelegt werden, welche Behörde für die umfassende Beurteilung von Verbindungen aus Produkten und Arzneimitteln aus menschlichem Blut und Gewebe zuständig und verantwortlich ist: Die benannten Stellen können in solchen Fällen die nationalen bzw. gemeinschaftlichen Behörden (z.B. EMEA) mit einbeziehen, die nicht immer über die richtigen Fähigkeiten verfügen, um solche Medizinprodukte beurteilen zu können, und Verfahren anwenden, die eigentlich für andere Produktarten konzipiert wurden. Dabei kommt es häufig zu sehr langen Bearbeitungszeiten.

3.6.3.1

Der EWSA fordert die Festlegung von Fristen für die Durchführung einer solchen Beurteilung, da die Innovation und Obsoletheit der Produkte in diesem Sektor sehr schnell voranschreiten. Ferner sollten Leitlinien über die spezifischen Zuständigkeiten und Modalitäten für die Beurteilung durch die zuständigen Behörden in Zusammenarbeit mit den für die Medizinprodukte zuständigen Behörden aufgestellt werden. Gestützt auf die jahrelange Erfahrung der Hersteller spricht sich der EWSA schließlich dafür aus, dass die benannten Stellen die wissenschaftliche Meinung nicht nur der EMEA, sondern jeder beliebigen anerkannten zuständigen Behörde einholen können.

3.6.4

Ein Großteil der mithilfe des Gewebe-Engineering gewonnenen Produkte lässt sich aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Wirkungsmechanismus und der Produktionstechniken eher den Medizinprodukten als den Arzneimitteln zuordnen. Zur Vermeidung eventueller rechtlicher Lücken scheint es nach Auffassung des EWSA zweckdienlich, diese Produkte in den Anwendungsbereich des vorliegenden Vorschlags aufzunehmen und jene auszuschließen, die im oder am menschlichen Körper in erster Linie mit pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Mechanismen agieren.

3.6.5

Der EWSA spricht sich gegen eine gleichzeitige Anwendung zweier Richtlinien aus (genauer gesagt der Richtlinie über Medizinprodukte und jener über persönliche Schutzausrüstungen), da sie unterschiedliche Voraussetzungen erfordern, obgleich sie dasselbe Ziel — den Schutz des Anwenders — verfolgen. Dies kann operationelle Schwierigkeiten bereiten und mit einem größeren Kostenaufwand einhergehen, der selbst angesichts der Vorteile im Hinblick auf die Sicherheit nicht gerechtfertigt wäre.

3.6.6

Der EWSA unterstützt das in Artikel 13 aufgenommene neue Ausschussverfahren, das verbindliche und rasche Entscheidungen in jenen Fällen ermöglicht, in denen ein auslegungsbedingter Fehler bei der Einstufung eines Produkts unterlaufen ist. Wenn allerdings ein optimales Ergebnis erzielt werden soll, dann muss der Informationsfluss zwischen den zuständigen Behörden verbessert und eine effiziente Datenverwaltung mittels der europäischen Datenbank gewährleistet werden.

3.7   Information und Transparenz

3.7.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Vorschriften im Hinblick auf die Erfassung und Verfügbarmachung der Informationen sowie die Abstimmung und Meldung im Rahmen der Marktaufsicht genauer formuliert und umfassender sein sollten.

3.7.2

Er hält den Vorschlag im Hinblick auf die Kapazität der benannten Stellen zur Wahrnehmung der ihnen übertragenen Aufgaben für lückenhaft, was bereits in der Mitteilung aus dem Jahr 2003 (11) angemerkt wurde. Die therapeutischen Möglichkeiten stoßen in neue Bereiche vor, und die Medizinprodukte werden immer komplexer und komplizierter, was wissenschaftliche und technologische Kompetenzen voraussetzt, die auf nationaler Ebene nicht immer garantiert werden können. Es wäre wünschenswert, wenn eine Spezialisierung bestimmter benannter Stellen auf bestimmte Klassen von besonders komplexen und komplizierten Medizinprodukten garantiert werden könnte, sei es durch einen europäischen Plan oder zumindest eine Koordinierung.

3.7.3

Der EWSA schließt sich der Auffassung an, dass jeder Hersteller aus einem Drittstaat einen in einem EU-Mitgliedstaat niedergelassenen Bevollmächtigten bestimmen sollte, der in seinem Namen handelt und im Hinblick auf seine Verpflichtungen nach dieser Richtlinie gegenüber den Behörden verantwortlich ist. Er merkt jedoch an, dass der Vorschlag hier lückenhaft und widersprüchlich ist und fordert mehr Klarheit (vgl. Ziffer 3.3). Grundsätzlich spricht sich der EWSA für ein flexibles System aus, das dem Unternehmen einen konkreten Entscheidungsspielraum einräumt.

3.7.4

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass alle Informationen im Zusammenhang mit der Meldung, den klinischen Daten, den Bescheinigungen und der Überwachung (also auch im Zusammenhang mit unerwünschten schwerwiegenden Ereignissen und Folgen) obligatorisch und nicht nur auf freiwilliger Basis an die europäische Datenbank EUDAMED übermittelt werden sollten. Diese Datenbank wird in begrenzten Bereichen bereits eingesetzt. Sie sollte jedoch insbesondere im Hinblick auf die Bereitstellung von nicht vertraulichen Informationen für die betroffenen Akteure baldmöglichst überarbeitet und mit geeigneten Strukturen und Ressourcen ausgestattet werden.

3.7.4.1

Es wäre zweckmäßig, eine geeignete Auswahl nicht vertraulicher Informationen — wenn auch nur in Kurzform — den unmittelbar beteiligten Akteuren zur Verfügung zu stellen, und die Informationen über die Sicherheit und Qualität der Produkte sowie über die Überwachung nach dem Inverkehrbringen im Hinblick auf den verantwortungsvollen und sicheren Einsatz der Medizinprodukte auch für die Verbände medizinischer Leistungserbringer verfügbar zu machen.

3.7.4.2

Der EWSA hält es zudem für wünschenswert, dass in Zusammenarbeit mit den Beteiligten Leitlinien aufgestellt werden, damit die zuständigen Akteure eine Zusammenfassung der Produktmerkmale erstellen und verfügbar machen können. Ein solches Dokument sowie die im Zuge der Überwachung erfassten und validierten Informationen sollten den benannten Stellen und den zuständigen Behörden zur Verfügung gestellt werden, wobei geprüft werden muss, wie sich der Informationsfluss umfassender gestalten lässt.

3.7.5

Es ist vorgesehen, dass die Gebrauchsanweisung auch in anderer Form als der Packungsbeilage geliefert werden kann, was den Forderungen der Beteiligten, auch angesichts der breiten Palette von Medizinproduktklassen, entgegenkommt. Überdies sollten die Möglichkeiten näher geprüft werden, elektronische Träger (wie zum Beispiel CD-ROM und Internet) im Zuge eines Verfahrens einzusetzen, das einfacher und flexibler als das jetzige ist und keine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten mehr vorschreibt.

3.7.6

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die von den Ad-hoc-Arbeitsgruppen erarbeiteten und von der Kommission veröffentlichten Interpretationsleitlinien (MedDev-Dokumente) in der Richtlinie ausdrücklich erwähnt werden. Dabei müssen vereinfachte Verfahren zu deren Verabschiedung festgelegt werden, damit Interpretationsprobleme eingedämmt und eine bessere Abstimmung der Maßnahmen der Hersteller und der benannten Stellen gewährleistet werden können.

3.8   Sicherheit

3.8.1

Das System zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen wird in dem Vorschlag im Hinblick auf den Hersteller genau definiert; die Rolle und Verantwortung der Leistungserbringer wird jedoch nicht explizit dargestellt, und das Verfahren zur Verbreitung der Informationen und der Ergebnisse dieses Überwachungssystems scheint noch nicht ausgereift zu sein. Das System ist noch zu stark von der einzelstaatlichen Perspektive beeinflusst; eine stärkere europäische Prägung wäre hier wünschenswert.

3.8.2

Der EWSA begrüßt die in Anhang X enthaltenen Änderungen bezüglich der klinischen Daten, die bei den Medizinprodukten die Sicherheit und Leistung des Produkts betreffen. Er schlägt vor, den Artikel in Bezug auf den Zeitpunkt des Beginns der klinischen Prüfungen nach Erhalt der Genehmigung von der zuständigen Ethik-Kommission in Abhängigkeit von der Einstufung der Medizinprodukte deutlicher zu formulieren.

3.8.3

Der EWSA ist nicht damit einverstanden, dass das Thema „Aufbereitung“ im Vorschlag ausgespart wird. Diese in einigen Mitgliedstaaten bereits verbotene Praxis der Wiederverwendung von Medizinprodukten, die für die einmalige Verwendung entwickelt und hergestellt wurden, bietet dem Patienten keine ausreichenden Sicherheitsgarantien, da hierbei nicht alle Tests für eine zuverlässige und sichere Verwendung durchgeführt wurden, die der Zulassung des Einwegprodukts zugrunde lagen.

3.8.3.1

Nach Auffassung des Ausschusses muss diese Praxis, die oftmals in den Krankenhäusern in verschiedenen Mitgliedstaaten zum Einsatz kommt, aufgegeben werden, da sie Gefahren für die Gesundheit der Patienten birgt und eine Abgrenzung der Haftung erschwert. Selbst mit einer Sterilisation werden nicht unbedingt alle Risiken ausgeschaltet, weil sich dabei beispielsweise die strukturellen Merkmale der verwendeten Materialien ändern können.

3.8.3.2

Der EWSA ist sich bewusst, dass solche Praktiken in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fallen, hält jedoch entsprechende Maßnahmen auf gemeinschaftlicher Ebene für erforderlich, nicht zuletzt deshalb, weil der freie Personenverkehr und die jüngst anerkannte Möglichkeit der Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat eine unionsweit anerkannte Praxis voraussetzen. Als Übergangslösung könnte zumindest festgelegt werden, dass der für die Aufbereitung verantwortliche Träger eine Reihe von Daten vorlegen muss, die mit der Einstufung der Medizinprodukte im Einklang stehen und Auskunft darüber geben, was unternommen wurde, um für das aufbereitete Produkt die gleiche Qualität und Sicherheit wie für das Originalprodukt zu garantieren. Die Anwender und die Patienten sollten hierüber klar informiert werden.

3.8.4

Der EWSA schließt sich voll und ganz den vorgenommenen Präzisierungen an, welche die Konformitätsbewertung und die Pflicht zur Vorlage der Auslegungsunterlagen des betreffenden Medizinprodukts je nach Produktklasse und Neuartigkeit der damit verbundenen Technologie bzw. Therapie betreffen. Er teilt zudem die Auffassung, dass der Hersteller Dritte, bei denen er die Entwicklung oder Herstellung von Medizinprodukten in Auftrag gegeben hat, geeigneten Kontrollen unterziehen muss.

4.   Bemerkungen zu den spezifischen Artikeln

4.1   Präziser Anwendungsbereich

4.1.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die gleichzeitige Anwendung zweier Richtlinien auf ein- und dasselbe Produkt (wie derzeit in Bezug auf die Medizinprodukte und die persönliche Schutzausrüstung vorgeschlagen wird) dem Grundsatz der Vereinfachung und der Rechtssicherheit widerspricht. Folglich spricht er sich dafür aus, dass der ursprüngliche Wortlaut von Artikel 1 Absatz 6 der Richtlinie 93/42/EWG wiederhergestellt wird.

4.1.2

Generell sollte im Falle eines Medizinproduktes, das in den Definitionsbereich anderer Richtlinien (Arzneimittel, Kosmetika etc.) fallen kann, spezifiziert werden, dass die für die Entscheidung über die anzuwendende Richtlinie zuständigen Organe und Behörden die hauptsächliche Zweckbestimmung des Produkts sowie seinen hauptsächlichen Wirkungsmechanismus berücksichtigen müssen.

4.1.3

Zur Vermeidung jeglicher Rechtsunsicherheit muss die derzeitige Fassung des Abschnitts 7.4 des Anhangs I nach Ansicht des EWSA geändert werden. Insbesondere ist zu präzisieren, dass auf ein Medizinprodukt, das einen Stoff enthält, der separat betrachtet als Arzneimittel definiert werden kann, nur diejenigen Teile der Arzneimittelvorschriften Anwendung finden, die sich auf die Sicherheit und die Qualität dieses Stoffes beziehen, und nicht die Arzneimittelvorschriften im Allgemeinen.

4.1.4

Im Hinblick auf Medizinprodukte, die ein mithilfe des Gewebe-Engineering gewonnenes Produkt enthalten, befürchtet der EWSA, dass die Bestimmungen des neuen Abschnittes 4b nicht alle Interpretationsprobleme ausräumen, und spricht sich folglich dafür aus, die Definition solcher Produkte explizit in Artikel 1 aufzuführen, und zwar in Übereinstimmung mit den geltenden Richtlinien und insbesondere der Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien (12), über die derzeit beraten wird.

4.2   Informationen und europäische Datenbank

4.2.1

Nach Auffassung des EWSA sollten die relevanten Daten, einschließlich klinischer Daten und Hinweise auf schwerwiegende und unerwartete Wirkungen, von den verschiedenen zuständigen Behörden und Organen sowie den Herstellern und den Bevollmächtigten obligatorisch an die europäische Datenbank EUDAMED übermittelt werden. Damit eine solche Datensammlung jedoch effizient sein kann, müssen die Zuständigkeiten dieses Instruments neu definiert und ein Durchführungsprogramm erarbeitet werden, mit dem ein wirksames Funktionieren mithilfe angemessener Strukturen und Ressourcen gewährleistet werden kann.

4.2.2

Zur Gewährleistung der Vollständigkeit der erfassten Daten und einer umfassenderen Verbreitung der einschlägigen und nicht vertraulichen Informationen müssen nach Ansicht des EWSA zahlreiche Punkte des Vorschlags geändert werden, insbesondere:

Erwägungsgrund 7: die zentrale Erfassung der Daten über klinische Prüfungen in der europäischen Datenbank sollte zur Pflicht gemacht werden;

in der Richtlinie 90/385/EWG sollte in Artikel 10a die Pflicht zur Übermittlung von Informationen über die Hersteller und Bevollmächtigten und in Artikel 10b über die Regulierungsdaten festgelegt werden; ferner ist Artikel 11 Absatz 5 in Bezug auf die ausgestellten Bescheinigungen zu ändern;

in der Richtlinie 93/42/EWG ist Artikel 16 Absatz 5 in Bezug auf die ausgestellten Bescheinigungen zu ändern.

4.2.3

Darüber hinaus sollte auch der derzeitige Wortlaut von Artikel 20 Absatz 3 geändert werden und den Grundsatz enthalten, dass die nicht vertraulichen Informationen den Anwendern zusammengefasst zur Verfügung stehen sollten, wobei neben den beteiligten Stellen und Behörden auch die Hersteller und Bevollmächtigten einzubeziehen sind.

4.3   Der Bevollmächtigte

4.3.1

Der EWSA stellt fest, dass die Rolle des Bevollmächtigten eines Herstellers, der keinen Firmensitz in der Gemeinschaft hat, nicht eindeutig ist: Während in Erwägungsgrund 14 von einem einzigen Bevollmächtigten für alle Produktklassen die Rede ist, wird in den Artikeln 10a Absatz 3 und 14 Absatz 2 auf Produkte Bezug genommen, ohne zu präzisieren, ob es sich um alle oder nur um einige Produktklassen handelt.

4.3.2

Unter Berücksichtigung der vielfältigen Palette an Medizinprodukten, die ein Hersteller vermarkten könnte, spricht sich der EWSA für eine größere Flexibilität aus, damit für jede einzelne Produktart und nicht unbedingt für die gesamte Produktionspalette ein einziger Bevollmächtigter bestimmt wird (dabei ist in allen Sprachfassungen deutlich zu machen, dass rechtlich gesehen natürliche und juristische Personen gemeint sind).

4.4   Klinische Prüfungen

4.4.1

Um die Überwachung und die Verwaltung der Daten über die klinischen Prüfungen zu erleichtern, sollten die Bestimmungen bezüglich der Information der zuständigen Behörden in Artikel 2 Absatz 2 aufgenommen werden. Dabei ist zu präzisieren, dass der Hersteller bzw. sein Bevollmächtigter die Behörden aller Mitgliedstaaten, in denen solche Prüfungen durchgeführt wurden, über die Einstellung, Unterbrechung bzw. den Abschluss dieser Prüfungen informieren und die entsprechenden Erklärungen und Gründe anführen müssen.

4.4.2

Der EWSA begrüßt die neue Fassung von Artikel 15 Absätze 2 und 3. Er fragt sich allerdings, ob es nicht zweckmäßig wäre, in Absatz 3 zu spezifizieren, dass bei Produkten der Klasse I die klinischen Prüfungen beginnen können, sobald die zuständige Ethik-Kommission eine befürwortende Stellungnahme zu dem überprüften klinischen Prüfplan abgegeben hat.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. L 189 vom 20.7.1990.

(2)  ABl. L 169 vom 12.7.1993, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1882/2003, ABl. L 284 vom 31.10.2003.

(3)  KOM(2003) 386, ABl. C 96 vom 21.4.2004.

(4)  Die „benannten Stellen“ sind Stellen, denen die Hersteller die technische Dokumentation vorlegen müssen, um in den vorgesehenen Fällen die Konformitätsbescheinigung bzw. die Bescheinigung für das Inverkehrbringen zu erhalten. In einem Mitgliedstaat kann es mehrere solcher Stellen geben. Sie sind unterschiedlich spezialisiert.

(5)  Sie fand vom 11.5.2005 bis zum 25.6.2005 statt.

(6)  Richtlinie 2001/83/EG, ABl. L 311 vom 28.11.2001, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2004/27/EG, ABl. L 136 vom 30.4.2004.

(7)  Richtlinie 2002/98/EG vom 23.1.2003.

(8)  Es wird auf die Verordnung Nr. 726/2004 und auf den derzeit erörterten Vorschlag für eine Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien Bezug genommen, zu dem der EWSA derzeit eine Stellungnahme ausarbeitet.

(9)  Richtlinie 98/79/EG.

(10)  Richtlinie 98/8/EG, ABl. L 123 vom 24.4.1998, zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003.

(11)  Gemeint ist die o.g. Mitteilung KOM(2003) 386 vom 2. Juli 2003.

(12)  KOM(2005) 567, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Arzneimittel für neuartige Therapien und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EWG und der Verordnung (EG) Nr. 726/2004.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/19


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern (kodifizierte Fassung)“

KOM(2006) 12 endg. — 2006/0007 (CNS)

(2006/C 195/05)

Der Rat beschloss am 14. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 93 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 25. April 2006 an. Berichterstatter war Herr DANUSĒVIČS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 132 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Mit dem Vorschlag soll die Richtlinie 78/1035/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern kodifiziert werden. Die neue Richtlinie ersetzt die verschiedenen Rechtsakte, die Gegenstand der Kodifizierung sind. Der Vorschlag behält den materiellen Inhalt der kodifizierten Rechtsakte vollständig bei und beschränkt sich darauf, sie in einem Rechtsakt zu vereinen, wobei nur insoweit formale Änderungen vorgenommen werden, als diese aufgrund der Kodifizierung selbst erforderlich sind.

2.

Die von der Kommission auf der Grundlage des am 1. April 1987 gefassten und in den Schlussfolgerungen des Gipfels von Edinburg bekräftigten Beschlusses vorgenommene allgemeine Kodifizierung der gemeinschaftlichen Bestimmungen kann vom Ausschuss nur begrüßt werden. Daher befürwortet er den Richtlinienvorschlag wie schon bei früheren Initiativen dieser Art.

3.

Der Ausschuss hebt hervor, dass im Einklang mit der zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission geschlossenen interinstitutionellen Vereinbarung vom 20. Dezember 1994 bei der Kodifizierung keinerlei inhaltliche Änderung vorgenommen werden darf und die Kommission im Richtlinienvorschlag zusichert, diese Bedingung einzuhalten.

4.

Die verantwortungsvolle Wahrnehmung der beratenden Funktion des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses setzt eine Prüfung der vorgenommenen Änderungen vor der Zustimmung zu dieser Vorlage voraus. Der Berichterstatter ist dieser Aufgabe nachgekommen, ohne einen Anlass zu Vorbehalten oder besonderen Bemerkungen zu finden.

5.

Der Ausschuss unterstützt den Kodifizierungsvorschlag.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgender Vorlage: „Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße“

KOM(2005) 319 endg. — 2000/0212 (COD)

(2006/C 195/06)

Der Rat beschloss am 30. September 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß der Artikel 71 und 89 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT, Mitberichterstatter Herr OTT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 63 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass der von der Kommission vorgelegte Vorschlag für eine Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße eine Verbesserung gegenüber den vorherigen Fassungen hinsichtlich der Möglichkeit der Direktvergabe darstellt.

1.2

Einige Sachverhalte müssten indes noch klargestellt werden, soll die von den zuständigen Behörden und von den Betreibern angemahnte Rechtsicherheit gewährleistet sein:

Wie werden das für die Erbringung öffentlicher Verkehrsdienste geltende geografische Kriterium und die spezifischen Klauseln zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen im Falle einer Direktvergabe in Regie an einen örtlichen Betreiber konkret angewendet?

Das im Falle einer Direktvergabe für den Schienenverkehr vorgesehene Abgehen von den allgemeinen Grundsätzen ist rechtlich fragwürdig und müsste zumindest wesentlich besser „eingebettet“ werden.

Bezüglich Dienstleistungsqualität und Einhaltung der Sozialvorschriften müsste, ohne das Subsidiaritätsprinzip in Frage zu stellen, der Geist der Verordnung von 2002 (1) wieder aufgegriffen werden.

Die Gegenseitigkeitsregelung während der Übergangszeit ist genauer herauszuarbeiten.

In Ausnahmefällen — wenn die Investitionskosten und die Amortisierungsdauer dies erfordern — ist die Möglichkeit einer Verlängerung der Vertragsdauer über die ursprünglich vorgesehene Zeitspanne hinaus vorzusehen.

Eine klarere Definition des Regional- bzw. Fernverkehrs ist erforderlich.

Die Verordnung ist auf alle öffentlichen Verkehrsdienstleistungsaufträge vorrangig anzuwenden, in denen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen vorgesehen sind oder in deren Rahmen ausschließliche Rechte vergeben werden.

Es ist das Prinzip zu bestätigen, wonach für einen Betreiber, der ein Risiko zu tragen hat, die Verordnung gilt, und nicht die Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge.

1.3

Der Ausschuss unterstützt dabei nachdrücklich die Ausschreibungspflicht sowie ein Gleichgewicht zwischen einerseits der Möglichkeit der Auftragsvergabe im Wege der Ausschreibung und andererseits der Direktvergabe, um so im Wettbewerb der Wettbewerbssysteme die erforderliche Transparenz und die Verbesserung der Qualität der angebotenen Dienstleistungen voranzutreiben.

1.4

Er wünscht, dass die Bestimmungen der Verordnung auf sämtliche öffentlichen Verkehrsdienstleistungsaufträge angewendet werden.

1.5

Der Ausschuss befürwortet bei einem Gleichgewicht zwischen Ausschreibungsverfahren und Direktvergabe an einen internen Betreiber die geografische Eingrenzung der Tätigkeit, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern; dadurch bleiben die Wahlfreiheit der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und die Ausgewogenheit in einer kontrollierten Wettbewerbssituation erhalten.

1.6

Er wünscht, dass für den Fall, dass es bei Direktvergabe an einen internen Betreiber für die Vereinheitlichung der Netze und die Integration der Verkehrsdienste ausschlaggebend sein sollte, dass die Verkehrsdienste auch in den Zuständigkeitsgebieten anderer Behörden, die an jenes der auftragvergebenden Behörde anschließen und/oder angrenzen, erbracht werden können, ein klar definierter und eingegrenzter Spielraum vorgesehen wird.

1.7

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die für öffentliche Dienstleistungsaufträge mit einem geringen Wert sowie zwecks Sicherstellung der Kontinuität des Verkehrsdienstes vorgesehenen Ausnahmeregelungen angemessen sind.

1.8

Der Ausschuss hält die Direktvergabe öffentlicher Dienstleistungsverträge im Schienenverkehr an traditionelle wie neue Betreiber ohne, wie im Falle einer Vergabe an interne Betreiber, präzise Rahmenbestimmungen vorzusehen und für fairen Wettbewerb zu sorgen, für fragwürdig, da dies zu Rechtsunsicherheit und Wettbewerbsverzerrungen führt.

1.9

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die erforderliche Transparenz, Gleichbehandlung, Qualität und Effizienz im Bereich des öffentlichen Schienenverkehrs nur besser gewährleistet werden könnte, wenn auch hier die selben Regeln wie für den straßengebundenen Nahverkehr zur Anwendung kommen.

1.10

Er fordert, hinsichtlich der Dienstleistungsqualität und der Einhaltung der in den Mitgliedstaaten geltenden Sozialvorschriften zum Geiste des Verordnungsvorschlags von 2002 zurückzukehren.

1.11

Mit diesen Vorbehalten spricht sich der Ausschuss für eine rasche Verabschiedung des Verordnungsvorschlags aus, um für Rechtssicherheit in diesem Wirtschaftszweig zu sorgen.

2.   Einleitung

2.1

Die Kommission hat einen neuen Vorschlag für eine Verordnung über die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen im Bereich der öffentlichen Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße vorgelegt. Dabei handelt es sich um die dritte Fassung des Vorschlags.

2.2

Der EWSA begrüßt die von der Kommission geleistete Arbeit, mit deren Hilfe die bislang blockierte Debatte in den europäischen Institutionen wieder in Gang gebracht werden kann.

2.3

Mit dem nun vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung sollen im Lichte der jüngsten Entwicklungen im Bereich der Rechtsprechung, insbesondere des Urteils in der Rechtssache ALTMARK-TRANS, die in früheren Debatten zum Ausdruck gebrachten unterschiedlichen Standpunkte zusammengeführt und die Bedenken bezüglich der gebührenden Berücksichtigung der Grundsätze der Subsidiarität und der kommunalen Selbstverwaltung ausgeräumt werden.

2.4

Diese Textfassung unterscheidet sich stark von der Vorversion und ist einfacher im Wortlaut. Um das Rechtsetzungsverfahren nicht in die Länge zu ziehen, beschloss das Parlament, die neue Vorlage als den gleichen Text in überarbeiteter Fassung anzusehen und ihn in zweiter Lesung zu behandeln. Der Vorschlag liegt damit beim Rat, der ihn bereits prüft und beschlossen hat, seine Vereinbarkeit mit dem 3. Eisenbahnpaket zu untersuchen, besonders in Bezug auf die Öffnung für den grenzüberschreitenden Verkehr und die Kabotage (2).

2.5

Die Kommission hält den aus dem Jahre 1969 datierenden, geltenden Rechtsrahmen für überholt; außerdem müssten Effizienz und Qualität des Verkehrs verbessert werden, sollen Marktanteile gehalten bzw. hinzugewonnen werden. Anliegen der Kommission ist „die Organisation eines regulierten Wettbewerbs unter Einbeziehung der Städte und Regionen, um eine transparente Vergabe und transparente Bedingungen für die Durchführung öffentlicher Dienstleistungsaufträge zu ermöglichen.  (3) In seiner Stellungnahme zu dem vorausgegangenen Verordnungsvorschlag hatte sich der EWSA 2001 wie folgt geäußert: „Die Absicht der Kommission, im öffentlichen Personenverkehr eine Marktordnung im Sinne eines kontrollierten Wettbewerbs und nicht eines reinen Wettbewerbs einzuführen, wird vom Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt.  (4)

2.6

Ferner hat der Ausschuss damals zu seiner Zufriedenheit festgestellt, dass „ab jetzt durch die rechtliche und buchhalterische Transparenz für Chancengleichheit und Wettbewerb unter verschiedenen Unternehmensarten unabhängig von ihrer Rechtsform gesorgt werden soll (5)“.

2.7

Da der Vorschlag für eine Verordnung noch in zweiter Lesung im Europäischen Parlament erörtert werden soll, kann der Ausschuss seinen Wunsch nach Transparenz, Chancengleichheit und ereguliertem Wettbewerb unter Wahrung des in Artikel 295 EG-Vertrag festgeschriebenen Neutralitätsgrundsatzes bei der Verwaltung öffentlicher Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße nur noch einmal bekräftigen.

2.8

In dieser Hinsicht liefert die jüngste Rechtsprechung des EuGH — insbesondere die Urteile in den Rechtsachen Altmark-Trans und Stadt Halle — Anhaltspunkte für eine Beurteilung. In der Ausübung ihres Vorschlagsrechts ist die Kommission an keine Doktrin in der Rechtsprechung gebunden, da das Rechtsystem der Europäischen Union in erster Linie auf dem kodifizierten Recht und nicht auf Entscheidungen der Justiz fußt. In der Praxis spiegelt der Verordnungsvorschlag in Artikel 4 die Prinzipien wieder, die hinter den drei ersten Kriterien des Urteils Altmark Trans stehen. Das vierte Kriterium, scheint teilweise in Ziffer 7 des Anhangs wieder auf.

2.9

Hervorgehoben werden sollte, dass das Urteil Altmark-Trans Kriterien festgelegt hat, wonach Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen rechtlich nicht als staatliche Hilfen einzustufen sind. Der Verordnungsvorschlag greift viel breiter und berührt Punkte, die durch die Rechtsprechung nicht geregelt werden, insbesondere die Frage der Vereinbarkeit mit den Wettbewerbsregeln von rechtlich als staatliche Hilfen eingestuften Ausgleichsleistungen sowie die Vergabe ausschließlicher Rechte. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass es 1969 noch keinen Verkehrsmarkt gab, und sich daher die Frage ausschließlicher Rechte nicht stellte.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss begrüßt die Initiative der Kommission, möchte aber auf einige erörterungswürdige rechtliche Aspekte aufmerksam machen und weist nachdrücklich darauf hin, dass der Vorschlag nur dann umgehend verabschiedet werden sollte, wenn damit die von der gesamten Branche erwartete Rechtssicherheit wirklich gewährleistet ist.

3.2

Der Ausschuss begrüßt die Bemühungen der Kommission, ein neues Gleichgewicht beim öffentlichen Nahverkehr zu schaffen, sodass das Recht auf kommunale Selbstverwaltung gewahrt ist und sämtliche Interessenträger zufrieden gestellt werden können.

3.3

Er begrüßt ferner, dass die lokalen Gebietskörperschaften selbst entscheiden können, ob sie einen öffentlichen Verkehrsdienstleistungsauftrag im Wege einer Ausschreibung an Dritte vergeben, die Verkehrsdienste selbst erbringen oder diese Aufgabe unter Berücksichtigung bestimmter, Wettbewerbsverzerrungen verhindernder Kriterien einem internen Betreiber übertragen wollen.

3.4

Des Weiteren bekräftigt der Ausschuss erneut seine Befürwortung des im neuen Verordnungsvorschlag beibehaltenen Prinzips des kontrollierten Wettbewerbs (Artikeln 3 und 5 Absatz 3), das dem freien Wettbewerb vorzuziehen ist. Dieses Prinzip ist nach Auffassung des Ausschusses am besten geeignet, um die Bedürfnisse der öffentlichen Hand mit der Notwendigkeit zu vereinbaren, einen harmonisierten und abgesicherten Regelungsrahmen für die Vertragsvergabe festzulegen. Außerdem kann damit sowohl den Bedürfnissen des öffentlichen Dienstleistungssektors als auch jenen der in diesem Wirtschaftszweig tätigen Unternehmen (unabhängig von deren Status) Rechnung getragen werden.

3.5

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass nur ein auf dem Wettbewerb beruhendes System, das sowohl die Ausschreibungspflicht als auch die Möglichkeit vorsieht, frei zwischen Ausschreibungen und Direktvergaben an einen internen Betreiber zu wählen, zu einer Verbesserung der Qualität und der Effizienz der öffentlichen Verkehrsdienste führen wird, da die auftragvergebenden Behörden die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die geografischen Geltungsbereiche, die Verfahren zur Berechnung von Ausgleichsleistungen und die Modalitäten der Aufteilung der Kosten und Einnahmen bereits im Voraus genau werden festlegen und im Vorfeld diesbezüglich ausreichende Informationsmaßnahmen ergreifen müssen.

3.6

Die Betreiber wiederum erhalten auf diese Art und Weise klare Vorgaben bezüglich des Rahmens für ihre Tätigkeit und der von ihnen zu erfüllenden Verpflichtungen.

3.7

Darüber hinaus ist vorgesehen, dass jede zuständige Behörde ein Mal jährlich einen detaillierten Bericht über die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die ausgewählten Betreiber sowie über die im Gegenzug gewährten Ausgleichsleistungen und ausschließlichen Rechte veröffentlicht (Artikel 7). So können sich die Bürgerinnen und Bürgern über die genauen Bedingungen für den Betrieb von Verkehrsdiensten informieren und somit auch die Qualität und den Preis der angebotenen Dienstleistungen beurteilen. Es ist jedoch darauf zu achten, dass die Kosten für die Erstellung eines solchen Berichts die von den Gebietskörperschaften zu tragenden Verwaltungskosten, und in weiterer Folge auch jene der Betreiber, nicht unverhältnismäßig in die Höhe treiben, da zuviel Bürokratie einer verlässlichen Informationspolitik abträglich ist.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Verordnung und öffentliches Vergaberecht

4.1.1

Die Frage, welche Rechtsvorschriften Vorrang haben, ist insofern aufgekommen, als in diesem Sektor zwei Rechte zur Anwendung gelangen können.

4.1.2

Bei der ersten Lesung im Jahre 2001 hatte das Europäische Parlament eine Abänderung verabschiedet, nach der die künftige Verordnung Vorrang vor dem öffentlichen Vergaberecht haben sollte, womit ein klarer und kohärenter Rechtsrahmen geschaffen werden sollte. Im Kommissionsvorschlag wird das Kriterium für das anzuwendende Recht an die Entscheidung der zuständigen Behörden gekoppelt:

Im Falle einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung und bei teilweiser Übernahme der Risiken durch den Betreiber, findet die Verordnung Anwendung;

bei einem einfachen öffentlichen Auftrag gilt hinsichtlich des Vertragsvergabeverfahrens die Vergaberichtlinie.

4.1.3

Der Ausschuss ist diesbezüglich der Auffassung, dass die Bestimmungen der Verordnung unter Wahrung der Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung auf sämtliche Verträge über öffentliche Personenverkehrsdienste anzuwenden sind. Dies wäre bei Weitem die einfachste und klarste Lösung, die auch die Vertragsfreiheit der zuständigen Behörden unberührt ließe.

4.2   Möglichkeit der Direktvergabe

4.2.1

Im Gegensatz zu seinen zwei Vorversionen sieht der Vorschlag erstmalig eine Direktvergabeoption für Verkehrsdienste an einen internen Betreiber ohne vorheriges Ausschreibungsverfahren vor (Artikel 5 Absatz 2). Dieses Novum geht auf den in den vorausgegangenen Beratungen geäußerten Wunsch zurück, den Gebietskörperschaften die organisatorische Freiheit zu belassen.

4.2.2

Diese Option ist mit einer Reihe von Bedingungen verbunden:

Es muss sich um Nahverkehrsdienste handeln.

Der interne Betreiber darf an keinem außerhalb des Zuständigkeitsgebiets der Behörde organisierten Ausschreibungsverfahren teilnehmen; seine Dienste darf er nur innerhalb des Zuständigkeitsgebiets der Behörde ausführen. Dies entspricht dem vom Parlament in der ersten Lesung zum Ausdruck gebrachten Wunsch nach Berücksichtigung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit des Wettbewerbs (Abänderung 61), der in Einklang mit den Prinzipien des EG-Vertrags gebracht wurde. Der Ausschuss hält diese Bestimmung für logisch und gerecht, da es befremdlich wäre, wenn ein lokaler, einer Gebietskörperschaft unterstehender Betreiber, der in seinem Zuständigkeitsgebiet vor Konkurrenz geschützt ist, in Gebieten ohne einen solchen Schutz in Wettbewerb mit anderen Betreibern treten könnte.

Die Direktvergabe kann nur an einen internen Betreiber erfolgen, über den die zuständige Behörde die vollständige Kontrolle ausübt, die der über ihre eigenen Dienststellen entspricht. Jedoch wird der Rechtsprechung des EuGH (Teckal-Urteil vom 18.11.1999, Stadt-Halle-Urteil vom 11.1.2005 sowie Parking Brixen-Urteil vom 13.10.2005) nur unzureichend Folge geleistet.

4.2.3

In erster Lesung hatte sich das Europäische Parlament eindeutig zugunsten der Direktvergabe an einen lokalen, einer Gebietskörperschaft unterstehenden Betreiber bei gleichzeitiger Möglichkeit der Ausschreibung ausgesprochen. Dies ist auch der Tenor der Beratungen im Rat; ein Großteil der Vertreter der Mitgliedstaaten war dafür, den zuständigen Behörden die Entscheidung darüber zu lassen, ob sie öffentliche Nahverkehrsdienste entweder durch eigene Betreiber erbringen lassen oder eine Vergabe im Wege einer Ausschreibung vornehmen wollen.

4.2.4

Die Kommission hat versucht, diesen übereinstimmenden Meinungen Rechnung zu tragen und in ihrem Vorschlag hinsichtlich der Modalitäten für die Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsverträgen ein Gleichgewicht zwischen dem „regulierten Wettbewerb“ und der Direktvergabe angestrebt. Ein Ansatz, den der Ausschuss begrüßt, da er die Wahrung des Rechtes auf Selbstverwaltung der auftraggebenden Körperschaften unter Beachtung der vom EuGH formulierten Prinzipien gewährleistet.

4.2.5

Hervorzuheben ist, dass die Kommission die Definition des internen Betreibers mit einem geografisch einschränkenden Kriterium versieht, um in einer den Grundsätzen des EG-Vertrags entsprechenden Formulierung dem vom Parlament für die in Regie erbrachten Nahverkehrsdienste geforderten Prinzip der Gegenseitigkeit des Wettbewerbs Genüge zu tun. Die Anwendung dieses Kriteriums wirft indes zwei Fragen auf:

Bezieht sich dieses Kriterium auf alle Transportdienstleistungen des internen Betreibers einschließlich der durch Unterauftragnehmer erbrachten Dienstleistungen?

Wie stellt sich die Situation bei gebietsübergreifenden Verkehrsverbindungen dar, die das Zuständigkeitsgebiet der jeweiligen Behörde überschreiten? Müssen diese unterbrochen werden oder gelten in diesem Fall spezielle Regelungen? Nach Auffassung des Ausschusses müsste das geografische Kriterium in diesem Fall gelockert werden. Um die Vereinheitlichung des Netzes und die Integration der Verkehrsdienste sicherzustellen, könnte es in der Tat im Falle von Gebieten, die an jenes der auftraggebenden Behörde anschließen und/oder angrenzen, erforderlich sein, dass sich die betreffenden Verkehrsdienste auf das geografische Zuständigkeitsgebiet verschiedener Behörden erstrecken können.

4.2.6

Für den Fall von Verkehrsdiensten, die direkt von der zuständigen Behörde selbst oder von einem internen Betreiber erbracht werden, sollte daher die Option vorgesehen werden, dass sich diese auf die Zuständigkeitsgebiete verschiedener Behörden erstrecken können, wenn dies für die Vereinheitlichung des Netzes und die Integration der Verkehrsdienste ausschlaggebend ist und die Gebiete an jenes der auftraggebenden Behörde anschließen und/oder angrenzen. Damit diese Option nicht zur Umgehung des Wettbewerbs missbraucht werden kann, müsste eine Bestimmung eingefügt werden, der zufolge die außerhalb des geografischen Zuständigkeitsbereichs der auftraggebenden Behörde erbrachten Dienstleistungen einen bestimmten Prozentsatz des Gesamtwertes des Hauptvertrages nicht übersteigen dürfen.

4.2.7

Überdies sollte es internen Betreibern unterschiedlicher Gebietskörperschaften ermöglicht werden, insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung zusammenzuarbeiten, da sie sonst in struktureller Hinsicht weniger effizient wären als potenzielle Wettbewerber, die nicht derartigen Beschränkungen unterliegen.

4.2.8

Eine Klärung dieser Punkte ist nicht nur aus Gründen der Rechtssicherheit, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der praktischen Organisation der Dienstleistungen unumgänglich. Im Übrigen ist anzumerken, dass die durch die Rechtsprechung des EuGH eingeführten Kriterien (Urteil Stadt Halle vom 11.1.2005) zur Definition eines internen Betreibers eine gewisse Unsicherheit lässt, dies gilt insbesondere für die Textstelle („Gesichtspunkte wie …“), die so zu verstehen ist, dass die Liste der Kriterien nicht erschöpfend ist. In der jüngsten Rechtsprechung (Parking Brixen-Urteil vom 13.10.2005) wird jedoch auch hervorgehoben, dass es von grundlegender Bedeutung ist, dass die Behörden eine Kontrolle ausüben, die mit jener, die auch für ihre eigenen Dienststellen gilt, vergleichbar ist.

4.2.9

Des Weiteren ist es erstaunlich, dass für den Regelfall einer Auftragsdirektvergabe an einen internen Betreiber genau definierte Voraussetzungen festgelegt wurden, während bei dem zugunsten des Schienenverkehrs geschaffenen Ausnahmefall eines Abgehens von den Grundsätzen der Verordnung bei einer Direktvergabe an einen Betreiber keinerlei Bedingungen zur Auflage gemacht werden. Dabei verabsäumt es die Kommission, diese Ausnahmeregelung in der Begründung zu erläutern.

4.3   Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Wettbewerb

4.3.1

Neben der Vergabe an einen internen Betreiber sieht der Vorschlag die Möglichkeit vor, von Ausschreibungen Gebrauch zu machen. Die Ausschreibungspflicht kennt drei Ausnahmen:

öffentliche Dienstleistungsaufträge mit einem geringen Wert;

die Direktvergabe zwecks Sicherstellung der Kontinuität des Verkehrsdienstes;

öffentliche Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnregional- oder -fernverkehr.

4.3.2

Der Ausschuss hält die ersten beiden Ausnahmen für nachvollziehbar und gerechtfertigt, wenngleich sie Diskussionen über die Kriterien für „geringfügige Dienstleistungen“ auslösen könnten. Die dritte Ausnahme erscheint dem EWSA jedoch in mehrfacher Hinsicht fragwürdig: zum einen aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung des betroffenen Wirtschaftszweiges (ca. 50 Mrd. EUR Umsatz), zum anderen, weil die Vergabekriterien im Gegensatz zu jenen für die Vergabe an einen internen Betreiber nicht besonders strikt sind, obwohl Artikel 7 zweckgerichtete Maßnahmen zur Veröffentlichung von Informationen vorsieht, und schließlich, weil der Schienenverkehr seinem Wesen nach kein definitiv wettbewerbsfreier Raum sein sollte, außer es wird eine ähnliche Bestimmung wie in Artikel 5 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags vorgesehen.

4.3.3

Mittels kontrolliertem Wettbewerb würde besser für Transparenz und Gleichbehandlung sowie für die Interessen der Kunden und der Betreiber gesorgt; bei der gewählten Lösung wurden hingegen zweifelsohne Abstriche bei der Einheitlichkeit des Rechtsrahmens gemacht, um zu einem politischen Kompromiss zu gelangen.

4.4   Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen

4.4.1

In Artikel 6 des Verordnungsvorschlags wird auf Artikel 4 verwiesen, der teilweise an die Kriterien des Altmark-Trans-Urteils angelehnt ist. Sämtliche Ausgleichsleistungen müssen ungeachtet der Vergabemodalitäten diesen Bestimmungen entsprechen. Bei den im Wege der Direktvergabe erteilten Aufträgen müssen die Ausgleichsleistungen überdies den im Anhang festgelegten Regeln entsprechen, denen zufolge für die Festlegung der Höhe des Ausgleichsbetrags ein Vergleich vorzunehmen ist zwischen der Situation einer Dienstleistungserbringung aufgrund eines direkt vergebenen Auftrags und der Situation einer Dienstleistungserbringung zu Marktbedingungen, ohne die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen.

4.4.2

Im Text wird somit zwischen zwei Situationen unterschieden:

Im Falle der Ausschreibung erfolgen Ausgleichleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen entsprechend der ersten drei im „Altmark-Trans“-Urteil festgelegten Regeln;

bei einer Direktvergabe ohne Ausschreibung erfolgt die Ausgleichleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen nach den „Altmark-Trans“-Regeln, zusätzlich ist aber eine vergleichende Untersuchung darüber anzustellen, wie sich die wirtschaftliche Situation bezüglich der betreffenden Dienstleistung ohne gemeinwirtschaftliche Verpflichtung darstellt.

4.4.3

Dieses System ist mit einer gewissen rechtlichen Komplexität behaftet, die noch klarerer Formulierungen bedarf, um dem Kunden und dem Steuerzahler die Gewähr für Transparenz und gute Wirtschaftsführung zu bieten.

4.5   Qualität der Verkehrsdienste und Sozialgesetzgebung

4.5.1

Die Kommission betont, dass sie mit ihrem Verordnungsvorschlag darauf abzielt, eine Regelung für die Frage der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und den mit ihnen verbundenen Ausgleichsleistungen zu finden. Der gesamte Fragenkomplex der Dienstleistungsqualität, der Sozialvorschriften und des Verbraucherschutzes ist nicht Gegenstand der Kommissionsvorlage. So wird lediglich in Artikel 4 Absatz 7 in einer eher unverbindlichen Formulierung auf die Sozialvorschriften Bezug genommen. Es geht hier aber auch um einen Bereich, der in die einzelstaatliche Zuständigkeit fällt.

4.5.2

Demgegenüber war der revidierte Vorschlag aus dem Jahre 2002 bei der Definition adäquater Standards für die Qualität der öffentlichen Verkehrsdienste, die Fahrgastinformationen und die Sozialvorschriften expliziter (alte Artikel 4, 4 a und 4 b).

4.5.3

Der EWSA bedauert, dass die neue Fassung bezüglich der Frage der Qualität, der Fahrgastinformationen und der einzelstaatlichen Sozialvorschriften zu verhalten angelegt ist. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, in diesem Punkt zu dem Geist des Vorschlages von 2002 zurückzukehren und ihren Vorschlag unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Rechtes auf kommunale Selbstverwaltung zu ergänzen. Ohne bis zu einer vollständigen Aufzählung der Kriterien bezüglich Sicherheit, Qualität und Fahrgastinformationen, gehen zu wollen wäre die Angabe diesbezüglicher Mindestanforderungen angezeigt.

4.6   Übergang von der derzeitigen Situation zur neuen Gesetzgebung

4.6.1

Anzumerken ist, dass Artikel 8 Absatz 6 eine gewisse Unschärfe anhaftet, da er zwar die Wettbewerbssituation während der zweiten Hälfte der Übergangszeiträume regelt, jedoch keinerlei Regelung für die erste Hälfte enthält und auch den Fall von Direktvergaben unberücksichtigt lässt.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2000) 7 endg. - 2000/0212 (COD), geändert durch KOM(2002) 107 endg.

(2)  Anzumerken ist, dass die Binnenschifffahrt vom vorliegenden Verordnungsvorschlag nicht mehr erfasst wird, und diese daher weiterhin unter Artikel 73 des EG-Vertrags fällt.

(3)  KOM(2005) 319 endg., Ziffer 2.1.

(4)  ABl. C 221 vom 7.8.2001, Ziffer 2.2.

(5)  ABl. C 221 vom 7.8.2001, Ziffer 2.4.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende Änderungsantrag, der mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen auf sich vereinigen konnte, wurde abgelehnt:

Ziffer 4.6

Ziffer 4.6 sollte um eine Ziffer folgenden Wortlauts ergänzt werden:

Die Märkte für den landgebundenen öffentlichen Verkehr in der EU sind in unterschiedlichem Maße geöffnet bzw. liberalisiert, die Palette reicht von geschlossenen Märkten, über Märkte mit reguliertem Wettbewerb bis zu völlig liberalisierten Märkten. Daher erscheint es angezeigt, einen Übergangszeitraum vorzusehen, damit die Märkte sich der Verordnung anpassen können und sich einander annähern, um Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 22

Nein-Stimmen: 43

Stimmenthaltungen: 3


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Förderung sauberer Straßenfahrzeuge“

KOM(2005) 634 endg. — 2005/0283 (COD)

(2006/C 195/07)

Der Rat beschloss am 1. März 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr RANOCCHIARI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17. Mai 2006 mit 137 gegen 1 Stimme bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Mehr als 75 % der Bevölkerung der EU leben in städtischen Gebieten. Der Stadtverkehr macht daher einen erheblichen Teil des gesamten Verkehrsaufkommens aus und wirkt sich auf die Parameter der Luftqualität (Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe, Stickoxide, Partikel, Ozonvorläuferstoffe), also auf die örtliche Umweltverschmutzung, aber auch auf den Klimawandel aus (CO2-Ausstoß).

1.2

In den letzten Jahren folgten auf europäischer Ebene und im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit verschiedene Legislativmaßnahmen und Forschungsarbeiten aufeinander; Hauptziele waren dabei bessere Energieeffizienz, geringerer Schadstoffausstoß und weniger Abhängigkeit vom Öl.

1.3

Dank den als „Euro“-Normen bekannten Vorschriften über den Schadstoffausstoß von Fahrzeugen sind die durch den Verkehr erzeugten Schadstoffemissionen in den letzten 25 Jahren drastisch reduziert worden.

1.4

Überdies ist es durch Modelle wie CAFE (Clean Air for Europe, 2005) gelungen, bis 2020 eine Reduzierung der Emission um weitere 5 % zu veranschlagen.

1.5

Die fragliche Richtlinie zielt auf die Förderung einer nachhaltigen Umwelt in den städtischen Gebieten ab; so sieht der Vorschlag vor, schwere Nutzfahrzeuge umweltfreundlicher, d.h. energiesparender und emissionsärmer, zu machen.

1.6

Insbesondere wird öffentlichen Stellen vorgeschrieben, 25 % ihrer jährlichen Anschaffungen von Fahrzeugen eines Gesamtgewichts über 3,5 t für umweltfreundliche Fahrzeuge zu reservieren. Darüber hinaus sieht der Kommissionsvorschlag die Möglichkeit vor, diese Verpflichtung in einem zweiten Schritt auf andere Arten von Fahrzeugen auszudehnen, die von öffentlichen Stellen erworben werden.

1.7

Ein zügiges Inkrafttreten dieser Richtlinie würde zwar eine anfängliche Investition der öffentlichen Stellen erfordern, aber auch die rasche Entwicklung und breite Einführung umweltfreundlicher Technologien beschleunigen.

1.8

Den vielen Stadtverwaltungen, die sich gezwungen sehen, Verkehrsbeschränkungen einzuführen, würde die Verabschiedung dieser Richtlinie eine Alternativlösung bieten, mit der in ökologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht positive Ergebnisse erzielt werden könnten.

1.9

Städte wie Paris, Montpellier, Frankfurt, Helsinki u.a., die in einen umweltfreundlichen Fuhrpark (erdgasbetriebene Busse und Müllfahrzeuge) investiert haben, haben damit bedeutende Ergebnisse erzielt und erwerben derzeit weitere umweltfreundliche Fahrzeuge zur Ergänzung ihres Fuhrparks.

1.10

Raschere Interventionsfristen, diversifizierte Anstrengungen und ein Vorgehen auf verschiedenen Ebenen zur Reduzierung der Gesamt-Umweltbelastung (Euro-Normen zur Eindämmung des Schadstoffausstoßes von Fahrzeugen, Maßnahmen für eine bessere Energieeffizienz, eine höhere Versorgungssicherheit und eine Diversifizierung der Energiequellen) können für die Gesellschaft nur von Vorteil sein und führen zu technologischen und wirtschaftlichen Fortschritten.

1.11

Der EWSA hofft daher, dass die Richtlinie noch 2006 verabschiedet werden kann, die in einer Reihe mit anderen, von der Kommission bereits getroffenen und sich abzeichnenden, noch zu verabschiedenden Maßnahmen steht.

2.   Begründung und Rechtsrahmen

2.1

Die Kommission hat diesen Richtlinienvorschlag über die Förderung sauberer Straßenfahrzeuge (1) am 21. Dezember 2005 vorgelegt (Rechtsgrundlage: Artikel 175 Absatz 1 EGV; Mitentscheidungsverfahren).

2.2

Hauptzielsetzungen der Richtlinie sind:

Reduzierung des Schadstoffausstoßes durch den Verkehr;

Förderung des Marktes für umweltfreundliche Fahrzeuge mit einem Gesamtgewicht über 3,5 t.

2.3

Die Richtlinie schreibt öffentlichen Stellen vor, bei ihren jährlichen Ausschreibungen für Fahrzeuge über 3,5 t eine Mindestquote für „besonders umweltfreundliche Fahrzeuge (enhanced environmentally-friendly vehicle, EEV)“ zu reservieren. Diese Mindestquote soll 25 % der Ersatzanschaffungen schwerer Nutzfahrzeuge betragen, eine schrittweise Einführung ökologischer Vergabekriterien in die Vergabeverfahren ermöglichen und die öffentlichen Stellen und die Industrie auf eine mögliche Ausdehnung auf andere Fahrzeugkategorien vorbereiten.

2.4

Langfristig führt die Richtlinie zu einer Verbesserung der Umweltfreundlichkeit des gesamten Fahrzeugbestands, da Skalenerträge erwirtschaftet, Kosten reduziert und umweltfreundlichere Fahrzeugtechnologien stärker verbreitet werden.

3.   Begriffsbestimmungen und Erläuterungen

3.1

Die Richtlinie gilt für schwere Nutzfahrzeuge über 3,5 t wie Busse und Lkws (z.B. Müllfahrzeuge).

3.2

Unter „sauberem Fahrzeug“ wird ein EEV verstanden (s.o.) (2), das strenge Grenzwerte für Schadstoffe wie CO2, Kohlenmonoxid, Stickoxid, Kohlenwasserstoffe, Partikel und Ozonvorläuferstoffe einhält:

CO

(g/kWh)

HC

(g/kWh)

NOx

(g/kWh)

PM (Feinstaub)

(g/kWh)

Rauch

(m-1)

1,5

0,25

2,0

0,02

0,15

3.3

Den Mitgliedstaaten wurde schon immer empfohlen, Steuererleichterungen für Fahrzeuge einzuführen, die strengere Emissionsgrenzwerte als die nach der Euro-4-Norm (3) derzeit geltenden einhalten; dadurch soll der Marktzugang für umweltfreundlichere und energieeffizientere Fahrzeuge erleichtert werden.

3.4

Die „öffentlichen Stellen“, an die sich die Richtlinie richtet, sind die staatlichen, regionalen und lokalen Behörden, öffentlich-rechtliche Einrichtungen, öffentliche Unternehmen und Verkehrsbetriebe, die vertraglich an öffentliche Stellen gebunden sind.

3.5

Die Verpflichtung, eine Mindestquote der jährlichen Ausschreibungen für umweltfreundliche Fahrzeuge zu reservieren, bezieht sich sowohl auf Kauf als auch auf Leasing.

3.6

Die Förderung von EEV stimmt auch mit dem unlängst vorgelegten Richtlinienvorschlag „über die Besteuerung von Personenkraftwagen“ (4) überein: denn danach soll diese teilweise auf den CO2-Emissionen basieren, um den Kauf umweltfreundlicherer und energieeffizienterer Fahrzeuge zu fördern, so z.B. Fahrzeuge, die mit Biokraftstoffen, Erdgas, Flüssiggas (GPL), Elektro- oder Hybridmotoren betrieben werden.

3.7

Eine stärkere Nutzung von Biokraftstoffen wird im unlängst von der Kommission verabschiedeten „Aktionsplan für Biomasse“ (5) als eines der Ziele genannt; in der anschließenden Mitteilung über „Biokraftstoffe“ (6) werden Anreize dafür geschaffen.

3.8

Dieser Vorschlag steht somit in einem breiten Rahmen von Maßnahmen, die getroffen werden, um der anhaltenden Zunahme von Treibhausgasemissionen zu begegnen, die den Gemeinschaftszielen entgegenstehen, was den Klimawandel, die zunehmende lokale Umweltverschmutzung durch Fahrzeugabgase (die sich negativ auf die Gesundheit der Bürger auswirkt) und die Energieeffizienz der Kraftstoffe (die eine starke und anhaltende Abhängigkeit Europas vom Erdöl bedingt) anbelangt.

3.9

Im Grünbuch „Energieversorgungssicherheit“ (7) werden die Themen im Zusammenhang mit dem Wachstum des Verkehrssektors, dem hohen Energieverbrauch, den CO2-Emissionen und der Abhängigkeit vom Erdöl analysiert, um Maßnahmen aufzuzeigen, die die Nachfrage nach alternativen Technologien und Kraftstoffen beeinflussen und eine neue Generation umweltfreundlicherer Fahrzeuge fördern können, wie es im Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010“ (8) aufgegriffen wird.

3.10

Die Mitteilung „über alternative Kraftstoffe für den Straßenverkehr“ (9) und die anschließende Richtlinie „zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen“ (10) zeigen auf, dass die Diversifizierung der Energiequellen eine wirksame Lösung ist, um die Abhängigkeit vom Erdöl, die CO2-Emissionen und die lokale Umweltverschmutzung einzuschränken.

3.11

In der Mitteilung „Überprüfung der EU-Strategie der nachhaltigen Entwicklung“ (11) werden die Aspekte des Klimawandels behandelt; in dieser Strategie wird ausdrücklich die Entwicklung eines Marktes für umweltfreundlichere Fahrzeuge vorgeschlagen, und zwar im Rahmen eines Programms zur Steuerung des Verkehrsaufkommens in Stadtgebieten, das die Förderung von „Öko-Innovationen“ vorsieht und die Einführung umweltfreundlicher Busse ausdrücklich empfiehlt.

3.12

Das „Grünbuch über Energieeffizienz“ (12) schlägt konkrete Maßnahmen vor, darunter die Nutzung öffentlicher Ausschreibungen zur Entwicklung eines Marktes für umweltfreundlichere Fahrzeuge und zur Steigerung der Energieeffizienz.

3.13

Die Produktion und die Nutzung von Fahrzeugen, die eine geringere Luftverschmutzung verursachen, sind ein grundlegender Faktor bei dem Versuch, die in den einschlägigen europäischen Vorschriften gesteckten Ziele zu erreichen (13).

3.14

Im Rahmen der „Thematischen Strategie zur Luftreinhaltung“ (14), mit der die Kommission die geltenden einschlägigen Richtlinien vereinheitlichen will, wird den öffentlichen Stellen empfohlen, alljährlich eine Mindestquote umweltfreundlicher und energieeffizienter Fahrzeuge anzuschaffen.

3.15

Das EP hat sich für einen gemeinschaftlichen Aktionsplan zur Verbesserung der Energieeffizienz im Verkehrssektor ausgesprochen und dabei insbesondere die Bedeutung gezielter Programme für öffentliche Ausschreibungen hervorgehoben, um den Kaufpreis energieeffizienter Geräte zu senken, damit sie mit den herkömmlichen Technologien konkurrieren können (15).

3.16

Der Europäische Rat hat sich dafür ausgesprochen, den Umweltschutz und die nachhaltige Entwicklung in die Verkehrspolitik zu integrieren (16).

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Durch die Verabschiedung dieses Richtlinienvorschlags würden einige obligatorische Maßnahmen bezüglich öffentlichen Ausschreibungen eingeführt, um die Marktnachfrage nach umweltfreundlichen Fahrzeugen zu erhöhen. Gleichzeitig fördert der Vorschlag die Einführung umweltfreundlicher und energieeffizienter Fahrzeuge durch einen in technologischer Hinsicht neutralen Ansatz, wie von den Mitgliedstaaten empfohlen (17).

4.2

Die Verpflichtung zu Ausschreibungen für Fahrzeuge über 3,5 t hat — im Vergleich zu freiwilligen Vereinbarungen oder anderen Arten von Regelungen — Vorteile hinsichtlich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, hinsichtlich der wirtschaftlichen Aspekte der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und v.a. hinsichtlich der Auswirkung auf die Umwelt.

4.3

Eine Mindestquote von 25 % bei Ausschreibungen entspricht 10 % des Gesamtmarktes, ein Anteil, der groß genug ist, um sich auf die Entwicklung des Marktes für umweltfreundlichere Fahrzeuge auszuwirken, Skalenerträge zu erzielen und dabei die Investitionskosten auf akzeptablem Niveau zu halten.

4.4

Schätzungen zufolge sind von diesem Richtlinienvorschlag etwa 52 000 jährlich angeschaffte Fahrzeuge betroffen, davon 17 000 Busse und 35.000 sonstige schwere Nutzfahrzeuge. 25 % davon, also 13 000 Fahrzeuge jährlich, sollen „besonders umweltfreundliche Fahrzeuge (EEV)“ sein. Welcher Anteil und welche Art von Fahrzeugen (Busse, Müllfahrzeuge o.a.) ersetzt werden, bleibt völlig den öffentlichen Stellen überlassen.

4.5

Die Nutzung von Ausschreibungen zur systematischen Einführung umweltfreundlicher Fahrzeuge würde die Entwicklung der Automobilindustrie fördern und einen expandierenden, konkurrenzfähigeren Nutzfahrzeugmarkt in Europa gewährleisten.

4.6

Paris, Montpellier, Frankfurt u.a. Städte besitzen schon einen umweltfreundlichen Fuhrpark, den sie angesichts der erzielten, in ökologischer und sozioökonomischer Hinsicht positiven Ergebnisse demnächst ausbauen.

4.7

Die obligatorische Einführung einer Mindestquote von EEV im Bestand schwerer Nutzfahrzeuge stellt ein zusätzliches Instrument dar, das den öffentlichen Stellen zur Verfügung steht, um die durch die EU-Richtlinie über Luftqualität auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen.

4.8

Die in dem Richtlinienvorschlag genannte Mindestquote bei Ersatzbeschaffungen würde hinsichtlich der Verbesserung der Luftqualität (18) rasch erste Ergebnisse zeitigen, da die EEV-Normen die HC-, NOx- und PM-Emissionen drastisch reduzieren.

4.9

Darüber hinaus trägt der Einsatz von EEV zur Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs bei und bildet für die Forschung einen Anreiz, immer bessere Ergebnisse für die Umwelt zu erzielen; die Förderung alternativer Kraftstoffe und die Entwicklung von Abgassäuberungstechnologien verschaffen der Automobilindustrie einen starken Wachstumsanreiz.

4.10

Wenn man von einer 15 jährigen Lebensdauer der Nutzfahrzeuge, die Gegenstand dieses Richtlinienvorschlags sind, und von einem Inkrafttreten desselben im Lauf des Jahres 2006 ausgeht, könnten bis 2030 die Investitionen der öffentlichen Stellen amortisiert, technologische Fortschritte erzielt und die Leistungsstandards weiter verbessert werden.

4.11

Ein rasches und starkes Engagement für die Förderung umweltfreundlicher Fahrzeuge hätte auch Vorteile für die Gesellschaft, denn eine Verbesserung der Luftqualität in den Städten würde Atemwegserkrankungen oder deren Verschlimmerung verhüten, was sich positiv auf den Haushalt des Gesundheitswesen auswirken würde.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2005) 634 endg.

(2)  Richtlinie 2005/55/EG, Artikel 1 Buchstabe c) und Anhang I, Ziffer 6.2.1.

(3)  Richtlinie 1998/69/EG.

(4)  KOM(2005) 261 endg. vom 5.7.2005.

(5)  KOM(2005) 628 endg. vom 7.12.2005.

(6)  KOM(2006) 34 endg. vom 7.2.2006.

(7)  KOM(2000) 769.

(8)  KOM(2001) 370.

(9)  KOM(2001) 547: sieht vor, bis 2020 20 % der herkömmlichen durch alternative Kraftstoffe zu ersetzen.

(10)  Richtlinie 2003/30/EG.

(11)  KOM(2005) 37.

(12)  KOM(2005) 265.

(13)  „Richtlinie 96/62/EG (...) über die (...) Luftqualität“ und Tochterrichtlinien: „Richtlinie 1999/30/EG (...) über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft“, „Richtlinie 2000/69/EG (...) über Grenzwerte für Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft“ und Richtlinie 2002/3 über Ziele bei Ozonwerten.

(14)  KOM(2005) 446 endg.

(15)  A5-0054/2001.

(16)  Europäischer Rat von Helsinki (1999) und Göteborg (2001).

(17)  Gemäß den vom Europäischen Rat am 22./23. März 2005 im Rahmen der Lissabon-Strategie festgelegten Prioritäten.

(18)  Die Stadt Montpellier hat 1999 die ersten „sauberen“ Erdgasbusse angeschafft. Nach 30 Monaten waren die NOx-Emissionen um 50 % gesunken, PM waren fast völlig verschwunden, und der Lärm war um 5 bis 8 Dezibel zurückgegangen (Daten der ADEME = Agence de l'environnement et de la maîtrise de l'énergie, regionale Delegation Languedoc-Roussillon).


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung — Ein Aktionsprogramm“

KOM(2005) 658 endg.

(2006/C 195/08)

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Dezember 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatter war Herr RIBBE, Mitberichterstatter Herr DERRUINE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 137 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat wiederholt auf die große Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung für die Zukunft Europas und die globale Entwicklung hingewiesen und begrüßt deshalb die Vorlage eines „Aktionsprogramms“, in dem sich die Kommission mit dem Thema befasst.

1.2

Die von der Kommission vorgelegte Mitteilung ist eines von fünf Dokumenten, die allein im Jahre 2005 zum Thema „nachhaltige Entwicklung“ veröffentlicht wurden. Auch wenn der EWSA immer wieder die Wichtigkeit konkreter Schritte einfordert, so kritisiert er diese große Menge an unterschiedlichen Dokumenten, die es dem normalen, politisch interessierten Bürger fast unmöglich macht, noch den Überblick zu behalten.

1.3

Die Wechselbeziehung zwischen der Lissabon-Strategie und der Strategie für nachhaltige Entwicklung ist unklar. Es bedarf didaktischer Anstrengungen und Bemühungen im Bereich der Kohärenz, um den Bürgerinnen und Bürgern die Strategien verständlich zu machen. Das Instrument der Folgenabschätzung muss überarbeitet werden, um neben der wirtschaftlichen Dimension in gleicher Weise die sozialen und ökologischen Aspekte zu berücksichtigen. Die im Rahmen der Lissabon-Strategie empfohlene Forschung und Innovation sollte ausdrücklich im Dienste der nachhaltigen Entwicklung stehen.

1.4

Das mit der Mitteilung vorgelegte „Aktionsprogramm“ kann vom EWSA nicht als neue, revidierte Strategie anerkannt werden. Zwar wird eine richtige Analyse der derzeitigen Situation geliefert und auch festgestellt, dass es „so nicht weitergehen kann“, jedoch bleibt man quasi bei der Analyse stecken. Es wird nicht bzw. viel zu unzureichend beschrieben, wie das Weitergehen konkret aussehen könnte.

1.5

Die Kommission kommt mit diesem Papier weder der Empfehlung des EWSA vom April 2004 noch ihrem eigenen Versprechen vom Juni 2005 nach. Sie benennt keine klaren Ziele, die man im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie erreichen will.

1.6

Eine Strategie beschreibt normalerweise den Weg zur Erreichung von Zielen. Das Fehlen von Zielen muss zwangsläufig zu Defiziten bei der Benennung von Instrumenten führen. Dies ist ein entscheidendes Manko der Mitteilung. Wenn man nicht genau weiß, wohin man will, kann man auch nicht festlegen, wie man dorthin kommt.

1.7

Die im Papier beschriebenen Leitaktionen sind vage und höchstgradig unkonkret. Zum Teil handelt es sich um alte Forderungen bzw. Versprechungen, die seit mehr als 30 Jahren im Raum stehen und bislang nicht umgesetzt wurden. Es wird aber weder eine Debatte über die Frage geführt, woran es gelegen hat, dass so alte Forderungen nicht realisiert wurden, noch ob diese Forderungen weiterhin aktuell und vor allem ausreichend sind.

1.8

An den Stellen, an denen extrem wichtige Ankündigungen gemacht werden, verbleibt die Kommission allerdings im Unverbindlichen. Die Ankündigung der Kommission, den internationalen Handel als Instrument zur nachhaltigen Entwicklung zu nutzen, kann nur begrüßt werden. Man darf allerdings von einem „Aktionsprogramm“ erwarten, dass auch die Antwort darauf gegeben wird, wie man dies erreichen will.

1.9

Die Kommission sollte die Rolle der Akteure klarstellen, indem sie die Frage „Wer ist für welchen Aufgabenbereich verantwortlich?“ ausgehend von den Zuständigkeitsbereichen der EU, der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner und der sonstigen Beteiligten beantworten.

1.10

Der EWSA seinerseits bringt seine Absicht zum Ausdruck, einen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten, indem er schrittweise eine Datenbank einrichtet. Diese soll die Verbreitung bewährter Vorgehensweisen ermöglichen, die Hindernisse, denen die Akteure vor Ort begegnen usw. erfassen, um mehr einschlägige Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln, auf die die Kommission und die Beteiligten zurückgreifen können.

1.11

Die Mitteilung lässt folglich mehr Fragen offen, als sie Antworten gibt bzw. wirft gar neue Fragen auf, auf deren Beantwortung die Gesellschaft bisher vergebens wartet.

1.12

Der EWSA bedauert dies zutiefst. Diese Mitteilung bringt die Politik der nachhaltigen Entwicklung nicht wirklich voran, sondern beweist vielmehr, dass man derzeit eher auf der Stelle zu treten scheint.

2.   Hauptelemente und Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Am 13. Dezember 2005, also direkt vor dem Finanzgipfel des Europäischen Rates in Brüssel, legte die Kommission dem Rat und dem Europäischen Parlament die Mitteilung „Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung — ein Aktionsprogramm“ (1) vor, die Gegenstand dieser Stellungnahme ist.

2.2

Die zu überprüfende Strategie der nachhaltigen Entwicklung der EU wurde auf dem Gipfel im Sommer 2001 in Göteborg beschlossen. Der EWSA hat sowohl im Vorfeld der Erstellung der Strategie als auch zur Strategie selbst mehrfach Stellung bezogen, zuletzt u.a. im Rahmen seiner Sondierungsstellungnahmen „Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“ vom April 2004 (2) und „Die Rolle der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen der nächsten Finanziellen Vorausschau“ vom Mai 2005 (3). Er hat zudem — gemeinsam mit der Kommission — im April 2005 ein viel beachtetes und als höchst konstruktiv bewertetes Stakeholder-Forum abgehalten und im März 2006 im Rahmen der Erarbeitung dieser Stellungnahme eine weitere Anhörung durchgeführt; deren Ergebnisse wurden selbstverständlich berücksichtigt.

2.3

Die Prodi-Kommission selbst hatte noch angekündigt, die Strategie der nachhaltigen Entwicklung zu überarbeiten und zu verabschieden. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Vielmehr haben sich bei der Erarbeitung des bzw. der Papiere jeweils erhebliche Zeitverzögerungen ergeben. Dies mag ein Hinweis darauf sein, wie schwer sich die Kommission, aber auch der Rat damit tun, die Strategie der nachhaltigen Entwicklung voranzubringen.

2.4

Im Februar 2005 legte dann die Kommission Barroso keine überarbeitete Strategie, sondern die Mitteilung „Überprüfung der EU-Strategie der nachhaltigen Entwicklung 2005: Erste Bestandsaufnahme und künftige Leitlinien“ (4) vor. Sie sprach darin u.a. von der „Verschärfung nicht nachhaltiger Trends“, davon, dass sich die Fortschritte bei der Einbeziehung von Umweltbelangen in sektorbezogene Politikbereiche „bislang in Grenzen halten“, dass „Armut und soziale Ausgrenzung ... ein zunehmendes Problem“ seien und dass wir „in einer immer interdependenteren Welt ... nicht weiter so produzieren und konsumieren (können,) wie wir das heute tun“.

2.5

Die hier zu bewertende Mitteilung der Kommission ist in diesem Kontext zu sehen. Der EWSA kann sie zwar als weiteren Schritt hin zu einer Überarbeitung der Nachhaltigkeitsstrategie interpretieren, jedoch nicht als Ergebnis einer bereits vollzogenen Überarbeitung. Jüngsten, allerdings eher informellen Informationen zufolge ist derzeit beabsichtigt, dass der Rat auf seiner Tagung im Juni 2006 eine Revision der Nachhaltigkeitsstrategie aus dem Jahre 2001 verabschiedet und dass diese Schlussfolgerungen dann die gemeinsame europäische Strategie der Nachhaltigkeit bis 2009 darstellen sollen. Insofern stellt der EWSA zunächst fest, dass die Kommission ihre Verpflichtung aus dem Jahre 2001, ihrerseits eine Revision der Strategie zu Beginn einer jeden neuen Amtszeit einer Kommission vorzulegen, nicht erfüllt hat. Vielmehr liegen nun fünf Dokumente (5) aus dem Jahre 2005 auf dem Tisch, die allenfalls als Denkanstöße und Material für eine Revision gewertet werden können, aber keinesfalls als eine revidierte, den aktuellen — nach wie vor sich bedrohlich entwickelnden — Trends gerecht werdende neue Strategie für die kommenden vier Jahre.

2.6

Der Ausschuss gibt seinem Befremden Ausdruck, von der Kommission keine eingehenden Bemerkungen zu seiner letzten Sondierungsstellungnahme zum Thema „Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“ (6) erhalten zu haben, obwohl sie sich dazu verpflichtet hatte. Viele der dort vom Ausschuss damals aufgeworfenen Grundsatzfragen harren bis heute einer Antwort, was in der Ziel-, Ideen- und Orientierungslosigkeit des jetzt vorgelegten „Aktionsprogramms“ seinen Ausdruck und seine Bestätigung findet.

2.7

Ebenfalls vermisst der Ausschuss — wie bereits im Jahr 2004 — eindeutige Aussagen darüber, wie die beiden großen Strategien, unter deren Zeichen die gegenwärtige Tätigkeit der EU steht — die Strategie für nachhaltige Entwicklung und die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung — entsprechend den Zielsetzungen, die sich die Union im Vertrag über die Europäische Union in Artikel 2 gegeben hat, abgegrenzt und eingeordnet werden (7). Eine Prüfung der im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie erarbeiteten nationalen Reformprogramme hat ergeben, dass die Mitgliedstaaten die nachhaltige Entwicklung nicht als eine Priorität festgelegt haben. Dies steht im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2005, auf dem festgestellt wurde, dass die Nachhaltigkeitsstrategie die übergeordnete Strategie der EU sei.

2.8

Der EWSA wird in dieser Stellungnahme hauptsächlich untersuchen, ob seine Aussagen, Fragen und Empfehlungen, die er in den oben genannten Stellungnahmen vom April 2004 bzw. Mai 2005 formuliert hat, aufgegriffen und umgesetzt wurden.

2.9

Ferner wird analysiert, ob die eigenen Ansprüche, die die Kommission selbst formuliert hat, erfüllt werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

In der zu bewertenden Mitteilung beschreibt die Kommission zunächst, wie in vielen anderen Papieren zuvor, die allgemeine Situation. Zwei Zitate aus dem dritten Absatz der Mitteilung beschreiben die Situation wohl klar und deutlich: „Europa hat bei der Umsetzung dieser Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung einen guten Anfang gemacht. .... Die Anstrengungen müssen allerdings intensiviert werden.“

3.2

Der Ausschuss kann diese Aussage bestätigen und teilt die generelle Analyse: In vielen Bereichen sind sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene oder aber von Unternehmen, NGOs bzw. Privatpersonen viele modellhafte Initiativen ergriffen worden. Diese reichen aber noch nicht aus, um schon von einer Trendwende sprechen zu können.

3.3

Konkret finden sich Erfolgsbeispiele auf nationaler Ebene (z.B. die positiven Umwelt- und Arbeitsplatzfolgen des deutschen Programms zur energetischen Gebäudesanierung bzw. zum Einsatz erneuerbarer Energien), auf sektoraler Ebene (z.B. der Verzicht auf klimaschädigende FCKW in Autoklimaanlagen oder „Aktionsplan für die Umwelttechnologien“) und auf Unternehmensebene selbst (z.B. British Petroleum, das sich 1998 dazu verpflichtet hatte, bis 2010 den Ausstoß von Treibhausgasen um 10 % unter den Wert von 1990 zu senken und das sein Ziel bereits 2003 durch Energieeffizienz erreichte; siehe auch das von den großen englischen und multinationalen Unternehmen unterzeichnete Schreiben zur Unterstützung des britischen Premierministers bei der Bekämpfung des Klimawandels (8)).

3.4

Die Beispiele beweisen, dass nachhaltige Produktions- und Konsumptionsverfahren nicht nur technisch möglich, sondern auch wirtschaftlich praktikabel sind und zum Erhalt bzw. zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Dies muss deutlicher als bisher vermittelt werden.

3.5

Nachhaltige Entwicklung ist ein anderes, ein neues, integriertes gesellschaftliches Entwicklungskonzept: Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung verstärken sich gegenseitig und tragen dazu bei, „europäische Werte“ zu erhalten. Die nachhaltige Entwicklung fördert somit gesellschaftlichen Gesamtwohlstand. In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss die gemeinsamen Bemühungen von Kommission und Eurostat zur Entwicklung eines „Wohlstandsindikators“, der aus Sicht der nachhaltigen Entwicklung aussagekräftiger ist als das BIP als Messgröße. Der „Ökologische Fußabdruck“, der u.a. von der Europäischen Umweltagentur kommuniziert wird, könnte sich als solcher erweisen. Ein solcher Indikator müsste die externen Umweltkosten, aber auch bestimmte Sozialkosten berücksichtigen.

3.6

Es geht bei der nachhaltigen Entwicklung nicht darum, Defizite, die sich in der Entwicklung eines Sektors ergeben, durch Maßnahmen in anderen Sektoren auszugleichen. So hat Politik früher funktioniert. Der Europäische Rat hat diese Auslegung der Entwicklungsidee im Juni 2005 bekräftigt, und mehrere Dokumente der Europäischen Kommission belegen, dass ein solcher Ansatz auch funktioniert (9).

3.7

Allerdings ist zunächst eine breite Debatte in Politik und Gesellschaft über die Werte, über die wir — teilweise im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt — in Europa verfügen und die wir zu verteidigen haben, und über die Ziele, die wir in Europa mit der nachhaltigen Entwicklung erreichen wollen, erforderlich. Mehr noch: sie scheint überfällig zu sein. Nur wenn Klarheit über die zu erreichenden Ziele und die zu erhaltenden (europäischen) Werte herrscht, kann man beginnen, über die Wege zu Erreichung dieser Ziele (sprich: über die Strategie) zu debattieren. Der EWSA zweifelt abermals daran, dass diese Debatte bereits hinreichend geführt wurde. Er wiederholt seine Feststellung von vor 2 Jahren, dass allein der Begriff „Nachhaltigkeit“ einem Großteil der Bürger völlig unbekannt ist; und jene, die ihn schon mal gehört haben, können inhaltlich damit oft nichts anfangen. Dies sind denkbar schlechte Ausgangsvoraussetzungen für politisches Handeln (bei der „Lissabon-Strategie“ ist es ähnlich!).

3.8

Der EWSA ist sich dabei sehr wohl bewusst, dass diese Werte- und Zieldebatte gerade vor dem Hintergrund globaler Märkte keine einfache ist. Eine Vorreiterrolle Europas bei der Bewahrung der Lebensgrundlagen kann nämlich beispielsweise u.a. dazu führen, dass nicht nachhaltige Produktionen aus Europa in andere Teile der Welt verlagert werden (was global gesehen keinen Erfolg darstellt) und dass die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen negativ beeinflusst werden kann. Aber gerade weil eine Menge an Problemen absehbar sind, muss die breite, vom EWSA wiederholt angemahnte Debatte endlich stattfinden.

Konzentration auf Schlüsselbereiche

3.9

In der Mitteilung konzentriert sich die Kommission auf sechs so genannte „Schlüsselbereiche“, nämlich

Klimawandel und saubere Energien,

Gesundheit,

soziale Ausgrenzung, Demografie und Migration,

Management der natürlichen Ressourcen,

nachhaltiger Verkehr sowie

globale Herausforderungen in Bezug auf Armut und Entwicklung.

3.10

Der EWSA hält — wie er bereits in den vorangegangenen Stellungnahmen immer wieder betont hat — eine entsprechende Konzentration für richtig, gibt aber zu bedenken, dass zumindest jene Bereiche intensiver in die Überlegungen einbezogen werden müssen, in denen die EU voll — auch finanziell — in der Verantwortung steht, z.B. die Agrar- und die Regionalpolitik. Es fällt auf, dass in der Mitteilung kaum Verweise auf diese Bereiche gemacht werden, allenfalls im Anhang 2 wird mit einem Internetlink z.B. auf die Verordnung der Kommission zu strategischen Leitlinien für die Entwicklung des ländlichen Raums 2007-2013 verwiesen (KOM(2005) 304 endg.), ohne dass nähere inhaltliche Angaben über Ziele und Maßnahmen im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung ausgeführt wurden.

3.10.1

In der Einleitung der Mitteilung, im Rahmen der Beschreibung der Anstrengungen, die die EU bislang unternommen hat, wird beispielsweise kurz auf die Reform der Agrar- und Fischereipolitik verwiesen und betont, dass die „Intensivierung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums“ ein Ausdruck der Verpflichtung integrierter Politikgestaltung sei. Dem EWSA ist diese Aussage aber völlig unverständlich, denn von einer „Intensivierung“ kann überhaupt nicht die Rede sein. Die Finanzmittel für die ländliche Entwicklung werden — entgegen dem politischen Versprechen der Kommission und gegen die Empfehlungen des EWSA (10) — in der kommenden Finanzperiode 2007-2013 z.T. erheblich unter dem jetzigen Haushaltsvollzug und unter dem geplanten Ansatz der Kommission liegen (11).

3.10.2

Was die Fischereipolitik angeht, verweist der EWSA nur darauf, dass es bislang noch nicht einmal gelungen ist, die Einhaltung der vereinbarten Fangquoten zu gewährleisten, wodurch weiterhin eine Überfischung der Meere stattfindet. Die bloße Aufzählung von verschiedenen Internetseiten mit Informationen über frühere Politiken oder geplante mögliche Mitteilungen oder Grünbücher der Kommission erscheinen angesichts dieses Zustands als nicht ausreichend, um das genannte „operationelle“ Ziel eines „höchstmöglichen Dauerertrags in der Fischerei bis 2015“ (12) zu erreichen.

Mangel an klaren Zielsetzungen

3.11

In ihrer Mitteilung vom Februar 2005 (KOM(2005) 37 endg.) hatte die Kommission wichtige und aus Sicht des EWSA richtige Analysen der nach wie vor nicht nachhaltigen Situation und Trends vorgenommen und im Teil II („Den Herausforderungen begegnen“) Ankündigungen gemacht, die der EWSA zuvor auch eingefordert hatte. Man betonte dort, „wirtschaftliches Wachstum, soziale Eingliederung und Umweltschutz (müssten) in Europa wie in anderen Teilen der Welt Hand in Hand gehen“, man wolle „nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt der Politik der EU stellen“, und schrieb, dass „klarere Zielsetzungen, Vorgaben und Fristen erforderlich sind, um die Durchführung zielgerichteter Aktionen in den prioritären Bereichen und die Messung der Fortschritte zu ermöglichen. Auch wenn es sich bei den Trends um langfristige Probleme handelt, die langfristiger Lösungen bedürfen, kann nur durch die Festlegung klarer Etappenziele und die Messung der Fortschritte sichergestellt werden, dass die Gesellschaft sich in die richtige Richtung bewegt. Die Festlegung langfristiger Ziele darf daher nicht als Vorwand dienen, um Maßnahmen auf später zu verschieben“.

3.12

Auch der EWSA bemängelte in seiner Stellungnahme vom April 2004 die Tatsache, dass die Nachhaltigkeitsstrategie viel zu wenig klar nachvollziehbare und folglich auch überprüfbare Zielvorgaben enthalte. Er verwies auch darauf, dass dies nicht immer so war; dass noch in der Mitteilung der Kommission, auf deren Basis letztlich die Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt wurde, klare Zielsetzungen formuliert wurden (13).

3.12.1

Der EWSA machte schon damals klar, dass ohne entsprechende Zielvorgaben und ohne die Formulierung von Zwischenzielen einer Strategie die Orientierung fehlen würde. Der EWSA warf auch die Frage auf, was eigentlich eine „Strategie“ sei und bemerkte: „Eine Strategie ist definiert als genauer Plan des eigenen Vorgehens, um ein Ziel zu erreichen, wobei diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, von vornherein einkalkuliert werden. Die zukünftige Nachhaltigkeitsstrategie der EU müsste folglich“

klare Ziele vorgeben;

die einzelnen Instrumente zur Erreichung des oder der Ziele beschreiben, wozu auch gehört, die jeweiligen Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten genau zu beschreiben;

langfristige Ziele ggf. in Zwischenziele unterteilen, deren Einhaltung bzw. Erreichung anhand verständlicher Indikatoren regelmäßig zu überprüfen ist;

sich den Faktoren widmen, die auf diesem Weg Probleme bereiten könnten und

sicherstellen, dass alle Politikbereiche stets anhand von Nachhaltigkeitskriterien analysiert und bewertet werden (14).

3.13

Es ist wohl das größte Manko der Kommissionsmitteilung und des darin beschriebenen „Aktionsprogramms“, dass wieder keine wirklich klaren Zielvorgaben und -marken beschrieben und die Wege dorthin skizziert werden, obwohl diese von der Kommission selbst als notwendig erachtet werden. Im Dokument selbst finden sich aber nur höchst vage „Leitaktionen“, im Anhang 2 sind zudem eine Anzahl „operationeller Ziele und Vorgaben“ sowie „Beispiele für Schlüsselmaßnahmen in der Gegenwart und Zukunft“ aufgezählt, die entweder beliebig erscheinen, wenig aussagekräftig sind oder allenfalls „geprüft“ bzw. „in Aussicht“ genommen werden sollen.

3.14

Er wird auch nicht benannt, wer wofür letztlich verantwortlich sein soll und wie die unterschiedlichen politischen Ebenen miteinander vernetzt werden müssen, um aus den verschiedenen Verantwortlichkeiten bestmögliche Synergieeffekte zu erzielen.

Keine Debatte um Instrumente

3.15

Der EWSA hat mit großem Interesse das Kapitel 3.2 und die Ausführungen zu dem wirksamsten Maßnahmenmix zur Kenntnis genommen. Es ist völlig richtig, dass „Regierungen und andere öffentliche Stellen ... über eine große Palette von Instrumenten (verfügen), um Menschen zu Veränderungen zu bewegen: Regulierung, Besteuerung, Beschaffungswesen, Subventionen, Investitionen, Ausgaben und Information. Die Herausforderung besteht darin, die richtige Mischung zu finden ... Wirksamstes Mittel überhaupt für die Anregung des Wandels ist es vielleicht, sicherzustellen, dass die Märkte die richtigen Signale aussenden ('Angemessenheit der Preise') und damit den Menschen starke Anreize bieten, ihr Verhalten zu ändern und das Marktgeschehen entsprechend zu beeinflussen. Dies kann geschehen, indem wir alle, Produzenten und Konsumenten gleichermaßen, mit den vollen Kosten und Konsequenzen unserer Entscheidungen konfrontiert werdenund zwar dann, wenn wir diese Entscheidungen treffen. Dies würde beispielsweise bedeuten, dass die Kosten, die 'Umweltverschmutzer' der Gesellschaft insgesamt aufbürden, in den Preis eines Produkts einbezogen werden ...“

3.16

Der EWSA kann diesen Ansatz nur unterstreichen. Er deckt sich mit den Forderungen vieler Stellungnahmen, die der Ausschuss in den letzten Jahren verabschiedet hat (15). Der EWSA bedauert allerdings zutiefst, dass das Dokument bei der Analyse stecken bleibt und keine Hinweise gegeben werden, wie man diese Internalisierung externer Kosten angehen will.

3.17

Schon in seinem Bericht vom April 2004 hat der EWSA die Kommission aufgefordert, hier aktiv zu werden und den Dialog mit allen beteiligten Kreisen zu suchen und zu pflegen. Denn alle Beteiligten hätten nicht nur ein großes Interesse, sondern ein Recht, zu erfahren, wie man (und bis wann) die Internalisierung der externen Kosten gewährleisten will. Auch forderte der EWSA schon damals zu klären, welche Auswirkungen die Internalisierung der Kosten auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft generell und z.B. auf den Verkehrsbereich haben würde. Die Kommission selbst hatte festgestellt, dass „weniger als die Hälfte der externen Umweltkosten ... in die Marktpreise einfließen“, was bedeutet, dass ein „nicht nachhaltiges Nachfrageverhalten gefördert wird“  (16) .

3.18

Der EWSA fragt sich, wo und wann die Kommission endlich diese Debatte zu führen gedenkt. Nach seiner Auffassung ist die Strategie der nachhaltigen Entwicklung genau der richtige Ort dafür, dies zu tun. Er bedauert, dass die mittlerweile seit über 2 Jahren versprochene Vorlage einer Mitteilung „on the use of market-based instruments for environmental policy in the internal market“ immer noch auf sich warten lässt.

3.19

Ebenso bedauert der EWSA die relative Unverbindlichkeit der von der Kommission gemachten Aussage, „…Die Mitgliedstaaten sollten in Zusammenarbeit mit der Kommission Informationen und bewährte Verfahren über die aufkommensneutrale Verlagerung der Steuerlast von Arbeit zu Verbrauch und/oder Umweltverschmutzung austauschen, als Beitrag zu den EU-Zielen Beschäftigungssteigerung und Umweltschutz“. Der EWSA bittet die Kommission, hier direkt aktiv zu werden, möglichst bald entsprechende Recherchen anzustellen und die entsprechenden Ergebnisse dann mit einer Bewertung und Folgenabschätzung in Form einer Mitteilung an die europäischen Institutionen weiterzuleiten.

3.20

Neben dem Abrücken von einer alten Tugend der EU, nämlich klare Ziele zu formulieren und klare Fristen zu setzen, ist dieses Ausklammern einer Diskussion über mögliche Instrumente und deren Folgen ein weiteres großes Manko der Mitteilung. Man geht damit natürlich möglichen Konflikten aus dem Weg, doch hat der EWSA mehrfach gefordert, gerade diese kritische Auseinandersetzung mit allen Prozessbeteiligten aktiv zu suchen, denn ohne sie wird der Nachhaltigkeitsprozess nicht entscheidend vorankommen.

3.21

Positiv bewertet der Ausschuss die Ankündigung, die nationalen Strategien mit der europäischen besser zu verzahnen. Dazu bedarf es aber zunächst — wie gesagt — einer wirklichen europäischen Strategie, und nicht nur eines Papiers, in dem nur längst bekannte Positionen, Absichtserklärungen und Programme gebündelt werden, die bislang nicht in der Lage waren, die negativen Trends ausreichend umzukehren.

3.22

Der Kommissionsvorlage ist zu entnehmen, dass den Folgenabschätzungen eine zentrale Bedeutung bei der Verbesserung der Kohärenz zwischen den verschiedenen Initiativen und ihren einzelnen Phasen (Konzipierung, Umsetzung usw.) eingeräumt wird. Es muss aber beachtet werden, dass sich diese Analysen nicht allein auf die verursachten Kosten stützen dürfen, sondern dass sie auch andere wirtschaftliche, soziale und umweltbezogene Vorteile (17) einbeziehen müssen. Folglich sollte ein Kriterium nach dem Vorbild der Prüfung der Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit erarbeitet werden, um sicherzustellen, dass die beiden letztgenannten Dimensionen nicht vernachlässigt werden.

3.22.1

Der Ausschuss betont erneut seine Auffassung, dass die Frage der Förderfähigkeit bei der Finanzierung von Projekten im Rahmen verschiedener Programme und Haushaltsposten vom Kriterium der nachhaltigen Entwicklung geleitet sein muss (18). Dieses sollte auch bei der Bewertung der Wirksamkeit der Ausgaben berücksichtigt werden.

Fehlen einer eindeutigen Governance

3.23

Abgesehen von den unklaren Zielsetzungen und dem Ausklammern der Diskussion um die Instrumente erkennt der EWSA einen weiteren Schwachpunkt im Papier. Die Kommission gibt nämlich keine Antwort auf die Frage nach der Verteilung der Verantwortlichkeiten. Es handelt sich um ein heikles Thema, da einige der geplanten Aktionen in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft fallen (die Handelspolitik), während andere eher zu den nationalen Zuständigkeiten gehören (Energie) oder Gegenstand eines Koordinierungsversuchs auf europäischer Ebene sind (Sozialpolitik). Darüber hinaus kommt zu dieser Vielzahl von Zuständigkeiten noch eine weitere Dimension hinzu, nämlich die globale Dimension (s. auch oben).

3.24

Der EWSA ist der Ansicht, dass einer der Gründe für das Fehlen deutlicher Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung in der Vielzahl der Strategien, Aktionspläne usw. sowie in den Veränderungen begründet liegt, denen sie entsprechend den politischen Prioritäten im Laufe der Jahre unterworfen sind. In Übereinstimmung mit den vom Europäischen Rat im Juni 2005 (19) verkündeten Leitprinzipien der nachhaltigen Entwicklung spricht sich der Ausschuss dafür aus, dass die Kommission im Hinblick auf die Maßnahmen zunächst klar festlegen muss, welche Ebene zuständig ist, und dass diese sich dann den interessierten Parteien gegenüber dazu verpflichtet, Stabilität auch über einen längeren Zeitraum hinweg sowie Kohärenz mit anderen Maßnahmen zu gewährleisten.

3.25

Im Einklang mit den in dem Weißbuch zum Thema „Regieren“ aufgeführten Grundsätzen und den in dem Weißbuch zur Kommunikationspolitik „die Kluft (zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern) überbrücken“ geäußerten Bestrebungen und infolge des beratenden Forums am 20./21. März 2006 zur nachhaltigen Entwicklung ist der Ausschuss der Auffassung, dass eine strukturierte und dauerhafte Konsultation mit den beteiligten Kreisen unverzichtbar ist, damit die Mobilisierung der Akteure vor Ort deutliche Fortschritte zeitigt und um der nachhaltigen Entwicklung konkret Gestalt zu verleihen. Daher wird er die Einrichtung einer Datenbank in Angriff nehmen, die derjenigen ähnelt, die er bereits in Bezug auf den Binnenmarkt (PRISM) unterhält. Mit dieser Datenbank sollen Hindernisse erfasst werden, denen die Akteure vor Ort begegnen, bewährte Methoden verbreitet, Informationen über die für diese innovativen Projekte zuständigen Organisationen zusammengestellt, der Bottom-up-Ansatz konkretisiert und die einschlägigen Erfahrungen und Kenntnisse ausgebaut werden, auf die sich die Kommission insbesondere bei der Erarbeitung von Richtlinienvorschlägen sowie ihren Folgenabschätzungen und Mitteilungen stützt.

3.26

Des Weiteren ist der Ausschuss der Ansicht, dass die für 2008 angekündigte Reform des Internationalen Währungsfonds den europäischen Vertretern Gelegenheit bietet, mit einer Stimme zu sprechen, um dafür zu sorgen, dass das Konzept der nachhaltigen Entwicklung zu einem der Kriterien für die Gewährung von Beihilfen wird.

3.27

Der EWSA begrüßt die Ankündigung der Kommission, den Nachhaltigkeitsprozess turnusgemäß alle 2 Jahre anhand eines Fortschrittsberichts überprüfen zu wollen und dabei sowohl den Europäischen Rat als auch das Europäische Parlament einzubeziehen und zudem den EWSA und den AdR mit ihrer Katalysatorrolle in die Gesellschaft hinein zu nutzen.

Verbindung zur modernen Industriepolitik und zur Forschung

3.28

In der jüngsten Mitteilung der Kommission zur neuen Industriepolitik (20) werden die Einsetzung einer Hochrangigen Gruppe für Wettbewerbsfähigkeit, Energie und Umwelt, Überlegungen zu externen Aspekten der Wettbewerbsfähigkeit und des Marktzugangs (Frühjahr 2006) sowie ein Management des Strukturwandels im verarbeitenden Gewerbe (Ende 2005) angekündigt. Der Ausschuss begrüßt die Einsetzung der Hochrangigen Gruppe (Februar 2006) und ihren Auftrag (21) und ist bereit, ihr ggf. in ihren Arbeiten zur Seite zu stehen. Des Weiteren hofft er, dass die von der Kommission zu einem späteren Zeitpunkt zu formulierenden Überlegungen mit dem Bestreben übereinstimmen werden, eine angemessene Nutzung der Synergien zwischen den europäischen Politiken zu gewährleisten und Trade-offs mit Blick auf das Nachhaltigkeitsziel zu bewerkstelligen.

3.29

Zwar ist der Ausschuss ein unnachgiebiger Verfechter des Ziels, 3 % des BIP für FuE bereitzustellen (hiervon sollen 2/3 aus dem Privatsektor stammen), doch müssen diese Investitionen und die hieraus resultierende Innovation seines Erachtens der Förderung nachhaltiger Entwicklung dienen. Wenn möglich sollte die Kommission mit Unterstützung von Eurostat und den diesem Amt auf Ebene der Mitgliedstaaten entsprechenden Einrichtungen in regelmäßigen Abständen einen Bericht vorlegen, in dem Bilanz über die Situation gezogen wird, um die Lissabon-Strategie und die übergreifende Strategie für nachhaltige Entwicklung miteinander in Einklang zu bringen. Die Kommission sollte ggf. in den integrierten Leitlinien Empfehlungen aussprechen, um die Kompatibilität und Synergie sicherzustellen.

4.   Anmerkungen zu einigen der im Kommissionsdokument beschriebenen Schlüsselbereichen

4.1   Zu „Klimawandel und saubere Energien“

4.1.1

Der EWSA registriert mit Erschrecken, dass die Kommission in ihrer Mitteilung fast schon resigniert eingesteht, dass der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten ist und es „nur noch“ darum geht, die Auswirkungen für die stärksten Betroffenen abzufedern.

4.1.2

Die „Leitaktionen“ in diesem Bereich sind nicht mehr als Absichtserklärungen und vorsichtige verbale Ankündigungen, sich um weitergehende Verpflichtungen und internationale Vereinbarungen zu bemühen. Das Fehlen klarer Zielsetzungen ist besonders in diesem Politikbereich umso erschreckender, als bereits heute absehbar ist, dass die derzeitigen Zielvorgaben für die Verringerung von Treibhausgasemissionen bis 2012 wohl verfehlt werden; und dies trotz der wachsenden Bedrohung und der nicht mehr zu leugnenden gravierenden Unwetterereignisse mit ihren katastrophalen menschlichen wie wirtschaftlichen Folgen.

4.1.3

Der EWSA begrüßt aber dennoch die eher allgemein gehaltenen Aussagen über die Nutzung des eigenen Potenzials der EU für mehr Effizienz und technologische Entwicklungen im Bereich erneuerbarer Energien und Energieverbrauch. Diese Zielsetzungen der Kommission werden vom EWSA unterstützt, er empfiehlt dem Rat und der Kommission aber dringend, klare und durchaus ambitiöse Zielvorgaben zu erarbeiten, die Instrumente zur Zielerreichung zu beschreiben und diese dann mit allen Beteiligten zu diskutieren.

4.1.4

So zeichnet sich derzeit ab, dass die Industrie vor einem Durchbruch stehen könnte, was CO2-freie Kohlekraftwerke angeht. Im Rahmen einer Nachhaltigkeitsstrategie kann man durchaus erwarten, dass die Frage aufgegriffen wird, welche Rahmenbedingungen (und somit Instrumente) die Politik zu setzen hat, um den Einsatz einer solchen Technologie zu befördern.

4.2   Zu „Soziale Ausgrenzung, Demografie und Migration“

4.2.1

Auch wenn der Ausschuss begrüßt, dass bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht nur bei dem niedrigen Einkommen angesetzt wird, ist er der Ansicht, dass die vorgeschlagenen Leitaktionen bei weitem nicht ausreichen. Insbesondere sollte die Kommission die Indikatoren von Laeken (22) für die Arbeitsplatzqualität (23) auf den neuesten Stand bringen und diese Dimension in den Leitlinien stärker zur Geltung bringen.

4.2.2

Die Kommission kündigt an, dass sie die Sozialpartner zu der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben konsultieren werde. Für den Fall, dass diese zwar Folgemaßnahmen für notwendig halten, es ihnen jedoch nicht gelingt, eine Vereinbarung gemäß Artikel 139 EG-Vertrag zu schließen, dann sollten sich nach dem Dafürhalten des Ausschusses die Kommission und der europäische Gesetzgeber für zuständig erklären. Diese Verfahrensweise sollte auch für die anderen anvisierten Bereiche gelten.

4.3   Zu „Management der natürlichen Ressourcen“

4.3.1

Auch im Schwerpunkt natürliche Ressourcen klingen die Leitaktionen eher unverbindlich bzw. regelrecht unglaubwürdig. So schreibt die Kommission, dass die „EU und Mitgliedstaaten ... ausreichende Mittel und Managementkapazitäten für das Natura-2000-Netz für geschützte Gebiete bereitstellen (sollten) und die Anliegen der biologischen Vielfalt besser in die internen und externen Politikbereiche integrieren, um dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegenzuwirken“. Angesichts der Finanzbeschlüsse des Europäischen Rates vom Dezember 2005, bei dem gerade Gelder in diesem Sektor gestrichen wurden, erkennt die Öffentlichkeit natürlich sofort, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in der Politik in der EU auseinander klaffen.

4.3.2

Unter den in Anhang 2 genannten „operationellen Zielen und Vorgaben“ für den Sektor „Bessere Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen“ werden lediglich bereits bekannte und beschlossene Politiken wiederholt, wie beispielsweise das 1997(!) im Weißbuch (24) veröffentlichte Ziel, bis 2010 im Energiemix einen Anteil von 12 % erneuerbaren Energien erreichen zu wollen, von dem die Kommission selbst aber in ihrer Mitteilung vom 26.5.2004 (25) ausgeht, dass sie dieses mit den gegenwärtigen Maßnahmen wohl nicht ereichen wird. Neue Maßnahmen werden aber nicht vorgeschlagen und eine Analyse, worin das vermutliche Scheitern begründet liegt, wird nicht vorgenommen.

4.3.3

Auch hier würde nach Meinung des EWSA die Nennung von ehrgeizigen und zukunftsgerichteten Zielen — wie sie beispielsweise Schweden Anfang Februar 2006 verkündet hat — der Nachhaltigkeitsstrategie mehr Furore, Aufmerksamkeit und Unterstützung einbringen, als diese vagen Absichtserklärungen, die weder neu noch aktuell erscheinen. Schweden hat sich bekanntlich zum Ziel gesetzt, langfristig sowohl fossile Brennstoffen zu ersetzen als auch aus der Atomenergie auszusteigen.

4.3.4

Darüber hinaus könnte im Bereich Energieeinsparung und -effizienz ein ebenso öffentlichkeitswirksames wie zukunftsgerichtetes und innovationsförderndes Ziel formuliert werden, nämlich dass bis beispielsweise 2020 alle Neubauten in der Europäischen Union als sogenannte „Nullenergiehäuser“ gebaut werden, d.h. Gebäude, die keinerlei zusätzlichen Energieinput mehr benötigen.

4.4   Zu „Nachhaltiger Verkehr“

4.4.1

Im Bereich des Verkehrs wird zunächst beschrieben, dass die „aktuellen Tendenzen ... nicht nachhaltig“ sind.

4.4.2

Die Kommission schreibt dann: „Die Vorteile der Mobilität lassen sich auch mit weitaus geringeren wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten erreichen. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten: Verringerung des Verkehrsbedarfs (etwa durch Änderungen in der Landnutzung, Förderung von 'Telecommuting' und Videokonferenzen), bessere Nutzung von Infrastruktur und Fahrzeugen, Wechsel des Verkehrsmittelsalso etwa Verlagerung von der Straße auf die Schiene -, Erledigung kurzer Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß, Entwicklung des öffentlichen Personenverkehrs, Einsatz sauberer Fahrzeuge und Entwicklung von Alternativen wie Biokraftstoffen und Wasserstoffantrieb“, was inhaltlich der Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig gestalten: Planung und Nachbarländer — nachhaltige Mobilität — Finanzierung“ (26) entspricht. Die Kommission stellt auch dar, dass die „Vorteile eines nachhaltigen Verkehrs vielfältig und erheblich“ sind.

4.4.3

Der EWSA begrüßt im Grundsatz Aussagen und Verweise auf win-win-Situationen. Der EWSA fragt sich allerdings, weshalb es dann immer noch, trotz all dieser Vorteile und Möglichkeiten, zu den mehrfach beschriebenen negativen Trends, z.B. im Verkehr, kommt und weshalb folglich die Kommission negative Trendentwicklungen feststellen muss.

4.4.4

Es muss Gründe dafür geben, dass Menschen und Unternehmen trotz der von der Kommission dargestellten Vorteile des nachhaltigen Verkehrs auf nicht nachhaltige Verkehrsträger setzen und diese überwiegend präferieren. Diese Beweggründe werden nicht analysiert, doch ohne eine solche Analyse können keine richtigen Gegenstrategien entwickelt werden.

4.4.5

Die Kommission benennt im Bereich des Verkehrs 3 Leitaktionen:

EU und Mitgliedstaaten sollten sich darauf konzentrieren, Alternativen zum Straßenverkehr für Güter- und Personentransport attraktiver zu machen ... (der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass sie nicht verspricht, kein Geld mehr in nicht nachhaltige Entwicklungen zu stecken).

Die Europäische Kommission wird auch weiterhin den Einsatz von Gebühren für die Infrastrukturnutzung in der EU prüfen ... (der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass sie nicht ankündigt, eine volle Anlastung der Wegekosten und der zusätzlichen externen Kosten- vorzunehmen).

Die Kommission wird ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung der Umweltfreundlichkeit von Kraftfahrzeugen (saubere und energieeffiziente Fahrzeuge) vorschlagen, ... (was der EWSA begrüßt).

4.4.6

Für den EWSA ist mehr als zweifelhaft, dass die EU mit diesen Leitaktionen die in der Nachhaltigkeitsstrategie (27) beklagte „Zunahme der Verkehrsüberlastung“ in den Griff bekommt und es so beispielsweise zu ausreichenden Verkehrsminderungen kommen kann. Die in den Leitaktionen gemachten Forderungen und Formulierungen fallen weit hinter das zurück, was in früheren Dokumenten der EU, z.B. bei den „Bürgernetzen“ oder im Weißbuch „Verkehrspolitik“ (28), formuliert wurde.

4.4.7

Weitaus attraktiver zur Vermittlung der Nachhaltigkeitsstrategie in die breite Öffentlichkeit und weitaus ehrgeiziger und zielführender wäre dagegen die Zielvorgabe wie die, z.B. bis 2020 oder 2025 zu erreichen, dass in Europa nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden. Dies würde große Anreize für Forschung und Entwicklung bewirken, technologische Innovationen beschleunigen und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Automobile erhöhen, was wiederum ebenfalls der ökonomischen Entwicklung Europas zugute käme. Darüber hinaus wäre dies ein technologischer Ansatz, der helfen könnte, dass die aufholende Verkehrsentwicklung in einigen Schwellenländern der Welt nicht zum ökologischen wie klimatischen Kollaps führt.

4.4.8

Eine solche strategische Zielsetzung im Verkehrsbereich wäre neben der Umsetzung der EWSA-Forderungen für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung (29) einer europäischen Strategie für nachhaltige Entwicklung würdig und würde die vielfach beschworenen „win-win“-Effekte Wirklichkeit werden lassen.

4.5   Zu „Globale Herausforderungen in Bezug auf Armut und Entwicklung“

4.5.1

Es muss kritisch gesehen werden, dass in der Mitteilung Forderungen, die seit Jahren von der EU erhoben werden, aber nicht umgesetzt wurden, quasi recycelt werden. Beispiel hierfür ist die Leitaktion im Bereich des 6. Schwerpunkts „Globale Herausforderung“, wonach „EU und Mitgliedstaaten .... ihr Hilfevolumen bis 2015 auf 0,7 % des BIP erhöhen (sollten), mit einem Zwischenziel von 0,56 % im Jahre 2010, differenziert in Einzelziele von 0,51 % für die EU-15 und 0,17 % für die EU-10“. Der EWSA zweifelt in keiner Weise daran, dass dies eine richtige Forderung ist (30). Er erinnert nur daran, dass die Industrienationen bereits auf der UN-Vollversammlung am 24.10.1970 — also vor über 35 Jahren!!! — versprochen haben, 0,7 % ihres BIP für die Entwicklungshilfe bereit zu stellen (womit allein allerdings natürlich nicht alle Probleme gelöst wären). Die ständige Wiederholung von Versprechungen, die nicht eingehalten werden, macht Politik nicht gerade glaubwürdiger.

4.5.2

Der Ausschuss begrüßt natürlich alle zur Bekämpfung der weltweiten Armut angekündigten Anstrengungen. Die Kommission will sich verstärkt darum bemühen, dass der internationale Handel als Instrument eingesetzt wird, um eine echte globale nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Dies ist zweifellos ein extrem wichtiger, global gesehen vielleicht sogar der entscheidende Ansatz. Das WTO-Abkommen ist eine Handelsvereinbarung, es kennt keine Nachhaltigkeitskriterien, obwohl der globale Handel entscheidende Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsentwicklungen hat. Rat und Kommission sollten deshalb diese wichtige Aussage zentral herausstellen, gleichzeitig aber auch skizzieren, wie man sich die Umsetzung vorstellt.

4.5.3

Dies ist auch deshalb wichtig, um gegenüber der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es sich nicht nur um eine Absichtserklärung handelt. Für den EWSA ist klar, dass finanzielle Unterstützungen allein die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern nicht nachhaltig zu verbessern vermögen.

Der Ausschuss ruft überdies in Erinnerung, dass bei den Schlussfolgerungen des Rates zur sozialen Dimension der Globalisierung (März 2005) das Konzept „Menschenwürdige Arbeit“ in das Zentrum des auswärtigen Handelns der EU gerückt wurde. Der Ausschuss kann nicht hinnehmen, dass die komparativen Vorteile einiger Länder auf einer Missachtung von ILO-Normen oder Umweltschutzvorschriften basieren. Bei diesen Vorschriften handelt es sich nicht etwa um einen verschleierten Protektionismus der reichen Länder; sie tragen vielmehr zur Sicherung der Menschenwürde, des sozialen Fortschritts und der Gerechtigkeit bei. Die EU sollte die Fortschritte in diesen Bereichen verfolgen und möglichst gemeinsam mit den von der ILO anerkannten Sozialpartnern der betroffenen Drittstaaten (oder dort tätiger, repräsentativer anerkannter Organisationen der Zivilgesellschaft) bewerten — und wenn eine Verschlechterung der Situation festgestellt wird, mit Handelssanktionen reagieren. Es ist schade, dass in der vorliegenden Mitteilung der Kommission hierauf nicht Bezug genommen wird.

4.6

Generell fordert der Ausschuss die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ihren Handelspartnern zu zeigen, dass die nachhaltige Entwicklung nicht als ein Kostenverursacher, sondern vielmehr als ein Faktor für Wohlstand — sowohl für deren Volkswirtschaften, die einen höheren Lebensstandard anstreben, als auch global — aufgefasst werden sollte.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2005) 658 endg.

(2)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, S. 22.

(3)  ABl. C 267 vom 27.10.2005, S. 22.

(4)  KOM(2005) 37 endg. vom 9.2.2005.

(5)  

1)

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung - Ein Aktionsprogramm (KOM(2005) 658 endg. vom 13.12.2005). (http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/com/2005/com2005_0658de01.pdf)

2)

EUROSTAT-Bericht: „Measuring progress towards a more sustainable Europe - Sustainable development indicators for the European Union - Data 1990-2005“ (Dieses Dokument liegt derzeit nur auf Englisch vor. Titel etwa: „Messung der Fortschritte auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Europa - Indikatoren für die nachhaltige Entwicklung in der Europäischen Union - Daten 1990-2005“) (13.12.2005).

3)

Europäischer Rat (16./17. Juni 2005), Schlussfolgerungen des Vorsitzes: Leitprinzipien der nachhaltigen Entwicklung. (http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/85350.pdf)

4)

Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Überprüfung der EU-Strategie der nachhaltigen Entwicklung 2005: Erste Bestandsaufnahme und künftige Leitlinien (KOM(2005) 37 endg. vom 9.2.2005). (http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/com/2005/com2005_0037de01.pdf)

5)

Anhang zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen SEK(2005) 225 - Fortschrittsbericht.

(6)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, S. 22.

(7)  ABl. C 325 vom 24.12.2002, S. 5.

(8)  http://www.cpi.cam.ac.uk/bep/downloads/CLG_pressrelease_letter.pdf

(9)  Darunter sind besonders hervorzuheben:

 

„The effects of environmental policy on European business and its competitiveness: a framework for analysis“, SEK(2004) 769 (Dieses Dokument liegt nur auf Englisch vor. Titel etwa: „Die Auswirkungen der Umweltpolitik auf europäische Unternehmen und ihre Wettbewerbsfähigkeit: Rahmen für eine Analyse“).

 

„Commission staff working document on the links between employment policies and environment policies“, SEK(2005) 1530 (Dieses Dokument liegt nur auf Englisch vor. Titel etwa: „Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen - Verbindungen zwischen Beschäftigungs- und Umweltpolitik.“).

 

„Beschäftigung, Produktivität und ihr Beitrag zum Wirtschaftswachstum“, SEK(2004) 690.

(10)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)“, ABl. C 234 vom 22.9.2005, S. 32, und Sondierungsstellungnahme zum Thema „Die Rolle der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen der nächsten Finanziellen Vorausschau“, ABl. C 267 vom 27.10.2005, S. 22.

(11)  Siehe auch die Rede von Agrarkommissarin Fischer-Boel auf der internationalen Grünen Woche am 12.1.2006.

(12)  KOM(2005) 658 endg., Anhang 2, S. 28.

(13)  Dort waren teilweise sehr weitgehende Ziele anvisiert, man sprach z.B. von langfristig notwendigen CO2-Reduktionen von 70 %, KOM(2003) 745 endg./2.

(14)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, S. 22, Ziff. 2.2.7.

(15)  Zuletzt: Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Erneuerbare Energieträger“, verabschiedet am 15. Dezember 2005, Ziff. 1.3, ABl. C 65 vom 17.03.2005, S. 105.

(16)  SEK(1999) 1942 vom 24.11.99, S. 14.

(17)  Siehe „Mitteilung der Kommission über eine einheitliche EU-Methode zur Bewertung der durch Rechtsvorschriften bedingten Verwaltungskosten“, KOM(2005) 518 endg.

(18)  Sondierungsstellungnahme zum Thema „Die Rolle der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen der nächsten Finanziellen Vorausschau“, ABl. C 267 vom 27.10.1005, S. 22.

(19)  Siehe Anhang I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005, „Erklärung über die Leitprinzipien der nachhaltigen Entwicklung“.

(20)  „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Ein politischer Rahmen zur Stärkung des Verarbeitenden Gewerbes in der EU - Auf dem Weg zu einem stärker integrierten Konzept für die Industriepolitik“, KOM(2005) 474 endg.

(21)  Siehe Pressemiteilung IP/06/226.

(22)  Intrinsische Arbeitsplatzqualität: Qualifikationen, lebenslanges Lernen und berufliche Entwicklung, Gleichstellung der Geschlechter, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Flexibilität und Sicherheit, Eingliederung und Zugang zum Arbeitsmarkt, Arbeitsorganisation und Vereinbarkeit von Arbeitsleben und Privatleben, sozialer Dialog und Arbeitnehmermitbestimmung, Diversifizierung und Nichtdiskriminierung, Gesamtarbeitsleistung,

(23)  Siehe „Die jüngsten Fortschritte in der Verbesserung der Arbeitsplatzqualität“, KOM(2003) 728 endg.

(24)  KOM(1997) 599 endg.

(25)  KOM(2004) 366 endg.

(26)  ABl. C 108 vom 30.4.2004, S. 35.

(27)  KOM(2001) 264 endg.

(28)  Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“, 2001.

(29)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Verkehrsinfrastruktur zukunftsfähig gestalten: Planung und Nachbarländer - nachhaltige Mobilität – Finanzierung“, in der u.a. auch eine Debatte über mögliche fiskalische Instrumente geführt wird. ABl C 108 vom 30.4.2004, S. 35.

(30)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Einbeziehung von Umweltbelangen und nachhaltiger Entwicklung in die Entwicklungspolitik“, ABl. C 14 vom 16.1.2001, S. 87.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und Bekämpfung von Hochwasser“

KOM(2006) 15 endg. — 2006/0005 (COD)

(2006/C 195/09)

Der Rat beschloss am 13. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatterin war Frau SÁNCHEZ MIGUEL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 141 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt es, dass die Kommission einen Entwurf für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Hochwasser vorgelegt hat, wie er sie in seiner Stellungnahme (1) zu der vorausgehenden Mitteilung gefordert hatte, und insbesondere, dass sich dieser Entwurf in die Methodik und das Instrumentarium der Wasserrahmenrichtlinie einfügt. Mit der Einfügung der Hochwasserrisikokarten und -pläne in den Flusseinzugsgebietsplan werden sämtliche Aspekte der Bewirtschaftung der kontinentalen Gewässer und der mit den Wassereinzugsgebieten zusammenhängenden Küstengebiete geregelt

1.2

Ausgangspunkt für eine wirksame Umsetzung der Richtlinie ist eine vorausschauende Bewertung der Wassereinzugs- und Küstengebiete in Form einer gründlichen Diagnose der gegenwärtigen Situation, vor allen in Gebieten mit hohem Hochwasserrisiko aufgrund der menschlichen Eingriffe und des Klimawandels.

1.3

Ferner müssen nachdrücklich vorbeugende Maßnahmen gegen die Schadensfolgen von Hochwasser gefordert werden, indem bei allen Maßnahmen die Bevölkerung mittels Informationskampagnen und Mitwirkungsmöglichkeiten angesprochen wird. Deshalb ersucht der EWSA die Kommission, besonders darauf zu achten, dass die Vorschriften, die in Artikel 14 der Wasserrahmenrichtlinie und in diesem Vorschlag für eine Richtlinie aufgestellt werden, auch in die Pläne für die Einzugsgebiete Eingang finden.

1.4

Die Hochwassermanagementpläne und -risikokarten, wie sie in dem Richtlinienvorschlag dargestellt werden, müssen weiter gefasst werden. Die Klassifizierung der Einzugsgebiete mit hohem Risiko muss sowohl prioritäre Handlungsvorschriften mit angemessener Finanzierung als auch die für eine Minimierung der Kosten anzuwendenden Kriterien bei gleichzeitiger Erhöhung des Nutzens für die Bevölkerung umfassen. Das Ergebnis muss eine nachhaltige und integrierte Entwicklung der potenziellen Hochwassergebiete sein.

1.5

Im Hinblick auf die Tätigkeiten der Gemeinschaft im Bereich der multidisziplinären Forschung und Koordination ist schließlich noch zu betonen, dass alle Politiken zugunsten der europäischen Gewässer ausgebaut werden müssen.

2.   Vorüberlegungen

2.1

Bei der Ausarbeitung der Richtlinie 2000/60/EG oder „Wasserrahmenrichtlinie“ war eine Leerstelle übrig geblieben: die Festlegung von Zielgrößen für Vermeidungs-, Schutz- und Minderungsmaßnahmen bei Hochwasser. Tatsächlich gab es auf dem Gebiet der EU in den vergangenen zehn Jahren mehr als 100 Überschwemmungen mit zahlreichen Toten und erheblichen wirtschaftlichen Schäden. Die Kommission legte eine Mitteilung (2) mit einer Analyse der Lage vor, in der sie eine konzertierte Aktion in der Europäischen Union vorschlug. Der gegenwärtige Richtlinienvorschlag ist ein Bestandteil dieser Aktion.

2.2

Sowohl in der Mitteilung als auch in dem Richtlinienvorschlag wird Nachdruck darauf gelegt, dass alle Maßnahmen der Wasserpolitik mit den übrigen vorhandenen Gemeinschaftspolitiken im Bereich der Schutz- und Minderungsmaßnahmen bei Hochwasser koordiniert werden. Die Forschungspolitik mit Vorhaben wie FLOODsite trägt zu einer Verbesserung des integrierten Analyseverfahrens und Hochwasserrisikomanagements bei; die Regionalpolitik bildet unter Anwendung der Strukturfonds, insbesondere des Europäischen Fonds für die Regionalentwicklung und der Gemeinsamen Agrarpolitik, und mit den Instrumenten der Entkopplung und Auflagenbindung (3) ein umfassendes Paket, das bessere Ergebnisse als einzelne wasserwirtschaftliche Maßnahmen ermöglicht.

2.3

Ziel des Richtlinienvorschlags ist die Minderung und das Management der Hochwasserrisiken, die Leben und Gesundheit von Menschen, ihre Vermögenswerte und auch die Natur und Umwelt gefährden. Die Einbettung dieses Vorschlags in die Wasserrahmenrichtlinie gestattet eine Vereinfachung der organisatorischen und administrativen Schritte, zumal er sich auf die vorhandenen Flussgebietseinheiten gemäß den Vorschriften der Wasserrahmenrichtlinie bezieht. Dies heißt, dass sämtliche Maßnahmen, die zur Vermeidung und Minderung der Hochwasserrisiken getroffen werden, im Rahmen der Pläne für die Wassereinzugsgebiete der einzelnen Flüsse erfolgen müssen und dass die eingesetzten Behörden in beiden Fällen dieselben sind, die lediglich diese neue Zuständigkeit erhalten. Im übrigen sei darauf hingewiesen, dass sich die Effizienz verbessern würde, wenn die Fristen für die vorgeschlagene neue Richtlinie mit denjenigen für die Wasserrahmenrichtlinie übereinstimmten.

2.4

Der EWSA ist mit dem Richtlinienvorschlag einverstanden. Bei der inhaltlichen Prüfung konnte er feststellen, dass viele seiner Bemerkungen aus seiner Stellungnahme zur Mitteilung von 2004 aufgegriffen worden waren (4). Diesbezüglich bleibt ihm also nur, die Kommission nachdrücklich zur Wahrnehmung ihrer Aufgabe zu drängen; ihre Rolle für die Umsetzung des Inhalts der Wasserrahmenrichtlinie und aller ihrer Bestimmungen für die Entwicklung sind die Gewähr für eine korrekte Anwendung der Rechtsvorschriften durch die Behörden der Mitgliedstaaten, ohne die Vorteile aus den Augen zu verlieren, die sich für Drittstaaten ergeben können, mit denen Wassereinzugsgebiete auf dem europäischen Kontinent geteilt werden.

3.   Zusammenfassung des Vorschlags

3.1

Der Richtlinienvorschlag gliedert sich in sieben Kapitel:

Kapitel I enthält allgemeine Bestimmungen, die den Gegenstand regeln und Begriffsbestimmungen für „Hochwasser“ und „Hochwasserrisiko“ umfassen; sie werden durch Bestimmungen aus Artikel 2 der Wasserrahmenrichtlinie ergänzt.

Kapitel II handelt von der vorausschauenden Bewertung des Hochwasserrisikos für die einzelnen Wassereinzugsgebiete, die gemäß Artikel 4 Absatz 2 bestimmte Mindestbedingungen erfüllen muss. Aufgrund dieser Bewertung werden die Einzugsgebiete in zwei Kategorien unterteilt: solche, für die kein potenziell signifikantes Hochwasserrisiko festgestellt wurde, und solche, die ein signifikantes Risiko aufweisen. Die Bewertung muss spätestens drei Jahre nach dem Datum des Inkrafttretens der Richtlinie abgeschlossen sein.

In Kapitel III wird die Erstellung von Hochwasserrisikokarten geregelt, die sich nicht nur auf die Einzugsgebiete von Flüssen erstrecken, sondern auch auf die Küstenabschnitte, die sich in den Flussgebietseinheiten befinden. Diese Karten werden nach der Überflutungswahrscheinlichkeit jedes geografischen Gebiets in der Weise erstellt, dass die Folgen für die Bevölkerung, die Wirtschaft der Region und die Umwelt bewertet werden können.

Die Pläne für das Hochwasserrisikomanagement werden in Artikel 9 und folgende — dies entspricht Kapitel IV — behandelt. Die Mitgliedstaaten erstellen auf der Ebene der Flussgebietseinheiten und in Einklang mit der Klassifizierung gemäß der vorausschauenden Bewertung Pläne für das Hochwasserrisikomanagement in der Form, dass die Wahrscheinlichkeit von Überschwemmungen und ihre Folgeschäden verringert wird. Sie müssen also in die Wasserwirtschaft, Bodennutzung, Raumordnung und Flächennutzung eingreifen. In keinem Fall aber darf eine Maßnahme Schäden in Nachbarstaaten nach sich ziehen.

Die Unterrichtung und Einbeziehung der Öffentlichkeit sind das Thema des Kapitels V, das die Bestimmung aus Artikel 14 der Wasserrahmenrichtlinie übernimmt, wonach die Information und Einbeziehung sowohl bei der vorausschauenden Bewertung als auch bei den Managementplänen vorzunehmen ist.

Kapitel VI handelt von dem in Artikel 21 der Wasserrahmenrichtlinie genannten Ausschuss, der die Kommission unterstützt.

Schließlich werden in Kapitel VII die Fristen für die Vorlage der Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat festgelegt (im Jahr 2018), wie auch für die Mitgliedstaaten, die der Kommission innerhalb von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten der Richtlinie die Rechtsvorschriften für deren Umsetzung mitteilen.

4.   Bemerkungen zu dem Kommissionsvorschlag

4.1

Der EWSA stellt fest, dass durch die Einfügung dieses Richtlinienvorschlags in die Methodik der Wasserrahmenrichtlinie die Einbeziehung der Pläne für das Hochwasserrisikomanagement in die Pläne für die Einzugsgebiete begünstigt wird, so dass die erforderliche Planung für Maßnahmen für jeweils das gesamte Flusseinzugsgebiet gewährleistet ist, und die Maßnahmen der verschiedenen (lokalen, staatlichen, überstaatlichen) Ebenen aufeinander abgestimmt und alle zuständigen Stellen koordiniert werden.

4.2

Ferner wird durch die Einordnung des Hochwasserrisikomanagements in die Wasserrahmenrichtlinie die Begriffsbestimmung von „Hochwasser“ als eines natürlichen und normalen Bestandteils der Fluss- und Küstengewässerdynamik eingeführt. Die Begriffsbestimmung für „Hochwasserrisiko“ erfolgt in Bezug auf die Schadensfolgen für die menschliche Gesundheit, die Umwelt und die wirtschaftlichen Tätigkeiten und folglich auch für die Wasserkörper, wie sie Gegenstand der Wasserrahmenrichtlinie sind.

4.3

Dass eine vorausschauende Bewertung des Hochwasserrisikos erfolgen müsse, war eine der wichtigsten Schlussfolgerungen aus der Stellungnahme des EWSA (5); insofern erleichtert der Richtlinienvorschlag, der inhaltlich in Artikel 4 und Artikel 5 zum Ausdruck kommt, wissenschaftlichen Kriterien entsprechende Pläne für das Hochwasserrisikomanagement. Es sei auf einige Vorschriften dafür hingewiesen:

Beschreibung von aufgetretenen Hochwasserereignissen

Beschreibung von Hochwasserprozessen und ihrer Empfindlichkeit gegenüber Veränderungen

Beschreibung von Entwicklungsplänen, die zu Änderungen der Flächennutzung, der Verteilung der Bevölkerung oder der wirtschaftlichen Tätigkeiten führen und dadurch eine Zunahme des Hochwasserrisikos bewirken würden.

4.4

Bemerkenswert ist auch die Klassifizierung der Flusseinzugs- und Küstengebiete in solche mit bzw. ohne Hochwasserrisiko. Der EWSA ist mit dem Ziel des Hochwasserrisikomanagements einverstanden, die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Auswirkungen von Hochwasserereignissen zu verringern; zu diesem Zweck sind Einteilungen der in Frage kommenden Verfahrensweisen und Maßnahmen sowie Kriterien für eine sinnvolle Auswahl für jeden einzelnen Fall erforderlich.

4.5

Der EWSA schlägt der Kommission vor, in Artikel 9 und im Anhang (Pläne für das Hochwasserrisikomanagement, Buchstabe A) folgende Grundsätze und Maßnahmen aufzunehmen:

Die Renaturierung von Fluss- und Küstengewässern durch die Wiederherstellung der Flächen und Elemente, die für die natürlichen Regulierungsmechanismen der Wassereinzugsgebiete wesentlich sind (Wiederaufforstung in Berggebieten, Schutz von Feuchtgebieten und dort angesiedelten Ökosystemen, Überwachung von Erosion und Sedimentation in Flussläufen, Programme für alternative Flächennutzung usw.);

Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung der Überschwemmungsgebiete durch

die Schätzung des wirtschaftlichen Flächennutzungspotenzials im Einklang mit natürlichen Hochwasserzyklen;

die Integration dieser Modelle in die verschiedenen Planungsbereiche, insbesondere die Raumplanung.

4.6

Für eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Maßnahmen zur Vermeidung der Hochwasserrisiken und –schäden ist in allen Mitgliedstaaten ein System der Information und Einbeziehung der Öffentlichkeit zu schaffen, wie es bereits in Artikel 14 der Wasserrahmenrichtlinie strukturiert wurde. Die Einbeziehung muss sowohl bei den Plänen für das Risikomanagement als auch bei der vorausschauenden Bewertung erfolgen.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme CESE 125/2005, ABl. C 221 vom 8. September 2005.

(2)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Hochwasserrisikomanagement, Vermeidungs-, Schutz- und Minderungsmaßnahmen. KOM(2004) 472 endg. vom 12.7.2004.

(3)  Verordnung Nr. 1698/2005 zur ländlichen Entwicklung; Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes ELER.

(4)  Stellungnahme CESE 125/2005 (siehe Fußnote 1). ABl. C 221 vom 8.9.2005.

(5)  Siehe Stellungnahme CESE 125/2005, Ziffern 3.2 und 3.3. ABl. C 221 vom 8.9.2005


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über ein Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz (Neufassung)“

KOM(2006) 29 endg. — 2006/0009 (CNS)

(2006/C 195/10)

Der Rat beschloss am 7. März 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 37 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatterin war Frau SÁNCHEZ MIGUEL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 144 Ja-Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Entscheidung des Rates über ein Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz, da darin seines Erachtens im Großen und Ganzen die Bemerkungen eingegangen sind, die er in seiner Stellungnahme zur Mitteilung über die Verbesserung des Gemeinschaftsverfahrens für den Katastrophenschutz (1) im November 2005 vorgelegt hatte.

1.2

Ferner weist der EWSA darauf hin, dass mit dem Verfahren der Neufassung, das eine Vereinfachung der Gesetzgebung der Gemeinschaft darstellt, die Kenntnis dieser Rechtsvorschrift bei den für den Zivilschutz zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten verbessert und somit ihre Umsetzung bei naturbedingten oder von Menschen verursachten Katastrophen leichter erfolgen kann.

1.3

Die bessere Funktionsweise des Verfahrens durch erweiterte Zuständigkeiten und vor allem durch vermehrte und verbesserte Hilfsmittel wird seinen Einsatz sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gemeinschaftsraumes erleichtern. Sehr wichtig ist dabei die Abstimmung dieses Verfahrens mit demjenigen der Vereinten Nationen, also dem Büro zur Koordinierung der humanitären Hilfe. Allerdings sollte sie auch mit dem Roten Kreuz und mit denjenigen NRO erfolgen, die in den betroffenen Gebieten operieren, und ferner als Koordinierungsstelle für die freiwilligen Helfer dienen, die bei der Katastrophenhilfe eine wichtige Rolle spielen.

1.4

Eine ausreichende Ausstattung dieses Verfahrens mit Haushaltsmitteln ist der entscheidende Schlüssel für sein gutes Funktionieren; dazu gehört auch eine Verbesserung der Informationspolitik, die Bereitstellung von Transportmitteln und von Mitteln für die Ausbildung von Experten usw. Der EWSA hält diese für entscheidende Faktoren und bekräftigt deshalb deren Dringlichkeit; die Kommission muss über die entsprechenden Mittel verfügen können und von den Mitgliedstaaten die Erfüllung ihrer Pflichten verlangen, damit der Katastrophenschutz seinen Aufgaben im gesamten Umfang nachkommen kann.

2.   Einleitung

2.1

Das Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz wurde im Jahre 1981 (2) gemeinsam mit dem Aktionsprogramm für den Katastrophenschutz (3) geschaffen und hat seitdem dazu beigetragen, den Einsatz und die Koordinierung des Katastrophenschutzes innerhalb und außerhalb der EU zu erleichtern. Die in diesen Jahren gesammelten Erfahrungen haben aber deutlich gemacht, dass das Verfahren verbessert werden muss, vor allem, weil sowohl der Rat als auch das Europäische Parlament seinen Einsatz auch bei den schweren Katastrophen, die innerhalb und außerhalb des Europäischen Territoriums geschahen, befürworteten.

2.2

Die Kommission legte eine Mitteilung (4) mit dem Ziel vor, dieses Verfahren zu verbessern und schlug dazu Folgendes vor:

stärkere Koordinierung des Verfahrens mit den einzelstaatlichen Katastrophenschutzverfahren und mit internationalen Organen, insbesondere mit den Vereinten Nationen;

bessere Vorbereitung der Teams, insbesondere der Module für den schnellen Einsatz, sowie die Einrichtung von Bereitschaftsteams in jedem Mitgliedstaat, die für den Einsatz innerhalb und außerhalb der EU zur Verfügung stehen;

Bedarfsanalyse und -evaluierung bei jeder Katastrophe mit Hilfe eines Frühwarnsystems, das sich auf die Hilfsmittel des gemeinsamen Kommunikations- und Informationssystems für den Katastrophenfall (CECIS) stützt;

Stärkung der logistischen Grundlage.

2.3

Der EWSA gab zu der genannten Mitteilung eine Stellungnahme (5) ab, in der er die Verbesserungsvorschläge begrüßte, wenngleich er der Meinung war, dass angesichts der vor allem bei den letzten Katastropheneinsätzen in Asien gesammelten Erfahrungen einige Maßnahmen noch abgeändert werden sollten. In der Reihenfolge der erwähnten Stellungnahme hatte der EWSA der Kommission zugunsten einer besseren Arbeitsweise des Verfahrens die folgenden Aspekte zur Erörterung vorgelegt:

Ausbau des CECIS-Systems durch ein System von Satelliten, mit dessen Hilfe Katastrophen schneller erkannt und folglich die erforderlichen Daten für einen besseren Einsatz der Mittel und Hilfskräfte beschafft werden könnten;

Fremdsprachenerwerb ist als notwendiger Bestandteil der Ausbildung der Einsatzteams zu berücksichtigen. Ferner ist ein System der sichtbaren Kennzeichnung der Personen nötig, die bei Katastrophen für die EU im Einsatz sind;

Mindestanforderungen an die Handlungsmittel, die, durch das Verfahren koordiniert, ihrerseits mit der UNO abzustimmen wären. Zu diesem Zweck hält der EWSA die Einrichtung einer zentralen technischen Stelle für nötig, die rund um die Uhr besetzt und mit genügend Haushaltsmitteln ausgestattet ist, um ihren optimalen Einsatz zu ermöglichen;

Im Rahmen des Verfahrens Verwendung eigener Einsatzmittel, sowohl für die Kommunikation als auch für Transportkapazitäten.

3.   Bemerkungen zu dem Kommissionsvorschlag

3.1

Die vorliegende Entscheidung des Rates, in die sowohl die frühere Entscheidung vom 23. Oktober 2001 als auch die erwähnte Mitteilung eingeflossen sind, steht im Einklang mit dem Programm der Kommission zur Vereinfachung von Rechtsakten. Die hier angewandte Methode der Neufassung fördert die Umsetzung der Entscheidung sowohl in Bezug auf das Verfahren selbst als auch bei den für den Katastrophenschutz zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Ferner wurde die Entscheidung inhaltlich erheblich verbessert, und zwar hinsichtlich der Funktionsweise des gemeinschaftlichen Verfahrens des Katastrophenschutzes als auch bezüglich der Ausstattung mit den Hilfsmitteln, die seinen Einsatz möglich machen.

3.2

Der EWSA begrüßt diese Initiative, mit der die Funktionsweise der gemeinschaftlichen Stelle präzisiert wird, die bei Katastrophenfällen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft die Hilfseinsätze koordinieren soll, insbesondere, indem ihr Einsatzbereich erweitert wird, nämlich einerseits auf von Menschen verursachte Katastrophen wie etwa terroristische Anschläge, und andererseits auf die Meeresverschmutzung durch Unfälle.

3.3

Noch wichtiger erscheint dem EWSA die Aufnahme einiger Verbesserungen in das Verfahren, die er in seiner Stellungnahme aus dem Jahre 2005 gefordert hatte. So sei auf Artikel 2 hingewiesen, in den nun auch verfügbare militärische Mittel und Kapazitäten zur Unterstützung aufgeführt werden, die in vielen Fällen als unerlässlich für rasche und wirksame Aktionen erachtet werden. Ferner wird neben einer anderen Forderung des EWSA, nämlich nach Vorkehrungen für die Beförderung, auch die Logistik und sonstige Unterstützung auf Gemeinschaftsebene aufgeführt.

3.4

Der EWSA wiederholt seine Zustimmung zu den Einsatzmodulen, die in koordinierter Form im Rahmen des Verfahrens von den Mitgliedstaaten ausgestattet werden und in ständigem Kontakt mit dem CECIS-System stehen, damit über ein Frühwarnsystem ein Einsatz mit geeigneten Mitteln, u.a. auch zusätzlichen Beförderungsmitteln, möglich ist.

3.5

Es wurde eine Änderung vorgenommen, die in der Mitteilung nicht vorgesehen war und sich auf Einsätze außerhalb der Gemeinschaft bezieht. Demnach soll derjenige Mitgliedstaat, der den EU-Ratsvorsitz innehat, die Kontakte zu dem betroffenen Staat herstellen, sobald das CECIS-System die entsprechenden Informationen erhält; die EU-Kommission stellt das Team für die operative Koordinierung auf, das sich seinerseits mit der UNO abstimmt. Der EWSA hält es für wichtig, in das Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz die höchste Vertretung der EU einzubeziehen und fordert deshalb das Tätigwerden des für die Außenbeziehungen der EU zuständigen höchsten Repräsentanten, aber er hält das schließlich vorgeschlagene System nicht für völlig einsatzfähig.

3.6

Es sei nachdrücklich auf den neuen Artikel 10 hingewiesen, in dem das Gemeinschaftsverfahren als ergänzende Maßnahme für die Katastrophenschutzstellen in den Mitgliedstaaten festgelegt wird, indem es jene mit Beförderungsmitteln und der Mobilisierung der Module und der am Katastrophenort tätigen Einsatzteams unterstützt.

3.7

Schließlich wird in Artikel 13 die Zuständigkeit der Kommission für die Durchführung aller Maßnahmen festgelegt, die in dieser Entscheidung vorgesehen sind, insbesondere die Verfügung über die Ressourcen für die Hilfseinsätze, für das CECIS-System, für die Expertenteams und deren Ausbildung und für alle anderen Formen zusätzlicher Unterstützung. Der EWSA begrüßt es, dass auf die Frage der Verfügung über Ressourcen eingegangen wurde, ist aber der Meinung, dass diese auch beziffert werden müssten, damit alle zugewiesenen Zuständigkeiten auch wirklich wahrgenommen werden können.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme CESE 1491/2005 vom 14. Dezember 2005; ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 41.

(2)  Entscheidung 2001/792/EG, Euratom.

(3)  Entscheidung des Rates 1999/847/EG, Euratom vom 9. Dezember 1999.

(4)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Thema: KOM(2005) 137 endg.

(5)  siehe Fußnote 1.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Grünbuch Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern — Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“

KOM(2005) 484 endg.

(2006/C 195/11)

Die Kommission beschloss am 14. Oktober 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Grünbuch ‚Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern — Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union‘“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr BEDOSSA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 142 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

Es handelt sich um eine klare Aussage zur Bedeutung der psychischen Gesundheit in Europa. Es ist eine Strategie erforderlich, die

mehrere Teilbereiche umfasst:

Verbesserung der Gesundheitsinformation,

schnelleres Reagieren auf Bedrohungen der Gesundheit,

Abbau der Ungleichheiten im Gesundheitsbereich,

Gewährleistung eines hohen Sozialschutz- und guten Gesundheitsniveaus durch eine sektorenübergreifende Gesundheitsstrategie;

Ziele festlegt:

generelle Förderung der psychischen Gesundheit,

hoher Stellenwert der Prävention,

Verbesserung der Lebensqualität kranker Menschen,

Entwicklung eines einschlägigen Informationssystems und Forschungsprogramms für die Europäische Union;

zu Empfehlungen führt:

Pilotprojekt zur Schaffung regionaler Informationsnetze aller Akteure,

Förderung der Deinstitutionalisierung im Interesse einer besseren Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel;

und für die Förderung der sozialen Integration und den Schutz der Rechte psychisch kranker Menschen in die Festlegung einer beispielhaften Vorgehensweise (Best Practice) mündet (wobei sich die EU-Grundrechteagentur dieser Fragen annehmen sollte).

Für die gewachsene Bedeutung der psychischen Gesundheit sind mehrere Faktoren verantwortlich:

das Massenphänomen einer Nachfrageexplosion und ein Paradigmenwechsel von der Psychiatrie zur psychischen Gesundheit,

die Rolle der Nutzer und/oder ihrer Vertreter als unumkehrbare Entwicklung mit Wechselwirkungen auf alle Politikbereiche,

das Ungleichgewicht zwischen stationärem und ambulantem Bereich und die Flexibilitätsprobleme im Gesundheitswesen insgesamt, von der Notfallmedizin bis zur Sozialmedizin.

2.   Problemdarstellung

2.1

Psychische Störungen zählen weltweit zu den wichtigsten Ursachen für Erwerbsunfähigkeit, und die sozioökonomischen Folgen für die einzelnen Personen, die Familien und den Staat sind verheerend.

2.2

Menschen, die an psychischen Störungen leiden, werden häufig diskriminiert oder ausgeschlossen und erheblich in ihren Grundrechten verletzt.

2.3

Es besteht eine Wechselwirkung zwischen psychischer Gesundheit und Armut: Armut erhöht die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen und verschlechtert den Zugang zu unverzichtbaren Behandlungsmaßnahmen. Daher müssen die Länder die Probleme der psychischen Gesundheit zu einem der wichtigsten Anliegen ihrer Gesundheitspolitik machen.

2.4

Die psychische Gesundheit stellt jedoch häufig keine gesundheitspolitische Priorität dar, zum Teil auch deshalb nicht, weil man nicht in allen Ländern in der Lage ist, eine umfassende und effiziente psychiatrische Versorgung anzubieten.

2.5

Das Gemeinschaftsinstrument zur Förderung der psychischen Gesundheit ist Teil des Aktionsprogramms der Europäischen Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit 2003-2008, das sich auf Artikel 152 des Vertrags stützt. Bei den Maßnahmen in diesem Bereich ist jedoch zu beachten, dass für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung die Mitgliedstaaten zuständig sind.

2.6

Das Grünbuch der Kommission zielt darauf ab, im Rahmen des europäischen Aktionsplans auf der Ebene der EU eine breit angelegte Debatte über einen besseren Umgang mit psychischen Erkrankungen und die Förderung des psychischen Wohlbefindens zu führen. Dafür gibt es folgende Gründe:

Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit; diese ist wichtig für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Für den einzelnen Menschen ist die psychische Gesundheit eine Voraussetzung dafür, dass er sich entfalten und seine Rolle in der Gesellschaft, in der Schule und im Arbeitsleben finden und erfüllen kann. Für die Europäische Union, die eine Wissensgesellschaft werden will, ist die psychische Gesundheit eine wichtige Quelle des sozialen Zusammenhalts.

Die Belastung durch psychische Erkrankungen ist sehr groß; im Grunde hat jeder in seinem Familien- oder Freundeskreis eine Person, die an einer solchen Erkrankung leidet. Psychische Erkrankungen beeinträchtigen die Lebensqualität der Kranken und ihrer Familien und sind eine wichtige Ursache für Erwerbsunfähigkeit.

Die sozialen und volkswirtschaftlichen Kosten psychischer Erkrankungen sind enorm. Diese Erkrankungen verursachen erhebliche Kosten und belasten das Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssystem sowie das Strafverfolgungs- und Justizsystem. Beispiele aus bestimmten Ländern zeigen, dass psychische Erkrankungen eine der wichtigsten Ursachen für das Fehlen am Arbeitsplatz, die Frühverrentung und die Invalidisierung sind.

Nach wie vor kommt es zu sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch kranker Menschen und zur Missachtung ihrer Menschenrechte und Menschenwürde. Dies führt zu einer Untergrabung des Vertrauens in die Gesellschaft und somit zu einer Erosion des „sozialen Kapitals der Europäischen Union“.

2.7

Im Anschluss an die der psychischen Gesundheit gewidmete Europäische Ministerielle WHO-Konferenz im Januar 2005 hat die Europäische Kommission als Mitveranstalterin der Konferenz (zusammen mit der WHO) im Oktober 2005 ein Grünbuch mit dem Titel „Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern — Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“ veröffentlicht, das auf dem Konzept der öffentlichen Gesundheit im Sinne von Artikel 152 des EG-Vertrags beruht, und eine europaweite Konsultation zum Thema psychische Gesundheit auf den Weg gebracht.

2.8

Das klar formulierte Ziel besteht in der Verbesserung der psychischen Gesundheit der europäischen Bevölkerung im Rahmen einer Strategie, die über den Bereich der Gesundheit hinaus auf die „Rückkehr“ zu langfristigem Wohlstand sowie zu mehr Solidarität, mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Lebensqualität abzielt.

2.9

Dieses Grünbuch soll eine Debatte anstoßen und 2006 zu einem Konsultationsprozess mit den Regierungen, Angehörigen der Gesundheitsberufe und Patientenorganisationen führen, damit bis Ende 2006 in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallende Vorschläge gemacht werden können, die die Strategie der EU im Bereich psychische Gesundheit darstellen.

3.   Die Analyse und die Vorschläge des Grünbuchs

3.1   Eine klare Aussage zur Bedeutung der psychischen Gesundheit für Europa

3.1.1

Im Verlauf eines Jahres leiden Schätzungen zufolge ca. 27 % der erwachsenen Europäer in irgendeiner Weise unter psychischen Störungen, davon 6,3 % unter somatoformen Störungen, 6,1 % unter Depressionen und 6,1 % unter Phobien.

3.1.2

In der Europäischen Union übertrifft die Zahl der Selbstmorde die Zahl der Todesfälle durch Straßenverkehrsunfälle oder HIV/AIDS.

3.1.3

Die Folgen für das Gemeinwesen sind vielfacher Natur. Im Bericht wird daher eine finanzielle Bewertung des Produktivitätsverlusts und der Kosten für das Sozial- und Bildungssystem sowie das Strafverfolgungs- und Justizsystem vorgeschlagen.

3.1.4

Sowohl zwischen als auch innerhalb von Mitgliedstaaten bestehen erhebliche Diskrepanzen.

3.2   Der Nutzen einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit auf der Ebene der Gemeinschaft

3.2.1

Das derzeitige Aktionsprogramm der Europäischen Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit umfasst bereits mehrere Teilbereiche:

Verbesserung der Gesundheitsinformation,

schnelleres Reagieren auf Bedrohungen der Gesundheit,

Gewährleistung eines hohen Sozialschutz- und guten Gesundheitsniveaus durch eine sektorenübergreifende Gesundheitsstrategie,

Abbau der Ungleichheiten im Gesundheitsbereich.

3.2.2

Eine Gemeinschaftsstrategie auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit könnte auf folgende Ziele ausgerichtet sein:

generelle Förderung der psychischen Gesundheit,

Prävention psychischer Erkrankungen,

Verbesserung der Lebensqualität psychisch kranker Menschen durch soziale Integration sowie den Schutz ihrer Rechte und ihrer Menschenwürde,

Entwicklung eines einschlägigen Informations-, Forschungs- und Wissenssystems für die Europäische Union.

3.2.3

Mögliche Initiativen auf Gemeinschaftsebene wären Empfehlungen des Rates zur Bekämpfung von Depressionen und suizidalem Verhalten, gestützt auf ein Pilotprogramm zur Schaffung regionaler Informationsnetze, an denen der Gesundheitssektor, Patienten und deren Angehörige sowie Multiplikatoren mitwirken und mit dem es gelungen ist, die Zahl versuchter Selbstmorde bei jungen Menschen um 25 % abzusenken.

3.2.4

Im Rahmen ihrer Bemühungen um eine bessere Integration psychisch kranker Menschen in die Gesellschaft ruft die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten auf, die psychiatrische Versorgung beschleunigt zu deinstitutionalisieren. Sie hat in den vergangenen Jahren eine Studie finanziert, die bestätigt, dass der Übergang von großen Anstalten zur gemeindenahen Versorgung den Kranken eine bessere Lebensqualität gewährleistet. Im Juni 2005 wurde eine neue Studie ausgeschrieben; diese wird prüfen, auf welche Weise die zur Verfügung stehenden Finanzmittel am besten eingesetzt werden können, und sie wird Aufschluss über die Kosten der Deinstitutionalisierung geben.

3.2.5

Weitere mögliche Initiativen auf Gemeinschaftsebene:

Die Europäische Union könnte für die Förderung der sozialen Integration und den Schutz der Rechte psychisch kranker Menschen eine beispielhafte Vorgehensweise (Best Practice) ableiten.

Die Belange der psychisch kranken Menschen und die Situation in psychiatrischen Einrichtungen müssten durch die Grund- und Menschenrechte der im Entwurf für eine Verfassung für Europa enthaltenen Charta garantiert werden.

3.2.6

Über die psychische Gesundheit soll in der Europäischen Union durch die Förderung von Forschungsprogrammen und die Einrichtung von Schnittstellen zwischen Politik und Forschung bessere Kenntnis erlangt werden.

4.   Standpunkt zu den Vorschlägen

4.1   Für die gewachsene Bedeutung der psychischen Gesundheit sind mehrere Faktoren verantwortlich

4.1.1

Die letzten Jahre waren von mehreren Entwicklungen geprägt: vom Massenphänomen einer explodierenden Nachfrage, von einem Paradigmenwechsel von der Psychiatrie zur psychischen Gesundheit und dem unumkehrbaren Trend, dass jetzt auch die Nutzer und ihre Familienvertreter ein Mitspracherecht haben wollen. Jeder dieser Faktoren hat in den einzelnen Ländern mehr oder weniger rasch zu Änderungen von Rechtsvorschriften oder Regelungen geführt, die einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Berücksichtigung durch Politik und Verwaltung entsprechen.

4.1.2

Die die Kapazität voll auslastende massive Nachfrage ist das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen geänderten Vorstellungen von psychischen Störungen und Psychiatrie in der Gesellschaft (sie werden allgemein hingenommen bzw. weniger stigmatisiert) und einem geänderten Angebot. Dieser Vorgang wurde in allen entwickelten Ländern gleichzeitig beobachtet und schlägt sich in epidemiologischen Studien nieder: Jährlich sind 15 % bis 20 % der gesamten Bevölkerung von einer diagnostizierbaren psychischen Störung betroffen; Erwerbsunfähigkeit ist zu 12 % bis 15 % auf psychische Erkrankungen zurückzuführen; diese sind ebenso häufig wie Herzkreislauf- und doppelt so häufig wie Krebserkrankungen; sie machen 30 % aller durch verhinderbare Mortalität oder Erwerbsunfähigkeit verlorenen Lebensjahre aus (Quelle: WHO, 2004). Dieser Druck spiegelt sich auch in der Planung des Gesundheitswesens wider, indem der Psychiatrie im Laufe der Jahre immer mehr Aufgaben übertragen wurden.

4.1.3

Das Zusammenwirken von massiver Nachfrage und geänderten Vorstellungen hat den ambulanten Charakter der Nachfrage verstärkt, was dazu führte, dass die klassische Dichotomie von Krankheit und Gesundheit über die stärker ausgeprägte Erfahrung eines Kontinuums zwischen verschiedenen klinischen Zuständen bis hin zum psychischen Leiden aufgebrochen wurde. Eine Grenzziehung zwischen den beobachteten Störungen und dem sozialen Kontext, in dem sie auftraten, wurde dadurch unmöglich, so dass bei der Bedarfsermittlung auch die sozialen Auswirkungen der Störungen berücksichtigt werden mussten. Die Aufgabe der Psychiatrie besteht zu einem guten Teil darin, zu diagnostizieren, was psychiatrisch ist und was nicht — bzw. was ausreichend psychiatrisch ist, um eine Intervention dieser Disziplin erforderlich zu machen, ohne alles darauf zu reduzieren, um eine gemeinsame Last zusammen mit anderen Partnern zu tragen oder um ihnen zu helfen, wieder Hauptakteure der Hilfe oder Therapie zu werden. Die dialektischen, manchmal konflikthaften Spannungen zwischen dem Klinischen, dem Ethischen und dem Organisatorischen reflektieren diesen Paradigmenwechsel „Psychiatrie versus psychische Gesundheit“ und einen manchmal widersprüchlichen Sprachgebrauch selbst in amtlichen Dokumenten. In der internationalen Fachliteratur wirft dagegen die Unterscheidung zwischen „psychiatry“ und „mental health“ kaum Probleme auf.

4.1.4

Und schließlich ist die zunehmende Macht der Nutzer und der Vertreter der Angehörigen zu nennen. Sie ist Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung in Frankreich wie in der ganzen Welt, die nicht auf die Psychiatrie beschränkt ist und durch Krankheiten wie AIDS, durch die sich das Verhältnis Arzt-Patient stark verändert hat, verstärkt wurde. Das zeigt sich besonders deutlich an der Gesetzgebung über die Rechte der Patienten und an der Tatsache, dass in den Verwaltungsunterlagen bezüglich der Psychiatrie bei der Organisation der Dienstleistungen und der Antwort auf die Bedürfnisse sowie deren konkreten Anwendungen auf die Nutzer und ihre Familienangehörigen verwiesen wird.

4.1.5

Der gleiche Trend ist bei den Vertretern der Bevölkerung und aller potenziellen Nutzer zu beobachten. Politik, Stadtpolitik und psychische Gesundheit treten immer mehr in Interaktion. Die Abgeordneten sind immer mehr beteiligt an den Auswirkungen der Entwicklung der Psychiatrie, die immer weniger ohne sie stattfindet.

4.1.6

Diese Entwicklung hat das Ungleichgewicht zwischen stationärem und ambulantem Bereich und die Flexibilitätsprobleme im Gesundheitswesen insgesamt, von der Notfallmedizin bis zur Sozialmedizin, extrem akut werden lassen. Sie hat ferner das häufige Scheitern der Deinstitutionalisierungsbemühungen und die fehlgeschlagene Integration der Psychiatrie in das Allgemeinkrankenhaus verdeutlicht. Da die Grenzen zwischen Medizin und sozialer Betreuung, zwischen den Berufsbildern und Bildungsgängen durchlässig sind, ist die berufliche Erstausbildung der Fachkräfte und ihre Fortbildung zur Übernahme neuer Aufgaben ein Schlüssel zur Zukunft. Über diesen Wandel hinaus sind neue Probleme aufgetaucht wie das der psychisch Kranken im Strafvollzug, das der älteren Menschen mit neurodegenerativen Krankheitsbildern, die sich als psychische Behinderungen auswirken, und dasjenige der besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen.

4.1.7

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es eine hohe Sensibilität für die Menschenrechte und gegenüber jeder Art von Konzentration, und die Einlieferung psychisch Erkrankter in Institutionen, wie sie zur damaligen Zeit üblich war, wurde in kritischem Licht gesehen. Zusammen mit der Entwicklung der Psychotropika, dem Entstehen von Verbraucher- und Nutzerbewegungen und den sich verschärfenden Haushaltsproblemen hat dies in den meisten entwickelten Ländern zu einem Prozess der Deinstitutionalisierung geführt. In der Fachliteratur bezeichnet dieses aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Wort den Übergang zu Formen der psychiatrischen Betreuung, die dem Patienten die Möglichkeit geben, in seiner vertrauten Umgebung zu bleiben statt stationär versorgt zu werden.

4.1.8

Zudem waren immer wieder Klippen zu umschiffen, weil es bei der Deinstitutionalisierung hauptsächlich um die Dehospitalisation ging, um die Judikalisierung, d.h. die in der Gesellschaft und der Psychiatrie bestehende Tendenz, dass eine große Zahl psychisch Kranker dem Strafvollzug überantwortet wird oder dort verbleibt; das Problem umherirrender Patienten in marginalen oder prekären Situationen, die keine Behandlung, keine Unterbringung und keine Sozialleistungen mehr erhalten und zu Obdachlosen werden; das so genannte Drehtürsyndrom („revolving door system“), d.h. es gibt eine gewisse Zahl von Menschen, die, kaum aus dem Krankenhaus entlassen, wieder eingeliefert werden, und dies immer wieder, in einem nicht enden wollenden Kreislauf. All diese Erscheinungen und die massenhafte Nachfrage führten im Laufe der Zeit, auch bedingt durch Budgetkürzungen, zu überfüllten Notaufnahmen und überbelegten Krankenhäusern, so dass — eine sicher vermeidbare Entwicklung — weitere Vollzeitbetten geschaffen wurden, manchmal auch unter dem Druck schlimmer Vorkommnisse (psychisch kranke Täter oder Opfer). Die öffentliche Meinung konnte also Einfluss auf die Politik nehmen und auf Lösungen drängen, die die Sicherheit betrafen oder im Gegenteil an der psychischen Gesundheit ansetzten.

4.2   Die Information und die Medien

Wenn die Medien über seelische Leiden berichten, so meist im Zusammenhang mit Impulshandlungen psychisch kranker Menschen (obschon solche bei diesen nicht häufiger vorkommen als bei der allgemeinen Bevölkerung). Diese Art der Berichterstattung führt zu einem verkrampften Sicherheitsdenken und einem negativen Image der psychisch kranken Menschen und somit zu noch mehr Intoleranz und Ablehnung. Die kontinuierliche Information im Bereich der psychischen Gesundheit darf nicht länger das Stiefkind der Gesundheitsinformation sein — wir müssen die schlimmen Folgen verhindern und die Allgemeinheit über die Medien und die Journalisten sensibilisieren.

4.3   Bedingungen für eine gemeinsame Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit und Bestandteile einer solchen Strategie

4.3.1

Der Ausschuss unterstützt die Initiative der Kommission zur Entwicklung einer integrierten europäischen Strategie für die psychische Gesundheit. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Diskussion über die Erforschung, Identifizierung und Entwicklung dieser Strategie im Rahmen der Wissensgesellschaft stattfinden muss. Dies bedeutet unter anderem, dass die europäische Gesellschaft:

eine klare Auffassung von den mit der psychischen Gesundheit einhergehenden Konzepten und ihrem Inhalt benötigt,

eine genaue Vorstellung vom Umfang und von der Dynamik des Problems in seiner gegenwärtigen Form erlangen muss,

wesentlich stärker in die Ausgestaltung von Bedingungen für die Entwicklung integrierter Lösungsentscheidungen eingebunden werden muss.

4.3.2

Daher verlangt der enorme Bedarf ein anspruchsvolles Programm und die Festlegung einer gemeinsamen Strategie, die auf allgemeingültigen Grundsätzen beruht. Dabei muss betont werden, dass es eine starke Mobilisierung für die weniger großen Gesundheitsprobleme gibt. Außerdem ist offenbar die Lage, was die psychische Gesundheit betrifft, je nach EU-Land unterschiedlich. Außerdem dürfte sich aufgrund des Rückstaus in den Ländern, die der Gemeinschaft erst später beitreten werden, die Gesamtlage in Zukunft noch verschlechtern.

Einige Bedingungen dürften jetzt schon klar sein.

4.3.3

Zunächst setzt eine gemeinsame Strategie ein gemeinsames Verständnis bestimmter Begrifflichkeiten voraus. Dies gilt etwa für Konzepte wie „psychisch krank“ oder „geistig behinderter Mensch“.

4.3.4

Um die notwendigen Maßnahmen ergreifen zu können, muss die psychische Gesundheit den Erfordernissen entsprechend als Priorität anerkannt werden.

4.3.5

Darüber hinaus muss eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Bedarfs wie auch der gegenwärtig angebotenen Lösungen gemacht werden.

4.3.6

Den im Grünbuch enthaltenen Vorschlägen bezüglich der durchzuführenden Aktionen kann nur zugestimmt werden. Bei den Aktionen zur Förderung der psychischen Gesundheit muss es vor allem um Kinder und Jugendliche, Erwerbstätige und ältere Menschen gehen.

4.4   Die Förderung der psychischen Gesundheit für und durch die Bürger

4.4.1

Bei der Förderung der psychischen Gesundheit geht es darum, wie wohl oder unwohl sich der Einzelne in seinem Familien- und Freundeskreis und seinem Lebensumfeld sowie in einer gegebenen Gesellschaft fühlt. Dazu gehören Maßnahmen in mehreren Bereichen:

Maßnahmen zur Bekämpfung psychischer Erkrankungen (Prävention, Behandlung und Wiedereingliederung),

zielgruppenorientierte Präventionsmaßnahmen,

Maßnahmen zur Linderung des Leidens bestimmter Teile der Bevölkerung,

positive Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit, durch die es möglich ist, schädliche Verhaltensweisen bei einzelnen Menschen, bei Gruppen und in der Gesellschaft zu ändern.

4.4.2

Unter diesem Gesichtspunkt muss der Schwerpunkt je nach Gebiet auf der Prävention in ihren drei Komponenten (Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention) liegen. Die Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit und der Unterrichtung der Öffentlichkeit über den Erwerb und die Beibehaltung gesunder Lebensgewohnheiten und zur Schaffung von Rahmenbedingungen, die der Entfaltung der Persönlichkeit förderlich sind, müssen weiterentwickelt werden. Dasselbe gilt für die Prävention, die das Auftreten psychischer Störungen eindämmen soll, indem Einfluss auf die Risikofaktoren und krank machenden Situationen genommen wird, wie beispielsweise:

frühzeitiges Eingreifen bei Müttern mit Säuglingen, die das Bild einer Depression aufweisen oder über ein Gefühl von Nichterfüllung klagen,

gezieltes Eingreifen bei Kindern in Situationen des schulischen Versagens,

Information und Unterstützung von Familien, die mit psychischen Erkrankungen konfrontiert sind,

Untersuchung der Risikofaktoren oder der Faktoren, die mit Manifestationen des Leidens oder der Krankheit verbunden sind, in Abhängigkeit der Herkunftskultur,

Einrichtung einer Liaisonpsychiatrie, die eine umfassendere Herangehensweise an die psychiatrisch-somatischen Pathologien und eine aktive und passive Einbindung der Familie (Erlernen von Lebensstrategien und Methoden zur Unterstützung von Kranken sowie gegebenenfalls Finanzhilfen) ermöglicht, wobei die psychologische Betreuung der Gabe von Psychotropika ohne begleitende Unterstützung vorzuziehen ist.

4.4.3

Natürlich ist die Antwort auf den Bedarf bei Kindern und Jugendlichen eine Priorität. Die Nachfrage kommt nicht allein aus den Familien und wird auch nicht ausschließlich von diesen getragen. Sie kommt aus Einrichtungen des Bildungs-, Justiz- oder Sozialsystems, von der Polizei oder der Gemeinde für immer jüngere Kinder in immer extremeren Situationen, für Familien mit Mehrfachproblemen. Der gesellschaftliche Wandel trifft vor allem die Familien und die Kinder.

4.4.4

Eine koordinierte, kohärente Organisation müsste einen Korb mit koordinierten und strukturierten Leistungen anbieten, die sich um drei Grundprogramme oder Module gliedern:

einem für Kleinkinder und ihre Familien und die dieser Altersgruppe entsprechenden Partner aus dem Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Justizbereich,

einem für Schulkinder, ihre Familien und Partner,

einem für Jugendliche, ihre Familien und Partner.

4.4.5

Jedes Modul müsste neben der ambulanten Versorgung am Ort der Konsultation auch intensivere institutionelle Versorgungsformen in Abhängigkeit vom Alter, eine Behandlung für akute Ereignisse und eine Langzeitversorgung beinhalten. Dabei würde die Liaisonpsychiatrie, die die Reaktivität und Mobilität der Module sicherstellt, an der Früherkennung, an der Krisenprävention und an der ambulanten Unterstützung der Familien und Partner beteiligt sein.

4.4.6

Zu diesen Grundmodulen müssten spezielle Programme für Risikogruppen oder Problemsituationen, die für eine Primär- oder auch Sekundärprävention sprechen, hinzukommen: Früherkennung von Entwicklungsstörungen, bestimmten Krankheitsbildern bei Kleinkindern, frühen elterlichen Dysfunktionen, auf sich gestellte junge Mütter, Familien mit Mehrfachproblemen, Abhängigkeitsstörungen im Jugendalter usw. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei — aufgrund des extremen und kumulativen Charakters der Situationen — denjenigen Einrichtungen im Sozial-, Bildungs- und Justizbereich (Prävention und Strafvollzug), die in der Lage sind, schwere Sozialfälle aufzunehmen, die außerdem psychische Störungen aufweisen bzw. zu entwickeln drohen.

4.5   Die Beziehungen zwischen Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gesundheit

4.5.1

Die Verbesserung der Arbeits- bzw. Nichtarbeitsbedingungen (Arbeitslosigkeit) muss wegen ihrer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit gefördert werden. Das Thema Arbeit und psychische Gesundheit betrifft den Wert, der der Arbeit beigemessen wird, und die Kosten, die mit dem Faktor Arbeit verbunden sind, die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, die Erwerbsunfähigkeit.

4.5.2

Ebenso wichtig für die psychische Gesundheit sind die Antworten, die auf soziale Ausgrenzung gegeben werden müssen.

4.5.3

Und schließlich verlangt auch die Bevölkerungsalterung geeignete Antworten. Wenn sich 20 % der älteren Menschen darüber freuen können, dass sie — im WHO-Jargon — „erfolgreich altern“, so heißt das, dass 80 % leiden müssen (Krankheiten, Autonomieverlust). Psychische Krankheiten verschwinden mit fortschreitendem Alter nicht, ganz im Gegenteil. Demenzerkrankungen, die bis zum Alter von 60 Jahren so gut wie gar nicht vorkommen (1 %), treten ab dem 85. Lebensjahr häufig auf (30 %), und diese Menschen weisen in 70 % der Fälle Verhaltensauffälligkeiten auf.

4.6   Asylbewerber

4.6.1

Die Frage der psychischen Gesundheit stellt sich auch bei der Betreuung von Asylbewerbern, und zwar zum einen beim Aufnahmeverfahren (Aufnahmeort und Lebensbedingungen), und zum andern bei der Dimension der eigenen Lebenswirklichkeit, wozu die Geschichte einer Person und ihr psychischer Zustand gehören. Der Schweregrad der erlittenen Traumata, die oftmals absichtlich und mit extremer Grausamkeit verübt wurden und eine kollektive Dimension haben, zeugt von einer Situation organisierter Gewalt. In dieser Bevölkerungsgruppe werden die posttraumatischen Störungen häufig durch vielfache Trauer und ein sehr schmerzhaftes Exilerleben verschlimmert.

4.7   Die Problematik der psychischen Gesundheit

4.7.1

Die gleiche Problematik stellt sich auch bei der großen Zahl von Gefängnisinsassen, denen keine oder nur sehr wenige Versorgungsstrukturen zugute kommen.

4.7.2

Die Einführung von Depressions-, Suizid- und Suchtpräventionsprogrammen muss gefördert werden.

4.7.3

Was den im Rahmen der Deinstitutionalisierung vorgeschlagenen Systemwechsel anbelangt, so kann festgestellt werden, dass dieser Ende der 1980er Jahre begonnen hat und gekennzeichnet ist durch das Ende des Niedergangs der Hospitalisierung und der deinstitutionalistischen Illusionen sowie durch die Erkenntnis, dass ein kombiniertes Modell, das eine solide gemeindepsychiatrische Versorgung mit der stationären Rundumversorgung verbindet, vonnöten ist. Ein Zuviel bei der stationären Versorgung bedeutet, dass es nicht möglich ist, das Angebot an kommunalen Dienstleistungen auszubauen, auf das die Patienten und ihre Familien angewiesen sind. Umgekehrt ist das Primat der ambulanten Versorgung nicht zu halten, wenn sich diese nicht auf ein System der stationären Versorgung stützen kann, das stets und ständig für Kurzaufenthalte zur Verfügung steht, wenn ein Patient akute Störungen aufweist, die sich anders nicht behandeln lassen. Und schließlich lässt sich eine geringere Inanspruchnahme der stationären Versorgung nicht erreichen, wenn es im ambulanten Sektor nicht die Einrichtungen und Lebenshilfen gibt, die es erlauben, auf vermeidbare Klinikaufenthalte zu verzichten; Patienten aufzunehmen und zu betreuen, die nach einem längeren Aufenthalt und einer angemessenen Vorbereitung die Klinik verlassen können; Patienten zu betreuen, die nicht stationär versorgt werden, sodass sie unter Bedingungen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, weiter in ihrer vertrauten Umgebung leben können; Patienten, bei denen dies erforderlich ist, abwechselnd stationär und ambulant zu behandeln.

4.7.4

Die Entscheidung darüber, ob eine psychisch kranke Person stationär oder ambulant behandelt wird, ist stark abhängig vom Grad ihrer Isolation, von Ausbildungskultur und -modell der Angehörigen der Gesundheitsberufe und von allgemeinen soziokulturellen Faktoren wie der Frage, wie tolerant eine Gesellschaft ist, von Präkaritätssituationen in einem gegebenen Gebiet, die zu einer verstärkten Inanspruchnahme solcher Einrichtungen führen, sowie von der Verfügbarkeit von Alternativlösungen. Es ist daher unmöglich, kategorisch zu sagen, wie groß der Bedarf an Akutbetten ist, ohne den örtlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

4.7.5

Außerdem ist der wichtigste Faktor die Art der Behandlung selbst, also die Frage, welche Leistungen mit der Behandlung für welche Bedürfnisse und mit welcher anerkannten Wirksamkeit erbracht werden sollen, und es spielt dabei nicht so sehr eine Rolle, wo die Behandlung erfolgt.

4.7.6

Allgemein anerkannte Vorteile der Klinikbehandlung sind die Verfügbarkeit geschulter Mitarbeiter, die Aufnahme in einer geeigneten, geschlossenen Umgebung und ausreichend sichere Arbeitsbedingungen. Diese Vorteile schwinden in dem Maße teilweise oder ganz dahin, wie es durch Bettenmangel im Klinikbereich zu einer Konzentration kooperationsunwilliger Patienten mit massiven Störungen kommt, so dass das Arbeiten schwer, unerträglich oder gefährlich wird.

4.7.7

Zahlreiche internationale und französische Studien zeigen, dass bis zu 40 % der Kranken mit akuten Störungen, die sich stationär einweisen lassen wollen oder eingewiesen werden, alternativ behandelt werden können, sofern sie zur Mitarbeit bereit sind oder es gelingt, sie dafür zu gewinnen, auch mit der Unterstützung von Angehörigen oder Vertretern des sozialen Netzes (Notfall- und Krisenintervention). Mit der zunehmenden Effizienz der alternativen Betreuung bleiben für die Klinik nur noch die „schweren Fälle“ übrig, die sich hier dann natürlich auch konzentrieren: Kranke, die dringend doppelt — psychiatrisch und somatisch — bewertet werden müssen, besonders schwere Mischformen akuter Störungsbilder, schwere Rückfälle bekannter psychiatrischer Pathologien, nicht unterdrückbare gewalttätige und suizidäre Verhaltensweisen usw. aufweisen und häufig zwangseingewiesen werden. Wie wir sehen werden, hat dies Folgen für die Organisation und die Betreuung.

4.7.8

Aufgrund der obigen Feststellungen wird in den genannten Studien empfohlen, die Schwelle von 0,5 Akutbetten je 1 000 erwachsene Einwohner nicht zu unterschreiten, wobei diese Zahl gewichtet werden muss, wenn, wie wir es empfehlen, eine Belegungsquote von 80-85 % angepeilt wird. Diese Schwelle würde natürlich voraussetzen, dass es ausreichend ausgerüstete und wirksame alternative Versorgungsmöglichkeiten vor und nach dem Klinikaufenthalt gibt; nicht darin berücksichtigt sind die Akutbetten, die für die forensische oder gesicherte Psychiatrie benötigt werden, und die Betten für die Jugendpsychiatrie sowie die Gerontopsychiatrie. Würde man sich dieser Schwelle zu sehr nähern, ohne dass alle Bedingungen für die ambulante Ersatzbetreuung erfüllt sind, so hätte dies nur die Schaffung extrem teurer zusätzlicher Psychiatrie- oder Krankenhausbetten zur Folge.

4.8   Pflegeumfeld

4.8.1

Während die Schwelle für die Bettenzahlen von Land zu Land variiert, stehen die Mindeststandards für die Unterbringung mehr oder weniger fest. So sollte die Unterbringung durchweg dem Zweck angepasst sein, und selbst in älteren Einrichtungen müssen die zeitgemäßen Werte der Würde und Achtung der Bewohner als Richtschnur dienen. Das geeignete Umfeld ist für die Rekonvaleszenz unabdingbar. Umfeldbedingte Gefahren müssen bewertet und je nach den besonderen Bedürfnissen der Bewohner angegangen werden.

4.8.2

Die Bewohner sollten Zugang zu einem breiten Angebot an Therapiemaßnahmen haben, die ihre Pflege und Behandlung ergänzen und vervollständigen. Zu einem solchen Umfeld tragen alle Fachkräfte der psychischen Gesundheit bei, insofern sie entsprechend ausgebildet sind, über die notwendigen Qualifikationen verfügen und eine humane Vorgehensweise praktizieren.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Flexicurity nach dänischem Muster“

(2006/C 195/12)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2005, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Flexicurity nach dänischem Muster“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 28. April 2006 an. Berichterstatterin war Frau VIUM.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 98 gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerung und Empfehlungen — „Flexicurity nach dänischem Muster“

1.1

Die Flexicurity nach dänischem Muster scheint ein Beispiel dafür abzugeben, wie wirtschaftliches Wachstum, hohe Beschäftigung und gesunde öffentliche Finanzen auf sozial ausgewogenem Wege erreicht werden können. Diese Entwicklung ist mit dem Lissabon-Prozess, durch den das Wachstum, ein hoher Beschäftigungsstand und der Sozialstaat nachhaltig gesichert werden sollen, konform.

1.2

Kern des dänischen Flexicurity-Systems ist ein flexibler Arbeitsmarkt, der über eine aktive Arbeitsmarkt- und Ausbildungspolitik verwirklicht wird und von Elementen, die zur sozialen Sicherheit beitragen, flankiert wird — diese Konstellation scheint der Wettbewerbsfähigkeit Dänemarks offenbar zuträglich zu sein. Zusammen mit anderen Charakteristika der dänischen Gesellschaft hat die Flexicurity einen robusten und flexiblen dänischen Arbeitsmarkt entstehen lassen, sodass Dänemark den Herausforderungen der Zukunft entgegensehen kann. Eine hohe Beschäftigungsquote, ein hohes Arbeitslosengeld und eine optimistische Stimmungslage führen dazu, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam die mit diesem System verbundenen Unwägbarkeiten und Nachteile in Kauf nehmen, weil jede Seite Vorteile daraus zieht.

1.3

Der Schlüssel zum Verständnis des dänischen Flexicurity-Systems ist, dass Flexibilität und Sicherheit nicht zwangsläufig Gegensätze sind. Die Arbeitgeberseite kann durchaus Interesse an stabilen und sicheren Arbeitsverhältnissen und motivierten Mitarbeitern haben und umgekehrt darf unterstellt werden, dass auch die Arbeitnehmerseite an flexiblen Arbeitszeiten, einer flexiblen Arbeitsorganisation und flexiblen Belohnungssystemen interessiert ist.

1.4

Angesichts der Globalisierung und der Betriebsverlagerungen schafft das Flexicurity-System für die Bevölkerung ein hohes Maß an ökonomischer und sozialer Sicherheit durch den Paradigmenwechsel „Beschäftigungssicherheit statt Arbeitsplatzsicherheit“ und „neue persönliche Chancen durch Bereitschaft zum Wechsel mit beschränktem Risiko“. Das Arbeitsplatzverlustrisiko wird damit freilich nicht gebannt, aber immerhin vermag das soziale Sicherheitsnetz kurzfristig die Einkommensgrundlage zu sichern. Längerfristig erhöht die aktive Arbeitsmarktpolitik in Kombination mit der hohen Beschäftigungsquote die Wahrscheinlichkeit, wieder eine Beschäftigung zu finden.

1.5

Im dänischen Flexicurity-System ist die Arbeitsplatzsicherheit für den einzelnen Arbeitnehmer gering, weshalb es im Laufe eines Berufslebens zu wiederholtem Arbeitsplatzverlust kommen kann. Dessen ungeachtet vermittelt die systemimmanente Sicherheit, die das Flexicurity-System einerseits durch das hohe Arbeitslosengeld, das aus öffentlichen Mitteln, also durch die Steuerbelastung aller, finanziert wird, und andererseits durch die Beschäftigungssicherheit generiert, den Dänen ein generelles Gefühl der Geborgenheit und Zufriedenheit — vgl. Anhang 2.

1.6

Betrachtet man die dänische Flexicurity im europäischen Zusammenhang, wird deutlich, dass sie aufgrund der andersartigen kulturellen, strukturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht „eins zu eins“ auf andere Länder übertragen werden kann. Für Länder und Regionen, die einen gewissen sozialen Standard erreicht haben, besteht aber die Möglichkeit, einige generelle Elemente als politische Strategie zu übernehmen, und zwar besonders dort, wo das Sozialkapital — zu verstehen als die Summe von Normen, Netzen und Vertrauen zwischen Individuen und zwischen Organisationen — ähnlich wie in Dänemark in Form einer Tradition der Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Sozialpartnern sowie einer Veränderungsbereitschaft auf Seiten der Bürger strukturiert ist. Geographische Flexibilität kann allerdings auch sehr ernst zu nehmende Probleme für Familien, Partnerschaften und die Schul- und Ausbildungskarriere der Kinder mit sich bringen, insbesondere in großräumigen Ländern und bei föderalen Strukturen.

1.7

Hinter dem dänischen System der Flexicurity steht ganz allgemein die Vorstellung, dass eine Kombination aus Flexibilität und Sicherheit für die Arbeitnehmer sowohl die soziale Sicherheit als auch die Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten kann. Das dänische Flexicurity-System vereint ein relativ hohes Arbeitslosengeldniveau (einschließlich sonstiger sozialer Transferleistungen) mit Flexibilität im Wege liberaler Kündigungsschutzregeln, wie beispielsweise kurzen Kündigungsfristen. Neben sozialer Sicherheit und hoher Mobilität wird Wert auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik gelegt, die die tatsächliche Verfügbarkeit der Arbeitslosen für den Arbeitsmarkt sicherstellt und sie dazu anhält, Qualifikationen für die Aufnahme einer Tätigkeit zu erwerben. Kennzeichnend für die dänische Arbeitsmarktpolitik ist somit ein „Fördern und Fordern“, letzteres beispielsweise in Form der Zwangsaktivierung, die allerdings vorwiegend aus hochwertigen Qualifizierungsangeboten besteht. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist ein notwendiges Instrument, soll ein Arbeitmarkt mit hohem Lohnersatzniveau effizient und mit hohem Arbeitslosengeld funktionieren können.

1.8

Das dänische Flexicurity-System kann freilich nicht unabhängig von den Rahmenbedingungen des Sozialstaates und eines hoch entwickelten Organisationssystems betrachtet werden. Die Funktionsweise des dänischen Arbeitsmarktes ist durch eine Reihe sonstiger gesellschaftlicher Faktoren bedingt, so etwa durch die zentrale Stellung der Sozialpartner bei den politischen Beschlüssen und der Umsetzung der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, durch das umfassende, öffentlich finanzierte soziale Netz, durch das Qualifikationsniveau der Bevölkerung und durch den makroökonomischen Policy-Mix, der im letzten Jahrzehnt durchgeführt wurde.

1.9

An der Gestaltung des dänischen Flexicurity-Systems konnten die Sozialpartner an zentraler Stelle mitwirken; sie wurden sowohl in die Entscheidungsprozesse als auch in die Umsetzung der Berufsbildungspolitik und die Umsetzung der Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt miteinbezogen. Auf etlichen Gebieten wird die Entwicklung durch Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern bestimmt, etwa bei der Einführung privater, arbeitsmarktsbasierter Renten. Die Rolle der Sozialpartner ist einerseits auf die historische Entwicklung zurückzuführen und andererseits auf ihren hohen Organisationsgrad. Dank des Einflusses der Sozialpartner konnten kreative Lösungen erarbeitet werden, die auf breite Akzeptanz stießen. Eine starke Mitsprache der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Beteiligter erfordert im Gegenzug aber auch deren Bereitschaft zu Veränderungen und zur Zusammenarbeit sowie eine unorthodoxe Sicht der Dinge, die für neue Blickwinkel offen ist und auch die allgemeine Sichtweise nachvollziehen kann. Eine größere Partizipation und Mitsprache der Sozialpartner kann sich somit bei den Bemühungen um Wettbewerbs- und Anpassungsfähigkeit als gesellschaftlich nutzbringend erweisen. In diesen Prozessen ist auch die unterstützende Mitwirkung und kritische Begleitung von anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen — wie etwa sozialen Organisationen, assoziativen Fortbildungsorganisationen etc. — von besonderer Bedeutung.

1.10

Ein hohes Arbeitslosengeldniveau erfordert ein hohes Qualifikationsniveau der Bevölkerung, da sich sonst eine große Gruppe bilden würde, die kein über den Lohnersatzleistungen liegendes Arbeitseinkommen erreichen könnte. Ein hohes Qualifikationsniveau und Anpassungsbereitschaft, nicht zuletzt auch bei den Arbeitnehmern mit einem geringen Maß an formaler Ausbildung, sind einer der Schlüssel zum Erfolg des dänischen Flexicurity-Systems.

1.11

Im Zuge der in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in Dänemark durchgeführten tiefgreifenden Strukturreformen wurde der Arbeitsmarkt gestrafft und eine expansive Wirtschaftpolitik befolgt, was zu einer Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und zu einer verbesserten Beschäftigungslage führte. Über die Einkommenssicherheit hinaus, die durch das hohe Arbeitslosengeldniveau gewährleistet wird, strebt man in Dänemark auch danach, den Bürgern Beschäftigungssicherheit zu geben. Zwar kann niemand von einer Arbeitsplatzgarantie ausgehen, aber die Chancen auf eine Neueinstellung stehen gut, zumal auch der öffentliche Sektor Hilfe leistet. Überdies sind strukturelle Reformen leichter durchzuführen und finden eher Anklang bei der Bevölkerung, wenn sie in einer Atmosphäre des Optimismus und des beschäftigungsschaffenden Wachstums umgesetzt werden. Das dänische Flexicurity-System stützt sich daher auf ein vielschichtiges, wachstums- und beschäftigungsfreundliches makroökonomisches Instrumentarium.

1.12

Das dänische Flexicurity-System ist Gegenstand ständiger Überlegungen und Veränderungen. Das System hat seine Vor- und Nachteile — auch wenn zwischen Flexibilität, Sicherheit und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ohne Zweifel ein enger Zusammenhang besteht, wird regelmäßig darüber diskutiert, wie sich das richtige „Mischungsverhältnis“ zwischen diesen Elementen herstellen lässt.

1.12.1

Die hohen Steuereinnahmen sind eine Voraussetzung für das dänische Flexicurity-System und andere Faktoren, die Bedeutung für die Funktionsweise des Arbeitsmarkts haben. Die öffentlichen Ausgaben für die Arbeitsmarktspolitik beliefen sich 2003 auf 4,4 % des BIP, was im europäischen Vergleich ein Rekord ist (1). Die hohe Steuerlast von 49 % des BIP wird einerseits von der dänischen Bevölkerung akzeptiert, andererseits jedoch bieten die Steuern ständigen Anlass zu Diskussionen, und die Steuer auf Arbeit dürfte künftig gesenkt werden. Die hohe Steuerlast erklärt sich zum Teil wiederum durch die hohe Beschäftigung, die an sich einen positiven Beitrag für die öffentlichen Finanzen leistet. Durch eine Verbesserung der Beschäftigungssituation können die Steuereinnahmen noch weiter erhöht werden.

1.13

Die Bedeutung von „Flexicurity nach dänischem Muster“ für die Europäische Union liegt in der durch diesen Ansatz geförderten Bereitschaft zu einer proaktiven Anpassung an neue Realitäten durch einen ausgewogenen und zwischen den Beteiligten sorgfältig ausgehandelten sozio-ökonomischen Paradigmenwechsel bei voller Respektierung der Grundwerte im europäischen Gesellschaftsmodell.

2.   Die Wettbewerbsfähigkeit des dänischen Systems

2.1

Dänemark kann sich eines stabilen Wachstums und geordneter öffentlicher Haushalte erfreuen. Von 2000 bis 2005 betrug das durchschnittliche Wachstum 1,7 %, die durchschnittliche Beschäftigungsquote 77,5 % und der durchschnittliche gesamtstaatliche Überschuss 1,4 % des BIP. Die Gesamtschulden des Staates lagen 2004 bei 42,7 % des BIP und der gesamtstaatliche Überschuss belief sich auf 2,8 % des BIP. Der Überschuss in den öffentlichen Haushalten ist in erster Linie auf die hervorragende Beschäftigungssituation zurückzuführen, durch die über die hohe Einkommensteuer umfangreiche Steuereinnahmen an den Staat fließen.

2.2

Die Fluktuation auf dem dänischen Arbeitsmarkt ist sehr hoch, da jährlich mehr als 10 % aller Arbeitsplätze verschwinden und etwa die gleiche Anzahl geschaffen wird. Etwa 30 % der Beschäftigten wechseln jedes Jahr den Arbeitsplatz, und Dänemark verzeichnet nach Großbritannien die zweitniedrigste durchschnittliche Dauer der Beschäftigungsverhältnisse. Dies ist vor dem Hintergrund der geltenden Bestimmungen, aber auch der dänischen Unternehmensstruktur mit vielen kleinen und mittelgroßen Unternehmen zu sehen.

2.3

Die Auswirkung des Policy-Mixes aus makroökonomischen Anreizen und Strukturreformen, die in Dänemark u.a. auf dem Arbeitsmarkt durchgeführt wurden, lassen sich auch anhand der Phillips-Kurve veranschaulichen, die den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnkostensteigerung darstellt. Die Kurve für Dänemark ist in Anhang 1 wiedergegeben. Sie zeigt, dass es seit 1993 gelungen ist, die Arbeitslosigkeit ohne erhöhte Lohninflation wesentlich zu senken, da die Phillips-Kurve in diesem Zeitraum insgesamt gesehen horizontal verlaufen ist. Arbeitsmarkts- und Bildungsmaßnahmen wirken den Anpassungsproblemen und Hemmnissen entgegen, die sich sonst als Lohn- bzw. Preissteigerungen äußern.

2.4

Bei Studien über die Attraktivität von Ländern für Investoren erreicht Dänemark oft Spitzenpositionen. In der Untersuchung Economic Intelligens Units vom März 2005 belegte Dänemark sogar Platz 1. In Anhang 2 wird Dänemarks Position gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten bezogen auf eine Reihe von Parametern illustriert.

3.   Das dänische Verständnis von Flexicurity

3.1

Seit nunmehr einigen Jahren ist „Flexicurity“ als Begriff im Gespräch, wobei die Bedeutung dieses Terminus jedoch nicht eindeutig ist und je nach Land unterschiedlich ausgelegt wird.

3.2

Auf dem Arbeitsmarkt gelten die Vorkehrungen als das „goldene Dreieck“ zwischen flexiblen Einstellungsregeln (die zu hoher numerischer Flexibilität führen), einem großzügigen Unterstützungssystem (das soziale Sicherheit bietet) und massiven Aktivierungs- und Bildungsmaßnahmen (die Arbeitslose sowohl zur Arbeitssuche motivieren als auch zum Wiedereintritt in den offenen Arbeitsmarkt qualifizieren).

3.2.1

Das dänische Flexicurity-System trägt zur Schaffung korrekter, d.h. hochwertiger Arbeitsplätze bei. Das hohe Arbeitslosengeld resultiert in einem hohen Schwellenlohn, der dafür sorgt, dass man in Dänemark von seinem Arbeitsentgelt leben kann. Deshalb sind auf dem ersten Arbeitsmarkt „berufstätige Arme“ („working poor“) ein seltenes und eher schwach ausgeprägtes Phänomen — auch unter Dänen mit Migrationshintergrund.

3.3

Nachstehend eine Illustration des „goldenen Dreiecks“. Das dänische System der Transfereinkommen und der aktiven Arbeitsmarktspolitik wird in Anhang 3 kurz skizziert.

Die Schwerpunkte des dänischen Flexicurity-Systems:

Image

3.4

Die Flexibilität des dänischen Arbeitsmarktes weist indes mehrere Dimensionen auf und ist nicht alleine dem lockeren Kündigungsschutz geschuldet; sie wird auch durch die flexiblen Arbeitszeiten ermöglicht, wobei tarifvertragsgemäß die Arbeitszeit im Zeitraum eines Jahres fluktuieren und innerhalb kürzerer Zeiträume Arbeitsteilung durchgeführt werden kann. Tendenziell erfolgt die endgültige Festsetzung der Löhne auf Unternehmensebene im Rahmen von Tarifverträgen, was ebenfalls eine gewisse Lohnflexibilität sichert. Die Flexibilität ist auch auf die breite Kompetenzgrundlage der Arbeitnehmer zurückzuführen, die selbstständig arbeiten, offen für Veränderungen und verantwortungsbewusst sind und sich somit rasch auf eine Umstellung der Produktion oder eine neue Arbeit einstellen können.

3.5

Die Sicherheit auf dem dänischen Arbeitsmarkt ist nicht ausschließlich auf das relativ hohe Niveau des Arbeitslosengeldes zurückzuführen, sondern auch auf den hohen Beschäftigungsgrad und die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt, die für eine gewisse Arbeitsplatzsicherheit sorgen. Diese Arbeitsplatzsicherheit wird durch ein breites Spektrum von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt, die von der öffentlichen Hand und den Sozialpartnern gemeinschaftlich bereitgestellt und verwaltet werden. Darüber hinaus bietet die dänische Gesellschaft auch den Familien hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine gewisse Sicherheit, etwa in Form von günstigen Regelungen für den Mutterschaftsurlaub, Kinderbetreuungsangeboten usw.

3.6

Der Schlüssel zum Verständnis des dänischen Flexicurity-Systems ist, dass Flexibilität und Sicherheit nicht zwangsläufig Gegensätze sind. Traditionell war der Wunsch der Arbeitgeberseite nach einem höheren Grad an Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt unvereinbar mit dem Wunsch der Arbeitnehmerseite nach Arbeitsplatzsicherheit und hohen wirtschaftlichen Ersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit.

3.7

Die Idee der Flexicurity bricht mit diesem unterstellten Gegensatz. Die Arbeitgeberseite kann durchaus Interesse an stabilen und sicheren Arbeitsverhältnissen und motivierten Mitarbeitern haben und umgekehrt darf unterstellt werden, dass auch die Arbeitnehmerseite an flexiblen Arbeitszeiten, einer flexiblen Arbeitsorganisation und flexiblen Belohnungssystemen interessiert ist. Solche neuen Arbeitsmärkte können somit ein neues Zusammenspiel von Flexibilität und Sicherheit zur Folge haben.

3.8

Auf dem Arbeitsmarkt sorgt das dänische Flexicurity-System dank universeller öffentlicher Dienstleistungen und eines Einkommensausgleichs für die Kombination der Dynamik einer freien Marktwirtschaft mit der sozialen Sicherheit und dem sozialen Ausgleich eines skandinavischen Wohlfahrtsstaats. Von einer höheren Warte aus betrachtet ist dies eines der Ergebnisse der politischen Zielsetzung, den Menschen Chancen auf den Eintritt ins Berufsleben zu eröffnen und über die öffentlichen Haushalte und Maßnahmen eine Umverteilung der Ressourcen zu erwirken. Dies führt über einen starken Einkommensausgleich zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und verhindert starke soziale Spannungen, was den Arbeitnehmern die Sicherheit gibt, sich neu zu orientieren und flexibel zu sein.

4.   Die Rolle der Sozialpartner

4.1

Die Sozialpartner haben traditionsgemäß ein zentrales Mitspracherecht bei den Gestaltungs- und Verwaltungsmechanismen der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Der Einfluss der Sozialpartner hat dazu beigetragen, kreative und ausgewogene Lösungen für die Markt- und Innovationsprobleme zu finden, was wiederum dazu beigetragen hat, Dänemark so zu positionieren, dass das Land gut für die globalisierungsbedingten Veränderungs- und Entwicklungsanforderungen gerüstet ist. Hilfreich dabei ist auch, dass die Partner ggf. auftretenden Handlungsbedarf einschätzen und für Anpassungen sorgen können. Durch die laufenden Absprachen zwischen den Akteuren hat sich im Laufe der Zeit auch ein soziales Kapital herausgebildet, das sich als besseres Vertrauensverhältnis, Verantwortungsbewusstsein und eine gemeinsame Sicht der Dinge äußert.

4.2

Die derzeitige Situation hat historische Gründe, die mehr als 100 Jahre zurück liegen. Das besondere dänische Modell zur Regulierung des Arbeitsmarkts geht auf das Jahr 1899 zurück, als mit dem so genannten „Septemberkompromiss“ zwischen dem dänischen Gewerkschaftsbund (LO — Landsorganisationen) und dem dänischen Arbeitgeberverband (DA — Dansk Arbejdsgiverforening), die kurz zuvor als landesweite Organisationen gegründet worden waren, der weltweit erste Manteltarifvertrag abgeschlossen wurde. Seither stellt dieser den Rahmen für den Abschluss von Vereinbarungen und für das Zusammenspiel zwischen den Sozialpartnern dar.

4.2.1

Während die Arbeitgeberseite den dänischen Gewerkschaftsbund als verhandlungsberechtigte Partei anerkannte, akzeptierte der Gewerkschaftsbund das Einstellungs- und Entlassungsrecht des Arbeitgebers und erkannte damit das Direktionsrecht an. Diese Grundbestimmung hat zu der in Dänemark herrschenden liberalen Anschauung in Bezug auf Kündigungen beigetragen. Die Friedenspflicht während der Laufzeit des Tarifvertrags war ebenfalls ein wichtiges Element des Septemberkompromisses. Noch bis 2003 war die voluntaristische Arbeitsmarktregulierung und die selbständige Konfliktlösung das Nonplusultra für die Sozialpartner. Erst als die EU die eigenständige Umsetzung der Richtlinien durch die Sozialpartner nicht anerkennen wollte, begannen in Dänemark zusätzliche Rechtsvorschriften zu entstehen. Anhang 4 enthält weitere Informationen zur historischen Entwicklung der Rolle der Sozialpartner und zur Etablierung des dänischen Modells.

4.3

Nach vielen Jahren mit hohen Inflationsraten und einer sehr volatilen Reallohnentwicklung gelangten die Sozialpartner 1987/88 zu der Einsicht, dass bei den Abkommen auch übergeordnete volkswirtschaftliche Gesichtspunkte Beachtung finden müssten. Selbstverständlich unterscheidet sich die Haltung der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Regierung in Dänemark, aber zugleich gibt es eine grundlegende Dialog- und Konsenskultur, die Teil des „Sozialkapitals“ ist. Flache Hierarchien auf allen Gesellschaftsebenen tragen dazu bei, diese Konsenskultur aufrechtzuerhalten.

4.4

Politisch gesehen wurde in Dänemark seit den 60er Jahren ein umfassendes öffentliches System für die berufliche Fort- und Weiterbildung der Erwerbstätigen wie auch der Arbeitslosen aufgebaut. Dies hat sich für die Anpassungsbereitschaft der gesamten Arbeitskräfte als nützlich erwiesen. Die Sozialpartner waren über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg in Schlüsselpositionen der öffentlichen Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen und sind es immer noch. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern wurde ihre diesbezügliche Rolle seit 1993/94 sogar noch weiter ausgebaut.

4.5

Die Arbeitsmarktpolitik erfuhr eine inhaltliche Umgestaltung: war sie vormals regelorientiert, ist sie nun bedarfsorientiert und wendet individuelle Lösungsstrategien an. Die Sozialpartner zusammen mit den Kommunen wurden die zentralen Akteure in 14 regionalen Arbeitsmarkträten, denen sowohl Befugnisse als auch Haushaltsmittel eingeräumt wurden, um den Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und auf eine regionale Arbeitsmarktpolitik zu legen.

4.6

Über viele Jahre hinweg haben die Sozialpartner ein umfassendes kollektives soziales Bewusstsein für ihre gesellschaftliche Verantwortung entwickelt, und die öffentliche Hand hat gelernt, deren Ressourcen und Einfluss für sich zu nutzen. Die Sozialpartner besitzen einzigartige Informationen und Wissen über den Arbeitsmarkt, weshalb sie rasch zuverlässige Bedarfsmeldungen geben können. So werden im Wege ihrer Einbeziehung die Ressourcen der öffentlichen Hand kostenneutral erweitert. Sie finden kreative Lösungen für gemeinsame Probleme durch Diskussionen und Entscheidungsrunden, und die Organisationen sind ausschlaggebend dafür, dass Politiken beschlossen und umgesetzt werden und, was nicht vergessen werden darf, auch Akzeptanz finden. Die öffentliche Hand ist somit abhängig vom Mitwirken der Sozialpartner bei den Flexicurity-Vereinbarungen.

5.   Der richtige Policy-Mix

5.1

Um die dänische Flexicurity in all ihren Dimensionen zu verstehen, muss man den gesellschaftliche Zusammenhang berücksichtigen, in den das System eingebettet ist. Sowohl die Wirtschaftspolitik und die sonstigen Einflüsse der öffentlichen Hand beeinflussen die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes; zusammen ergeben die Elemente das „dänische Model“. Dieses Zusammenwirken ist aus der Abbildung in Anhang 7 ersichtlich.

5.2

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre und zu Beginn der 90er Jahre durchlebte die dänische Wirtschaft eine Krise. Im Durchschnitt wuchs die Wirtschaft in diesem Zeitraum um nur 0,8 % jährlich, während die Arbeitslosigkeit von 5,0 % im Jahre 1987 auf 9,6 % im Jahre 1993 kletterte. Diese Krise war unter anderem auch eine Folge der straffen Wirtschaftspolitik, die aufgrund der großen Haushaltsdefizite in den vorausgehenden Jahren eingeleitet wurde.

5.3

Ab 1993 wurde die aktive Arbeitsmarktspolitik gestärkt, während die Wirtschaft gleichzeitig Rückenwind in Form von niedrigen Zinsen und einer expansiven Wirtschaftspolitik bekam. Zu Beginn der Wachstumsperiode Mitte der 90er Jahre verzeichnete Dänemark so große Haushaltsdefizite, dass die Regeln des Wachstums- und Stabilitätspakts verletzt worden wären, wenn er zu jener Zeit schon bestanden hätte. Darüber hinaus wurden u.a. die Bestimmungen für die Finanzierung von Immobilien geändert (längere Darlehenslaufzeiten und Umschuldungsmöglichkeiten), sodass die Menschen mehr Geld zur Verfügung hatten. Durch das hohe Wachstum, die sinkende Arbeitslosigkeit und den aufkeimenden Optimismus akzeptierte die Bevölkerung leichter die Verschärfung der Arbeitsmarktregelungen.

5.4

Die zusätzlichen öffentlichen Ausgaben wurden u.a. für massive Maßnahmen zur verstärkten Deckung des Bedarfs an Kinderbetreuung genutzt, sodass Frauen mit kleinen Kindern dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung standen.

5.5

Die verstärkte Konzentration auf die Arbeitsmarktpolitik bedeutete auch verstärkte Maßnahmen für Aus-, Fort- und Weiterbildung, in deren Rahmen der Staat massive Zuschüsse leistete, damit sowohl Beschäftigte als auch Arbeitslose fort- bzw. weitergebildet werden konnten. Die Zuschüsse erfolgten sowohl durch die Finanzierung der Ausbildung als auch durch die teilweise Deckung des Lohnausfalls. Gleichzeitig wurde auf allen Ebenen die Zahl der Ausbildungsplätze für Jugendliche erhöht.

5.6

Generell ist darauf hinzuweisen, dass für das dänische System mit einem hohen Arbeitslosengeldniveau und damit einem hohen Schwellenlohn qualifizierte und produktive Arbeitskräfte erforderlich sind. Das Vorhandensein einer großen Gruppe Geringqualifizierter, die das Lohnniveau, das zu einem hohen Arbeitslosengeld berechtigt, nicht erreichen können, würde zu einer zu hohen Arbeitslosigkeit führen.

5.7

Die wirtschaftliche Strategie, die ab Mitte der 90er Jahre erfolgreich angewandt wurde, war eine Investitionsstrategie, die mit offensiven Reformen und Investitionen in das Bildungswesen und in Leistungen der Daseinsvorsorge eine Wachstumsdynamik erzeugte. Vertrauen in die Zukunft und hohe Einkommenssicherheit fördern die Konsumfreude und sichern eine hohe Binnennachfrage.

5.8

Die jetzige Wirtschaftsstrategie ist als Reaktion auf die Wirtschaftskrise zu sehen, die ab 1987 in Dänemark herrschte und während der die Regierung die großen Defizite in den öffentlichen Haushalten und in der Zahlungsbilanz durch Einsparungen und Straffungen abbaute. Diese Strategie des Sparens löste zwar Bilanzprobleme, resultierte jedoch in niedrigem Wachstum und grassierender Arbeitslosigkeit. Die jetzige Strategie sichert offenbar das Wachstum und die Beschäftigung, ohne zu Lasten der öffentlichen Haushalte und der Zahlungsbilanz zu gehen. Eine Kombination, die es in Dänemark zuletzt vor der Ölkrise in den 70er Jahren gab.

6.   Derzeitige Herausforderungen

6.1

Auch wenn das dänische Flexicurity-System in den letzten Jahren zu positiven Ergebnissen geführt hat, gibt es selbstverständlich Herausforderungen, die es anzugehen gilt.

6.2

Die Globalisierung und die technologische Entwicklung setzen den dänischen Arbeitsmarkt unter einen gewissen allgemeinen Druck. Besonders ungelernte Arbeitskräfte kommen durch die Konkurrenz aus Ländern mit niedrigerem Lohnniveau und die Automatisierung der Produktion unter Druck.

6.2.1

Bis auf weiteres konnte Dänemark den Druck durch die Verringerung der Zahl ungelernter Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen, da unter den älteren Arbeitskräften, die sich aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, ein größerer Anteil ungelernt ist als unter den jüngeren, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Momentan erhalten jedoch viele Jugendliche keine berufliche Qualifizierung, wodurch das dänische Flexicurity-Modell längerfristig untergraben werden kann. Wenn nicht dafür gesorgt wird, dass sich das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften einigermaßen mit der Nachfrage deckt, werden die öffentlichen Aufwendungen für die Unterstützung der Arbeitslosen und die sonstigen Transfereinkommen leicht zu groß.

6.2.2

In Dänemark sind Standortverlagerungen zu beobachten, bei denen Firmen ihre Betriebsstätten schließen und ihre Produktion teilweise oder ganz in Niedriglohnländer verlegen. Als eine besondere Herausforderung erweist sich dies in entlegenen Gebieten, die bei Betriebsschließungen besonders hart getroffen werden. Der dänische Arbeitsmarkt, dessen Struktur durch kleine und mittelgroße Firmen geprägt ist, wird jedoch als dynamisches Phänomen betrachtet. Anstatt diese Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten, wird versucht, auf politischer Ebene und in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern neue, wettbewerbsfähigere Arbeitsplätze zu schaffen.

6.3

Die hohe Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass die Arbeitgeber weniger geneigt sind, Fortbildungen zu finanzieren, da sie nicht wissen, wie lange das Personal bleibt. Das Problem betrifft vor allem Arbeitnehmer ohne Ausbildung, da die Arbeitnehmer stärker in begehrte Fachkräfte investieren und ungelernte Arbeiter oft nicht die Motivation haben, um an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. An dieser Stelle springt ein umfassendes, zusätzlich zu Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber von der öffentlichen Hand bezuschusstes System in die Bresche, das der Aus- und Fortbildung ungelernter Arbeiter und Fachkräfte dient, da hochqualifizierte Arbeitskräfte eine Voraussetzung für das Funktionieren des dänischen Flexicurity-Systems sind und politisch eine „Qualifizierungsoffensive“ auf breiter Front wünschenswert ist.

6.4

Viele Zuwanderer haben Schwierigkeiten, auf dem dänischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, was ein Hemmnis für ihre Integration ist. Ihre Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass einige Zuwanderergruppen und ihre Nachkommen nicht über die erforderlichen Kompetenzen verfügen, um das in Dänemark übliche hohe Arbeitslosengeld- und Lohnniveau zu erreichen. Das Bildungsniveau bei Zuwanderern und ihren Nachkommen ist durchschnittlich niedriger als bei Dänen, und sie haben eine niedrigere Erwerbsbeteiligung und eine höhere Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Die Probleme können sprachlicher und sozialer Art sein oder auch die Ausbildung betreffen.

6.4.1

Die Erklärung ist teilweise ggf. auch in kulturellen Unterschieden und tief verwurzelten Verhaltensmustern zu suchen. Die Erfahrung zeigt, dass die Arbeitslosigkeit unter diesen Gruppen mehr als bei anderen schwankt. Sinkt die Arbeitslosigkeit, wählen die Arbeitgeber erfahrungsgemäß neue Wege und rekrutieren Menschen mit anderem ethnischen Hintergrund. Eine hohe Beschäftigungsquote und niedrige Arbeitslosigkeit können also bereits für sich genommen dafür sorgen, dass Zuwanderer und ihre Nachkommen leichter Arbeit finden, wodurch freilich das Integrationsproblem nicht zur Gänze gelöst wird. Die demographische Entwicklung dürfte dazu führen, dass dänische Arbeitsplätze in den kommenden Jahren immer zugänglicher für Zuwanderer werden.

6.5

Das dänische Sozialstaatsmodell wäre ohne die hohe Beschäftigungsquote der Frauen undenkbar — nur so können die notwendigen öffentlichen Dienstleistungen erbracht und die hohen Steuereinnahmen gewährleistet werden. Daraus ergibt sich zum einen eine größere wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frauen, zum anderen auch die Herausforderung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist Dänemark hier sehr weit gekommen, jedoch müssen noch weitere Anstrengungen unternommen werden, um gleiche Karrieremöglichkeiten für Männer und Frauen herzustellen.

6.6

Das dänische System ist für den Staat kostenintensiv, da er einen großen Teil der Lohnersatzleistungen finanziert. Die Ausgaben für die passive Arbeitsmarktpolitik beliefen sich 2003 auf 2,7 % des BIP — im EU-Vergleich ein Rekord. In Zukunft wird die Finanzierung des dänischen Sozialstaats von mehreren Seiten unter Druck geraten. Damit der Sozialstaat ohne Steuererhöhungen finanzierbar bleibt, sind höhere Beschäftigungsquoten der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter notwendig.

6.6.1

Im EU-Vergleich ist Dänemark eines derjenigen Länder mit der höchsten Steuerlast. Die Steuerlast in Dänemark liegt bei 49 % des BIP, wohingegen der EU-Durchschnitt bei cirka 40 % liegt. Dies gilt vor allem für die sehr hohen Verbrauchsteuern, wohingegen die Besteuerung der Arbeit nicht zu den höchsten gehört. Die Einkommensteuer ist hoch und stark progressiv, während die Arbeitgeber im Großen und Ganzen kaum Sozialabgaben zu entrichten haben. Die Steuerstruktur Dänemarks wird ausführlicher in Anhang 5 beschrieben. Durch die Globalisierung können bestimmte Steuereinnahmen künftig unter Druck geraten.

6.6.2

Die demographische Entwicklung bringt es mit sich, dass es immer mehr ältere und immer weniger erwerbstätige Bürger geben wird. Dies hängt mit den zahlenmäßig schwachen jungen Jahrgängen, den großen Nachkriegsgenerationen und dem zunehmenden Alter zusammen. Bei möglichen Reformen des Sozialstaats stehen auch die Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Arbeitslosenunterstützung zur Debatte. Das dänische Rentensystem ist jedoch teilweise auf diese Veränderungen vorbereitet, wie aus Anhang 6 hervorgeht. Ein Mangel an Arbeitskräften steht zu befürchten, und da sich die aus den Frauen bestehende Arbeitskraftreserve bereits weitgehend auf dem Arbeitsmarkt befindet, müssen andere Wege gefunden werden, um die Beschäftigung zu erhöhen. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass das Renteneintrittsalter angehoben oder die Zuwanderung von Arbeitskräften mit Kompetenzen gesteigert wird, für die eine Nachfrage besteht.

6.7

Etwa ein Viertel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geht keiner Erwerbstätigkeit nach und lebt in der einen oder anderen Form von öffentlichen Geldern (Arbeitslosigkeit, „Aktivierung“ (z.B. Bildungsangebot), Frührente usw.). Etwa die Hälfte hat sich aufgrund von Verschleißerscheinungen, Arbeitslosigkeit oder freiwillig dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen, während die andere Hälfte nur vorübergehend ohne Beschäftigung ist. Die Versorgung dieser Menschen durch den Staat ist im dänischen Modell vorgesehen, stellt jedoch für die künftige Finanzierung des Sozialstaats eine Herausforderung dar. Der Bevölkerungsanteil, der sich frühzeitig aus dem Arbeitsleben zurückzieht, muss gesenkt werden, soll die langfristige Finanzierbarkeit des Sozialstaats gesichert sein.

6.8

Nach und nach wird ein immer größerer Teil der Arbeitsmarktpolitik gemäß den von der EU festgelegten Bestimmungen und Verfahrensweisen geregelt. Die Arbeitsmarktverhältnisse in Dänemark werden traditionell zwischen den Sozialpartnern vereinbart und nicht mit Hilfe von Rechtsvorschriften festgelegt. Wird die Regulierung durch die EU zu detailliert, besteht die Gefahr, dass die Akzeptanz der Bevölkerung sinkt und die Entwicklung in eine andere als die von den Sozialpartnern gewünschte Richtung geht. Mit der Methode der offenen Koordinierung der Europäischen Union scheint ein Weg gefunden worden zu sein, der sowohl die Weiterentwicklung dänischer Traditionen als auch die Synchronisierung der europäischen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gewährleisten kann.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Vgl. OECD employment Outlook 2005, Tabelle H.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der Dienstleistung“

KOM(2005) 334 endg. — 2003/0329 (CNS)

(2006/C 195/13)

Die Kommission beschloss am 14. Oktober 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 250 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 28. April 2006 an. Berichterstatter war Herr METZLER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 143 Ja-Stimmen ohne Gegenstimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung und Empfehlungen

Der Ausschuss begrüßt die Initiative als einen Schritt in die richtige Richtung. Der zu beurteilende Vorschlag zielt darauf ab, einige besonders streitanfällige mehrwertsteuerliche Regelungen betreffend der Frage des Ortes der Dienstleistung zu vereinfachen und transparenter zu gestalten. Der Ausschuss begrüßt diese Initiative zur 6. MwSt-Richtlinie; es ist ein Schritt in die richtige Richtung zur Umsetzung des Lissabon-Prozesses und der in der Binnenmarktrichtlinie genannten Ziele. Eine funktionierende europäische Zivilgesellschaft hat ein funktionierendes und wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem zur Voraussetzung. Dieses Essential setzt die Anwendung vergleichbarer Regelungen voraus. Insofern ist der geänderte Richtlinienvorschlag zu begrüßen, in dem er wettbewerbsverzerrende Regelungen durch die Erweiterung einer Verbrauchsortbesteuerung zu vermeiden versucht. Dieses setzt jedoch, wie nachstehend dargestellt, voraus, dass parallel hierzu entsprechende Mechanismen geschaffen werden, die es auch kleinen und mittleren Unternehmen ermöglichen, sich am innergemeinschaftlichen Wettbewerb zu beteiligen, ohne übermäßigem zusätzlichem Verwaltungsaufwand unterworfen zu sein. Zu denken ist an die Einrichtung eines funktionierenden one-stop shop-Mechanismus.

Der EWSA hatte bereits in seiner Stellungnahme vom 28. April 2004 auf die Steuerhinterziehungsanfälligkeit der Mehrwertsteuer hingewiesen und vorgeschlagen, alternativ ein System zu entwickeln, das in der Lage ist, eine effizientere Steuereinziehung zu ermöglichen. Kritisiert wurde in dieser Stellungnahme die Ungleichbehandlung zwischen Bürgern/Verbrauchern aufgrund der Mängel des geltenden Mehrwertsteuersystems. Diese Mängel gilt es rasch zu beseitigen.

Wettbewerbsverfälschungen sind schnellstmöglich zu beseitigen. Diese bestehen z.B. darin, dass ein Unternehmer seine Leistungen nur deshalb preisgünstiger auf dem Markt anbieten kann, weil in einer Zwischenstufe die Umsatzsteuer hinterzogen wird und er sich dadurch einen nicht gerechtfertigten Preisvorteil verschafft. Insofern sind auch hier die entscheidenden Institutionen gefordert, tätig zu werden, wozu sie der Ausschuss nachdrücklich auffordert.

Babylonische Sprachverwirrung ist das Ende von gemeinsamem Handel und gemeinsamen Märkten. Die Anwendung eines vereinheitlichten Rechts setzt voraus, dass hinsichtlich der Definition dieses Rechts Übereinstimmung besteht. Deshalb ruft der EWSA auf, die Begriffsverwirrung zu beseitigen. Insofern bietet der u.a. in Artikel 9 a des geänderten Vorschlags enthaltene Begriff des „Grundstückes“ ein gutes Beispiel dafür, dass der EuGH bezüglich der abweichenden Definitionen in den EU-Mitgliedstaaten versucht, Abhilfe zu schaffen. Dies dadurch, dass er eigenständige Begriffe des Gemeinschaftsrechts als der 6. MwSt-Richtlinie zugrundeliegend voraussetzt (vgl. zum Begriff „Vermietung von Grundstücken“ Rs. Mayerhofer, C-315700, Urteil vom 16. Januar 2003).

Dies erfordert es auch, dass einmal als für erforderlich angesehene Rechtsetzungsakte baldmöglichst umgesetzt werden, um den Gesetzgebern die Möglichkeit einzuräumen, diese zügig in nationales Umsatzsteuerrecht zu transformieren. Fraglich dürfte allerdings sein, ob der 1. Juli 2006 als Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie zu erreichen sein wird.

Begründung

1.   Einleitung

Die EU beabsichtigt unter anderem durch die Beschlüsse von Lissabon, innerhalb der nächsten Jahre zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Für die Erreichung dieses Zieles wäre es erforderlich, dass die Europäische Union und die Staaten in ihr ein konsistentes, aufeinander abgestimmtes und wettbewerbsfähiges Steuerrecht aufweisen. Die Mehrwertsteuer ist vor allen Dingen durch die 6. EG-RL innerhalb der EU am weitestgehenden harmonisiert, dennoch existieren Barrieren und Hindernisse, die den innergemeinschaftlichen Geschäftsverkehr erheblich beeinträchtigen, wie der EWSA schon in seiner Stellungnahme zu ECO/128 „Regeln für den Ort der Besteuerung von Dienstleistungen“ vom 28. April 2004 — Richtlinienvorschlag vom 23. Dezember 2003 — deutlich gemacht hat.

Der vorliegende Vorschlag zur Änderung der 6. MwSt-Richtlinie knüpft an den Richtlinienvorschlag vom 23. Dezember 2003 an und beinhaltet eine kohärente Neuordnung des Ortes der Besteuerung von Dienstleistungen an Unternehmen (B2B) und von Dienstleistungen an Privatpersonen (B2C).

2.   Hintergrund

2.1

Seit der ersten und zweiten EG-Richtlinie vom 11. April 1967 hatte sich die Gemeinschaft zum Ziel gesetzt, die steuerlichen Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten aufzuheben. Um diese Vision zu verwirklichen, bedurfte es eines einheitlichen Ortes der Besteuerung. Das angestrebte Ursprungslandprinzip würde dazu führen, alle besteuerbaren Tätigkeiten, die ein Wirtschaftsteilnehmer im Niederlassungsstaat ausführt und die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft verwirklicht werden, dort zu besteuern. So wäre etwa eine aus Frankreich in einen anderen Mitgliedstaat gelieferte Ware gemäß diesem Prinzip mit französischer Mehrwertsteuer zum französischen Steuersatz belastet worden. Gleiches würde für die Leistungen aus Frankreich gelten.

2.2

Das Ursprungslandprinzip hätte jedoch, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, in den einzelnen Staaten angeglichene Mehrwertsteuersätze erfordert. Vor allen Dingen jedoch hätte es eines internen Clearing-Systems bedurft, weil die Mehrwertsteuer einen erheblichen Teil des Steueraufkommens der europäischen Staaten und der Finanzierung der EU darstellt.

2.3

Aus diesen Gründen hat sich die EU, zumindest für einen längeren Übergangszeitraum dazu entschlossen, von dem Ursprungslandprinzip abzuweichen.

2.4

Dennoch werden seitens der EU-Kommission unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um den Wirtschaftsverkehr zwischen den einzelnen EU-Staaten zu verstärken, bürokratische Hindernisse abzubauen und Wettbewerbsverzerrungen, die insbesondere durch unterschiedliche Steuersätze hervorgerufen werden, abzubauen und nach Möglichkeit sogar ganz zu vermeiden. Insbesondere der Rat hat in der Vergangenheit zur Erhaltung der Unterschiede beigetragen. Der EWSA unterstützt auch weiterhin die Kommission in allen ihren Anpassungsbestrebungen, die den Binnenmarkt erleichtern.

3.   Sinn und Zweck der Neuregelung

Der Ort der Dienstleistung entscheidet im Regelfall darüber, wo die Dienstleistung der Mehrwertsteuer unterworfen wird. Da der reguläre Mehrwertsteuersatz innerhalb der EU von 15 Prozent bis zu 25 Prozent variiert, ist damit einer Wettbewerbsverzerrung zwischen den Unternehmern/Steuerpflichtigen innerhalb der EU, aber auch seitens der Drittstaatenunternehmer, in den im geänderten Vorschlag enthaltenen Regelungsbereichen Tür und Tor geöffnet. Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zunehmend auf das Verbot der Wettbewerbsverzerrung durch eine andere umsatzsteuerliche Behandlung ab; dies auch in erster Linie z.B. zwischen steuerpflichtigen Unternehmern und Trägern der öffentlichen Hand. So führt z.B. der EuGH in der Rs. C-200/04 „Finanzamt Heidelberg/iSt internationale Sprach- und Studienreisen GmbH“ in seinem Urteil vom 13. Oktober 2005 aus, dass es im zu entscheidenden Fall auf der Hand liege, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 26 der 6. EG-Richtlinie zu einer unzulässigen Unterscheidung zwischen den Wirtschaftsteilnehmern führen könnte und unbestreitbar zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern nach sich ziehe, was die einheitliche Anwendung dieser Richtlinie beeinträchtigen würde.

4.   Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vom 20. Juli 2005

4.1   Generelle Anmerkung

Eine dieser Maßnahmen ist im geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vom 20. Juli 2005 (KOM(2005) 334 endg.) zu sehen. Ein Vorläufer dieses geänderten Vorschlags war ein Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der Dienstleistung vom 23. Dezember 2003 (KOM(2003) 822 endg. -2003/0329(CNS)).

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat zu diesem Richtlinienvorschlag mit Datum vom 28. April 2004 Stellung genommen. In dieser Stellungnahme unterstrich der EWSA, dass die neuen Vorschriften weit davon entfernt seien, das von der Kommission allgemein angestrebte Ziel der Vereinfachung zu erreichen. Er betonte seine Auffassung, den Auslegungsspielraum der Mitgliedstaaten bei den Bestimmungen und den Spielraum der Selbstentscheidung der Steuerbehörden so weit wie möglich einzuengen. Vor allen Dingen hält er das MIAS-System als Kontrollsystem angesichts der bereits heute auftretenden Schwierigkeiten des Systems für nicht ausreichend.

4.2   Konsultationspapier

Zwischenzeitlich sind mehrere Konsultationen zum Thema den Ort der Dienstleistung durchgeführt worden. Die Konsultationen ergaben im Allgemeinen, dass die Vorschriften über den Ort der Dienstleistung überprüft werden sollten, weil die bestehenden Vorschriften als problematisch angesehen werden. Zugleich wurde allgemein anerkannt, dass jegliche Änderung in diesem Bereich einerseits den Erfordernissen der Kontrolle durch die Steuerbehörden und der steuerlichen Verpflichtungen der Unternehmer genügen, andererseits aber auch dem Grundsatz Rechnung tragen muss, dass die Mehrwertsteuer demjenigen Staat zufließen sollte, in dem der Verbrauch erfolgt. Dabei unterstrichen die Konsultationsteilnehmer immer wieder das Erfordernis, praktikable und nicht zu kostenaufwendige Regelungen zu schaffen, die den — innergemeinschaftlichen — Geschäftsverkehr nicht behindern.

4.3   Generelle Regelung im geänderten Vorschlag

4.3.1

Es ist streng danach zu unterscheiden, ob eine Dienstleistung zwischen zwei Unternehmern (Steuerpflichtigen) (1) oder einem Unternehmer und einem Nichtunternehmer (Nichtsteuerpflichtigen) (2) erbracht wird. Der vorliegende Entwurf differenziert strikt zwischen der Behandlung der beiden Fallkonstellationen.

4.3.2

In Bezug auf Dienstleistungen an Steuerpflichtige sollte die Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung auf dem Ort basieren, an dem der Kunde ansässig ist und nicht auf dem Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.

4.3.3

Im vorliegenden Dokument wird vorgeschlagen, die Grundregel beizubehalten, dass als Ort der Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen der Ort gilt, an dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist. Diese Entscheidung wird getroffen, weil eine Besteuerung von Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige in anderen EU-Staaten dazu führt, dass dem leistenden Unternehmer unverhältnismäßig große Verwaltungslasten aufgebürdet würden, etwa die mehrwertsteuerliche Registrierung in diesen EU-Staaten.

4.3.4

Solange es keinen Mechanismus gibt, der es ermöglicht, die geschuldete Steuer im Mitgliedstaat zu erheben, ohne dadurch unnötige Verwaltungskomplikationen hervorzurufen, ist es nicht durchsetzbar, alle Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige am Ort des Verbrauchs zu besteuern.

4.3.5

Dennoch sind einige Abweichungen von dieser Grundregel erforderlich.

5.   Inhalt (Änderungen) des Richtlinienvorschlags

5.1   Abweichungen von der Grundregel

Viele der in der EU mit dem Thema Befassten unterstützen die vorgeschlagenen Abänderungen des Besteuerungsortes von Dienstleistungen. Aber es gab auch verschiedene Anmerkungen, die die Fortgeltung des Ursprungslandprinzips und die Beibehaltung der derzeitigen allgemeinen Vorschriften forderten.

5.2   Die Neuregelungen im Einzelnen

Nachstehend werden nur diejenigen Abänderungen kurz skizziert, die sich durch diesen Richtlinienvorschlag ergeben:

5.2.1   Artikel 6 — Dienstleistungen

Es soll ein Absatz 6 eingeführt werden, der besagt, dass Dienstleistungen zwischen Niederlassungen nicht als Dienstleistungen im Sinne dieser Richtlinie behandelt werden.

5.2.2   Artikel 9 d — Spezifische Dienstleistungen an Steuerpflichtige

Absatz 2 ist neu aufgenommen worden und regelt den Leistungsort bei der Erbringung von Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen an Steuerpflichtige während einer Personenbeförderung auf Schiffen, Flugzeugen oder in Zügen. Als Ort der Dienstleistung gilt der Abgangsort der Beförderung.

Insoweit ist hier dem Anliegen, auch des EWSA, Klarheit zu schaffen, Rechnung getragen worden.

Die Ergänzung in Absatz 3 sieht als langfristige Vermietung oder Leasing eine vertragliche Vereinbarung vor, die den Besitz oder die Verwendung des beweglichen körperlichen Gegenstandes während eines ununterbrochenen Zeitraums von mehr als 30 Tagen vorsieht. Durch diese Regelung sollen Streitfragen von vornherein vermieden werden (z.B. Vermietung eines PKW an einen Steuerpflichtigen zum sofortigen Verbrauch/Gebrauch).

5.2.3   Artikel 9 f — Spezifische Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen

Durch die Änderung des Absatzes 1 Buchstabe c werden Fernunterrichtsleistungen durch Verweis auf Artikel 9 g Absatz 1 Buchstabe d von dem Regelungsbereich ausgeschlossen und einer besonderen Regelung unterworfen.

In Absatz 1 Buchstabe d sind nunmehr Restaurant- und Verpflegungsleistungen aufgenommen worden, so dass sie am Ort ihrer tatsächlichen Erbringung besteuert werden.

In Absatz 2 wird die Erbringung von Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen während einer Personenbeförderung an Bord von Schiffen, Flugzeugen oder in Zügen fiktiv auf den Abgangsort der Beförderung verlegt. Insoweit wird einer Anregung aus dem Konsultationsverfahren Rechnung getragen.

Bei langfristiger Vermietung, also länger als 30 Tage, von Beförderungsmitteln an nicht Steuerpflichtige wird auf den Ort, an dem der Kunde ansässig ist oder seinen ständigen Wohnsitz oder üblichen Aufenthaltsort hat, abgestellt.

Bei kurzfristigen Vermietungen (z.B. Vermietung eines PKW für wenige Tage), wird auf den Ort, an dem das Beförderungsmittel zur Verfügung gestellt wird, abgestellt. Auch diese Regelung war im Rahmen der Konsultation von der Mehrheit der Anmerkenden begrüßt worden.

5.2.4   Artikel 9 g — Dienstleistungen, die aus der Ferne an Nichtsteuerpflichtige erbracht werden können

Dieser Artikel ist komplett überarbeitet worden. Die in Artikel 9 g Absatz 1 aufgeführten Dienstleistungen werden dort erbracht, wo der Kunde ansässig ist, bzw. seinen ständigen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat.

Im Rahmen der Konsultation ist diese Regelung überwiegend sehr negativ unter dem Gesichtspunkt des unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwandes zwecks Erfüllung der mehrwertsteuerlichen Pflichten angesehen worden. Aus diesem Grunde wurde das Erfordernis der Einführung eines one-stop shop-Mechanismus als Voraussetzung dieser Regelung angesehen.

Der ESWA regt an, die unter diesem Artikel zu subsumierenden Dienstleistungen noch deutlicher zu definieren.

5.2.5   Artikel 9 h — Von Vermittlern erbrachte Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige

Durch die Änderung wird klargestellt, dass sich der Leistungsort eines Vermittlers nach dem Ort, an dem der Hauptumsatz gemäß den Artikeln 9 a bis 9 g und Artikel 9 i bewirkt wird, richtet.

5.2.6   Artikel 9 i — Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige außerhalb der Gemeinschaft

Hier sind Änderungen durch die Streichungen in Artikel 9 g, wie vorstehend erwähnt, erfolgt.

5.2.7   Artikel 9 j — Vermeidung der Doppelbesteuerung

Die Regelungen bei Dienstleistungen im Bereich des elektronischen Handels, der Telekommunikation und des Rundfunks, die von einem außerhalb der EU ansässigen Dienstleister erbracht werden, sollen auch zukünftig bei Bestimmung des Ortes dieser Dienstleistungen unverändert bestehen bleiben. Maßgebend ist also auch weiterhin der Mitgliedstaat, in dem der nichtsteuerpflichtige Kunde ansässig ist oder der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung tatsächlich in Anspruch genommen wird.

Da die betreffenden Vorschriften künftig in den Artikeln 9 g und 9 h niedergelegt sind, werden die bisherigen Buchstaben h, j und l gestrichen.

5.2.8   Artikel 22 Absatz 6 Buchstabe b in der Fassung von Artikel 28 h — Erweiterung der Zusammenfassenden Meldung

Die vorgesehene Änderung dieses Artikeltextes sieht vor, die von jedem Steuerpflichtigen mit einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer einzureichende Zusammenfassende Meldung, um bestimmte Umsätze aus Dienstleistungen zu erweitern. Es handelt sich dabei um sonstige Leistungen an Erwerber mit Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, die in Unterabsatz 5 genannten Umsätze und die steuerpflichtigen Kunden, an die er Dienstleistungen unter den Voraussetzungen von Artikel 9 Absatz 1 erbracht hat.

5.2.9   Formale Änderungen

Im Übrigen handelt es sich im Wesentlichen um formale Änderungen, insoweit verweisen wir auf Textziffer 2.12 der Erläuterungen zum geänderten Vorschlag.

6.   Eigene Vorschläge und Anmerkungen

6.1   Ort der Dienstleistung bei der Erbringung von Dienstleistungen an Steuerpflichtige

6.1.1

Die geplante Ausweitung des Reverse-Charge-Verfahrens auf Unternehmerebene, also des Leistungsaustausches zwischen Steuerpflichtigen, wird vom Ausschuss begrüßt.

6.1.2

Voraussetzung ist jedoch, dass das Reverse-Charge-Verfahren in jeder Beziehung ohne Probleme durch die beteiligten Personen durchgeführt werden kann. Dies könnte dann problematisch sein, wenn der leistende Unternehmer die Beurteilung des Umsatzes bzgl. der umsatzsteuerlichen Vorgaben, des Leistungsortes, der Steuerpflicht und des Steuersatzes bzw. einer möglichen Steuerbefreiung auf den Leistungsempfänger überwälzen könnte, ohne dass dieser die Möglichkeit hätte, diese Angaben zuverlässig überprüfen zu können.

6.1.3

Die Unternehmen sollten von erheblichen zusätzlichen Erklärungs- und Aufzeichnungspflichten verschont werden. Unbedingt notwendig ist es, jedem Unternehmer innerhalb der EU zu ermöglichen, zuverlässig zu klären, ob der im anderen EU-Staat ansässige leistungsempfangende Unternehmer/Steuerpflichtige, verpflichtet ist, für den in Rede stehenden Umsatz das Reverse-Charge-Verfahren anzuwenden. Ein überschießender Haftungstatbestand des leistenden Unternehmers in den Fällen des — nachträglichen — Scheiterns der Umkehrung der Umsatzsteuerschuldnerschaft wäre dem ganzen System abträglich und würde dazu führen, dass dieses System von den beteiligten Kreisen nicht akzeptiert werden würde.

6.2   Dienstleistungen gegenüber nichtsteuerpflichtigen Personen

6.2.1

Erbringt ein leistender Unternehmer/Steuerpflichtiger Dienstleistungen an nichtsteuerpflichtige Personen, so kommt die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens von vornherein nicht in Betracht. Dies würde bedeuten, dass dann, wenn die Verbrauchsortbesteuerung greift, der Unternehmer des anderen EU-Staates sich im Dienstleistungsstaat umsatzsteuerlich registrieren müsste und die dortigen Mehrwertsteuerpflichten erfüllen müsste. Um diesen Verwaltungsaufwand und damit auch eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Geschäftsverkehrs zu minimieren, sind unbürokratische Regeln erforderlich.

6.2.2

Eine Registrierungspflicht führt zu erheblichem Mehraufwand, erheblichen Kosten und im Zweifelsfall dazu, dass der steuerpflichtige Unternehmer von der Erbringung dieser Dienstleistung Abstand nehmen wird. Damit würde aber gerade keine Öffnung des Binnenmarktes und eine Wettbewerbsgleichheit der Unternehmen in allen EU-Mitgliedstaaten erreicht werden, sondern nicht im gleichen Staat ansässige EU-Unternehmer wären gegenüber inländischen Leistungsanbietern erheblich behindert. Dies kann jedoch nicht im Interesse eines Abbaus von Handelshemmnissen sein. Aus diesem Grunde wäre die Erweiterung der Verbrauchsortbesteuerung an Nichtsteuerpflichtige nur dann tragbar, wenn das vorgeschlagene one-stop shop-System ohne Probleme schnell und einwandfrei funktioniert. Nur dann wäre es dem Unternehmer zuzumuten, ggf. in allen 25 EU-Mitgliedstaaten steuerpflichtige Leistungen zu erbringen, ohne dass die Möglichkeit eines Reverse-Charge-Systems besteht. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass der gegenteilige Effekt eintritt, nämlich die Herausdrängung von kleinen und mittleren Unternehmen aus dem EU-Binnenmarkt.

7.   Vorsteuervergütungsverfahren

7.1

Gleiches gilt für die Vereinfachung der mehrwertsteuerlichen Pflichten im Rahmen des Vorsteuervergütungsverfahrens. Die bekannten Probleme bei den Vorsteuervergütungen führen insbesondere bei kleineren Beträgen dazu, dass der Unternehmer sich überlegen muss, ob die Stellung eines Antrags gegenüber dem ausländischen Fiskus „lohnt“, oder ob es für ihn nicht viel preiswerter ist, auf den ihm zustehenden Erstattungsanspruch von vornherein gänzlich zu verzichten. Damit wird aber faktisch gegen ein der 6. MwSt-Richtlinie zugrundeliegendes Prinzip, nämlich das der Abzugsfähigkeit der Vorsteuerbeträge, verstoßen.

Der Ausschuss sieht dabei das Bemühen einer vollständigen und gleichmäßigen Erhebung der Mehrwertsteuer in einigen Staaten noch als stark verbesserungsbedürftig an.

7.2

Aus diesem Grunde wäre sicherzustellen, dass die von der EU-Kommission im Rahmen der Einführung eines one-stop shop-Systems entwickelten Vorschläge umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit hin verifiziert werden.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  „Steuerpflichtiger“ bedeutet hier Unternehmer, der die von ihm erbrachte Dienstleistung der Mehrwertsteuer unterwerfen muss und im Regelfall die Mehrwertsteuer auf Eingangsleistungen von seiner eigenen Mehrwertsteuerschuld absetzen kann.

(2)  „Nichtsteuerpflichtiger“ bedeutet hier Nichtunternehmer, im Wesentlichen Privatperson/Endverbraucher, der keine Mehrwertsteuererklärungspflichten hat.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung „Sitzlandbesteuerung — Skizzierung eines möglichen Pilotprojekts zur Beseitigung unternehmenssteuerlicher Hindernisse für kleine und mittlere Unternehmen im Binnenmarkt“

KOM(2005) 702 endg.

(2006/C 195/14)

Die Kommission beschloss am 23. Dezember 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 28. April 2006 an. Berichterstatter war Herr LEVAUX.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 143 Ja-Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet auf lange Sicht eine Harmonisierung der Steuervorschriften auf europäischer Ebene. Da derzeit jedoch bedauerlicherweise noch zahlreiche Hürden bestehen, vertritt er folgende Auffassung:

Er stimmt den Leitlinien und den Anstrengungen der Kommission zur Erleichterung der Entwicklung von KMU weiterhin zu, hegt jedoch Zweifel an der Effizienz und der Reichweite der vorgeschlagenen Regelung.

Für einen Pilotversuch wäre es angezeigter gewesen, eine Regelung mit einem besseren Rahmen vorzuschlagen, der auf konkreten Erfahrungen mit freiwilligen Verpflichtungen einiger Länder und KMU-Branchenverbände beruht und auf einen Probelauf von 5 Jahren beschränkt ist, sodass daraus sachdienliche und reproduzierbare Schlüsse gezogen werden können.

Er würde es begrüßen, wenn die Kommission Aspekte der im Folgenden aufgeführten Stellungnahmen aufgreifen und längerfristig eine Leitlinie formulieren würde, die den KMU Spielraum für kohärente Lösungen belässt — insbesondere solche, die auf ein Statut für „Europäische KMU“ hinauslaufen.

2.   Überblick über frühere Stellungnahmen des EWSA

2.1

Nach mehreren Vorschlägen während der letzten Jahre legt die Kommission diese Mitteilung als einen neuen Beitrag vor, mit dem im Steuerbereich und insbesondere bei der Körperschaftsteuer kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) neue Entwicklungschancen eröffnet werden sollen. Die Bedeutung der KMU für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand in der EU wurde mehrfach bekräftigt, insbesondere in dem „Lissabon-Aktionsplan“.

2.2

Der EWSA wurde seit Ende der neunziger Jahre wiederholt zu Vorschlägen, Empfehlungen und Mitteilungen zu diesem oder hiermit in Zusammenhang stehenden Themen konsultiert. Nachstehend wird auf neuere (unter anderem Initiativ-) Stellungnahmen verwiesen, in denen insbesondere das auf KMU angewandte Konzept „Europäisches Unternehmen“ und die steuerrechtlichen Vereinfachungen behandelt werden, die für die rasche Beseitigung der Hemmnisse, auf die sie stoßen, erforderlich sind.

Initiativstellungnahme  (1) von 2000 zum Thema „Europäische Charta für kleine Unternehmen“, in der neben etwa einem Dutzend Vorschlägen die Forderung erhoben wird, das Steuersystem zu vereinfachen und Kleinstbetriebe mit einem Minimalumsatz von einer überhöhten steuerlichen Belastung zu befreien.

Stellungnahme  (2) von 2001 zu der Mitteilung der Kommission „Steuerpolitik in der Europäischen Union — Prioritäten für die nächsten Jahre“. Der EWSA unterstützt alle Zielsetzungen der Kommission im Bereich der Steuerpolitik und unterstreicht die Notwendigkeit einer Koordinierung der Unternehmensbesteuerung, um Schwierigkeiten zu beseitigen, denen KMU aufgrund nationaler Disparitäten begegnen.

Initiativstellungnahme  (3) von 2002 zum Thema „Ein europäisches Rechtsstatut für KMU“, das eine Gleichbehandlung mit den größeren Unternehmen sicherstellen soll, indem den KMU ein europäisches Qualitätszeichen vorgeschlagen wird, um ihnen den Geschäftsbetrieb im Binnenmarkt zu erleichtern, die Gefahr der Mehrfachbesteuerung auszuschließen usw.

In der Initiativstellungnahme  (4) von 2002 zum Thema „Direktbesteuerung von Unternehmen“wird dazu aufgefordert, beschleunigt Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zu erlassen. Der Ausschuss begrüßt das Ziel eines Binnenmarktes ohne Steuerhindernisse, indem gemeinsame Grundsätze festgelegt werden. Ferner wird hervorgehoben, dass die Einführung „einer harmonisierten Bemessungsgrundlage für alle Unternehmen in der EU mit der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Regionen der EU vereinbar“ sei, sofern deren Steuerhoheit im Hinblick auf die Höhe der Steuersätze unangetastet bleibt.

Stellungnahme  (5) von 2003 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 90/435/EWG über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten“. Der EWSA unterstützt die Kommission bei ihrem Vorhaben, die wirtschaftliche Doppel- oder Mehrfachbelastung der von einem Tochterunternehmen oder einer Betriebsstätte in dem Niederlassungsstaat ausgeschütteten Gewinne zu beseitigen oder zumindest zu lindern.

In seiner Initiativstellungnahme  (6) von 2003 zum Thema „Steuerpolitik in der EU: gemeinsame Grundsätze, Konvergenz des Steuerrechts und Möglichkeit der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit“ dringt der Ausschuss darauf, auf drei Fragestellungen näher einzugehen, darunter die Einführung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung und die Festlegung der Mindestniveaus der Körperschaftsteuersätze mit qualifizierter Mehrheit.

In der auf Ersuchen der Kommission zum Thema „Fähigkeit der Anpassung der KMU und der sozialwirtschaftlichen Unternehmen an die durch die wirtschaftliche Dynamik vorgegebenen Änderungen“ erarbeiteten Sondierungsstellungnahme  (7) von 2004 bekräftigt der Ausschuss erneut die Notwendigkeit, den Zugang zu den Weltmärkten für die KMU und SVUbesonders durch den Abbau der administrativen Bürden und rechtlichen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sindzu erleichtern.

In seiner Stellungnahme  (8) von 2004 zu der Mitteilung der Kommission „Ein Binnenmarkt ohne unternehmenssteuerliche Hindernisse — Ergebnisse, Initiativen, Herausforderungen“ hebt der EWSA hervor:

In Ziffer 3.2: die Notwendigkeit, Verzerrungen des Binnenmarktes zu beseitigen, „indem die Übereinkommen über Unternehmenssteuervorschriften konsolidiert werden (...), da die KMU nicht über die notwendigen Mittel verfügten, sich auf 15 und demnächst 25 verschiedene einzelstaatliche Vorschriften einzustellen.“

In Ziffer 3.3: die„Überzeugung, dass eine mögliche ‚Besteuerung im Heimatland‘ für KMU, ggf. mit einer Umsatzschwelle, Vorzüge hätte.

In Ziffer 3.3.1 wird ausgeführt:„Das Pilotprojekt der Kommission zur 'Besteuerung im Heimatland' bietet eine Lösung für grenzüberschreitend tätige KMU und erleichtert ihre Steuerverwaltungsbelastung. Die 'Besteuerung im Heimatland' könnte bilateral getestet und bei positiver Bewertung später auf die gesamte EU ausgeweitet werden.“

In Ziffer 3.4 heißt es:„Eine gemeinsame europäische Besteuerungsgrundlage ist ein wichtiger erster Schritt.“

Ziffer 3.7 lautet:„Der EWSA appelliert erneut an die Mitgliedstaaten, ein Übereinkommen zu schließen, das es den KMU ermöglicht und sie dabei unterstützt, im Ausland zu expandieren und dabei Arbeitsplätze zu schaffen, denn KMU schaffen die meisten Arbeitsplätze. Der EWSA ermutigt sie hierzu, so weit sie den überwiegenden Teil neuer Arbeitsplätze bereitstellen.“

2.3

Der EWSA zitiert diese Auszüge aus acht Stellungnahmen aus fünf Jahren:

um die Bedeutung seiner Beiträge besser hervorzuheben;

um geeignete Maßnahmen in Erinnerung zu rufen, die es KMU ermöglichen, im EU-Binnenmarkt eine wichtige Rolle zu spielen;

um hervorzuheben, dass die Kommission durch ihre Beharrlichkeit zeigt, dass ihr an einer Lösung gelegen ist.

2.4

Allerdings bedauert der EWSA, dass fünf Jahre vergangen sind, ohne dass eine effiziente Regelung konkrete Formen annimmt. Er fordert auch das Europäische Parlament und den Rat nachdrücklich auf, die Beseitigung der nunmehr deutlich umrissenen Hindernisse entschlossen anzugehen.

3.   Vorschläge der Kommission und Beiträge des EWSA

3.1

Der EWSA hat sich zwar bereits bei früheren Gelegenheiten gleichlautend zu den in diese Richtung gehenden Vorschlägen der Kommission geäußert, möchte hier jedoch mehrere Gesichtspunkte ergänzen.

3.2

Die Kommission macht in ihrer Mitteilung darauf aufmerksam, dass die KMU — insbesondere aus steuerlichen Gründen — in deutlich geringerem Maße am Binnenmarkt teilhaben als größere Unternehmen. Die grenzüberschreitende Expansion der KMU müsse gefördert werden; die Kommission empfiehlt die Sitzlandbesteuerung. Da es sich um die Besteuerung von Unternehmen — konkret die Körperschaftsteuer — handelt, schlägt die Kommission den Mitgliedstaaten und Unternehmen vor, das Konzept der „Sitzlandbesteuerung“ in einer versuchsweisen Pilotregelung zu testen.

3.3

Der EWSA hat eine solche Initiative bereits befürwortet und ihr grundsätzlich zugestimmt. Er verweist allerdings darauf, dass lediglich eine begrenzte Zahl an KMU eine grenzüberschreitende Expansion plant; ein solcher Probelauf kann außerdem auch nur mit der Mitwirkung einer begrenzten Anzahl an Unternehmen durchgeführt werden, die von ihrem Standort oder ihrem Geschäftszweck her die Strategie verfolgen, sich in einem anderen Land anzusiedeln. Über diese grundsätzliche Übereinstimmung hinaus würde es der EWSA begrüßen, wenn die Kommission folgende Angaben präzisieren könnte:

Welche ungefähre Zahl von KMU ist möglicherweise in näherer Zukunft an der Umsetzung der befürworteten Regelung bezüglich der Berechnung der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage interessiert?

Welches wirtschaftliche Gewicht haben sie in der EU?

Welche Wirtschaftszweige sind am stärksten betroffen?

3.3.1

Angesichts des eigentlichen Ziels, mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen, indem die Geschäftstätigkeit auch der KMU erleichtert wird, und angesichts der begrenzten Haushaltsmittel der EU ist der EWSA der Ansicht, dass die Gelder nicht „nach dem Gießkannenprinzip“ verteilt werden sollten, sondern einer begrenzten Zahl wirkungsvoller Maßnahmen der Vorzug zu geben ist. Zu diesem Zweck muss auf Grundlage der verfügbaren statistischen Daten nicht nur die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahme geprüft, sondern diese auch mit der Wirksamkeit anderer, möglicherweise geeigneterer Maßnahmen verglichen werden. Der Ausschuss ist erstaunt, dass die Kommission aufgrund mangelnder Informationen nicht in der Lage ist, in ihrer Folgenabschätzung die Kosten der von ihr vorgeschlagenen Maßnahme zu beziffern.

3.4

Um die Begründetheit ihres Vorschlags zu belegen, stützt sich die Kommission auf die Ergebnisse einer Umfrage, im Rahmen derer sie im 2. Halbjahr 2004 die KMU und die Wirtschaftsverbände der 25 Mitgliedstaaten befragt hat. Der Kommission wurden lediglich 194 Fragebögen zurückgesandt, 168 hiervon stammen von deutschen Unternehmen (siehe Anhang).

3.4.1

Der Ausschuss stellt fest, dass auf diese Umfrage nicht genug Antworten aus der gesamten EU eingegangen sind, um die Ergebnisse als repräsentativ für die mehreren Millionen KMU — alleine in der Baubranche sind es zwei Millionen — anzusehen. Auch zeigt er sich darüber erstaunt, dass ihm die Beiträge der Wirtschaftsverbände und der Sozialpartner nicht zur Kenntnis gebracht wurden. Er dringt daher darauf, dass ihm diese Beiträge — sofern nicht vertraulich — zur Kenntnisnahme übermittelt werden.

3.4.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Umfrage kaum verwertbare Informationen liefert und die Kommission keine Schlussfolgerungen daraus hätte ziehen sollen, weil sie möglicherweise nicht ausreichend fundiert sind.

3.5

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission

die Gründe für das offensichtliche Desinteresse der Unternehmen an dieser Umfrage ermitteln sollte;

ausreichende Finanzmittel bereitstellen sollte, damit die Erstellung der Fragebögen qualifizierten Meinungsforschungsinstituten anvertraut werden kann. Diese würden im Vorfeld ausloten, ob der Gegenstand der geplanten Umfrage, das Ziel und der eigentliche Inhalt des Fragebogens tatsächlich auf das gewünschte Interesse stoßen. Gleichzeitig könnte eine direkte Kontaktaufnahme mit einigen KMU, die bereits Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten haben, eine bessere Bewertung der Schwierigkeiten ermöglichen, auf die KMU in diesem Zusammenhang stoßen;

ihren Fragebogen nicht nur im Internet veröffentlichen sollte, da diese Vorgehensweise offensichtlich für KMU ungeeignet ist, sondern sich eher für Organisationen eignet, die die Internetseiten der Kommission regelmäßig konsultieren.

3.5.1

Man muss sich auch fragen, ob manche Führungskräfte von KMU, die die feste Absicht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat anzusiedeln, möglicherweise gar nicht zuerst an die Art und Weise ihrer künftigen Besteuerung denken, sondern lieber eine Reihe von Geschäftspartnern vor Ort finden, in Marketing investieren und mittelfristig Gewinne erwirtschaften wollen.

3.5.2

Es ist schließlich auch gut möglich, dass sich andere KMU-Führungskräfte — wenn sie eine Ansiedlung in einem anderen Mitgliedstaat in Betracht ziehen — mit zahlreichen und so komplexen verwaltungstechnischen, rechtlichen, sozialen, steuerrechtlichen usw. Problemen konfrontiert sehen, dass die Frage der Besteuerung ihrer Tochtergesellschaft nebensächlich oder verfrüht erscheint und sie es vorziehen, mit einem Unternehmen vor Ort ein Joint Venture zu gründen (was im Übrigen das Zusammenwachsen Europas begünstigt).

3.6

Die Kommission legt den Anwendungsbereich und die Ziele der von ihr vorgeschlagenen Pilotregelung wie folgt fest:

die Pilotregelung wird umfassend auf alle KMU einschließlich Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten angewendet;

die Ermittlung erfolgt nach den im Sitzland der Muttergesellschaft auf die Bemessungsgrundlage für die besteuerbaren Gewinne sowie auf die Gewinne aller qualifizierten Tochtergesellschaften und Betriebsstätten in anderen teilnehmenden Mitgliedstaaten anwendbaren Bestimmungen;

die so ermittelte Steuerbemessungsgrundlage wird dann nach Maßgabe ihres jeweiligen Anteils an der Gesamtlohnsumme und/oder des Umsatzes auf die einzelnen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Jeder Mitgliedstaat würde dann seinen eigenen Steuersatz auf diesen Anteil anwenden;

es ist ein grenzüberschreitender Verlustausgleich vorgesehen;

auf diese Weise würden die Kosten verringert, die KMU aufgrund der voneinander abweichenden nationalen Körperschaftsteuer-Bestimmungen entstehen, die üblicherweise die Inanspruchnahme von Fachleuten mit hohen Gebührensätzen erforderlich machen.

3.7

Der EWSA stellt fest, dass diese Zielsetzungen und der Anwendungsbereich des Vorschlags mit den früheren Plänen übereinstimmen. Er befürwortet die Vorschläge daher und schlägt im Falle eines positiven Abschlusses der Versuche die umgehende Einrichtung eines europäischen Instruments zur Überwachung und gegebenenfalls zur Kontrolle des Steuerdumpings vor, um zu verhindern, dass die Unternehmen etwa den Sitz der Muttergesellschaft in Mitgliedstaaten der Union verlagern, die bei der Ermittlung der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage günstigere Bedingungen bieten.

3.8

Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, zur Festlegung der praktischen Modalitäten für die Umsetzung dieser Pilotregelung unter Berücksichtigung der von ihr vorgeschlagenen allgemeinen, nicht verpflichtenden Leitlinien bilaterale Vereinbarungen auszuhandeln und abzuschließen. Die Kommission bietet ihre Dienste für die Vorbereitung und die Federführung dieser bilateralen Vereinbarungen an.

3.9

Der EWSA ist sich über die begrenzte Handlungs- und Interventionsreichweite der Kommission im Klaren und zeigt sich erfreut, dass diese sich darauf beschränkt, Vorschläge zu unterbreiten und Anregungen zu machen. Hierdurch können interessierte KMU, die dem Anwendungsbereich bilateraler Vereinbarungen bestimmter EU-Länder unterfallen, versuchsweise an der „Pilotregelung“ teilnehmen. In Abhängigkeit von den Ergebnissen der Versuche wird die Kommission zum gegebenen Zeitpunkt vorschlagen, diese Testphase mit einigen der wirkungsvollsten Pilotregelungen fortzusetzen.

3.10

Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass die Vielzahl einzelstaatlicher Regelungen ein Haupthindernis für die KMU darstellt. Der Abschluss einer noch größeren Zahl bilateraler Vereinbarungen unter den 25 Mitgliedstaaten, die sich naturgemäß voneinander unterscheiden, würde dazu führen, dass diese von den KMU nur teilweise genutzt werden. Dies würde nicht die gewünschte Vereinfachung bringen.

3.11

Darüber hinaus fragt sich der Ausschuss, welche praktischen Auswirkungen der von der Kommission geäußerte Entschluss haben wird, für den neuen Versuch keine stärker ausgestaltete Rahmenregelung vorzuschlagen. Wie soll es denn nach dem Inkrafttreten zahlreicher bilateraler Vereinbarungen zum gegebenen Zeitpunkt möglich sein, die Steuervorschriften zu harmonisieren (wie dies mittelfristig wünschenswert ist), wenn einige der Konvergenzkriterien nicht bereits von Anbeginn an festgelegt worden sind?

3.12

Schließlich stellt der EWSA fest, dass keinerlei ausführliche Untersuchung der Frage in die Wege geleitet wurde, ob es nicht in der Union selbst, in bestimmten Staaten oder auch Regionen, wie z.B. der Schweiz, Liechtenstein und dem Vatikan oder auch in Fürstentümern wie Monaco, San Marino, Andorra usw., Regelungen gibt, mit deren Hilfe die durch die Vielzahl an nationalen, regionalen oder lokalen Steuersystemen entstehende Belastung für die Unternehmen (und insbesondere für die KMU) beseitigt bzw. gemildert werden kann.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 204 vom 18.7.2000, S. 57.

(2)  ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 73.

(3)  ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 100.

(4)  ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 75.

(5)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 118.

(6)  ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 139.

(7)  ABl. C 120 vom 20.5.2005, S. 10.

(8)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, S. 41.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/61


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung des Kohäsionsfonds (kodifizierte Fassung)“

KOM(2006) 5 endg. — 2003/0129 (AVC)

(2006/C 195/15)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 28. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 28. April 2006 an. Berichterstatter war Herr GRASSO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17. Mai 2006 mit 146 gegen 1 Stimme bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Initiative der Kommission zur Kodifizierung der Verordnung (EG) Nr. 1164/94 zur Errichtung des Kohäsionsfonds.

2.

Der EWSA bestätigt seine bereits mehrfach zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass die Kodifizierung der Gemeinschaftsverordnung dazu beiträgt, die europäischen Bürger mit den Instrumenten der Europäischen Union vertraut zu machen. Dies ist umso wichtiger als die Kohäsionspolitik für die europäische Integration von entscheidender Bedeutung ist.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

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C 195/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Das auswärtige Handeln der EU: Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft“

(2006/C 195/16)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 28. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung die Ausarbeitung zum Thema: „Das auswärtige Handeln der EU: Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr KORYFIDIS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai 2006) mit 140 gegen 3 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Die vorliegende Stellungnahme wurde auf der Grundlage eines Fragebogens und einer Studie konzipiert. Die entsprechenden Arbeiten sind das Ergebnis einer theoretischen Langzeitanalyse vor Ort sowie des Erfahrungsschatzes, den der EWSA in seinen Beziehungen mit Beratungsgremien und vergleichbaren Organisationen der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten und in Drittländern aufgebaut hat. Dieser über viele Jahre hinweg verlaufene Prozess brachte den EWSA zu der Überzeugung, dass es jetzt an der Zeit ist, zur nächsten Phase überzugehen, dergestalt sein Engagement und die damit einhergehenden Beziehungen systematischer, regelmäßiger und aussichtsreicher gestaltet werden.

2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Globalisierung der Wirtschaft im Verbund mit den Entwicklungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Technik — insbesondere bei den Informationstechnologien — eine starke Dynamik hervorbringt, die aus heutiger Sicht nur durch eine Schwerpunktsverlagerung bei der Konzipierung und Weiterentwicklung der internationalen Beziehungen in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann. Dieser Übergang muss über die strukturelle Integration des Verhältnisses zwischen Gemeinwesen in das klassische Verhältnis Staat zu Staat ins Werk gesetzt werden.

3.

Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Europäische Union als Governance-System in ihrer Gesamtheit und umfassend die neue Realität zeitgerecht anerkennen muss. In diesem Zusammenhang muss sie auch Politiken für das auswärtige Handeln konzipieren und ausgestalten und unter aktiver Beteiligung und Valorisierung der organisierten Zivilgesellschaft in die Tat umsetzen.

4.

Die besagten Politiken der Europäischen Union müssen tunlichst vorbeugend im Sinne von vorausschauend und unbedingt integriert sein. Das europäische demokratische Leben, der europäische Besitzstand im Wirtschafts- und Sozialbereich, die strategischen Ziele der Europäischen Union und das gesicherte Wissen sind die Parameter für die Konzipierung und Gestaltung dieser Politiken innerhalb der Grenzen der Union und darüber hinaus.

5.

In diesem Zusammenhang muss aber auch ein neues inneres organisatorisches, zugleich aber auch kreativeres Gleichgewicht gefunden werden zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit, vor allem in Bereichen und bei Aktivitäten, die auf Drittländer abzielen.

6.

Die Bewusstwerdung der organisierten europäischen Zivilgesellschaft über ihre neue Rolle ist ein komplexes Problem. Hierfür müssen zeitgerechte Methoden angestrebt werden, die einen engen Bezug zum Lernen und Wissen erschließen.

7.

Um diesen Bezug zu schaffen, aber auch ganz allgemein, damit die europäischen Bürger im Kontext einer wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft agieren können, ist auch ein neuer Blickwinkel bezüglich der Programme für lebenslanges Lernen erforderlich. Dies bedeutet in der Praxis, dass die bestehenden Konzepte für lebenslanges Lernen auch Wissen einschließen müssen, das mit der Globalisierung und dem auswärtigen Handeln der Union in Zusammenhang steht.

8.

Dem EWSA als grundlegender Repräsentant der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene kommt eine dreifache Rolle zu:

die Rolle der ganzheitlichen Vertretung der organisierten Zivilgesellschaft in Fragen des auswärtigen Handelns gegenüber den politischen Institutionen der Europäischen Union unter Einsatz seines demokratischen Besitzstandes und nach einem Verfahren, das unterschiedliche Interessen auf kreative Weise unter einen Hut bringt, und

zum anderen die Aufgabe der aktiven Mitwirkung bei der Konzipierung und Umsetzung von Gemeinschaftspolitiken, die auch in das auswärtige Handeln hineinspielen

die Gewährleistung der Beobachtung der Außenpolitik der EU und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen.

9.

Diese Funktion des EWSA deckt ein breites Spektrum an Themen und Aktivitäten ab, denn alle Probleme, die das neue weltweite Umfeld mit sich bringt, haben ihr Pendant bei den einzelnen Wesenselementen des Ausschusses, d.h. sie haben eine wirtschaftliche, soziale, ökologische und eine kulturelle Dimension.

10.

Der substanzielle Beitrag des EWSA zur Konzipierung und Ausgestaltung der das auswärtige Handeln betreffenden Gemeinschaftspolitiken liegt in dem ihm eigenen Vermögen, durch seine Standpunkte im Einzelfall eine konstruktive Ausgewogenheit zum Ausdruck zu bringen. Eine Ausgewogenheit, die durch das Zusammenspiel der verschiedenen von den Ausschussmitgliedern vertretenen Interessen im Rahmen eines Prozesses und einer Perspektive, die die besagten vier Dimensionen beinhaltet, herbeigeführt wird.

11.

Der EWSA verfügt bereits über umfangreiche Erfahrungen in Fragen des auswärtigen Handelns der Europäischen Union. Auf der anderen Seite ist aber auch festzustellen, dass es an der Nutzung der einschlägigen Erfahrungen unter Einsatz breiter angelegter gemeinschaftlicher Instrumente und Konzepte mangelt. Zumal die Gemeinschaftsorgane haben es nicht vermocht, diesen Fundus an Erfahrungen und die Schlussfolgerungen, die sich aus den Stellungnahmen, Informationsberichten und Vorschlägen ergeben, hinreichend zu valorisieren und sich zunutze zu machen.

12.

Der EWSA ist der Ansicht, dass bessere Mittel und Wege gefunden werden müssen für die Verknüpfung der besagten Erfahrungen mit den zentralen politischen Strukturen der Europäischen Union. Dies kann durch die Unterzeichnung von Protokollen über eine verstärkte Zusammenarbeit geschehen, so wie es etwa zwischen der Europäischen Kommission und dem EWSA unterzeichnet wurde. Noch besser kann dies aber im Rahmen einer Partnerschaft zwischen sämtlichen politischen Organen der Europäischen Union und dem EWSA zur Entwicklung integrierter einschlägiger Politiken ins Werk gesetzt werden, die vorzugsweise vorausschauend angelegt sein sollten.

13.

In jedem Fall sieht der EWSA die Notwendigkeit einer Stärkung seiner Rolle sowie ganz allgemein der Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei den Globalisierungsprozessen. Der generelle Grund für diesen Handlungsbedarf ist in der Förderung der breiteren Ziele der Europäischen Union in der Welt des 21. Jahrhunderts zu suchen. Ein spezieller Grund für dieses Erfordernis ist — zumal im Falle des EWSA — die Art und Weise, in der diese Förderung erfolgen kann. Anders gesagt besteht hier ein Bezug zu der Herausbildung einer neuen Funktionsweise des Ausschusses im Rahmen und entsprechend der Wesenscharakteristik der Wissensgesellschaft sowie zu einem Merkmal, das den EWSA auszeichnet. Und zwar die Möglichkeit, jenseits der Grenzen der EU auf der Ebene der Gemeinwesen unter dem Einsatz von Instrumenten, die der „sanften Diplomatie“ zuzuordnen sind, in zuverlässiger Weise tätig zu werden.

14.

Der EWSA fordert die Anerkennung und Stärkung dieser Besonderheit und Gestaltungsmöglichkeit. Er fordert seine Würdigung als weltweiter Partner/institutionalisierter Vertreter der europäischen organisierten Zivilgesellschaft, insbesondere in internationalen Gremien, wie etwa dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO. Außerdem fordert er auch die Stärkung seiner Position und Rolle bei Verträgen, die mit Drittländern geschlossen werden, sowie die Förderung seiner politischen Anstrengungen, die darauf abzielen, die Zivilgesellschaft dieser Länder zu unterstützen.

15.

Damit er die besagte dreifache Funktion wahrnehmen kann, bittet der EWSA um Unterstützung bei der mittelfristigen Entwicklung seiner wichtigsten Optionen, wie etwa:

die Schaffung eines zeitgemäßen und integrierten Systems für proaktive Kommunikation, Informationsaustausch und die Vernetzung mit seinen Partnern in Europa und weltweit, sowie auch mit den anderen EU-Institutionen;

die Stärkung seiner Präsenz und seiner Zusammenarbeit mit beratenden Organen von Regierungsorganisationen und anderen einschlägigen Einrichtungen, insbesondere auf dem Gebiet der Beziehungen mit der organisierten Zivilgesellschaft;

die Einrichtung einer „elektronischen Wissensdatenbank“ über die weltweite Tätigkeit von Organen und Strukturen mit beratender Funktion, über die Netzwerke der organisierten Zivilgesellschaft und die Nutzung dieser Datenbank als Instrument für die Kommunikation, die Vorgehensweise, das Verständnis und die Auslegung der Verhaltensweisen der Zivilgesellschaft sowie als Instrument für die weltweite Vermittlung der Werte und Strategieziele der Europäischen Union;

die zweijährliche Erstellung eines Berichts über die Entwicklung der weltweiten Tätigkeit von Organen und Strukturen mit beratender Funktion und den diesbezüglichen Einfluss des auswärtigen Handelns der Europäischen Union.

16.

Angesichts der vorstehenden Feststellungen und Anregungen fordert der EWSA die politischen Organe der Europäischen Union auf, eine Methode des kontinuierlichen interinstitutionellen Dialogs auf den Weg zu bringen, der darauf abzielt:

transparente und zeitgerechte Information zu vermitteln und gesichertes kollektives Wissen über das auswärtige Handeln der Europäischen Union zusammenzutragen und

bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu einer einheitlichen und kohärenten Auffassung darüber zu gelangen, was, warum und wie zu tun ist.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


18.8.2006   

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C 195/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“

(2006/C 195/17)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 15. Februar 2006 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, folgendes zu erarbeiten: „Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“.

Gemäß Artikel 20 der Geschäftsordnung wurde Herr MALOSSE zum Hauptberichterstatter bestellt.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 133 Stimmen gegen 1 Stimme bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Absicht des Ratsvorsitzes, sich nicht auf eine Bestandsaufnahme der während der Phase des Nachdenkens ergriffenen Initiativen zu beschränken, sondern auch die nächsten Schritte dieses laufenden Prozesses festzulegen.

2.

Der EWSA bekräftigt in dieser Hinsicht seinen in den Stellungnahmen vom 24. September 2003 (1) und 28. Oktober 2004 (2) vertretenen Standpunkt, dass der Verfassungsvertrag ein unerlässliches Instrument zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen der Europäischen Union darstellt. Er erinnert insbesondere an die Bedeutung der Einbeziehung der Charta der Grundrechte, die die Politiken der Europäischen Union auf die Grundlage der Rechte der Bürger stellt, sowie des institutionellen Rahmens und der Governance der Union, durch die die Union sichtbarer und wirksamer gestaltet werden kann.

3.

Des Weiteren verweist der EWSA auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2006 zur „Phase des Nachdenkens — Struktur, Themen und Rahmen für eine Bewertung der Debatte über die Europäische Union“.

4.

Der EWSA vertritt folgende Standpunkte:

Das Fehlen einer klaren Vision und von Übereinstimmung bezüglich der Ziele und des Zwecks der europäischen Einigung hat ungeachtet der Erfolge und Errungenschaften von 50 Jahren europäischem Einigungswerk Zweifel an diesem aufkommen lassen.

Die Vorbehalte der Bürger beziehen sich eher auf das Funktionieren und die gegenwärtigen Politiken der Union als auf den Verfassungsvertrag selbst, dessen Neuartigkeit der Öffentlichkeit nicht ausreichend erklärt worden ist.

Das derzeitige auf dem Vertrag von Nizza beruhende institutionelle System ist nicht in der Lage, der Europäischen Union zu Fortschritten auf dem Weg der europäischen Einigung zu verhelfen. Die gegenwärtigen Verträge genügen den Anforderungen einer modernen europäischen Governance nicht und geben vor allem den Organisationen der Zivilgesellschaft zu wenig Raum in Bezug auf den Gestaltungsprozess der Politiken und der Vorbereitung von Gemeinschaftsbeschlüssen auf allen Ebenen.

Die Europäische Kommission und der Europäische Rat müssen im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortlichkeiten angemessene Vorschläge unterbreiten, um die Grundlagen einer Vision für die Zukunft Europas zu schaffen — einer Vision, die den Bürgern Perspektiven bietet und die Unionspolitiken mit Inhalt füllt, damit diese den Erwartungen der Bevölkerung gerecht werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA, dass die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission vom 4. April 2006 eine Anhebung der Mittel im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 vorsieht, auf die sich der Europäische Rat ursprünglich verständigt hatte. Er stellt jedoch fest, dass sich die Anhebung in Grenzen hält und bedauert daher ausdrücklich, dass es diese Finanzielle Vorausschau nicht gestattet, Haushaltsmittel in einer Höhe bereitzustellen, die den Europa gegenüber bestehenden Ansprüchen gerecht wird. Er verweist diesbezüglich auf seine Stellungnahme vom 15. September 2004 (3).

Damit eine Kommunikationsstrategie zu Europa zum Erfolg führt, gilt es zunächst

eine klare Vision der Zukunft Europas zu entwickeln;

Politiken zu konzipieren und umzusetzen, die einen wirklichen Mehrwert für die Bürger bedeuten;

eine bessere Verständlichkeit und Sichtbarkeit des europäischen Einigungswerks und seines Zwecks zu gewährleisten;

eine verstärkte Demokratisierung der Arbeitsabläufe der Europäischen Union umzusetzen, was sich vor allem in einer besseren Einbeziehung der Bürger und einem besser strukturierten Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft äußert.

5.

Der EWSA gibt folgende Empfehlungen für den Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006:

5.1   Verantwortung

5.1.1

Die Verantwortung, einen schnellen Ausweg aus der gegenwärtigen Identitätskrise der Europäischen Union zu finden, liegt vor allem in den Händen der Mitgliedstaaten, und damit beim Europäischen Rat. Der Gipfel vom Juni 2006 muss daher eine klare Botschaft zur Zukunft Europas senden und Auswege aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse aufzeigen. Aus dieser Sicht hält es der EWSA für notwendig, dass die Lösung zum „Ausweg aus der Krise“ die Fortschritte und das Gleichgewicht, die durch den Verfassungsvertrag erreicht worden sind, bewahrt und der Tatsache Rechnung trägt, dass dieser Vertrag bis zum heutigen Tag bereits von 15 Mitgliedstaaten unterzeichnet worden ist.

5.1.2

Nach Maßgabe von Artikel IV-443 (4) des Verfassungsvertrags bedeutet das zweifache Scheitern des Ratifizierungsprozesses nicht, dass der Text gekippt werden muss, auch wenn die Gründe für die Ablehnung nicht ignoriert werden dürfen.

5.2   Eine bessere Governance

5.2.1

Die europäischen Institutionen, Kommission, Europäisches Parlament und Rat, müssen die innovativsten Bestandteile des Vertrags im Bereich der Governance bereits nutzen. Der EWSA befürwortet daher, die Prozesse der Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft vor jeder wichtigen Gesetzesinitiative ab sofort auszuweiten und zu verstärken. Er lädt die Kommission gleichfalls dazu ein, die Bedingungen für die Umsetzung des Rechts auf Bürgerinitiative zu untersuchen.

5.2.2

In diesem Zusammenhang müssten die Institutionen die Möglichkeiten des EWSA verstärkt nutzen, einen inhaltlichen Beitrag zur Gestaltung der Unionspolitiken durch Sondierungsstellungnahmen und Informationsberichte sowie im Rahmen von Folgenabschätzungen zu leisten.

5.2.3

Ebenfalls in dieser Hinsicht und in Verbindung vor allem mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen wird der Ausschuss weiterhin die Initiative ergreifen, um einen entscheidenden Beitrag zur Förderung und weiteren Strukturierung des Dialogs und der Abstimmung zwischen den Institutionen der Europäischen Union und der organisierten Zivilgesellschaft zu leisten.

5.2.4

Das Prinzip der „funktionalen Subsidiarität“ muss ausgebaut werden, in dem Verantwortlichkeiten „im Namen der Europäischen Union“ in zunehmendem Maße auf die Gebietskörperschaften und die Organisationen der Zivilgesellschaft übertragen werden, damit sich die Bürger die europäische Wirklichkeit schneller zu eigen machen können. Die Subsidiaritätskontrolle darf daher nicht allein den Gebietskörperschaften obliegen, sondern muss auch zur Aufgabe der Organisationen der Zivilgesellschaft gemacht werden.

5.3   Die Gemeinschaftspolitiken und die Unionsbürgerschaft mit Inhalt füllen

5.3.1

Die Institutionen der Europäischen Union müssen die europäischen Politiken verstärkt mit Inhalt füllen, um ihre Effizienz und positive Wirkung auf das tägliche Leben der Bürger unter Beweis zu stellen, und zwar in den Bereichen Arbeit, Mobilität, Umwelt, sozialer Fortschritt, Jugendpolitik, Unternehmergeist, Bekämpfung von Diskriminierung und Ausgrenzung usw. Des Weiteren müssen sie die Umsetzung der großen europäischen Projekte fortführen, die eine Identifizierung mit der EU ermöglichen (Transeuropäische Verkehrsnetze, Raumfahrt usw.); neue Projekte wie der europäische Zivildienst und das europäische System zur Vermeidung und Bewältigung von Katastrophen müssen angegangen werden.

5.3.2

Die Europäische Kommission muss gemäß den ihr in den Verträgen zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeiten umfassende gemeinsame Politiken in jenen Bereichen entwerfen und vorschlagen, in denen der Mehrwert einer europäischen Dimension unbestritten ist (insbesondere Energie, Umwelt, Forschung). In dieser Hinsicht müssen pragmatischere Lösungen gefunden werden, sei es — je nach Bereich — eine gemeinsame Finanzierung durch EU und Mitgliedstaaten oder eine verstärkte Zusammenarbeit.

5.3.3

Im Bereich der Außenbeziehungen und entsprechend einer auf der Tagung des Europäischen Rates 1998 in Wien eingegangenen Verpflichtung müssen die weit gestreuten Initiativen und verschiedenen Standpunkte, die Zweifel am Willen der Mitgliedstaaten zu einem gemeinsamen Vorgehen aufkommen lassen, durch einen größeren Zusammenhalt und mehr Solidarität innerhalb der EU ersetzt werden. Eine konsequente und überzeugende Präsentation der berechtigten Interessen der EU in der Welt würde ebenfalls dazu beitragen, das Ansehen bei den Bürgern und die Außenwirksamkeit der EU erheblich zu steigern.

5.3.4

Durch eine inhaltliche Füllung der Politikbereiche der EU würden die Kommission und der Rat der überarbeiteten Lissabon-Strategie Glaubwürdigkeit verleihen und den Weg für ein europäisches Projekt nach 2010 entsprechend den Erwartungen der Bürger freigeben. Dieses Mal jedoch sollten die bereitgestellten Mittel den angekündigten Zielen entsprechen. Der Verfassungsvertrag wird den Bürgern verständlicher, wenn er auf einen umfassenden Gesellschaftsentwurf ausgerichtet ist, an dem es gegenwärtig mangelt.

5.4   Die bestehenden Verträge umfassend ausschöpfen

5.4.1

Die Kommission und der Rat sollten bereits jetzt und ohne auf einen neuen Vertrag zu warten einige Bestimmungen des Vertrags von Nizza vollständig umsetzen, wie z.B. diejenigen, die den Übergang zur Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit in bestimmten Bereichen der Sozialpolitik und im Bereich Justiz und Inneres ermöglichen.

5.4.2

Im Übrigen empfiehlt der EWSA, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten neue Initiativen in Bezug auf die wirtschaftliche Governance der EU ergreifen, um den Koordinationsprozess der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Ankurbelung von Investitionen zu verstärken, die auf die Verwirklichung der Zielsetzungen der Lissabon-Strategie ausgerichtet sind. In dieser Hinsicht ist es von Nutzen, Aufgabenbereiche Zuwendungen der Eurogruppe bereits jetzt auszubauen.

5.4.3

Des Weiteren ist es Aufgabe des Rates, den Verzögerungen, Mängeln und nicht zuletzt Lücken, die immer noch in vielen Bereichen bestehen (die Einrichtung eines europäischen Statuts für Vereine, Genossenschaften und kleine Unternehmen bzw. das Gemeinschaftspatent), abzuhelfen. Ebenfalls rasch beseitigt werden müssen die Hindernisse, die nach wie vor in Bezug auf den freien Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr bestehen. Diese Verzögerungen und Lücken haben zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Institutionen der EU geführt. Sie fördern nationale Egoismen und eine Wiederkehr der Konkurrenz unter den Mitgliedstaaten.

5.4.4

Falls ein von der Europäischen Kommission — als Inhaberin des Initiativrechts und Hüterin des allgemeinen Interesses — unterbreiteter Vorschlag für einen europäischen Rechtsakt nicht umgesetzt wird, sollte der Rat diese Blockade vor den Bürgern begründen und sich auch dafür rechtfertigen.

5.5   Eine glaubwürdige und stimmige Öffentlichkeitsarbeit

5.5.1

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, gezielte und andauernde Informationskampagnen zu den Errungenschaften der europäischen Integration und deren Mehrwert zu entwickeln und eine „europäische Bürgerkunde“ ab der Grundschule einzurichten. Damit diese Öffentlichkeitsarbeit glaubwürdig ist und nicht mit Propaganda verwechselt wird, muss sie sich auf ein Netzwerk von Organisationen der Zivilgesellschaft stützen und auf eine konkrete Aussprache zu den politischen Inhalten ausgerichtet sein. Der Europäischen Kommission kommt außerdem eine zentrale Rolle bei der Sicherstellung der Einheitlichkeit der europäischen Informationskampagnen zu. In diesem Zusammenhang muss die Kommission die Politiken und Mechanismen der EU stärker verteidigen und sich nicht mit einer neutralen Haltung begnügen.

6.   Ein neuer Pakt zwischen Europa und den Bürgern an erster Stelle

6.1

Durch Unterzeichnung und Ratifizierung der europäischen Verträge haben sich alle Mitgliedstaaten freiwillig für einen Integrationsprozess entschieden, der auf einem sich ständig festigenden Zusammenschluss der europäischen Volker fußt.

6.2

Die Phase des Nachdenkens sollte nicht nur eine Gelegenheit darstellen, einen Ausweg aus der gegenwärtigen institutionellen Sackgasse zu finden, sondern sie muss darüber hinaus dazu genutzt werden, die Herausbildung eines neuen Konsenses über den Zweck der Einigung und über einen realistischen aber anspruchsvollen politischen Entwurf an die erste Stelle zu setzen. Die Bürger sollen von einem Europa träumen können, dass ihnen nicht nur Frieden, sondern auch mehr Wohlstand und Demokratie bringt. Dem europäischen Projekt eine neue Glaubwürdigkeit zu geben und dem Integrationsprozess eine neue Legitimität zu verleihen — dies sind die unabdingbaren Bedingungen einer Bewältigung der gegenwärtigen Identitätskrise der Europäischen Union.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme für die Regierungskonferenz 2003 (ABl. C 10 vom 14.1.2004).

(2)  Stellungnahme zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (ABl. C 120 vom 20.5.2005).

(3)  Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission „Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen: Politische Herausforderungen und Haushaltsmittel der erweiterten Union — 2007-2013“ (KOM(2004) 101 endg.) (ABl. C 74 vom 23.3.2005).


18.8.2006   

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C 195/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“

KOM(2006) 32 endg. — 2006/0010 (CNS)

(2006/C 195/18)

Der Rat beschloss am 10. Februar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr GREIF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 91 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Die Beschlussvorlage der Kommission

1.1

Anfang des Jahres 2006 legte die Kommission dem Rat eine Beschlussvorlage über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten für 2006 vor.

Darin wird vorgeschlagen, die im Jahr 2005 beschlossenen Leitlinien 2005-08 unverändert beizubehalten und den Mitgliedstaaten zu empfehlen, ihre Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik weiterhin gemäß den darin festgehaltenen Prioritäten fortzuführen.

1.2

Mit diesem Beschluss folgt die Kommission dem neuen Governance-Zyklus im Zuge der Reform der Lissabon-Strategie, wonach die in einem integrierten Paket mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik beschlossenen Beschäftigungspolitischen Leitlinien im Wesentlichen nur mehr alle drei Jahre vollständig überarbeitet werden sollen.

1.3

Damit verzichteten für 2006 die Mitgliedstaaten im Rat zugleich auf die Möglichkeit, in den dazwischen liegenden Jahren gegebenenfalls notwendige Anpassungen vorzunehmen.

Diesem Beschluss der Kommission ging eine Bewertung der im Herbst 2005 vorgelegten nationalen Reformprogramme der Mitgliedstaaten in ihrem Jahresfortschrittsbericht und im gemeinsamen Beschäftigungsbericht voraus.

2.   Anmerkungen des Ausschusses

2.1

Der EWSA hat bereits in seiner Stellungnahme zur Verabschiedung der Leitlinien 2005-2008 (1) diesen neuen integrierten Ansatz sowie den mehrjährigen Zyklus begrüßt, dabei allerdings u.a. festgehalten, dass

in einigen Punkten eine mangelnde Kohärenz zwischen Grundzügen der Wirtschaftspolitik und beschäftigungspolitischen Leitlinien festzustellen ist;

der Erfolg v.a. davon abhängt, dass die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen ernst nehmen und die vereinbarten Prioritäten in der Tat national umgesetzt werden;

dabei eine echte Einbindung der Parlamente, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in allen Phasen der beschäftigungspolitischen Koordinierung gewährleistet sein muss.

2.2

Der Ausschuss hat darüber hinaus bei der Erstellung der Leitlinien 2005-2008 Anpassungsbedarf insbesondere bei folgenden Prioritäten festgehalten:

bei politischen Maßnahmen zur Förderung der Eingliederung Jugendlicher in den Arbeitsmarkt, mit dem Ziel, ihnen v.a. eine erste Anstellung zu verschaffen, die auch Zukunftsaussichten bietet;

bei Maßnahmen im Übergang zur wissensbasierten Wirtschaft, insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung der Arbeitsplatzqualität und die Steigerung der Arbeitsproduktivität;

hinsichtlich Fragen zur Gleichbehandlung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt und in diesem Zusammenhang auch bei Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie;

hinsichtlich der Herausforderung, welche die Alterung der arbeitsfähigen Bevölkerung darstellt, sowie

hinsichtlich der Notwendigkeit der verstärkten Bekämpfung der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt aufgrund des Alters, von Behinderungen oder der ethnischen Herkunft.

2.3

Der EWSA schließt sich dem Urteil des Cambridge Review Reports zur Überprüfung der einzelstaatlichen Politik in den beschäftigungspolitischen Abschnitten der Nationalen Aktionspläne für 2005 an, in dem im Auftrag der Kommission bilanziert wird, dass gerade bei diesen in Punkt 2.2 angegebenen horizontalen Themen zwar jeweils einzelne Maßnahmen angegeben wurden, sie insgesamt jedoch von zahlreichen Mitgliedstaaten nicht vordringlich genug behandelt wurden.

Angesichts der kaum verbesserten Arbeitsmarktlage in vielen Mitgliedstaaten sowie der weiterhin mangelnden nationalen Umsetzung in diesen Bereichen wäre es für den EWSA vordringlich, dass in den jährlichen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten auf diese Punkte besonderes Gewicht gelegt wird und gegebenenfalls auch notwendige Anpassungen bei den mehrjährigen Leitlinien vorzunehmen.

2.4

Das trifft insbesondere für das weitgehende Fehlen ausdrücklicher und verbindlicher beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischer Zielvorgaben auf europäischer Ebene zu.

Mit der Abschwächung expliziter und auch quantifizierter Ziele zu Referenzwerten wurde bei der Verabschiedung der Leitlinien 2005-2008 vom bisher verfolgten Ansatz in der Europäischen Beschäftigungsstrategie, den Mitgliedstaaten einen klaren Rahmen mit eindeutigen Verpflichtungen aufzuerlegen, tendenziell abgegangen.

Vielmehr sollte sich jeder Mitgliedstaat nach Anhörung von nationalem Parlament und Sozialpartnern eigene Ziele zur Umsetzung der Leitlinien auf einzelstaatlicher Ebene im Rahmen der zu erstellenden Nationalen Reformprogramme setzen.

2.5

Der Ausschuss hat bereits vor einem Jahr darauf hingewiesen, dass dies zu einer weiteren Schwächung der Verbindlichkeit bei der nationalen Umsetzung europäisch vereinbarter Prioritäten führen kann, insofern, als die beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht mehr im selben Maße wie vorher an konkreten und auch quantifizierten europäischen Zielvorgaben gemessen werden können.

Diese Sorge — insbesondere zur tendenziellen Abnahme von Zielverpflichtungen — wird nun ein Jahr später weitgehend bestätigt, wie eine erste Durchsicht des Beschäftigungsteils der von den Mitgliedstaaten vorgelegten Nationalen Reformpläne zeigt. Wie von mehrfacher Seite bereits bilanziert, sind zahlreiche der an die Kommission gesandten Nationalen Reformprogramme hinsichtlich der Beschäftigungspolitik, die die Arbeitnehmerrechte und -pflichten wahrt, nicht besonders ambitioniert ausgefallen:

zum einen werden — wie bereits in den vergangenen Jahren — vielfach laufende Maßnahmen präsentiert, die sowieso auf der nationalen Regierungsagenda gestanden haben;

zum anderen fehlen in vielen nationalen Reformplänen konkrete Informationen wann, wie, mit welchen Ressourcen und durch wen sie realisiert werden sollen.

Ein gewisses Maß an Flexibilität bei der Umsetzung der Leitlinien ist angesichts der bestehenden unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Strukturen und Probleme in den Mitgliedstaaten grundsätzlich sinnvoll. Solange die unter Punkt 2.4 genannten Voraussetzungen gegeben sind, sollte unbedingt vermieden werden, die Ziele der erneuerten Lissabon-Strategie durch eine zu geringe Konkretisierung zu schwächen.

2.6

Der EWSA tritt daher dafür ein, wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen, um in Zukunft die Nationalen Programme qualitativ derart zu verbessern, dass darin mehr Verbindlichkeit hinsichtlich zeitlicher Vorgaben, Verantwortlichkeit und — so möglich — entsprechender finanzieller Grundlagen enthalten sind.

In den nationalen Reformplänen finden sich zumeist lediglich nationale Festlegungen zu den übergeordneten Lissabonner Beschäftigungszielen (Gesamtbeschäftigung, Frauen, Ältere). Der EWSA spricht sich für weitere konkrete Zielvorgaben aus, so etwa im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, bei der Forcierung der Gleichstellung und des Lebenslangen Lernens, hinsichtlich der Förderung behinderter Menschen (2) sowie bei der Ausweitung von Kinderbetreuungseinrichtungen und den Ressourcen für aktive Arbeitsmarktpolitik. — Hier haben nur wenige Mitgliedstaaten ambitionierte Vorschläge unterbreitet.

Die Wiederbesinnung und Festschreibung auf europäische Ziele in den Leitlinien ist vor diesem Hintergrund ernsthaft anzustrengen.

2.7

Der EWSA hat auch bereits darauf hingewiesen, dass ein wesentlicher Schlüssel für den Erfolg der Nationalen Reformpläne in der möglichst umfassenden Einbeziehung aller relevanten sozialen Akteure — insbesondere der Sozialpartner — in allen Phasen des Prozesses ist.

Der Ausschuss bedauert in diesem Zusammenhang, dass bei der Erarbeitung der Nationalen Aktionspläne vielfach nicht die notwendige Konsultation der Sozialpartner sowie eine wirkliche Debatte mit der Zivilgesellschaft stattgefunden haben. Nicht zuletzt bereits aufgrund des sehr engen Terminplans bei der Erstellung der Reformpläne, wie auch im Cambridge Review Report des Beschäftigungsausschusses in einer Analyse der Länderberichte ausgeführt.

Eine derartige Einbindung aller relevanten sozialen Akteure stellt nach Ansicht des EWSA eine Voraussetzung dafür dar, um beispielsweise über die Arbeitsmarktpolitik Flexibilität am Arbeitsmarkt und weitgehende Sicherung von Beschäftigungsverhältnissen in Einklang zu bringen.

Für den EWSA ist die mangelnde Einbeziehung der Zivilgesellschaft auch einer der Gründe, warum in den meisten Mitgliedstaaten zu geringe Anstrengungen zur Einbeziehung der Säule „Soziale Sicherung“ vorgenommen wurden.

2.8

In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass die meisten Reformpläne nur unzureichend die Notwendigkeit berücksichtigen, neben strukturellen Reformen am Arbeitsmarkt auch nachfrageorientierte Maßnahmen zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung zu setzen. Der EWSA hat in diesem Zusammenhang in letzter Zeit mehrfach darauf hingewiesen, dass es dazu eines gesunden makroökonomischen Kontextes auf europäischer und nationaler Ebene bedarf.

Eine spürbare Besserung der beschäftigungspolitischen Lage kann in vielen Mitgliedstaaten nur mit einem nachhaltigen konjunkturellen Aufschwung erreicht werden. Entsprechende Rahmenbedingungen, die sowohl die externe als auch die interne Nachfrage begünstigen, müssen geschaffen werden, um das Potenzial für Wachstum und Vollbeschäftigung auszuschöpfen. Nur wenige Mitgliedstaaten legen in ihren Reformprogrammen in diesem Sinn ausreichende Akzente zur wirtschaftlichen Stimulation.

2.9

Der EWSA hat darüber hinaus bereits mehrfach festgehalten, dass beschäftigungspolitische Anstrengungen ohne entsprechende Finanzmittel auf nationaler und europäischer Ebene nicht erfolgreich sein können. Die entsprechenden Prioritäten müssen daher in den Budgetplanungen berücksichtigt werden. Auch hier stellt der Cambridge Review bei den meisten Mitgliedstaaten ein Auseinanderklaffen von Vorschlägen zu arbeitsmarktpolitischen Initiativen und mangelnder budgetärer Deckung fest.

So muss etwa der budgetäre Spielraum für entsprechende Infrastrukturinvestitionen in den Mitgliedstaaten erhöht werden. Die nationalen Reformprogramme sollten möglichst so konzipiert sein, dass sie ein europaweit koordiniertes Konjunkturbelebungsprogramm ergeben. Wichtiger Ansatzpunkt dazu sind auch öffentliche Investitionen. In diesem Zusammenhang sind die im zukünftigen EU-Budget vorgesehene massive Kürzung der für TEN-Projekte vorgesehenen Mittel durch Umschichtungen zurückzunehmen.

Der EWSA fordert diese und auch andere Wachstum und Beschäftigung hemmende Beschränkungen bei der konkreten Ausgestaltung der Finanziellen Vorschau 2007-2013 zu berücksichtigen.

3.   Follow-Up

3.1

Der EWSA appelliert daran, dem Grundsatz der partizipativen Demokratie im Rahmen der Umsetzung der Nationalen Reformpläne in den Mitgliedstaaten, aber auch bei der Behandlung der Beschäftigungspolitischen Leitlinien in den nächsten Jahren entsprechenden Platz einzuräumen. Der dringend notwendige Fortschritt im Rahmen der beschäftigungspolitischen Säule im Lissabonner Prozess wird ganz wesentlich davon abhängen.

3.2

Der EWSA wiederholt in diesem Zusammenhang sein Angebot, dass er zusammen mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen in Zukunft eine aktive Rolle v.a. hinsichtlich der Beobachtung der effektiven Anwendung der Leitlinien durch die Mitgliedstaaten einnehmen kann.

3.3

Hinsichtlich notwendiger Adaptionen der Leitlinien in den kommenden Jahren, überlegt der Ausschuss in einer gesonderten Initiative Stellung zu nehmen.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme des EWSA vom 31.5.2005 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (gemäß Artikel 128 EG-Vertrag)“ (Berichterstatter: Herr Malosse) (ABl. C 286 vom 17.11.2005).

(2)  Stellungnahme des EWSA vom 20.4.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Situation behinderter Menschen in der erweiterten Europäischen Union: Europäischer Aktionsplan 2006-2007“ (Berichterstatterin: Frau Greif).


18.8.2006   

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C 195/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema„Mitteilung der Kommission: Aktionsplan für Biomasse“

KOM(2005) 628 endg.

(2006/C 195/19)

Die Kommission beschloss am 23. Januar 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 und dem Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 7. November 2005 um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Mitteilung der Kommission: Aktionsplan für Biomasse“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr VOSS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 85 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den von der Kommission vorgelegten „Biomasse-Aktionsplan“ als einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung Europas.

1.2

Die Analyse zum derzeitigen Ausbau der Biomasse sowie deren Potenziale gibt zum ersten Mal einen Überblick über Möglichkeiten und bestehende Hindernisse der Biomassenutzung in den verschiedenen Energiesektoren.

1.3

Den Anteil der Biomasse an den erneuerbaren Energien (EE) auszubauen ist eine wesentliche Voraussetzung, um das Ziel der Europäischen Union von 12 % erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch bis 2010 zu erreichen. Daher ist die Absicht, die Biomassenutzung verstärkt zu fördern, richtig und unverzichtbar.

1.4

Die legislative Lücke im Bereich der Nutzung von erneuerbaren Energien im Wärmebereich zu schließen, wird ausdrücklich vom EWSA unterstützt. Bisher gibt es auf europäischer Ebene lediglich die Richtlinie zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien sowie die Richtlinie zur Förderung von Biotreibstoffen. Angesichts eines Wärmeanteils von etwa 50 % am Gesamtenergieverbrauch und dem hohen Biomassepotenzial für Wärme wird von der Kommission noch in diesem Jahr ein Vorschlag erwartet.

1.5

Dieser Vorschlag sollte allerdings nicht auf Biomasse beschränkt bleiben, sondern auch andere EE-Technologien zur Wärme- und Kälteerzeugung berücksichtigen. Eine konkrete und verbindliche Zielsetzung der Union für das Jahr 2020 würde Investitionssicherheit schaffen. Ein verbindliches EU-Ziel von mindestens 25 % Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch bis 2020 sollte festgelegt werden.

1.6

Der Ausschuss begleitet den von der Kommission angekündigten Bericht zur Biotreibstoffnutzung kritisch und fordert verstärkte Maßnahmen in diesem Bereich. Biotreibstoffe können grundsätzlich einen wesentlichen Anteil an der Verringerung der Abhängigkeit Europas von fossilen Energiequellen leisten. Zugleich wird gerade an diesem Punkt deutlich, dass auch bei einer ambitionierten Substitutionsstrategie die Entwicklung wirksamerer Verkehrsysteme und die wesentliche Verbesserung der Energieeffizienz von entscheidender Bedeutung bleiben.

1.7

Der Ausschuss fordert die Kommission daher auf, noch in diesem Jahr eine langfristige Perspektive für Investoren zu schaffen und neue, verbindliche Ziele für den Anteil an Biotreibstoffen bis 2020 vorzuschlagen.

1.8

Die bisher im 7. Forschungsrahmenprogramm vorgesehenen Mittel sollten deutlich erhöht werden. Insbesondere auch die Nutzung von Biomasse auf Lignuzellulosebasis sowie Beiprodukten ist weiterzuentwickeln.

1.9

Die bestehende Richtlinie zur Förderung der besonders effizienten Kraft-Wärme-Kopplung (1) sollte ausgeweitet werden, um der Biomassenutzung in der KWK dann einen Vorrang einzuräumen, wenn die Rahmenbedingungen es ermöglichen.

1.10

Die Politik zur vermehrten Biomassenutzung in der Europäischen Union muss einen horizontalen Ansatz verfolgen. Mit einer koordinierten Landwirtschafts-, Struktur-, Regional- und Energiepolitik kann der verstärkte Einstieg vom Landwirt auch in die Energieerzeugung zukunftsweisend für Europas Wettbewerbsfähigkeit, den Umweltschutz und die Energieversorgung sein.

1.11

Das Signal der Kommission zur Notwendigkeit von klaren und verlässlichen Handelsvereinbarungen wird begrüßt. Es sollten allerdings Instrumente eines qualifizierten Marktzugangs im Rahmen der WTO-Verträge auch für Biomasseprodukte etabliert werden. Nur so kann der jungen europäischen Erzeugung eine Entwicklungschance gegeben werden.

1.12

Auch die stoffliche Nutzung der Biomasse sollte in einem europäischen Aktionsplan erörtert werden.

1.13

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die Sechste Richtlinie (2) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern so zu ändern, dass Mitgliedstaaten einen reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Materialien und Dienstleistungen zur Nutzung der erneuerbaren Wärme und Kälte anwenden dürfen.

1.14

Der Ausschuss fordert die Mitgliedsländer und die Kommission auf, eine Mindestverwendung der Mittel der Strukturfonds der EU für Investitionen im Bereich der Biomassenutzung und der anderen regenerativen Energien sicherzustellen. Er spricht sich auch für Mindestanteile im Bereich des Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) aus. Der Mittelanteil für diesen Investitionsbereich sollte steigen und am Ende des Planungszeitraums 2013 einen Anteil von 10 % der Strukturmittel im Durchschnitt der Mitgliedsländer umfassen.

1.15

Der EWSA sieht auch in der Entkopplung der Direktzahlungen im Rahmen der letzten Agrarreform eine wichtige Vorrausetzung für einen verstärkten Energiepflanzenanbau. Er sieht kurzfristig Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der GAP bei der Anpassung der Energiepflanzenprämie. Dies sollte dann insbesondere auch in den neuen Mitgliedsländern ermöglicht werden.

1.16

Neben einer laufenden Überprüfung der Zielerreichung sieht der EWSA auch die Notwendigkeit von obligatorischen Biomasseaktionsplänen in den Mitgliedsländern. So könnten die unterschiedlichen regionalen Potenziale erkannt und mobilisiert werden.

1.17

Der EWSA macht Vorschläge für einen Abbau administrativer Hemmnisse und die Berücksichtigung regenerativer Energieträger z.B. in den Regionalplanungen.

1.18

Der Ausschuss erwartet, dass bereits in einem Aktionsplan Biomasse die Anforderungen an sichere Zertifizierung der Herkünfte der Produkte beschrieben sind. Er nennt hier die Nachhaltigkeitskriterien für innereuropäische Herkünfte und Ernährungssouveränität sowie soziale und ökologische Standards für einen qualifizierten Marktzugang.

1.19

Der EWSA begrüßt, dass gemäß der Kommission die gleichen Emissionsnormen bei Bioenergien wie bei fossilen Brennstoffen gelten.

1.20

Der Ausschuss sieht eine Entwicklung hin zu einer einheitlichen europäischen Energiepolitik. Trotz eines gewissen sinnvollen Wettbewerbs der Markteinführungssysteme für erneuerbare Energieträger sollten Systeme, die sich als besonders effizient in den Kosten und im Umfang des Ausbaus neuer Verfahren herausgestellt haben, auch europaweit angewandt werden. Beispiel dafür sind dynamische Festpreismodelle, wie sie in erneuerbaren Energiegesetzen bereits in zahlreichen Mitgliedsländern angewandt werden.

1.21

Das Ziel von Markteinführungsmaßnahmen kann für den EWSA nicht eine Dauersubventionierung sein, sondern die Herstellung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit in der Anwendung bei gleichzeitiger Berücksichtigung der externen Kosten.

2.   Begründung

2.1

Unter den Gesichtspunkten der Versorgungssicherheit, der zunehmenden Abhängigkeit Europas von Öl- und Erdgaseinfuhren, steigender Ölpreise und der Verpflichtungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen steht die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen auf der energiepolitischen Tagesordnung der EU und der Mitgliedstaaten weiterhin ganz oben.

2.2

Die vorgesehenen Ziele der Richtlinien zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, sowie der Richtlinie zur Nutzung von Biotreibstoffen, werden ohne weitergehende Maßnahmen nicht erreicht werden. Ebenso wird die Union ihr Gesamtziel einer Verdopplung des Anteils erneuerbarer Energieträger auf 12 % bei einem „business-as-usual“-Szenario wohl verfehlen. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass ein großer Teil zur Zielerfüllung aus dem Biomassesektor stammen müsste, deren Marktentwicklung aber hinter den Erwartungen zurückbleibt.

2.3

Der Anteil erneuerbarer Energien insgesamt verharrt immer noch auf niedrigem Niveau; der Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix der EU wird 2010 statt der angestrebten 12 % wohl nur 9 bis 10 % betragen, wenn keine geeigneten Maßnahmen ergriffen werden. Die Kommission hat daher einen Biomasse-Aktionsplan vorgelegt, der zumindest in diesem wichtigen und bisher strategisch vernachlässigten Bereich weitere Initiativen ankündigt.

2.4

Investitionen in Energienutzung sind immer langfristige Investitionen. Ein heute neu gebautes Kraftwerk wird eine Laufzeit von mehr als 30 Jahren haben. Die Unsicherheiten hinsichtlich der Preisentwicklung von Erdöl und Gas im Gegensatz zur guten Vorhersagbarkeit von Rohstoffkosten im Biomassesektor sind neben den Auswirkungen wie Klimawandel ein wesentlicher ökonomischer Grund für die Förderung der Technologie. Dabei ist das Ziel keine dauerhafte Subventionierung der Systeme, sondern die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der externen Kosten.

2.5

Im Gegensatz zu erwartenden Preissteigerungen im konventionellen Treibstoffbereich werden erneuerbare Energietechnologien preiswerter durch sinkende Investitionskosten aufgrund technischen Fortschritts und Massenproduktion.

2.6

Kostenvergleiche zwischen erneuerbaren Energien und konventioneller oder nuklearer Energienutzung sind meist unzureichend. Oft werden ehemals in staatlichen Monopolen errichtete abgeschriebene Kraftwerke und deren Kosten mit neuinstallierten Kapazitäten aus erneuerbaren Technologien verglichen. Zudem schlagen sich die externen Kosten konventionell/nuklearer Technologien wie Umweltschäden oder staatliche Versicherungsleistungen für Kraftwerke nicht in den Preisen nieder.

2.7

In dem Aktionsplan sind mehr als 20 Maßnahmen vorgesehen, die größtenteils ab 2006 umgesetzt werden sollen. In Bezug auf die Verwendung von Biokraftstoffen im Verkehr gehören dazu Vorarbeiten zur Einführung von Verpflichtungen, wonach Mineralölunternehmen den kommerzialisierten konventionellen Kraftstoffen einen bestimmten Prozentsatz an Biokraftstoffen zusetzen müssen.

2.8

Die Kommission kündigt für 2006 einen Bericht im Hinblick auf eine mögliche Überarbeitung der Biokraftstoff-Richtlinie an, worin die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten untersucht wird. Derzeit beträgt der Marktanteil in der EU 0,8 %; damit ist es recht unwahrscheinlich, dass bis 2010 der für die EU im Jahr 2003 insgesamt festgelegte Zielwert von 5,75 % erreicht werden kann.

2.9

Der Plan sieht eine Prüfung der Möglichkeiten zur Verbesserung von Kraftstoffnormen vor, um die Nutzung von Energie aus Biomasse im Verkehr sowie zur Strom- und Wärmeerzeugung zu fördern. Ferner sollen Forschungsinvestitionen, insbesondere zur Herstellung flüssiger Kraftstoffe aus Holz und Abfällen, sowie eine Kampagne zur Information von Landwirten und Forstbesitzern über Energiepflanzen gefördert werden. Außerdem will die Kommission Rechtsakte zur Förderung der Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu Heizzwecken erarbeiten.

2.10

Nach Schätzungen der Kommission könnte der Biomasseeinsatz durch die im Aktionsplan vorgesehenen Maßnahmen ohne Intensivierung der Landwirtschaft oder nennenswerte Auswirkungen auf die inländische Nahrungsmittelerzeugung bis 2010 auf ca. 150 Mtoe (gegenüber 69 Mtoe im Jahr 2003) gesteigert werden. Die Treibhausgasemissionen werden den Prognosen der Kommission zufolge dadurch um 209 Mio. Tonnen CO2-Äquivalent jährlich gesenkt. Daneben werden 250 000 bis 300 000 Arbeitsplätze geschaffen — zumeist im ländlichen Raum — und die Abhängigkeit von Energieeinfuhren wird von 48 % auf 42 % verringert.

2.11

Bei einem Preis fossiler Brennstoffe von 54 $ pro Fass Rohöl veranschlagt die Kommission die direkt messbaren Kosten mit 9 Mrd. EUR jährlich. 6 Mrd. EUR für Biokraftstoffe und 3 Mrd. EUR für die Biomassenutzung zur Stromerzeugung. Dies entspricht einem Anstieg von 1,5 Cent pro Liter Benzin und 0,1 Cent pro kWh elektrische Energie.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Europäische Union wird ihre selbst gesteckten Ziele zum Ausbau erneuerbarer Energien nicht erreichen, falls keine weiteren Maßnahmen erfolgen. Der EWSA begrüßt den Biomasseaktionsplan und stellt fest, dass der Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs mit dem Formulieren von weiteren Zwischenzielen, so etwa 15 % erneuerbare Energien und 8 % biogene Treibstoffe bis 2015, signalisiert hat, dass eine ambitionierte Politik für regenerative Energieträger fortgeschrieben werden soll. Auch der Beschluss des EU-Parlaments für das Ziel, 25 % aus erneuerbaren Energieträgern bis 2020 zu gewinnen, lässt erkennen, dass der Wille zu einer Neuorientierung in der Energiepolitik in der EU wächst.

3.2

Ein weiteres Hindernis ist, dass die Technologien für erneuerbare Energieträger — wie viele andere innovative Technologien — oft immer noch zu wenig Vertrauen von Seiten der Investoren, Regierungen und Verbraucher genießen; dies liegt an der Unkenntnis der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Der Ausschuss sieht sowohl bei Anwendern, bei Verbrauchern als auch in der Forschung und Entwicklung einen erheblichen Informations- und Fortbildungsbedarf, auf den der Biomasseaktionsplan intensiver eingehen sollte.

3.2.1

Zugleich stellt der Ausschuss fest, das die häufig im Energiebereich anzutreffende Unternehmenskonzentration dem Anspruch auf eine zügige Einführung innovativer Techniken und Verfahren nicht immer gerecht wird. Der EWSA merkt an, dass bei der heutigen Unternehmensstruktur neue Impulse, die oft in kleinen und mittleren Unternehmen entstehen, nicht ausreichend genutzt werden. Er fordert die Kommission auf, hierzu Verbesserungsvorschläge zu machen.

3.3

Die verstärkte Nutzung der Biomasse könnte nicht nur substanziell zu einer Verringerung der Energieimportabhängigkeit der EU beitragen, sondern darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Strategie und zu den Klimaschutzzielen leisten. Die Nutzung der Biomasse begünstigt tendenziell dezentrale Strukturen und damit auch ländliche Entwicklung. Gerade im Hinblick auf die neuen Mitgliedstaaten mit beträchtlichen Anteilen landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit bietet die Biomassenutzung erhebliches Potenzial zur Diversifizierung von Einkommensquellen und Sicherung von Arbeitsplätzen.

3.4

Der EWSA stellt fest, dass Europa derzeit in einigen Bereichen der Bioenergietechnologien führend ist. Die Wirtschaft der EU ist von der Entwicklung und dem Export neuer Technologien abhängig. Innovative Verfahren und Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen bieten die Grundlage, im Bereich von Zukunftstechnologien die führende Rolle im Welthandel einzunehmen. Den politischen Rahmenbedingungen zur Entwicklung nachwachsender Rohstoffe kommt daher für deren wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Europäischen Union die zentrale Bedeutung zu. Mit dem Aufbau dieser Strukturen sollten auch Maßnahmen einhergehen, die den Export von Bioenergietechnologien auf Drittlandsmärkten absichern.

3.5

Der Ausschuss erkennt das hohe Arbeitsmarktpotenzial, das allein bei der Umsetzung des Biomasseaktionsplans mobilisiert wird. Der MITRE Synthesis Report (Monitoring and Modelling Initiative on the Targets for Renewable Energy) von 2003 ermittelt bei einer ehrgeizigen Rohstoffstrategie der EU auf Basis der erneuerbaren Energien allein im Bereich der EU-15 fast 2,5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze netto bis 2020. Hiervon werden ca. 2/3 im Bereich der Biomasse prognostiziert. Danach besteht auf der einen Seite ein neuer Bedarf an hoch qualifizierten Kräften insbesondere in Forschung und Entwicklung. Dieser wird mit ca. 400.000 angegeben. Zugleich entsteht auch ein Bedarf an Arbeitskräften mit niedriger oder geringer Ausgangsqualifikation. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die Arbeitsmarktperspektiven bis 2020 in der EU bei einem ambitionierten Ausbau der Biomassenutzung und der regenerativen Energieträger zu überprüfen.

3.6

Um Investitionen und Umstrukturierungen in Gang zu setzen, ist es für den EWSA unerlässlich, langfristige politische Vorgaben verbindlich zu setzen. Diese fehlen im Biomasseaktionsplan. Daher ist die Kommission aufgefordert, schnellstmöglich konkrete Zielsetzungen zur Biomassenutzung bzw. zur Nutzung erneuerbarer Energieträger zu setzen. Verbindliche europäische Zielvorgaben bis mindestens 2020 für die Bereiche Strom, Wärme und Verkehr sollten realistisch, aber ambitioniert sein. Ein Mindestanteil von 25 % am Endenergieverbrauch bis 2020 sollte als verbindliches Ziel festgelegt werden. Das vorhandene Biomassepotenzial in Europa, insbesondere im Bereich der Bei- und Nebenprodukte, und die Flächenpotenziale bei einer veränderten Nutzung infolge geänderter Nachfragestrukturen, können diesen Entwicklungspfad ermöglichen. Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Vereinigten Staaten ihre ähnlich hohen Ziele für die langfristige Nutzung der Biomasse in ihrem Energiesicherungsgesetz implementieren.

3.7

Der Ausschuss unterstützt die vorsichtige Ermittlung der Rohstoffbasis (erforderliche Biomasse) für die Erfüllung des Biomasseaktionsplans; für die Planungszeit wird noch keine Konkurrenz bei agrarischen Rohstoffen gesehen. Langfristig ist einerseits von einer Produktivitätssteigerung und sinkendem Nahrungsmittelverbrauch in Europa auszugehen. Derzeit wird in Europa zugleich ein großer Anteil der Ackerfläche für die Tierhaltung benötigt. Andererseits haben wir eine weltweite Verknappung der Ackerfläche. Es sind also hohe Anforderungen an die Entwicklung effizienter Verwertungs- und Konversionstechnologien zu stellen. Der EWSA sieht in diesem Zusammenhang den so genannten ausgewogenen Ansatz der Kommission bei der internationalen Sicherstellung insbesondere der Rohstoffbasis für die Biotreibstoffe kritisch. Hier können durch billige Importe die Ernährungsbasen von anderen Weltregionen gefährdet und zugleich die Technikentwicklungen in Europa gebremst werden.

3.8

Trotz der vielfältigen Formen des Energiebedarfs und der Biomassebasis in Europa erwartet der EWSA von einem Biomasseaktionsplan Aussagen zur Entwicklung der Markteinführungssysteme. So haben sich bei der Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, inklusive der Biomasse, Einspeisemodelle oder Prämienmodelle — wie etwa in Deutschland — als die effizientesten sowohl hinsichtlich der Kosteneffizienz als auch der Ausbaueffizienz erwiesen. Die Kommission hat in Ihrer Mitteilung über Strom aus erneuerbaren Energiequellen (3) bereits darauf hingewiesen. Allerdings sind die finanziellen Rahmenbedingungen nicht alleine ausschlaggebend für den Ausbau erneuerbarer Energien. Mindestens vier Parameter müssen erfüllt sein, um einen erfolgreichen Ausbau zu garantieren.

3.9

Diese Voraussetzungen sind: Ein effizientes finanzielles Anreizmodell, garantierte und faire Netzzugangsbedingungen, transparente administrative Verfahren und öffentliche Akzeptanz. Nur wenn diese vier Voraussetzungen gleichzeitig gegeben sind kann es zu deutlichen Wachstumsraten im Bereich Strom aus erneuerbaren Energien kommen. Strom deckt ca. 20 % des Energiebedarfs in Europa ab.

3.10

Der Ausschuss unterstützt die Schlussfolgerung der oben genannten Kommissionsmitteilung, dass es derzeit zu früh ist für eine vollkommende Harmonisierung der Fördermodelle für Strom aus erneuerbaren Energien. Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten aber auf, die Vorbereitungen für die europaweite Einführung der effektivsten Systemelemente vorzunehmen.

3.11

Die Kommission ist aufgefordert — entsprechend der Richtlinie 2001/77 (4) — diese Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten zu überwachen und notfalls einzufordern.

3.12

Der Ausschuss unterstützt die Einschätzung der Kommission zur Rolle der Biomasse bei der Erfüllung dieser Richtlinie 2001/77. Der Aktionsplan stellt den Ausbau der Kraftwärmekopplung gerade auch bei der Biomassenutzung als eine wichtige Entwicklungsperspektive dar. Der EWSA fordert die Anpassung der Richtlinie an jene der Kraftwärmekopplung. Hervorzuheben bleibt, dass die in den nächsten beiden Dekaden anstehenden hohen Ersatzinvestitionen im Kraftwerksbau in Europa eine Chance für mehr Kraftwärmekopplung sind. Hierdurch ist bekanntlich eine dezentralere, verbrauchernahe Stromerzeugung begünstigt. Der EWSA vermisst aber im Biomasseaktionsplan Aussagen, wie der diskriminierungsfreie Zugang von Stromerzeugern auch aus dem Biomassebereich ins Netz gesichert werden kann.

3.13

Da 50 % des Energiebedarfs in Europa für Wärme genutzt wird und hier trotz des großen Potenzials wahrscheinlich derzeit nicht einmal 10 % aus Biomasse kommen, begrüßt der Ausschuss die Vorschläge des Aktionsplans ausdrücklich. Da Investitionen in Heiz- und Gebäudesysteme sehr langfristig und teilweise auch kapitalintensiv sind, drängt der Ausschuss auf einen zeitnahen Beginn der vorgeschlagenen Maßnahmen. Der Vorschlag für eine legislative Initiative im Wärme- und Kältebereich sollte ausgedehnt werden auf eine Richtlinie zur Förderung von Wärme- und Kühlung aus allen erneuerbaren Energieträgern, also Solarthermie und Geothermie einbeziehen. Zusätzlich zu den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen sollte eine Richtlinie noch Folgendes enthalten: Setzung von national verbindlichen Zielen, welche die unterschiedlichen natürlichen Ressourcen und die bereits bestehenden Kapazitäten berücksichtigen sollten.

3.14

Der Ausschuss nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass es kaum verlässliche Statistiken im Bereich der Wärme gibt. Ein europaweites, einheitliches System zum Monitoring der Wärmenutzung könnte der Union insgesamt eine bessere Planbarkeit der eingesetzten Ressourcen bieten. Der EWSA unterstreicht die Einschätzung der Kommission hinsichtlich der Bedeutung, dem Ausbau und der Sicherung der Fernwärmenetze bei der Umstellung auf Biomasse als Brennstoff. Hier ist insbesondere in den neuen Mitgliedsländern ein erheblicher Bestand zu sichern.

Die bestehende Richtlinie zur Energieeffizienz im Gebäudebereich sollte schnellstmöglich in allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden und eine Änderung der Richtlinie angestrebt werden. Der Geltungsbereich sollte auf alle Gebäude ausgeweitet werden, auch auf solche unter 1000 m2. Dezentralisierte Energiesysteme basierend auf Biomasse sollten Vorrang erhalten. Der Ausschuss unterstützt die Aussagen des Aktionsplans zum Ausbau neuer — und zur Sicherung vorhandener — Fernwärmesysteme bei der Nutzung der Biomasse im Wärme- und besonders im Kraftwärmebereich.

3.15

Der Ausschuss begrüßt die Aussagen der Kommission im Biomasseaktionsplan zu den geltenden und zukünftigen Emissionsnormen (und der Feinstaubrichtlinie) bei der Biomasseverwendung. Sowohl bei der Wärme- und Stromerzeugung als auch im Treibstoffbereich gelten die gleichen Normen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Treibstoffe machen zwar nur 20 % des Energiebedarfs aus, sie haben aber fast ausschließlich Importe fossilen Ursprungs als Basis. Dies begründet den großen Umfang dieses Bereichs im Biomasseaktionsplan. Nach Einschätzung des Ausschusses sind die Aktivitäten der Kommission im Biomasseaktionsplan hier zu sehr vom Druck nach schnellen Erfolgen gekennzeichnet. Zu sehr wird auf Importe marktfähiger Treibstoffe gesetzt; zu wenig die neuen Abhängigkeiten von Importprodukten und die Auswirkungen auf ökologisches- und soziales Gleichgewicht in den neuen Energieerzeugerländern bewertet. Der Ausschuss bittet die Kommission, zu hinterfragen, ob durch diese Strategie im Aktionsplan nicht grade die Entwicklung nachhaltiger europäischer Lösungen verschleppt werden könnte.

4.2

Im Biokraftstoffbereich haben sich Steuerminderungen, bzw. Steuerbefreiungen als die effizientesten Fördermaßnahmen erwiesen. Insbesondere hat dieses Instrument auch regional angepasste Investitionen ermöglicht. Diese Möglichkeit sollte den Mitgliedstaaten weiterhin gegeben werden. Die Aussage im Aktionsplan lässt dies nicht erkennen.

4.2.1

Dem Treibstoffpfad mit SNG (Substitute Natural Gas — Biogas hat gegenüber Biodiesel aus Ölpflanzen den 5-fachen Energieertrag pro ha) ist neben BTL (bio to liquid) bei Forschung und Entwicklung und somit in der zukünftigen Umsetzung einer EU-Biokraftstoffstrategie ein hoher Stellenwert einzuräumen. Dieser hat eine hohe Flächenproduktivität, ist in der Entwicklung fortgeschritten und eröffnet auch die grundsätzliche Möglichkeit einer gleichzeitigen Erzeugung von Kraftstoff, Strom und Wärme in dezentralen SNG-Anlagen.

4.3

Der Ausschuss unterstützt die EU-Kommission in ihrem Bestreben, das Ziel eines Marktanteils von Biokraftstoffen von 5,75 % bis 2010 verbindlich zu formulieren. Er nimmt positiv zur Kenntnis, dass der Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs 2006 8 % als Zwischenziel für 2015 angesetzt hat. Er vermisst aber ein intensives Engagement der betroffenen Wirtschaftsunternehmen, der Kommission und der Mitgliedsländer hin zu einem dringend erforderlichen Quantensprung in der Effizienz der Verkehrssysteme zu kommen. Der EWSA begrüßt an dieser Stelle die Vorschläge des Aktionsplans zum Abbau der verschiedenen Diskriminierungen von Biotreibstoffen und die Vorschläge zur Normierung.

4.4

Die Biomassenutzung soll im 7. Forschungs-Rahmenprogramm wesentlich gestärkt werden. Ziel muss dabei u.a. die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit regenerativer Energieträger sein. Der EWSA stellt fest, dass ein Paradigmenwechsel in der Forschungspolitik hin zu einer regenerativen Ressourcenforschung von entscheidender Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung Europas ist. Er erwartet hier verbindlichere Aussagen auch im Biomasseaktionsprogramm. Der Ausschuss betont, dass die großen Entwicklungsrückstände nicht bei der Bereitstellung der Biomasse liegen, sondern in der Verfügbarkeit von Technologien für die Erzeugung marktfähiger Produkte.

4.4.1

Auch bei der Erschließung der Biomassenutzung einschließlich der stofflichen Nutzung ist es oft sinnvoll, in Fraktionen und Nutzungskaskaden vorzugehen. Grundsätzlich entscheiden aber Marktpreise und Produktionskosten und deren zukünftige Einschätzung. So ist es beispielsweise meist sinnvoller und zielgerichteter Holz, das in der stofflichen Nutzung keinen Markt findet, direkt thermisch oder energetisch zu verwerten, anstatt es über einen langen BTL-Prozess mit Energieverlusten zu Treibstoff zu transformieren. Der Aktionsplan sollte hier nach Einschätzung des EWSA mehr differenzieren und damit auch der Wärme aus Biomasse eine größere Bedeutung geben.

4.5

Der Ausschuss erwartet, dass auch bei der Vergabe und Verteilung der Strukturfondsmittel in den Mitgliedsländern, der Rat und die Kommission der Entwicklung der Investitionen der erneuerbaren Energien, und insbesondere der Biomasse, einen hohen Stellenwert beimessen. Ein verbindlicher Mindestanteil von der Strukturfondsmittel in den EU-Mitgliedsländer sollte hierfür bereitgestellt werden. Der Anteil der Strukturmittel am Ende des derzeitigen Planungszeitraums im Jahre 2013 sollte 10 % im Durchschnitt der Mitgliedsländer erreichen.

4.5.1

Bei der Verteilung der Mittel für die 2. Säule „Ländliche Entwicklung“ (ELER), werden regenerative Energien in der insgesamt positiv zu beurteilenden Strategieplanung erwähnt. Gerade bei diesen sehr knappen Mitteln und den Potenzialen der ländlichen Räume ist sicherzustellen, dass auch hier am Ende des Planungszeitraums in 2013 ein durchschnittlicher Mindestanteil von 10 % in den Mitgliedsländern in diesem Bereich investiert wird.

4.6

Der Ausschuss unterstreicht die Aussagen des Aktionsplans zur Wirkung der Entkopplung für einen Anbau nachwachsender Rohstoffe. Er weist aber auf folgende kurzfristige Anpassungsmöglichkeit hin: Die Energiepflanzenprämie (45 EUR/ha) für 1,5 Mio. ha, beschlossen in den Luxemburger Beschlüssen zur EU-Agrarreform (2003), wird bereits Ende 2006 überprüft. Der EWSA fordert die Kommission auf, zu berücksichtigen, ob die Höhe der Prämie ausreicht. Der Ausschuss hält das derzeitige Antragsverfahren für zu bürokratisch und schlägt dringende Verwaltungsanpassungen vor. Die Energiepflanzenprämie kann derzeit nicht in den neuen Beitrittsländern beantragt werden, die ein vereinfachtes Verfahren zur GAP gewählt haben (8 von 10 neuen Mitgliedsländern). Der Ausschuss fordert, im Rahmen der Anpassung ab Ende 2006 auch diesen Ländern die Möglichkeit des Zugangs zu dieser Flächenprämie zu geben. Hinsichtlich der Höhe sollte eine gesonderte Anpassung für die Standorte überprüft werden, die infolge des Transformationsprozesses keine Zahlungsrechte bekommen haben (5).

4.7

Der Ausschuss schlägt vor, dass der Biomasseaktionsplan der EU obligatorische nationale und regionale Aktionspläne in den Mitgliedsländern vorsieht. Aufgrund der Vielfalt der europäischen Länder und Regionen ist dies ein Schritt, die Potenziale zu erkennen und entsprechend Politik und Administration zu gestalten.

4.7.1

Der Ausschuss vermisst, dass im Aktionsplan die Möglichkeiten, Defizite und Behinderungen in den Mitgliedsländern und Regionen beim Ausbau der Biomassenutzung und der regenerativen Energien nicht behandelt werden. Mögliche Abhilfen wären: Die obligatorische Berücksichtigung und Etablierung in der Regionalplanung, die Identifizierung und der Abbau von Diskriminierungen in der Administration, die Konzentration auf eine Verwaltungsdienststelle in der Planungs- und Bauphase.

4.8

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sind vom EWSA aufgefordert, die Sechste Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern so zu ändern, dass Mitgliedstaaten einen reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Materialien und Dienstleistungen zur Nutzung der erneuerbaren Wärme und Kälte anwenden dürfen. Beispielsweise werden in einigen Mitgliedsländern derzeit keine Steuern auf Gas- und Ölbrenner erhoben, auf regenerative Heizinvestitionen wird der volle Steuersatz fällig.

4.9

Der EWSA sieht die dringende Notwendigkeit zu einer europäischen Energiepolitik zu kommen. Bei den Instrumenten zur Markteinführung der regenerativen Energien muss ein ausgewogener Ansatz aus dem Wettbewerb der nationalen Systeme, aber auch ein dynamisches Fortentwickeln hin zu den erkennbar effizientesten Regeln, gefunden werden.

4.10

Der Ausschuss sieht schnellen Handlungsbedarf für ein Zertifizierungssystem hinsichtlich der Herkunft der Biomasserohstoffe. Nur so können negative Öko- und Klimabilanzen verhindert werden. Folgende Anforderungen sind zu stellen (6):

Für den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen gelten dieselben Grundsätze der guten fachlichen Praxis wie für die Lebensmittelerzeugung;

Flächen müssen auch nach dem Anbau von Nichtlebensmittelrohstoffen für die Lebensmittelerzeugung geeignet bleiben;

der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen soll auf bereits landwirtschaftlich genutzten Flächen und Stilllegungsflächen stattfinden. Hierzu gehören auch Flächen, die z.B. wegen der Transformation vorübergehend nicht bewirtschaftet sind. Er darf nicht zu einer Verringerung von Dauergrünland führen;

zur Verringerung von Transporten ist eine Produktion in regionalen bzw. lokalen Kreisläufen anzustreben;

ökologisch wertvolle Flächen sind für den Naturschutz zu sichern und im Rahmen der Schutzziele zu bewirtschaften;

es sollen nachwachsende Rohstoffe gefördert und angebaut werden, die gute Öko-Bilanzen vorweisen;

einem Schließen der Nährstoffkreisläufe ist besondere Beachtung zu geben.

4.11

Beim internationalem Handel mit Biomasse und Biomasseerzeugnissen sind weiterhin folgende Punkte in die Zertifizierung einzubeziehen: Ernährungssouveränität (d.h. Ernährungsicherung geht vor dem Anbau von cash crops), soziale und ökologische Standards der Erzeugung, keine Rodung von Urwäldern. Die EU ist gefordert, diese Qualifizierungen auch in die Regelungen der WTO zu implementieren.

4.12

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, im Rahmen des Biomasseaktionsplans die Errichtung einer internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) zu unterstützen, und auch die Frage der Transparenz in der internationalen Rohstoffwirtschaft im Biomasseaktionsplan stärker zu berücksichtigen.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Richtlinie 2004/8/EG über die Förderung einer am Nutzwärmebedarf orientierten Kraft-Wärme-Kopplung. ABl. L 52 vom 21.2.2004.

(2)  Richlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage).

(3)  7. Dezember 2005, KOM(2005) 627 endg.

(4)  Richtlinie 2001/77/EG vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt.

(5)  Vgl. NAT/288, Ziffer 3.2.4.2.

(6)  Vgl. NAT/288, Ziffer 3.7.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema„Entwicklung und Förderung alternativer Kraftstoffe für den Straßenverkehr in der EU“

(2006/C 195/20)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2005, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu erarbeiten: „Entwicklung und Förderung alternativer Kraftstoffe für den Straßenverkehr in der EU“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. März 2006 an. Berichterstatter war Herr RANOCCHIARI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 82 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

In den kommenden Jahrzehnten wird ein dramatischer Anstieg der Energienachfrage erwartet, und die Besorgnis der Bürger in Bezug auf die Abhängigkeit von Energielieferungen aus Drittstaaten und die Umweltbelastung wird immer größer.

1.2

Der Ausschuss ist sich dieses Problems sehr wohl bewusst und hat bereits einige wichtige Sondierungs- und Initiativstellungnahmen zu Schlüsselaspekten der Energiethematik (1) verabschiedet; einige weitere Stellungnahmen (2) werden derzeit ausgearbeitet.

1.3

All diesen Ausschussstellungnahmen sind einige grundlegende Annahmen gemein: Die herkömmlichen (fossilen) Brennstoffe werden in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren weiterhin den Markt beherrschen. Gleichzeitig wird der Marktanteil erneuerbarer Energieträger zweifellos steigen, allerdings nicht in einem höheren Maße als der Energieverbrauch an sich. Ihr Anteil an der Energieversorgung wird bei 15 bis 20 % des Energieverbrauchs stagnieren. Erneuerbare Energieträger müssen dennoch bevorzugt eingesetzt und daher gefördert und unterstützt werden.

1.4

Das Gleiche gilt für den Straßenverkehr, der mehr oder weniger vollkommen von Erdöl (in Form von Benzin und herkömmlichem Diesel) abhängt. Mit dieser Stellungnahme soll daher ein Beitrag zu dem ehrgeizigen Ziel der Europäischen Kommission geleistet werden, bis 2020 20 % der herkömmlichen Kraftstoffe durch alternative Kraftstoffe zu ersetzen.

1.5

Für diese Subsituierung setzt die Europäische Kommission in ihrem Aktionsplan auf Biokraftstoffe, Erdgas und Wasserstoff. Da Erdgas ein fossiler Brennstoff ist, sollte es eigentlich nicht als echter alternativer Kraftstoff angesehen werden, ist es doch kein erneuerbarer Energieträger. Sein Beitrag zur Verwirklichung des Kommissionsziels ist dennoch von grundlegender Bedeutung, da Erdgas in großen Mengen zur Verfügung steht und umweltfreundlich ist. Keine der beiden erstgenannten Optionen (Biokraftstoff und Erdgas) stellen die perfekte Lösung dar, noch sind sie vollkommen schadlos für die Umwelt und völlig energieeffizient. Wasserstoff scheint daher die richtige Wahl, doch sind noch viele Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen erforderlich, um eine sichere und kostenwirksame „Wasserstoff-Wirtschaft“ bieten zu können.

1.6

Biokraftstoffe bringen ökologische Vorteile mit sich, denn sie haben in der Regel eine wesentlich geringere, im Idealfall sogar keine Klimarelevanz. Da aus landwirtschaftlichen Rohstoffen gewonnene Kraftstoffe wie Bioethanol und FAME (Fettsäuremethylester) in gleicher Menge wie eben das Getreide selbst zur Verfügung stehen, ist die Beimischung von Bioethanol in Ottokraftstoffe und von FAME in Dieselkraftstoffe eine wirksame und umweltschonende Strategie.

1.7

Die Beimischungen müssen den u.a. vom Europäischen Normungsausschuss (CEN) festgelegten Spezifikationen entsprechen, um den störungsfreien Motorlauf zu gewährleisten und eine Erhöhung des Kraftstoffverbrauchs und der Abgaswerte zu vermeiden. Für eine höhere Konzentration von FAME in Dieselkraftstoffen ist eine spezielle Umrüstung der Fahrzeuge erforderlich. Dies ist für einen zweckgebundenen Fuhrpark, beispielsweise Stadtbusse, möglich.

1.8

Die Europäische Kommission hat zwar die Richtlinie 2003/30/EG zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen veröffentlicht, im Hinblick auf Erdgas hat sie jedoch bislang keine spezifischen Initiativen ergriffen, aber die Möglichkeit einer niedrigeren Besteuerung ist die gleiche wie bei Biokraftstoffen, obwohl sie den größten Einzelbeitrag für die Verwirklichung des 2020-Ziels von Erdgas erwartet. Offenbar wollte die Europäische Kommission erst einmal die Entwicklungen im Bereich Erdgas nach der Einführung steuerlicher Anreize abwarten.

1.9

Fünf Jahre nach Veröffentlichung der Kommissionsmitteilung und drei Jahre nach Verabschiedung der Alternativkraftstoffrichtlinie bleiben die Fortschritte hinter den Erwartungen zurück, da die Mitgliedstaaten hinsichtlich der vorgegebenen Zielsetzungen im Verzug sind. Dies ist möglicherweise einer der Gründe dafür, dass die Europäische Kommission vor kurzem eine Mitteilung betreffend einen Aktionsplan für Biomasse (3) vorgelegt hat.

1.9.1

Dieser Aktionsplan bezieht sich auf die Nutzung von Biomasse im Verkehr sowie zur Wärme- und Stromerzeugung. Die wesentlichen Vorschläge für den Verkehrsbereich sind: i) neue Rechtsvorschriften für den Einsatz von erneuerbaren Energieträgern, ii) eine mögliche Überarbeitung der Biokraftstoffrichtlinie im Jahr 2006 zur Festlegung nationaler Ziele für den Marktanteil von Biokraftstoffen und zur Einführung von Verpflichtungen bezüglich der Biokraftstoffbereitstellung seitens Brennstofflieferanten, iii) nationale Aktionspläne der Mitgliedstaaten für Biomasse und iv) Forschung im Zusammenhang mit der zweiten Generation von Biokraftstoffen (aus Holz und Abfall).

1.9.2

Die Europäische Kommission erwartet, dass mit diesem Aktionsplan bei direkten Kosten von 9 Mrd. EUR die Öleinfuhren um 8 % gesenkt und Treibhausgasemissionen um 209 Mio. Tonnen CO2-Äquivalent verringert werden können. 6 dieser 9 Milliarden werden für Biokraftstoffe eingesetzt, die viel teurer als Kraftstoffe auf Erdölbasis sind (so ist Biodiesel erst bei einem Ölpreis von ca. 95 USD/Barrel und Bioethanol sogar erst bei einem Ölpreis von ca. 115 USD/Barrel konkurrenzfähig (4)).

1.9.3

Der Ausschuss befürwortet diesen Aktionsplan ausdrücklich, da er im Einklang mit dieser Stellungnahme steht, mit der das Ziel verfolgt wird, die anderen europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, geeigneten Maßnahmen zur Förderung von Alternativkraftstoffen neue Impulse zu verleihen.

1.9.4

Der Ausschuss begrüßt die jüngste Mitteilung der Europäischen Kommission „Eine EU-Strategie für Biokraftstoffe“ (5), in der neue Impulse zur Förderung der Biokraftstoff-Erzeugung gefordert werden.

1.10

Während nämlich Biokraftstoffe und Erdgas dank der Motortechnik und der Kraftstoffvertriebssysteme neue Marktanteile gewinnen können, wodurch wiederum die Substituierung von Kraftstoffen auf Erdölbasis im vorgesehenen Umfang ermöglicht wird, bedarf es für langfristige Alternativkraftstoffe wie Wasserstoff weiterer Entwicklungsanstrengungen. Das heißt, dass Biokraftstoffe und Erdgas eine Übergangslösung auf dem Weg zu dem angestrebten nachhaltigen Kraftstoffmix für die Zeit nach 2020 darstellen.

1.11

Der Ausschuss empfiehlt, dass die Europäische Kommission verbindliche Maßnahmen annimmt, sollte der für 2006 vorgesehene Evaluierungsbericht über die Biokraftstoff-Richtlinie zeigen, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unzureichend waren, um die für Biokraftstoffe und Erdgas festgelegten Zielvorgaben zu erreichen.

1.12

Der Ausschuss erkennt an, dass ein verstärkter Einsatz von Erdgas zum Fahrzeugantrieb in der Übergangszeit, bis die Wasserstofftechnologie einsetzbar ist, als Alternative zum Erdöl sinnvoll ist. Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sollten deshalb diese heute schon wirtschaftliche Technologie in ihren Kommunikationsstrategien immer wieder erwähnen und auch bei der Anschaffung von eigenen Fahrzeugen durchaus mit gutem Beispiel voran gehen.

2.   Begründung

2.1

Im November 2001 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Mitteilung über alternative Kraftstoffe für den Straßenverkehr (6), die einen Nachgang zu dem Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“  (7) und dem Weißbuch „Die Europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“  (8) bildete. Diese Kommissionsmitteilung von November 2001 enthielt einen Aktionsplan mit zwei Vorschlägen.

2.2

Der erste Vorschlag betraf den verstärkten Einsatz von Biokraftstoffen, wobei eine doppelte Strategie verfolgt wird. Einerseits sollte eine immer größere Menge an mit Biokraftstoffen vermischten Otto- und Dieselkraftstoffen auf den Markt gebracht werden, um den Weg für eine Biokraftstoff-Beimischungspflicht zu ebnen. Andererseits wurden steuerliche Anreize vorgeschlagen, um Biokraftstoffe finanziell interessanter zu machen, wobei auch Erdgas in diesen Vorschlag aufgenommen wurde. Der Ausschuss nahm am 25. April 2002 (9) zu diesem ersten Vorschlag Stellung. Letztlich wurden beide Vorschläge (10) angenommen.

2.3

Der zweite Vorschlag sah die Einrichtung einer Kontaktgruppe für alternative Kraftstoffe mit der Aufgabe vor, die Europäische Kommission im Hinblick auf die Marktentwicklung für alternative Kraftstoffe im Allgemeinen und für Erdgas und Wasserstoff im Besonderen zu beraten. Die Kontaktgruppe sollte eine Analyse für die kommenden 20 Jahre im Hinblick auf das Ziel der Europäischen Kommission vornehmen, den Markt für alternative Kraftstoffe bis 2020 derart auszubauen, dass ein Fünftel (20 %) aller Kraftstoffe auf Erdölbasis durch Alternativkraftstoffe substituiert werden können.

2.4

Im Dezember 2003 legte die Kontaktgruppe einen sorgfältig ausgearbeiteten und objektiven Bericht (11) vor.

3.   Das 2020-Ziel und seine Verwirklichung

3.1

Nach dem Aktionsplan der Europäischen Kommission sind Biokraftstoffe, Erdgas und Wasserstoff die drei alternativen Kraftstoffe, die bei der Verwirklichung einer 20 %igen Substituierung den Erwartungen zufolge die wichtigste Rolle spielen dürften, und zwar in folgendem Umfang:

Jahr

Biokraftstoffe

Erdgas

Wasserstoff

Insgesamt

2005

2

 

 

2

2010

6

2

 

8

2015

7

5

2

14

2020

8

10

5

23

3.1.1

Der Anteil von Biokraftstoffen soll ab 2005 2 % betragen und bis 2020 auf 8 % gesteigert werden. Sämtliche Kraftstoffe auf Biomasse-Basis werden im Allgemeinen als Biokraftstoff bezeichnet. Die wichtigsten Biokraftstoffarten für den Straßenverkehr sind derzeit folgende:

3.1.1.1

Bioethanol, d.h. Ethanol (EtOH) oder auch Ethylalkohol, wird durch die Fermentierung von stärkehaltigen Agrarerzeugnissen wie Getreide und Zuckerrüben gewonnen. Es wird entweder in reiner Form als Ersatzstoff für Ottokraftstoffe verwendet, beispielsweise in Brasilien, allerdings sind dann spezielle Motoren erforderlich, oder aber es wird Ottokraftstoffen beigemischt, und zwar in Reinform oder in Form des synthetisch hergestellten ETBE (Ethyl-Tertiär-Butyl-Ether). Gemäß den Spezifikationen, die die Kraftstoffqualität bestimmen, kann Ottokraftstoffen bis zu 5 % Ethanol beigemischt werden, ohne dass dies motorliche Modifizierungen erforderlich macht.

3.1.1.2

Biodiesel, ein alternativer Dieselkraftstoff, wird durch Umesterung aus verschiedensten Pflanzenölen gewonnen und ist auch unter der Bezeichnung FAME (Fettsäure-Methylester) bekannt. In Europa ist Raps-Methylester (RME) die meistverbreitete Art von Biodiesel. Der Europäische Normungsausschuss (CEN) hat eine FAME-Norm festgelegt. Erzeugnisse, die den CEN-Spezifikationen entsprechen, können bereits in bis zu 5 % der Dieselfahrzeuge verwendet werden. Bis vor kurzem reichte die aus landwirtschaftlichen Rohstoffen wie Raps gewonnene Menge an FAME noch aus, um die Nachfrage zu befriedigen, wobei spezielle steuerliche Anreize in Anspruch genommen werden. In ihrer Mitteilung von November 2001 (12) brachte die Europäische Kommission ihre Bedenken hinsichtlich einer großmaßstäblichen Gewinnung von Kraftstoffen aus landwirtschaftlichen Rohstoffen und ihrer Machbarkeit zum Ausdruck.

3.1.1.3

Biogas, d.h. methanreiches Gas, wird durch anaerobe Vergärung organischen Materials wie etwa Gülle, Klärschlamm und städtischen Abfällen erzeugt und ähnelt in seinen Eigenschaften Erdgas. Biogas muss zu Erdgasqualität veredelt werden, um in erdgastauglichen Normalfahrzeugen verwendet werden zu können. In Schweden werden mehr als 5.000 Fahrzeuge mit Biogas betrieben. Die schwedische Erfahrung zeigt, dass Methan entweder in Form von Bio- oder Erdgas ein wirtschaftlich nachhaltiger Kraftstoff ist, der das Potenzial zur drastischen Senkung von Emissionen im städtischen Verkehr bietet.

3.2

In Bezug auf Erdgas hat die Europäische Kommission weniger unternommen, als der Beitrag von Erdgas zum 2020-Ziel erfordert hätte, und bislang auch keinen spezifischen Vorschlag vorgelegt.

3.3

Diese Untätigkeit der Europäischen Kommission ist insofern problematisch, als in dem Bericht, der von der von der Europäischen Kommission selbst eingerichteten Kontaktgruppe „Alternative Kraftstoffe“ vorgelegt wurde und auf einer eingehenden „Well-to-Wheels“-(„Quelle bis zum Rad“ oder WTW)-Analyse alternativer Kraftstoffe beruht, der Schluss gezogen wird, dass Erdgas als einziger Alternativkraftstoff über das Potenzial verfügt, bis 2020 einen signifikanten Marktanteil von deutlich über 5 % zu erreichen und somit mit den herkömmlichen Kraftstoffen in Bezug auf die Versorgungsrentabilität auf einem fortgeschrittenen Markt zu konkurrieren.

3.4

In ihrer Mitteilung vom November 2001 erachtete die Europäische Kommission Naturgas als denjenigen alternativen Kraftstoff, der zur Verwirklichung des 2020-Ziels als Einzelfaktor am stärksten beitragen könnte. Die Kontaktgruppe stimmte dieser Einschätzung aus folgenden Gründen zu:

3.4.1

Erdgas entspricht der Forderung nach einer erhöhten Versorgungssicherheit nicht nur durch die Kraftstoffdiversifizierung, da es nicht von Erdöl abhängig ist, sondern auch, weil die Nachfrage nicht durch die Primärversorgung eingeschränkt ist. Die Ausweitung des Einsatzes von Biokraftstoffen hingegen könnte letztlich an die Grenzen der Versorgungsmöglichkeiten stoßen, da ein 10 %iger Anteil im Straßenverkehr, d.h. das Ziel der Europäischen Kommission für 2020, rund 5 % des gesamten für diesen Zeitpunkt angenommenen Erdgasverbrauchs in der EU entsprechen würde. Diese Anmerkung unterstreicht die Notwendigkeit einer Vorgehensweise, mit der Synergieeffekte für alle drei alternativen Kraftstoffe erzielt werden.

3.4.2

Erdgas trägt außerdem zur Verwirklichung des strategischen Ziels der Verringerung der Treibhausgasemissionen bei. Aufgrund der chemischen Struktur von Methan (CH4) enthält Erdgas weniger Kohlenstoff als andere fossile Brennstoffe wie Benzin und Diesel. Die WTW-Analyse hat ergeben, dass der Treibhausgasausstoß bei mit komprimiertem Erdgas betriebenen Fahrzeugen geringer ist als bei benzinbetriebenen Fahrzeugen und bei der heutigen Technik dem Emissionsniveau eines Dieselfahrzeugs vergleichbar ist. Man geht davon aus, dass durch die Weiterentwicklung der CNGV-Motorentechnik die Treibhausgasemissionswerte im Jahr 2010 und in den Folgejahren unter den Emissionswerten von Dieselmotoren liegen werden.

3.4.3

Neben den geringeren Treibhausgasemissionen bringt der Einsatz von Erdgas als Motorkraftstoff weitere Umweltvorteile in Bezug auf Abgasemissionen. So gibt es bei den bereits heute zum Einsatz kommenden mit komprimiertem Erdgas betriebenen Fahrzeugen nur geringe Stickstoffoxidemissionen (NOx) und keine Partikelemissionen, die ein ernstes Problem darstellen. Scharfe Höchstwerte der Europäischen Union für die Partikelbelastung der Luft sind insofern für erdgasbetriebene Fahrzeuge positiv. Erdgasbetriebene Busse haben sich für den öffentlichen Stadtverkehr als rentabel erwiesen, und die Europäische Kommission hat mit der bereits erfolgten finanziellen Unterstützung bei der Einführung von Modellfahrzeugen zur verstärkten Einführung beigetragen. Die städtische Umwelt könnte auf einfache Art und Weise durch die Förderung der Verwendung von Erdgas in öffentlichen Bussen und Fahrzeugen der Müllabfuhr als Teil eines vernünftigen „ökologieorientierten Auftragsvergabe-Konzepts“ verbessert werden.

3.4.4

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung könnte mit dem vor kurzem vorgelegten Richtlinienvorschlag über die Förderung sauberer Straßenfahrzeuge (13) getan werden. Nach Annahme dieses Vorschlags werden die Mitgliedstaaten verpflichtet sein, jährlich eine Quote von 25 % der von öffentlichen Stellen durch Kauf oder Leasing angeschafften schweren Nutzfahrzeuge (mit einem Gesamtgewicht über 3,5 t) für mit Alternativkraftstoffen betriebene Fahrzeuge zu reservieren, die den Normen für besonders umweltfreundliche Fahrzeuge (14) entsprechen. Diese Normen für besonders umweltfreundlichen Fahrzeuge (enhanced environment-friendly vehicleEEV) gelten für mit Biokraftstoffe, komprimiertem Erdgas, Flüssiggas und Wasserstoff betriebene Fahrzeuge sowie Hybrid- und elektrische Fahrzeuge.

3.5

Wasserstoff kommt in freier Form in der Natur nicht vor. In der Natur sind nur chemische Wasserstoffverbindungen zu finden, beispielsweise Wasser und Kohlenwasserstoffe. Wasser (H2O) besteht gewichtsmäßig zu 11 % aus Wasserstoff (H2) (2/18). Otto- und Dieselkraftstoffe sind Kohlenwasserstoffgemische. Methan, ein Kohlenwasserstoff, ist der Hauptbestandteil von Erd- und Biogas.

Da Wasserstoff nicht in der Natur vorkommt, muss er eigens hergestellt werden. Wasserstoff wird für die Verwendung in der chemischen und petrochemischen sowie der Mineralölindustrie und in weiteren Industriezweigen erzeugt.

Zur Gewinnung von Wasserstoff, beispielsweise durch die Elektrolyse von Wasser oder die Dampfreformierung von Erdgas, ist Energie erforderlich, und zwar Stromenergie für die Elektrolyse und Wärmeenergie für die Dampfreformierung.

Für die Erstellung einer Rangordnung der Herstellungsmöglichkeiten von der Quelle bis zum tatsächlichen Wasserstoff muss eine „Well to tank“ („Quelle bis zum Tank“ oder WTT)-Analyse für die Berechnung des Energieverbrauchs und der Treibhausgasemissionen durchgeführt werden.

Wasserstoff ist seit langem ein Industriegut, das von Industriegasunternehmen hergestellt und vermarktet bzw. für den Eigenbedarf in Ölraffinerien erzeugt wird. Seine Verwendung als Verkehrskraftstoff steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Daher ist das Ziel einer Substituierung herkömmlicher Kraftstoffe in Höhe von 2 % bis 2015 und von 5 % bis 2020 eine echte Herausforderung.

3.5.1

Die Kontaktgruppe hat mehrere Aspekte im Hinblick auf den verstärkten Einsatz von Wasserstoff als Kraftstoff herausgearbeitet:

i)

flüssiger Wasserstoff, der bei einer Temperatur von -252oC in Kältetanks beispielsweise in einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor aufbewahrt wird, oder gasförmiger Wasserstoff, der beispielsweise komprimiert in Flaschen bei einem Druck von 700 bar in einem Brennstoffzellenfahrzeug aufbewahrt wird?

ii)

eine zentralisierte Wasserstoffherstellung in Großanlagen, die im Hinblick auf den Energieverbrauch optimiert werden können, oder eine verteilte Erzeugung in kleinen Einheiten an der Tankstelle?

iii)

da Brennstoffzellenfahrzeuge im mittleren Leistungsbereich am effizientesten sind, wäre es vielleicht sinnvoll zu unterscheiden zwischen Brennstoffzellenfahrzeugen, beispielsweise für den Stadtverkehr und Kfz mit Verbrennungsmotor für Langstrecken, d.h. für große Strecken, bei denen der Motor volle Leistung bringen muss.

iv)

Weitere Schwierigkeiten liegen in der Brennstoffzellentechnologie selbst, beispielsweise in Bezug auf das Gerät, in dem durch Oxidationsreaktion von Wasserstoff ein Elektronenfluss in Gang gesetzt, sprich elektrischer Strom erzeugt wird, der den Elektromotor und über diesen wiederum die Räder antreibt. Diese Fragen würden jedoch den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen.

3.5.2

Zusammengefasst bringt der Einsatz von Wasserstoff als alternativer Kraftstoff zwei Herausforderungen mit sich: erstens die Kraftstoffversorgung und zweitens die entsprechende Antriebstechnik. Die Europäische Union hat im fünften und sechsten Forschungsrahmenprogramm zunehmend FuE-Mittel für Wasserstoff und Brennstoffzellentechnik bereitgestellt. Im sechsten Forschungsrahmenprogramm ist die Forschung in diesen beiden Bereichen derzeit in der nachgeordneten Priorität „Nachhaltige Energiesysteme“ mit einem Gesamthaushalt von 890 Mio. EUR erfasst. In den aktuellen Debatten über das siebente Forschungsrahmenprogramm schlägt das Europäische Parlament vor, diese Thematik unter einer neuen Schlüsselpriorität „Alle bestehenden und künftigen CO2-freien Energieträger“ mit einer höheren Mittelausstattung einzuordnen. Der Nutzen für die Umwelt rechtfertigt diese Bemühungen, fällt doch bei der Oxidierung von Wasserstoff in einer Brennstoffzelle einzig und allein Wasser als „Abfallprodukt“ an.

4.   Schlussfolgerungen

4.1

Das von der Europäischen Kommission im November 2001 festgelegte Ziel, und zwar ein Anteil von 20 % an alternativen Kraftstoffen am Gesamtkraftstoffverbrauch bis 2020, beruht auf zwei bewährten Technologien bzw. Erzeugnissen, Biokraftstoff und Erdgas, sowie auf einer vielversprechenden Entwicklung, Wasserstoff und Brennstoffzellen.

4.2

Biokraftstoffe und Erdgas sind — trotz einiger Schwierigkeiten — hier und heute verfügbar und besitzen die notwendigen Eigenschaften, um sowohl die Probleme im Zusammenhang mit der Kraftstoffvertriebslogistik als auch der Motortechnik zu meistern.

4.2.1

Da Erdgas ein fossiler Brennstoff ist, d.h. es ist nicht „erneuerbar“, sollte es eigentlich nicht als echter alternativer Kraftstoff angesehen werden, doch stellt es heute eine der realistischsten Optionen für die Substituierung von Kraftstoffen auf Erdölbasis dar, die unverzichtbar ist, um das Substituierungsziel von 20 % bis 2020 zu erreichen. Erdgas könnte eine wichtige Rolle als alternativer Kraftstoff spielen, da

die Erdgasreserven reichlich vorhanden sind und länger reichen werden als die Erdölreserven;

trotz der jüngsten Schwierigkeiten die geopolitische Verteilung der Erdgasreserven im Vergleich zu Erdöl einen relativ stabilen Markt garantiert;

es das höchste Wasserstoff/Kohlenstoff-Verhältnis der Kohlenwasserstoffe mit den niedrigsten CO2-Emissionswerten aufweist;

es eine Vorstufe zur Wasserstofftechnik im Kfz-Bau sein kann.

Ein solides Erdgasvertriebsnetzwerk könnte letztlich als Katalysator für kleine lokale Wasserstoff-„Tankstellen“ dienen. Die derzeitigen Hindernisse für die Verbreitung von Erdgasfahrzeugen sind großteils auf das unzureichende und ungleichmäßige Kraftstoffvertriebsnetzwerk zurückzuführen.

4.2.2

Biokraftstoffe vereinen die positive Umweltbilanz von Erdgas mit dem Vorteil, eine erneuerbare Energiequelle zu sein, wodurch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringert wird. Auch wenn dies noch nicht eindeutig bewiesen werden konnte, besteht außerdem eine echte Aussicht auf Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Landwirtschaft; zumindest aber gehen keine weiteren Arbeitsplätze verloren. Aus Forstproduktion kann ebenfalls Biokraftstoff gewonnen werden, z.B. durch Vergasung von Schwarzlauge (black liquor) oder Vergärung von Holzzellstoff-Biomasse. Diese beiden Techniken befinden sich derzeit noch im Versuchsstadium, und ihr Beitrag zur Biokraftstofferzeugung wird erst mittelfristig ins Gewicht fallen. Wenn man jedoch die derzeitige Nachfrage nach Kraftstoffen für Verkehrszwecke (15) berücksichtigt, muss ein rasanter Anstieg des Biokraftstoffanteils vor dem Hintergrund folgender ökologischer „Nebenwirkungen“ geprüft werden:

Der Anbau von Getreide für Biodiesel ist eine Nischenproduktion, mit der die EU-Kraftstoffnachfrage jedoch nicht befriedigt werden kann.

Zur Verwirklichung des 2010-Ziels, einen Anteil von 6 % zu erreichen, müssten bis zu 13 % der Gesamtagrarfläche der derzeitigen EU für den Anbau von Getreide verwendet werden. Dies könnte wiederum zu teuren Maßnahmen für den Schutz des Bodens, des Grundwassers und der Biodiversität sowie für die Vermeidung weiterer Treibhausgasemissionen führen (16). Mit Importen würde das Problem lediglich auf andere Länder abgewälzt. Außerdem wäre eine Zunahme des Seeverkehrs die Folge.

4.2.3

Offenbar will die Europäische Kommission mit ihrer am 7. Februar 2006 veröffentlichen Mitteilung (17) diese Probleme und Unsicherheiten angehen. So wurden zahlreiche Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung der Erzeugung und Verwendung von Biokraftstoffen sowohl in der EU als auch in Drittländern gebündelt. Der Ausschuss wird die Umsetzung der angekündigten Strategie mit großem Interesse verfolgen.

4.3

Zur Erreichung des 2020-Ziels für alternative Kraftstoffe bedarf es einer Vorgehensweise, mit der Synergieeffekte erzielt werden, d.h. alle drei Kraftstoffe müssen gleichzeitig gefördert werden.

4.4

Es ist eine durchaus berechtigte Annahme, dass die Anstrengungen in Bezug auf die Marktentwicklung dieser alternativen Kraftstoffe, deren Rentabilität bewiesen ist, auf weniger Schwierigkeiten stoßen werden, da sowohl das Fachwissen als auch die Technologie bereits heute verfügbar sind.

4.5

Die Europäische Kommission sollte gemeinsam mit der Wirtschaft überlegen, warum die bislang getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend waren, um die Verbreitung von Erdgas als Fahrzeugkraftstoff zu fördern. Nach Meinung des Ausschusses sollte jeder Mitgliedstaat unter Berücksichtigung der besonderen einzelstaatlichen Gegebenheiten eine Mindestzielvorgabe festlegen.

4.6

In diesem Vorschlag sollten auch die technischen und sicherheitsmäßigen Anforderungen für Erdgastankstellen überarbeitet werden. Diese Anforderungen sind vielfach veraltet und tragen den jüngsten Entwicklungen nicht Rechnung. Eine derartige Überarbeitung sowie eine Vereinfachung der bürokratischen Verfahren könnten einer größeren Verbreitung von Erdgastankstellen förderlich sein. Die Genehmigungen für die Errichtung einer Erdgastankstelle sind oftmals über Gebühr kompliziert und zeitaufwendig.

4.7

Wie bereits in Ziffer 4.2.1 erwähnt, wird ein derartiges Programm dazu beitragen, den Übergang zu den Wasserstofffahrzeugen der Zukunft zu erleichtern. Technologische Fortschritte bei den Kfz-Tanks werden nämlich auch für den Einsatz von komprimiertem Wasserstoff von grundlegender Bedeutung sein. Dies gilt auch für Konzipierung der Wasserstoffbetankungs- und -mengenmesstechnik und des Tankstellen-Designs. Jede Investition in Erdgastechnik bringt auch die Wasserstofftechnik voran.

4.8

Mit der unverzüglichen Entwicklung rentabler alternativer Kraftstoffe kann außerdem eine Art Sicherheitsnetz geschaffen werden, sollten unvorhergesehene Verzögerungen bei der Umsetzung des ehrgeizigen Entwicklungsplans für Wasserstoff eintreten.

4.9

Abschließend bekräftigt der Ausschuss, dass echte Fortschritte hin zu umweltfreundlicheren Fahrzeugen mit geringerem Kraftstoffverbrauch nicht nur durch die Entwicklung von Alternativkraftstoffen, sondern auch durch die Eindämmung von Verkehrsstaus durch bessere Infrastruktur, durch die Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel und in viel stärkerem Maße noch durch einen Wandel im Verbraucherverhalten erreicht werden können. Der derzeitige Beliebtheitsgrad von SUV-Fahrzeugen (Sport Utility Vehicles) zeigt, dass die Verbraucher nicht bereit sind, sich umzustellen. Die meisten dieser Fahrzeuge haben einen sehr hohen Kraftstoffverbrauch, was wiederum entsprechend hohe CO2-Emissionen zeitigt. Die steigende Nachfrage nach solchen Fahrzeugen macht es den Automobilherstellern schwer, sich umweltfreundlicheren Fahrzeugen zuzuwenden.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Förderung der erneuerbaren Energieträger: Aktionsmöglichkeiten und Finanzierungsinstrumente (ABl. C 108 vom 30.4.2004); Fusions–energie (ABl. C 302 vom 7.12.2004); Situation und Perspektiven der „klassischen“ Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas im zukünftigen Energiemix (ABl. C 28 vom 3.2.2006); Erneuerbare Energieträger (ABl. C 65 vom 17.3.2006); Energieeffizienz (ABl. C 110 vom 9.5.2006).

(2)  Energieversorgung in der Europäischen Union — Optimierungsstrategie (TEN/227).

(3)  KOM(2005) 628 endg. vom 7. Dezember 2005.

(4)  Siehe „Aktionsplan für Biomasse“, Fußnote 16 (KOM(2005) 628 endg. vom 7. Dezember 2005).

(5)  KOM(2006) 34 endg. vom 7. Februar 2006.

(6)  KOM(2001) 547 endg.

(7)  KOM(2000) 769 endg.

(8)  KOM(2001) 370 endg.

(9)  ABl. C 149 vom 21.6.2002.

(10)  Richtlinie 2003/30/EG (ABl. L 123 vom 8.5.2003, S. 42) und Richtlinie 2003/96/EG (ABl. L 283 vom 27.10.2003, S. 51).

(11)  Bericht der Kontaktgruppe Alternative Kraftstoffe: „Marktentwicklung von alternativen Kraftstoffen“, Dezember 2003.

(12)  KOM(2001) 547 endg., Ziffer 2.2, „Landwirtschaftspolitik“.

(13)  KOM(2005) 634 endg. vom 21. Dezember 2005.

(14)  Siehe Richtlinie 2005/55/EG.

(15)  Biokraftstoffe machen derzeit lediglich rund 0,6 % des Otto- und Dieselkraftstoffverbrauchs in der EU aus.

(16)  Europäische Umweltagentur (EEA 2004/04). In weiteren Studien wird darauf abgezielt, festzustellen, wie viel Biomasse Europa verwenden kann, ohne dabei die Umwelt zu beeinträchtigen.

(17)  „Eine EU-Strategie für Biokraftstoffe“, KOM(2006) 34 endg.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Besteuerung von Personenkraftwagen“

KOM(2005) 261 endg. — 2005/0130 (CNS)

(2006/C 195/21)

Der Rat beschloss am 6. September 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2006 an. Berichterstatter war Herr RANOCCHIARI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 67 gegen 4 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet uneingeschränkt den Richtlinienvorschlag, der darauf abzielt, das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern und zugleich die ökologische Nachhaltigkeit zu fördern.

1.2

Der EWSA begrüßt, dass erstmals die dritte Säule der Gemeinschaftsstrategie (steuerliche Maßnahmen) zur Verringerung der Kohlendioxid (CO2)-Emissionen eingesetzt wird.

1.3

Der EWSA stimmt auch mit der Einschätzung der Europäischen Kommission überein, was die möglichen positiven Auswirkungen dieses Vorschlags auf den freien Personenverkehr und die Automobilindustrie betrifft.

1.4

Der EWSA erkennt an, dass die Europäische Kommission das Subsidiaritätsprinzip nicht umfassender und verbindlicher als in diesem Vorschlag anwenden konnte, da dessen Thema — die Besteuerung — hauptsächlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.

1.5

Allerdings könnten einige in dem Vorschlag nicht geregelte Aspekte bei der Umsetzung der Richtlinie Probleme aufwerfen und die Gefahr in sich bergen, dass die Richtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich angewandt wird. Zur Verringerung dieses Risikos muss die Kommission frühzeitig einige technische Probleme lösen, die in dem Vorschlag ungeklärt bleiben.

1.6

Der EWSA stimmt den Zielen des Richtlinienvorschlags zu, ist jedoch der Ansicht, dass diese nur dann erreicht werden, wenn die Mitgliedstaaten ihre Interpretation der Leitlinien und Empfehlungen der Richtlinie aufeinander abstimmen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich die Zersplitterung des Binnenmarktes verschärft, statt — gemäß den Zielsetzungen des Vorschlags — zurückzugehen.

1.7

Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, nicht nur wie gewöhnlich die Anwendungsbestimmungen der Richtlinie sorgfältig zu prüfen, sondern sich auch kontinuierlich und kooperativ mit den Mitgliedstaaten auszutauschen, um eine koordinierte Umsetzung des neuen Besteuerungssystems für Personenkraftwagen zu gewährleisten.

1.8

Ferner hofft der EWSA nach diesem ersten wichtigen Schritt auf weitere Fortschritte, damit in absehbarer Zeit ein Besteuerungssystem entsteht, das hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich auf der Nutzung statt auf dem Erwerb oder Besitz eines Fahrzeugs basiert. Erst dann gilt wirklich das „Verursacherprinzip“, dem der EWSA uneingeschränkt zustimmt.

1.9

Schließlich kann der EWSA nicht umhin, erneut zu betonen, dass ein ganzheitlicher Ansatz für eine größere ökologische Nachhaltigkeit des Straßenverkehrs notwendig ist. Die Besteuerung ist gewiss wichtig, muss jedoch mit der Modernisierung der Infrastrukturen, mit der Förderung des öffentlichen Verkehrs und nicht zuletzt mit einer angemessenen Aufklärungskampagne für bewusstere und umweltfreundliche Verbraucherentscheidungen einhergehen. In diesem Zusammenhang scheint es beispielsweise nicht zweckmäßig, dass die Europäische Kommission bei den Mitgliedstaaten auf eine Anpassung der Dieselsteuern an die Benzinsteuern hinwirkt und nicht berücksichtigt, dass Dieselfahrzeuge weniger CO2 ausstoßen als Benzinfahrzeuge.

2.   Begründung

2.1   Hintergrund und Kontext des Vorschlags

2.1.1

Die Europäische Kommission definiert die Automobilindustrie als eine Antriebskraft der europäischen Wirtschaft, die 7,5 % der Wertschöpfung der gesamten verarbeitenden Industrie und 3 % des BIP erzeugt. Des Weiteren leistet sie mit 35 Milliarden EUR einen wichtigen Beitrag zur Handelsbilanz und ist mit zwei Millionen direkten und zehn Millionen indirekten Arbeitsplätzen nicht zuletzt auch eine wichtige Beschäftigungsquelle.

2.1.2

Im Übrigen bilden der Erwerb und die Nutzung des Automobils mit ca. 340 Milliarden EUR (d.h. 8 % aller Steuereinnahmen der EU-15 (1)) eine der wichtigsten Einnahmequellen der Mitgliedstaaten.

2.1.3

Diese gewaltigen Einnahmen stammen im Wesentlichen aus drei speziellen Steuern: Zulassungssteuern, jährliche Kraftfahrzeugsteuern und Mineralölsteuern. Darüber hinaus verfolgt jeder Mitgliedstaat seine eigene einschlägige Steuerpolitik, so dass es mittlerweile 25 verschiedene Steuersysteme gibt. Folglich sind wir weit entfernt von der angestrebten Konvergenz, einer unabdingbaren Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes.

2.1.4

Momentan erheben 16 Mitgliedstaaten (2) eine Kraftfahrzeugzulassungssteuer und 18 Staaten eine jährliche Kraftfahrzeugsteuer (3). Außerdem unterscheiden sich die Berechnungskriterien und die Bemessungsgrundlage, insbesondere bei der Zulassungssteuer, erheblich zwischen den einzelnen Staaten. Beispielsweise schwankt die Steuer für einen 2 000 cc-Personenkraftwagen zwischen 1 % seines Wertes in Italien und über 170 % in Dänemark und die jährliche Kraftfahrzeugsteuer zwischen 30 EUR und 500 EUR pro Fahrzeug.

2.1.5

In diesem Zusammenhang hat die Europäische Kommission bereits im Jahr 2002 eine Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament über die Besteuerung von Personenkraftwagen (4) vorgelegt. In der Mitteilung wurde eine Strategie zur Überprüfung des derzeitigen Systems beschrieben, um eine Annäherung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu fördern und darin auch ökologische Zielsetzungen aufzunehmen.

2.1.6

In den folgenden Jahren hat die Kommission mit dem Rat und dem Europäischen Parlament sowie mit der Industrie und anderen interessierten Kreisen weitere Konsultationen durchgeführt und konnte sich bei der Erarbeitung des Richtlinienvorschlags auf deren Ergebnisse stützen.

3.   Der Kommissionsvorschlag

3.1

Es sei darauf hingewiesen, dass der Kommissionsvorschlag weder die Mehrwertsteuer noch die Mineralölsteuern betrifft und keine Harmonisierung, sondern eine Neubestimmung der Steuersätze vorsieht, wobei die Einnahmenhöhe unverändert bleibt.

3.2

Im Mittelpunkt des Vorschlags stehen drei wesentliche Punkte:

3.2.1

Abschaffung der Zulassungssteuer

Sie soll schrittweise während eines Zeitraums von zehn Jahren — bis zur vollständigen Abschaffung im Jahr 2016 — erfolgen. Diese Progressivität gewährt denjenigen Mitgliedstaaten, die momentan die Zulassungssteuer erheben, einen angemessenen Übergangszeitraum, auch um Maßnahmen zum Ausgleich des Einnahmenverlustes, namentlich durch Übertragung der Steuerbelastung auf die jährliche Kraftfahrzeugsteuer, zu ergreifen.

3.2.2

Schaffung eines Systems zur Erstattung der Zulassungssteuer und der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer

3.2.2.1

Die mit Inkrafttreten der Richtlinie vorgesehene neue Regelung gilt für diejenigen Personenkraftwagen, die in einem Mitgliedstaat zugelassen und anschließend in einen anderen Mitgliedstaat oder in einen Drittstaat ausgeführt bzw. dauerhaft verbracht werden.

3.2.2.2

Mit dieser Maßnahme werden zwei Ziele verfolgt: Vermeidung einer Doppelentrichtung der bereits zum Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs gezahlten Zulassungssteuer und Erhebung der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer in demjenigen Mitgliedstaat, in dem der Personenkraftwagen tatsächlich genutzt wird.

3.2.2.3

Der Betrag der zu erstattenden Zulassungssteuer hängt direkt mit dem Restwert des Fahrzeugs zusammen und entspricht dem im Fahrzeugrestwert enthaltenen restlichen Steuerbetrag.

3.2.2.4

Die Mitgliedstaaten können die Methode zur Bestimmung des Fahrzeugrestwerts zwecks Erstattung der Zulassungssteuer frei wählen, sofern ihre Kriterien transparent und objektiv sind. Dem Eigentümer des Personenkraftwagens muss die Möglichkeit gewährt werden, bei einer unabhängigen Stelle gegen den Beschluss desjenigen Staates, der die Erstattung vornimmt, Beschwerde einzulegen.

3.2.2.5

Zur jährlichen Kraftfahrzeugsteuer, die nach den in den 18 erhebenden Mitgliedstaaten geltenden Besteuerungskriterien richtiger „Eigentumssteuer“ heißen müsste, wird in der Richtlinie bekräftigt, dass diese Steuer auf einen Personenkraftwagen nur von demjenigen Mitgliedstaat erhoben werden kann, in dem das Fahrzeug zugelassen ist. Als Mitgliedstaat der Zulassung gilt derjenige Mitgliedstaat, in dem das Fahrzeug ständig genutzt wird, weil sich dort der gewöhnliche Wohnsitz des Eigentümers befindet oder weil das Fahrzeug in diesem Mitgliedstaat während eines Zwölfmonatszeitraums mehr als 185 Tage genutzt wird. Infolgedessen ist bei dauerhafter Verbringung des Fahrzeugs in einen anderen Mitgliedstaat oder in einen Drittstaat dem Eigentümer des Personenkraftwagens die nach dem Grundsatz pro rata temporis ermittelte restliche jährliche Kraftfahrzeugsteuer zu erstatten.

3.2.3

Vollständige oder teilweise Ausrichtung der Bemessungsgrundlage der Zulassungssteuer und der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer auf die CO2-Emissionen

3.2.3.1

In dem Richtlinienvorschlag wird ein System zur Bestimmung der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer und der Zulassungssteuer (für den geltenden Übergangszeitraum) eingeführt, das auch — zunehmend — auf den Kohlendioxid-Emissionen basiert.

3.2.3.2

Die Einführung erfolgt schrittweise: Bis 2008 sollen 25 % und bis 2010 50 % des Gesamtsteueraufkommens der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer und der Zulassungssteuer aus der auf CO2-Emissionen basierenden Besteuerung stammen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt ausdrücklich das Engagement der Europäischen Kommission, die ein doppeltes Ziel verfolgt: Die Funktionsweise des Binnenmarktes verbessern und der Strategie zur Reduzierung der CO2-Emissionen — durch steuerliche Maßnahmen — einen neuen Impuls verleihen. Hierbei ist zu betonen, dass in dem Vorschlag erstmals die „dritte Säule“ (steuerliche Maßnahmen) erwähnt wird, die in der Gemeinschaftsstrategie zur Verringerung der CO2-Emissionen und zur Kraftstoffeinsparung vorgesehen ist (5).

4.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag auch aufgrund seiner positiven Auswirkungen, die er sowohl für die Verbraucher (6) als auch für die europäische Automobilindustrie haben dürfte.

Die Ziele des Vorschlags sind allesamt zustimmungswürdig, da sie folgende Maßnahmen fördern sollen:

4.2.1

Die Verringerung, wenn nicht gar die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Personenverkehr der Europäischen Union durch starke Reduzierung der Kosten und deutliche Verkürzung der Fristen der Verwaltungsverfahren, die für die Ausfuhr oder Verbringung von Fahrzeugen zwischen den einzelnen Staaten gelten.

4.2.2

Eine größere Wettbewerbsfähigkeit der Automobilindustrie in einem stärker integrierten Binnenmarkt. Die Marktzersplitterung in steuerlicher Hinsicht wirkt sich momentan stark auf den Endpreis von Personenkraftwagen aus und zwingt die Hersteller aus reinen Steuergründen, in den einzelnen Ländern verschiedene Ausführungen desselben Modells zu produzieren und zu verkaufen, ohne folglich von den Größenvorteilen eines wirklich vollendeten Binnenmarktes profitieren zu können. Auch für den Verbraucher bietet diese Zersplitterung keinerlei Vorteile. Darüber hinaus wirken sich die hohen Zulassungssteuern in der Regel negativ auf die Kaufentscheidung zugunsten eines Neuwagens aus, so dass der Fahrzeugbestand weniger schnell durch schadstoffärmere und sicherere Autos ersetzt wird.

4.2.3

Mehr ökologische Nachhaltigkeit, da Personenkraftwagen große Verursacher von CO2-Emissionen sind. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die in dem Vorschlag zur Neubestimmung der Zulassungssteuer und der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer auf der Grundlage der Kohlendioxid-Emissionen gesetzten beiden Fristen gewiss kein Zufall, sondern gewissermaßen symbolisch sind: 2008 beginnt nämlich der im Kyoto-Protokoll vorgesehene Zeitraum, und der Rat und das Europäische Parlament hoffen, dass 2010 die CO2-Emissionen von Neuwagen unter 120 gr/km liegen.

4.3

Nach Ansicht des EWSA werden die Ziele der Richtlinie im Übrigen nur dann erreicht, wenn die Mitgliedstaaten deren Leitlinien und Empfehlungen wortgetreu und ohne Abweichungen interpretieren, welche die bereits bestehende exzessive Marktzersplitterung verstärken oder gar die Steuerlast der Autofahrer vergrößern könnten.

4.4

Dieses äußerst heikle Thema der Besteuerung fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, und die Europäische Kommission konnte das Subsidiaritätsprinzip daher nicht umfassender und verbindlicher als in diesem Vorschlag anwenden.

4.5

Beispielsweise sieht der Vorschlag eine strukturelle Veränderung der Besteuerung vor, wobei das Einnahmevolumen jedoch unberührt bleibt, d.h. das Steueraufkommen wird nicht erhöht. Dies bedeutet, dass der Verlust von Steuereinnahmen infolge der Abschaffung der Zulassungssteuer mit einer gleichwertigen, zeitgleichen Erhöhung der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer und gegebenenfalls mit anderen durch die Richtlinie über die Besteuerung von Energieerzeugnissen (7) erlaubten Steuermaßnahmen einhergehen.

4.6

Ferner ist die Herstellung eines direkten Zusammenhangs zwischen der Automobilbesteuerung und CO2 nur ein — wenngleich wichtiger — Aspekt, der in die umfassende Strategie zur Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen aufzunehmen ist. Diese Strategie muss mit einer holistischen Herangehensweise an das Problem entwickelt werden und mit den anderen gemeinschaftlichen Politikbereichen im Einklang stehen.

4.7

Angesichts dieser Ausführungen empfiehlt der EWSA, dass die Kommission nicht nur — wie üblich — die einzelstaatlichen Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie sowie deren Übereinstimmung mit der Richtlinie prüft, sondern auch einen Informationsaustausch mit und zwischen den Mitgliedstaaten fördert, der in kürzeren Intervallen als dem in dem Bericht über die Anwendung der Richtlinie vorgesehenen Fünfjahreszeitraum stattfinden sollte.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Nach Ansicht des Ausschusses könnten einige andere Aspekte dieses Vorschlags sich zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie als problematisch erweisen, da sie die Gefahr in sich bergen, in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich angewandt zu werden. Dies gilt insbesondere für folgende Punkte:

5.1.1

Die schrittweise Veränderung der Besteuerung muss ausgewogen sein, um zu verhindern, dass Bürger, die ein zulassungssteuerpflichtiges Fahrzeug erworben haben, anschließend durch eine unerwartete, deutliche Erhöhung der jährlichen Kraftfahrzeugsteuer benachteiligt werden.

5.1.2

Die „CO2-Komponente“ in der Besteuerung muss in einer zwischen allen Mitgliedstaaten koordinierten Art und Weise angewandt werden, um so neue Marktzersplitterungen zu meiden.

5.2

In diesem Zusammenhang müsste die Kommission den Mitgliedstaaten unverzüglich entsprechende Lösungen für zwei Probleme vorschlagen, die durch die Verabschiedung der Richtlinie in ihrer jetzigen Fassung entstünden.

5.2.1

Das erste Problem bezieht sich auf vor Januar 2001 zugelassene Fahrzeuge:

Die CO2-Emissionen (in Gramm pro Kilometer) sind für sämtliche seit Januar 1997 zugelassene Fahrzeuge verfügbar; vor diesem Zeitpunkt wurden keinerlei Daten erhoben.

Zwischen 1997 und 2000 wurden die CO2-Emissionen mit dem europäischen Testzyklus ermittelt; er wurde ab dem 1. Januar 2001 verändert, so dass die zwischen den beiden Zeiträumen erfassten Emissionswerte nicht vollständig übereinstimmen.

Folglich könnte eine — auf einem objektiven, homogenen Parameter basierende — Steuer nur auf diejenigen Fahrzeuge erhoben werden, die ab Januar 2001 zugelassen wurden.

5.2.2

Das zweite Problem betrifft diejenigen Mitgliedstaaten, in denen die jährliche Kraftfahrzeugsteuer momentan auf der Grundlage der Motorleistung (in Kilowatt) berechnet wird. Dieses System garantiert offenbar eine größere Progressivität als eine Steuer, die nur den CO2-Parameter berücksichtigt. Würde in diesen Ländern die jährliche Kraftfahrzeugsteuer vollständig auf den CO2-Emissionen basieren, dann stiege die Steuerlast für kleine Fahrzeuge, während sie für größere, leistungsstärkere und somit schadstoffreichere Fahrzeuge deutlich sänke — das Ergebnis widerspräche paradoxerweise dem anvisierten Ziel. Daher sind bereits jetzt Möglichkeiten zur Korrektur des Systems vorzusehen.

5.3

Die Mitgliedstaaten müssen in dem Teil der auf CO2-Emissionen bezogenen Steuern für jedes Fahrzeug einen klaren, direkten und transparenten Zusammenhang zwischen erhobener Steuer und CO2-Emissionen herstellen, um die willkürliche Schaffung weiterer Unterschiede zu vermeiden, die auf technischen Parametern wie Hubvolumen, Abmessungen usw. beruhen und Wettbewerbsverzerrungen verursachen.

5.4

Die Umsetzung der Richtlinie muss auch technologisch neutral erfolgen und lediglich der auf CO2-Emissionen bezogenen Fahrzeugleistung Rechnung tragen, ohne eine Technologie zu Lasten einer anderen zu bevorzugen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn Fahrzeuge mit Dieselmotor — in dieser Technologie besitzt Europa weiterhin einen Wettbewerbsvorteil gegenüber nichteuropäischen Herstellern — durch die neuen Bestimmungen benachteiligt würden. Es ist daher erstaunlich, dass die Europäische Kommission bei den Mitgliedstaaten auf eine Anpassung der Dieselsteuern an die Benzinsteuern hinwirkt und nicht berücksichtigt, dass Dieselfahrzeuge weniger CO2 ausstoßen als Benzinfahrzeuge.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Angaben für 2003. Es liegen keine vollständigeren, aktuelleren Zahlen für die EU-25 vor.

(2)  KEINE Zulassungssteuer erheben: Deutschland, Estland, Frankreich (dort existiert jedoch der mit der Zulassungssteuer vergleichbare Kraftfahrzeugschein carte grise), Litauen, Luxemburg, Schweden, die Slowakei, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich.

(3)  KEINE jährliche Kraftfahrzeugsteuer erheben: Estland, Frankreich, Litauen, Polen, Slowenien, die Slowakei und die Tschechische Republik.

(4)  KOM(2002) 431 endg. vom 6.9.2002.

(5)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: KOM(95) 689 endg. und Schlussfolgerungen des Rates vom 25.6.1996.

(6)  Nach Schätzungen der Kommission könnte in Mitgliedstaaten mit hoher Zulassungssteuer deren 50 %ige Reduzierung den Fahrzeugpreise zwischen 10 % und 25 % senken.

(7)  ABl. L 283 vom 31.10.2003, Seite 51.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Luftqualität und saubere Luft für Europa“

KOM(2005) 447 endg. — 2005/0183 (COD)

(2006/C 195/22)

Der Rat beschloss am 2. Dezember 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 72 gegen 5 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss stimmt den allgemeinen Zielen der thematischen Strategie zur Luftreinhaltung und ihrer Übersetzung in einen Richtlinienvorschlag ausdrücklich zu.

1.2

In Bezug auf die thematische Strategie, die — wie in Ziffer 4.1.1 der Strategie eindeutig dargelegt — nicht von dem Richtlinienvorschlag getrennt werden kann,

unterstützt der Ausschuss uneingeschränkt die Absicht, die Zielsetzungen im Zusammenhang mit der Luftqualität als Querschnittsthematik in die übrigen Bereiche der Gemeinschaftspolitik zu integrieren;

fordert er die Europäische Kommission auf, die im Rahmen des PRIMES-Modells entwickelten Energieszenarien zu überarbeiten, da diese gewisse Unschärfen aufweisen, und in der Folge dann möglicherweise auch das CAFE-Bezugsszenario (CAFE — „Saubere Luft für Europa“) entsprechend zu ändern.

1.3

In Bezug auf den Richtlinienvorschlag

befürwortet der Ausschuss den Willen zur Vereinfachung und Kodifizierung der geltenden Rechtsvorschriften im Bereich Luftqualität;

stimmt er dem Wunsch zu, die wirksame Durchführung der geltenden Rechtsvorschriften durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen;

schlägt er vor, die geplanten Fristen für die Einhaltung der aus der Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen angesichts des für den Abschluss des Legislativprozesses und die Einrichtung der Messstationen in den Mitgliedstaaten erforderlichen Zeit- und Investitionsaufwands zu verlängern, und zwar von 2010 bis 2015 für die Konzentrationsobergrenze für PM2,5 sowie von 2015 bis 2020 für die Reduzierung der Exposition des Menschen gegenüber PM2,5;

hätte es für zweckdienlicher gehalten, vor der Festlegung verbindlicher Obergrenzen einen Übergangszeitraum vorzusehen, in dem die Mitgliedstaaten sich den Zielwerten für die Konzentration hätten annähern können;

fordert er, dass Feinstaub natürlichen Ursprungs vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen wird.

2.   Einleitung

2.1

Die thematische Strategie und der Richtlinienvorschlag stehen im Zusammenhang mit dem sechsten Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft (1) (6. UAP, am 10. September 2002 veröffentlicht) und der Mitteilung „Saubere Luft für Europa (CAFE)“ (aus dem Jahr 2001). Im sechsten Umweltaktionsprogramm setzte sich die Union das Ziel, eine Luftqualität zu erreichen, „die keine erheblichen negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt hat und keine entsprechenden Gefahren verursacht“.

In Ziffer 4.1.1 der Strategie heißt es: „Dieser Strategie liegt ein legislativer Vorschlag bei […].“ Es ist daher klar, dass diese beiden Texte in Bezug zueinander stehen und dass für die Begutachtung des Richtlinienvorschlags auch die Strategie bewertet werden muss, ist diese doch in gewisser Weise der allgemeine Rahmen, für die strategischen Ziele der Europäischen Kommission im Bereich Luftqualität.

2.2   Eine thematische Strategie

2.2.1

In der vorliegenden thematischen Strategie werden Zwischenziele im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung festgelegt. Die geltenden Rechtsvorschriften sollten aktualisiert und gezielter auf die gefährlichsten Schadstoffe ausgerichtet werden. Ferner bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um die Belange des Umweltschutzes in die übrigen Politikbereiche und Programme einzubeziehen.

2.2.2

Trotz aller Erfolge bei der Reduzierung der Emissionen der wichtigsten Luftschadstoffe und selbst bei vollständiger Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften können die Umwelt- und Gesundheitsprobleme nicht ohne Zusatzmaßnahmen bis 2020 gelöst werden.

2.2.3

Die Europäische Kommission schlägt daher Folgendes vor:

die Vereinfachung der geltenden Bestimmungen und die Zusammenführung der Rahmenrichtlinie aus dem Jahr 1996, der ersten, zweiten und dritten „Tochterrichtlinie“ (aus den Jahren 1999, 2000 und 2003) und der Entscheidung zum Informationsaustausch (1997) sowie die Eingliederung der vierten „Tochterrichtlinie“ aus dem Jahr 2004 zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen der Kodifizierung;

die Einführung neuer Luftqualitätsnormen für Feinstaub (PM2,5);

die Überarbeitung der Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe (aus dem Jahr 2002).

All diese Maßnahmen dienen der Vereinfachung und der besseren Verständlichkeit der Rechtsvorschriften, um eine effizientere Anwendung zu gewährleisten.

2.2.4

Darüber hinaus wird mit dieser Strategie auf eine bessere Einbeziehung der mit der Luftqualität verbundenen Belange in die übrigen Bereiche der Gemeinschaftspolitik abgezielt, und zwar Energie, kleine Verbrennungsanlagen, Land-, Luft- und Seeverkehr sowie Landwirtschaft und Strukturfonds.

2.2.5

Die Strategie wird im Jahr 2010 einer Überprüfung unterzogen, deren Ergebnisse in die Abschlussbewertung des 6. Umweltaktionsprogramms einfließen werden.

3.   Der Vorschlag für eine Richtlinie über die Luftqualität und saubere Luft für Europa

3.1

Dieser Vorschlag hat zum Ziel, praktikable rechtliche Voraussetzungen für die Umsetzung der Strategie zu schaffen, indem die fünf vorstehend genannten Rechtsinstrumente zu einer einzigen Richtlinie zusammengefasst werden.

3.2

Die wichtigsten rechtlichen Änderungen sind in Kapitel III „Kontrolle der Luftqualität“ enthalten. Es wird nicht vorgeschlagen, die geltenden Luftqualitätsgrenzwerte zu ändern, sondern die bestehenden Bestimmungen zu verschärfen, sodass die Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung und Durchführung von Plänen verpflichtet werden, um die Einhaltung dieser Grenzwerte sicherzustellen.

3.3

Der zweite Schwerpunkt liegt auf Feinstaub (PM2,5), der mehr Gefahren in sich birgt als die größeren Partikel. Daher ist ein neuer Ansatz für die Kontrolle von PM2,5 erforderlich, um die bestehenden Kontrollen für PM10 zu ergänzen.

3.4

Die Europäische Kommission schlägt die Festlegung einer bis 2010 zu erreichenden Konzentrationsobergrenze für PM2,5 in der Luft vor, um unannehmbar hohe Risiken für die Bevölkerung zu vermeiden. Gleichzeitig werden nicht verbindliche Ziele für die allgemeine Reduzierung der Exposition des Menschen gegenüber PM2,5 zwischen 2010 und 2020 in allen Mitgliedstaaten vorgeschlagen.

3.5

Gemäß Kapitel V müssen die Mitgliedstaaten die Unterrichtung der Öffentlichkeit sowie mit der Luftqualität befasster Gremien und Einrichtungen sicherstellen, um den aus der Aarhus-Konvention erwachsenden Verpflichtungen nachzukommen. Die Mitgliedstaaten müssen selbstverständlich auch für die Weiterleitung der erforderlichen Informationen an die Europäische Kommission sorgen. Zur Erleichterung dieser Datenübermittlung schlägt die Europäische Kommission die Einführung eines elektronischen Berichterstattungssystems auf der Grundlage des gemeinsamen Informationssystems im Rahmen des Arbeitsprogramms INSPIRE vor.

3.6

Damit gewährleistet ist, dass die gesammelten Daten zur Luftverschmutzung hinreichend repräsentativ und vergleichbar sind, ist im Übrigen für die Beurteilung der Luftqualität die Anwendung einer standardisierten Messtechnik und gemeinsamer Kriterien für die Anzahl und die Wahl der Standorte der Messstationen vorgesehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

A)   Die thematische Strategie

4.1

Der Ausschuss stimmt den allgemeinen Zielen der Strategie und des Richtlinienvorschlags ausdrücklich zu. Von den sehr löblichen Zielen einmal abgesehen erhebt sich allerdings die Frage nach der Kostenwirksamkeit, der Machbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen, die in Bezug auf die Emissionen aus Punktquellen relativ einfach, in Bezug auf die Emissionen aus diffusen Quellen jedoch nur sehr viel schwerer umgesetzt werden können, und den tatsächlichen Auswirkungen dieser Maßnahmen sowohl in Bezug auf die Verbesserung der Luftqualität als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

4.2

Die Europäische Kommission veranschlagt die Kosten für die Verwirklichung der in der Strategie festgehaltenen Ziele auf 7,1 Milliarden EUR jährlich (zusätzlich zu den bereits für die Bekämpfung der Luftverschmutzung aufgewendeten Mitteln in Höhe von rund 60 Milliarden EUR jährlich), und die Einsparungen bei den Gesundheitskosten auf 42 Milliarden EUR pro Jahr. Die makroökonomische Wirkung wäre damit zwar äußerst positiv, doch spielt sich das wirtschaftliche Alltagsgeschehen auf mikroökonomischer Ebene ab. Die Europäische Kommission ist allerdings der Ansicht, dass selbst unter Einsatz aller verfügbaren Techniken der Nutzen größer als die Kosten wäre. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass zwar die Kosten relativ einfach kalkuliert werden können, nicht jedoch der erwartete Nutzen. Ferner scheinen auch die Berechnungsmethoden für die Einsparungen im öffentlichen Gesundheitswesen nicht besonders klar. Die Europäische Kommission betont dennoch, dass die amerikanischen Rechtsvorschriften kostenmäßig teurer kommen als die künftigen europäischen Bestimmungen.

4.3

Das Bestreben, die Rechtsvorschriften zu vereinfachen, klarer zu formulieren und zu kodifizieren, ist begrüßenswert, da die Komplexität und Undurchsichtigkeit einiger Rechtsvorschriften unausweichlich zu einer unterschiedlichen Anwendung und einer Verzerrung des Wettbewerbs führt. Außerdem lässt sie keine genaue Bestimmung der Luftqualität in Europa zu.

4.4

Die vorgeschlagene rechtliche Vorgehensweise wird daher befürwortet.

4.5

Bedauerlicherweise jedoch lässt die Europäische Kommission die Rolle der lokalen Gebietskörperschaften und insbesondere der Städte im Verkehrsbereich (Maßnahmen zur Förderung alternativer Verkehrsmittel, öffentlicher Verkehr, Umleitung des Schwerverkehrs usw.) unberücksichtigt, obwohl ihnen und insbesondere den Kommunen eine entscheidende Bedeutung bei der Umsetzung der auf europäischer Ebene beschlossenen Bestimmungen, in praktische Maßnahmen zukommt.

4.6

Desgleichen sollte herausgestellt werden, welche Rolle die im Umweltschutzbereich tätigen NGO und einige auf den Gebieten Gesundheit und Soziales spezialisierte Einrichtungen sowie die organisierte Zivilgesellschaft im weiteren Sinne im Zuge der Aufklärungsarbeit betreffend die Risiken für die öffentliche Gesundheit und die Gesundheit am Arbeitsplatz spielen können.

4.7

In Bezug auf den Schutz der Ökosysteme konnten bereits Fortschritte bei Stickstoffoxiden, Schwefeldioxid und Ammoniak erzielt werden. Die verschärfte Anwendung und die Vereinfachung der Rechtsvorschriften sollte weitere Verbesserungen ermöglichen.

B)   Der Richtlinienvorschlag

4.8

Der Vorschlag, die Feinstaubwerte in der Luft zu kontrollieren, ist aufgrund ihrer Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit nachvollziehbar. Dennoch stieß die Festlegung von Grenzwerten auf ein grundlegendes Problem, da die WHO nicht in der Lage war, einen Grenzwert für den Schutz der menschlichen Gesundheit zu definieren (2). Außerdem bestehen große Ungewissheiten in Bezug auf die Messung der Feinstaubpartikel und ihre chemische Zusammensetzung und damit den Grad ihrer Gesundheitsschädlichkeit, der mit den derzeit zur Verfügung stehenden technischen Methoden nicht bestimmt werden kann.

4.9

Daher kann die Frage erhoben werden, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, „Zielwerte“ anstelle von Grenzwerten festzulegen. Außerdem scheint die geplante Umsetzungsfrist (2010) angesichts des Beginns des Legislativverfahrens Ende 2005 relativ kurz. Aufgrund der Langsamkeit dieses Verfahrens bliebe den Mitgliedstaaten nur wenig Zeit, um die Bestimmungen zu erfüllen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Die thematische Strategie

5.1.1

Der Ausschuss begrüßt die von der Europäischen Kommission durchgeführte sehr weitreichende Konsultation der betroffenen Akteure und die Absicht, die Zielsetzungen im Zusammenhang mit der Luftqualität als Querschnittsthematik in die übrigen Bereiche der Gemeinschaftspolitik zu integrieren. Allerdings sind die Arbeiten unter großem Zeitdruck erfolgt, weshalb die erforderliche Überprüfung vielleicht nicht für alle Daten vorgenommen werden konnte. Dies erweist sich hinsichtlich der gewählten strategischen Szenarien als besonders heikel.

5.1.2

Diese Szenarien wurden mit dem PRIMES-Modell berechnet. Sie sind jedoch mit einigen Unschärfen in Bezug auf die Wachstumsprognose, die Marktdurchsetzung von Erdgas im Vergleich zu Kohle sowie das Ungleichgewicht zwischen den Elektrizitätsein- und ausfuhren zwischen den Mitgliedstaaten behaftet.

5.1.3

Die Europäische Kommission ist sich darüber übrigens im Klaren und hat das Internationale Institut für angewandte Systemanalyse IIASA damit beauftragt, bilaterale Konsultationen mit allen Mitgliedstaaten zwischen April und September 2005 durchzuführen, um insbesondere die Energieszenarien im Rahmen der kürzlich eingeleiteten Überarbeitung der Richtlinie über nationale Emissionshöchstgrenzen zu verbessern.

5.1.4

Derzeit läuft eine umfassende Aktualisierung der Energieszenarien des PRIMES-Modells. Die wichtigsten Änderungen betreffen folgende Punkte:

geringere Marktdurchsetzung von Erdgas und größerer Marktanteil von Kohle;

stärkere Kohärenz zwischen den Stromein- und -ausfuhren zwischen den Mitgliedstaaten;

höherer Anteil der Kernkraft an der Stromerzeugung;

Anpassung der Kostenentwicklungsprognosen für Brennstoffe und der Wirtschaftswachstumsprognose.

5.1.5

Die Energieszenarien des Programms „Saubere Luft für Europa (CAFE)“ sollten daher überarbeitet werden, und in der Folge dann auch das CAFE-Bezugsszenario und damit die festgelegten Grenzwerte.

5.1.6

Außerdem sollte die Kohärenz dieser Strategie mit den weiteren politischen Maßnahmen der Europäischen Union sichergestellt werden. So werden beispielsweise bei der Holzfeuerung Feinstaubpartikel freigesetzt, die Europäische Kommission fördert jedoch den Einsatz von Holz als alternativer Energiequelle, weshalb Rauchfilterungsverfahren verwendet werden sollten. Als weiteres Beispiel könnte auch Kohle genannt werden.

5.1.7

Immerhin aber werden in dieser thematischen Strategie oftmals vernachlässigte Sektoren wie die Landwirtschaft oder der Seeverkehr berücksichtigt, die Luftfahrt wird jedoch in Bezug auf die bei Start und Landung der Flugzeuge entstehenden Emissionen überraschenderweise ausgespart. Allerdings stehen bei ihrer Umsetzung politische Schwierigkeiten zu befürchten. So wird beispielsweise die Verringerung der von Schiffen verursachten Schwefeldioxid (SO2)- und Stickoxid (NOx)-Emissionen lange und schwierige internationale Verhandlungen erfordern. Ferner wird darauf zu achten sein, dass die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Ziele in bestimmten Sektoren (z.B. in der Landwirtschaft in Bezug auf Stickstoff- und Ammoniakgrenzwerte) nicht dazu führen, dass der Druck auf andere Verursacher, die sich leichter ins Visier nehmen lassen, wie z.B. Industrieanlagen, erhöht wird.

5.2   Der Richtlinienvorschlag

5.2.1

Der Ausschuss befürwortet die Vereinfachung der geltenden Bestimmungen und die Zusammenführung der Rahmenrichtlinie aus dem Jahr 1996, der ersten, zweiten und dritten „Tochterrichtlinie“ und der Entscheidung zum Informationsaustausch. Zu viele Einzelbestimmungen erschweren eine wirksame Umsetzung und die Ersetzung dieser fünf Rechtstexte durch eine einzige Richtlinie ist daher sinnvoll.

5.2.2

Der Ausschuss begrüßt außerdem die Absicht, eine standardisierte Messtechnik und gemeinsame Kriterien für die Anzahl und die Wahl der Standorte der Messstationen festzulegen (Kapitel II). Er weist allerdings darauf hin, dass sich einige lokale Gebietskörperschaften über die damit verbundenen Kosten beunruhigt gezeigt haben.

5.2.3

Der Ausschuss unterstützt ferner den Vorschlag der Europäischen Kommission, die geltenden Luftqualitätsgrenzwerte nicht zu ändern, sondern die bestehenden Bestimmungen zu verschärfen, sodass die Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung und Durchführung von Plänen verpflichtet werden, um die Einhaltung dieser Grenzwerte sicherzustellen (Artikel 13). Diese wirksame Anwendung der geltenden Normen ist ein vorrangiges Ziel, mit dem die Luftqualität erheblich verbessert und der Gesundheitsschutz deutlich gestärkt werden dürfte.

5.2.4

Der Ausschuss betont, dass der Schwerpunkt des Richtlinienvorschlags die Einführung einer Konzentrationsobergrenze für Feinstaub (PM2,5) in der Luft ist, die bis 2010 erreicht werden muss. Diese Bestimmung wird durch nichtverbindliche Ziele für die Reduzierung der Exposition des Menschen gegenüber PM2,5 zwischen 2010 und 2020 (um 20 %) ergänzt.

5.2.5

Der Ausschuss hält fest, dass es nicht genügend Daten über Feinstaub und seine Auswirkungen gibt, die sichere Rückschlüsse erlauben. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO räumt ein, dass es nicht möglich ist, einen schlüssigen Grenzwert für den Schutz der menschlichen Gesundheit festzulegen. Auch dem Wissenschaftlichen Ausschuss „Gesundheit und Umweltrisiken“ zufolge sind die Erkenntnisse über Feinstaub und seine langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt lückenhaft.

5.2.6

Der Ausschuss erachtet es für zweckdienlicher, erst einmal Zielwerte anstelle von Konzentrationsobergrenzen festzulegen. Sonst steht zu befürchten, dass die von der Europäischen Kommission festgesetzten Fristen zu kurz sind, wurde doch das Legislativverfahren erst Ende 2005 eingeleitet. Die Mitgliedstaaten würden daher Gefahr laufen, nur sehr wenig Zeit für die Anpassung an die Bestimmungen zur Verfügung zu haben, zumal einige schon jetzt nicht in der Lage sind, die geltenden Grenzwerte einzuhalten, weil sie bei deren Umsetzung teilweise in Verzug geraten sind. Weiters verweist der Ausschuss auf die Tatsache, dass Konzentrationsobergrenzen für kleinere Mitgliedstaaten schwerer einzuhalten sind, da diese durch die geringere Verteilung der Luftbelastung zusätzlich benachteiligt sind. Der Ausschuss schlägt daher vor, anstelle von Konzentrationsobergrenzen Zielwerte festzulegen. Die vorgeschlagenen Normen würden ernorme Anstrengungen hinsichtlich der Einrichtung von Messstationen seitens der Mitgliedstaaten und/oder der Gebietskörperschaften erfordern und einen hohen Zeit- und Investitionsaufwand bedeuten. PM10 können einfach gemessen werden, und es liegen bereits brauchbare Messergebnisse vor; außerdem sinken sie schnell zu Boden. Jedoch sollten diese Messergebnisse evaluiert und darauf überprüft werden, ob sie in den Mitgliedstaaten eingehalten werden können. PM2,5 hingegen, die schwer messbar und sehr flüchtig sind, bilden fugitive grenzüberschreitende Luftschadstoffe. Darüber hinaus gibt es noch Feinstaubpartikel natürlichen Ursprungs wie Meersalz, die sinnvollerweise vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen werden sollten.

5.2.7

Außerdem ist die Messung von Feinstaub in Europa noch nicht harmonisiert. In der ersten Tochterrichtlinie wurde eine gravimetrische Referenzmethode für die Messung von Feinstaub empfohlen. Da diese Methode jedoch langwierig und ihre Anwendung kompliziert ist, erlaubt diese Richtlinie auch den Einsatz alternativer Messmethoden, sofern sie den von der Europäischen Kommission veröffentlichen Messmethoden wirklich gleichwertig sind. In der Praxis weichen sie aber systematisch von der Referenzmethode ab, und die Mitgliedstaaten verwenden unterschiedliche oder überhaupt keine Korrekturfaktoren. Man darf sich die Frage stellen, ob es denn sinnvoll ist, bei derartigen Ungenauigkeiten in den Messmethoden so kurzfristig rechtlich bindende Grenzwerte einhalten zu wollen.

5.2.8

Der Ausschuss weist abschließend darauf hin, dass die Kostenwirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen nur schwer bewertet werden kann, werden doch kalkulierbare Kosten mit kaum quantifizierbaren Vorteilen für die öffentliche Gesundheit verrechnet. Die Grenzkosten der vorgeschlagenen Bestimmungen könnten sich daher im Verhältnis zu einem begrenzten realen Nutzen als hoch erweisen, was die Mittelverteilung problematisch macht.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. L 242 vom 10.9.2002.

(2)  In Bezug auf die Exposition des Menschen gegenüber PM2,5 hat die WHO vor Kurzem einen Grenzwert von 10 μm/m3 vorgeschlagen.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Situation der Zivilgesellschaft im Westbalkanraum“

(2006/C 195/23)

Mit Schreiben vom 14. Juni 2005 ersuchte Frau Margot WALLSTRÖM, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft um eine Sondierungsstellungnahme „Situation der Zivilgesellschaft im Westbalkanraum“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 27. März 2006 an. Berichterstatter war Herr DIMITRIADIS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 95 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

Diese Stellungnahme wurde im Einklang mit Artikel 9 des Protokolls über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und auf Ersuchen der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Frau Margot WALLSTRÖM, um Stellungnahme zur Lage der Zivilgesellschaft in den westlichen Balkanländern erarbeitet und soll der Kommission als Orientierungshilfe bei ihren strategischen Überlegungen im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP) dienen.

Mit dieser Stellungnahme wird bezweckt,

die Kommission und den Rat bestmöglich bei der Ausarbeitung und Durchführung von politischen Maßnahmen dabei behilflich zu sein, die auf einem soliden Fundament beruhen und realistische und messbare Zielen verfolgen;

der europäischen Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, diese politischen Maßnahmen besser zu verstehen, so dass sie die positiven Elemente der EU erkennt und die entsprechenden Maßnahmen bewusst unterstützt;

die Bewertung und somit auch die Verbesserung oder Überprüfung der angewandten Politiken und Maßnahmen zu erleichtern, falls dies nötig ist, sofern ihre Ziele eindeutig und unanfechtbar sind, vor allem in Bezug auf ihre unmittelbaren Adressaten;

das Image der EU und ihr Gewicht auf internationaler Bühne, vor allem jedoch im schwer geprüften Westbalkanraum, zu verbessern und aufzuzeigen, dass sie ein offenes Ohr für die Nöte und Grundbedürfnisse der Völker der Region hat und ihnen die Kenntnisse vermittelt, die ihrer gedeihlichen Entwicklung zugute kommen;

die Rolle zu verdeutlichen, die der EWSA in der Region als Brücke zwischen den europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft und den entsprechenden Organisationen vor Ort spielen kann.

1.   Zusammenfassung

1.1   Bemerkungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die EU hat bei der Jugoslawien-Krise auf internationaler und lokaler Ebene einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt und erscheint im Westbalkanraum infolgedessen als ein politisch machtloser internationaler Faktor, der über die tatsächliche Situation im Westbalkanraum noch immer nicht im Bilde ist und seine verschiedenen Akteure nicht zu koordinieren vermag.

In bestimmten Regionen des Westbalkanraums, insbesondere im Kosovo, hat sich kein Gefühl der Sicherheit eingestellt, und die ethnischen Unterschiede können im Westbalkanraum jeden Moment heftige Feindseligkeiten auslösen.

Die Union Serbiens und Montenegros hat die Erwartungen im Hinblick auf die Schaffung eines demokratischen Staatenbundes nicht erfüllt.

Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind politische Gebilde (Konstrukte), die von den internationalen Organisationen aufoktroyiert wurden, und es gibt keinerlei Gewähr, dass sie auf Dauer Bestand haben werden.

Die Kopenhagener Kriterien gelten als grundlegend und nicht verhandelbar.

Der geeignetste Weg zur Entwicklung einer entsprechenden integrierten europäischen Strategie führt über die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen, die zaghaft angefangen haben, ihre Rolle wahrzunehmen.

Die Länder des Westbalkanraums benötigen sowohl in Bezug auf das Know-how als auch in wirtschaftlicher Hinsicht ständige, unmittelbare und ernstgemeinte Hilfe (Unterstützung der direkten und indirekten Auslandsinvestitionen).

Es besteht die Notwendigkeit der Stärkung eines vielgestaltigen und mehrseitigen Dialogs und der Schaffung eines demokratischen Rechtsrahmens für das Funktionieren der organisierten Zivilgesellschaft.

Die Bekämpfung der Korruption und die Profilierung der Judikative als Stütze der Gesellschaft haben unmittelbare Priorität.

Die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen finanziert werden.

Der EWSA hält es für erforderlich, zu gegebener Zeit Gemischte Beratende Ausschüsse mit allen Staaten des Westbalkanraums einzusetzen.

1.2   Die Rolle und Kompetenzen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der EWSA ist der Auffassung, dass er aufgrund seiner beachtlichen Humanressourcen und seinen enormen Fundus an Erfahrungen, die er im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der zehn neuen Mitgliedstaaten zur EU mit den Gemischten Beratenden Ausschüssen erworben hat, besonders geeignet ist, bei der Entwicklung der genannten Maßnahmen eine aktivere Rolle zu spielen; diese Tatsache wird durch seine wichtige Initiative bekräftigt, 2006 ein Forum mit den Organisationen der Zivilgesellschaft des Westbalkanraums auszurichten.

Der EWSA ist gerne bereit, auf Wunsch seine Dienste zur Verfügung zu stellen, um die Organisationen der Zivilgesellschaft mit den entsprechenden europäischen Organisationen in Kontakt zu bringen.

Die Kommission könnte an den EWSA herantreten bezüglich der Ausrichtung lokaler Informationstreffen mit der Zivilgesellschaft zu Themen von besonderem Interesse und somit könnte der EWSA als Brücke für die Kommunikation zwischen der Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen wie dem IWF, der Weltbank, der EIB usw. fungieren.

Der EWSA sollte in Zusammenarbeit mit der EU systematische Untersuchungen/Analysen zur sozialen Situation im Westbalkanraum und zum Fortschritt der Zivilgesellschaft planen, veranlassen und unterstützen.

1.3   Empfehlungen und Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

A)

An die Adresse der regionalen politischen Kräfte der Länder des Westbalkanraums:

Der EWSA empfiehlt den Ländern des Westbalkanraums, ihre Annäherung an den Acquis communautaire stärker zu forcieren, und hält die entsprechenden Regierungen dazu an, ihre Demokratisierungsbemühungen zu beschleunigen.

Der EWSA appelliert an alle Beteiligten, vor allem den ethnischen und religiösen Minderheiten Achtung entgegenzubringen.

B)

An die Adresse der politischen Organe der EU:

Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bemühungen um einen Abschluss der Verfahren im Zusammenhang mit den Stabilisierungs- und Assoziierungsübereinkommen auch mit den übrigen Staaten der Region zu intensivieren sowie entschlosseneren politischen Willen und eine bessere Koordination zur Förderung aller Themen der Thessaloniki-Agenda an den Tag zu legen.

Der EWSA erachtet die Bildung als den wichtigsten Bereich, in dem die EU die Gemeinwesen des Westbalkanraums und ihre Entwicklung unterstützen muss.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die endgültige Regelung der Frage der staatlichen Existenz des Kosovos für die Sicherheit, den Frieden und die Stabilität in der Region von entscheidender Bedeutung ist.

Der EWSA ist außerdem der Meinung, dass die EU eine Bewertung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen hinsichtlich ihrer Satzung und ihrer Ziele vornehmen muss.

C)

An die Adresse der an den Westbalkanraum angrenzenden EU-Mitgliedstaaten und der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft:

Der EWSA empfiehlt den EU-Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den Ländern des Westbalkanraums zu ergreifen.

2.   Hintergrund: die organisierte Zivilgesellschaft im Westbalkanraum

2.1

Bei der Untersuchung der Zivilgesellschaft (1) in der Region konzentriert sich die Stellungnahme auf die folgenden Länder: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (FYROM) sowie Serbien und Montenegro (SuM) einschließlich Kosovo unter UNSCR 1244.

2.2

Auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki (Juni 2003) bekräftigte die EU ihr Bekenntnis zur Einbindung der westlichen Balkanstaaten (2) in die Union, sofern die Bedingungen dies zulassen. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP) wurde um neue Instrumente zur Unterstützung des Reformprozesses bereichert. Es wurden die kurz- und mittelfristigen Prioritäten festgelegt und 2004 die ersten Europäischen Partnerschaften genehmigt.

2.3

In der Region herrschen jedoch weiterhin politisch instabile Verhältnisse. Diese Instabilität zeigt sich in den noch ungeklärten endgültigen Status des Kosovo, den noch im Fluss befindlichen Beziehungen zwischen Serbien und Montenegro und der schleppende Fortschritt in Bosnien und Herzegowina, der jeden Moment zum Erliegen kommen kann.

2.4

Nach den Besuchen in Kroatien, Bosnien und Herzegowina (21./22. März 2005), in Serbien und Montenegro (26. Mai 2005), in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sowie in Albanien berichtete die Kontaktgruppe des EWSA über eine positive Reaktion auf das unter Leitung des EWSA organisierte Forum der Zivilgesellschaft, verwies aber auch auf die Problematik der Erreichung eines konstruktiven sozialen Dialogs und eines Dialogs der Organisationen der Zivilgesellschaft, die auf das Fehlen einer wirklich repräsentativen Mitwirkung der Sozialpartner, aber auch das Nichtvorhandensein entsprechender Legitimitäts- und Authentizitätsnachweise (3) bestimmter Organisationen, die als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft auftreten, zurückzuführen ist. Das Zusammenwirken von Regierungen und Zivilgesellschaft hat sich zwar schrittweise verbessert, jedoch noch nicht das Funktionsniveau erreicht, das erforderlich ist, um greifbare Ergebnisse und Synergien herbeizuführen.

2.5

Aufgrund der Schwäche der demokratischen Institutionen, des politischen Umfelds und der Sicherheitslage in den Ländern der Region war bislang kein strukturierter sozialer Dialog mit unabhängigen und repräsentativen Sozialpartnern möglich; dieser muss von der internen Problemstellung der Gesellschaft vor Ort ausgehen und in der Folge von der EU mit ihrem reichen Erfahrungsschatz und Fachwissen unterstützt werden.

2.6

Die vorliegende Stellungnahme geht aus von den Vereinbarungen des Gipfeltreffens von Zagreb (November 2000), der Thessaloniki-Agenda (Juni 2003) und allen anderen Initiativen der EU-Organe zugunsten der Region, die vornehmlich auf wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Themen ausgerichtet sind.

2.7

Die heutige Situation der genannten Organisationen der Zivilgesellschaft unterscheidet sich nur unwesentlich von der in der früheren Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der neuen europäischen Strategie für den westlichen Balkan“ (4) beschriebenen Sachlage und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Kontinuierliche und ernsthafte Bemühungen der Gewerkschaftsorganisationen um Wahrnehmung ihrer neuen Rolle in einer freien Wirtschaft und Gesellschaft, in der der private Sektor die Rolle eines modernen Entwicklungsfaktors spielt;

Bemühungen um ein Herauslösen der Arbeitgeberorganisationen aus der staatlichen Umklammerung, die früher aus der Eigenschaft des Staates als Eigentümer herrührte, heute unter den neuen Gegebenheiten jedoch aus der besonderen Rolle entstand, die der Staat nach dem Zusammenbruch der früheren Regime bei der Gründung neuer Unternehmen und der Schaffung neuer Unternehmer, die von den internationalen Geldgebern großzügig finanziert wurden, gespielt hat;

vielgestaltige, in einigen Fällen jedoch ineffiziente Bemühungen, für die eine stärkere Koordinierung der Zusammenarbeit erforderlich ist.

2.8

Die allgemeine soziale Lage in der Region ist nach wie vor problematisch. Trotz der erzielten Fortschritte sind die sozialen und politischen Institutionen und Strukturen immer noch nicht gefestigt. Der Krieg hat tiefste Gräben gerissen, die bis heute nicht überbrückt werden konnten. Deswegen haben die diesbezüglichen Anstrengungen seitens der internationalen und europäischen Organisationen auch nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht, was u.a. auch auf das Fehlen eines einheitlichen Modells für den sozialen Dialog und für den Dialog zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft zurückzuführen ist, bei den die verschiedenen Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft jeweils eine dezidierte und ganz klare Rolle hinsichtlich ihrer Rechte, Kompetenzen und Pflichten übernehmen müssen.

3.   Die allgemeine Situation der Organisationen der Zivilgesellschaft

3.1   Sozialpartner

Nach dem Abschluss der Freihandelsabkommen in der Region muss nun auf dem Regelungswege dafür gesorgt werden, dass die Sozialpartner in der Region repräsentiert sind und dass zugleich auf nationaler Ebene Vertretungsstrukturen entstehen, die nicht zersplittert sind.

Die europäischen Programme zum Kapazitätsaufbau (5) sind von wesentlicher Bedeutung, vor allem für die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die in Randgebieten operieren. Die interregionale Zusammenarbeit muss sich an bewährten Vorgehensweisen orientieren, denn die Sozialpartner sollen mit Blick auf den Übergang zu einem einheitlichen Freihandelsabkommen im Jahr 2006 regionale Fragen auf dem Wege der Zusammenarbeit klären.

Die Einbeziehung des öffentlichen Sektors in den betroffenen Ländern ist vielfach sehr mühsam, daher gilt es den Dialog zwischen Staat und Privatwirtschaft zu gewährleisten und zu fördern.

3.2   Sonstige Organisationen

Die bestehenden Organisationen der Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern können vier allgemeinen Kategorien zugeordnet werden: a) Organisationen, die aus dem Kampf gegen das alte Regime hervorgegangen sind; b) NRO, die ausschließlich aufgrund von Spenden existieren und zur Durchführung der Programme der internationalen Entwicklungshilfe eingerichtet worden sind; c) hoch spezialisierte Organisationen, die sich in der Regel den hilfebedürftigsten Gruppen zuwenden, und d) landwirtschaftliche Verbände.

Die Zukunftsfähigkeit und die Unabhängigkeit von den Gebern sind die Hauptfragen, die in der nächsten Zeit angegangen werden müssen. Die Organisationen der ersten Kategorie, die zumeist schon länger bestehen und unmittelbar an der politischen Diskussion teilnehmen, haben sich zu weithin anerkannten Organisationen entwickelt, die jedoch mit schwer wiegenden Problemen der finanziellen Nachhaltigkeit konfrontiert sind. Die Organisationen der zweiten Kategorie, die weniger augenfällig, dafür aber reich an der Zahl sind, wurden offenbar ins Leben gerufen, um den Wünschen der Gebergemeinschaft zu entsprechen. Ohne Geber wird die Mehrzahl von ihnen fraglos wieder von der Bildfläche verschwinden.

Der Kapazitätsaufbau, die Kooperation zwischen den Organisationen der Zivilgesellschaft und die regionale Zusammenarbeit sind Aufgaben, die in Angriff genommen werden müssen. Das größte Problem ist aber die drohende Finanzierungslücke, die dann entsteht, wenn die internationale Hilfe zurückgefahren wird, aber noch keine inländischen Geldquellen zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit, dass ein Großteil des von der Zivilgesellschaft geschaffenen Sozialkapitals verloren geht und eine Rückkehr zur Gewalt erfolgt, ist durchaus gegeben.

4.   Die Strukturprobleme der Region und ihr Einfluss auf die Entwicklung der organisierten Zivilgesellschaft

4.1   Korruption

Dies ist das größte Strukturproblem der Region, das auf die ineffiziente öffentliche Verwaltung, das Fehlen eines regelrechten und effizienten institutionellen und rechtlichen Rahmens, die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, die Armut und das fehlende echte Intervenieren der Organisationen der Zivilgesellschaft zurückzuführen ist.

4.2   Verletzung von Menschen-, Persönlichkeits- und Sozialrechten

Auch heute sind trotz der — nicht immer von Erfolg gekrönten — Anstrengungen der internationalen Organisationen noch immer systematische Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden zu beobachten. Konkret scheint sich jedoch vor allem die Justiz nicht im Klaren darüber zu sein, welche Rolle sie zu spielen hat, und nimmt diese Rolle denn auch nicht wahr.

Grundsätzlich ist der Beitritt dieser Länder zum institutionellen Rahmen des Europarates eine positive Entwicklung. In vielen Fällen fehlt es jedoch am politischen Willen zur ernsthaften Umsetzung dieses Rahmens, und das Hineinspielen der Minderheiten- und Religionsunterschiede in die sozialen Verhandlungen macht eine Annäherung und Versöhnung besonders schwer.

4.3   Ineffizientes Regieren — öffentliche Verwaltung

Die aufgrund der heftigen innenpolitischen Konflikte entstandene politische und soziale Instabilität ist die Hauptursache für die schwache Regierungsführung in der Region, die sich in erheblichen Funktionsstörungen der öffentlichen Verwaltung niederschlägt, die wiederum Misswirtschaft und Korruption Vorschub leisten. Die internationalen und europäischen Bemühungen um eine Modernisierung der Verwaltungen haben bisher noch keine nennenswerten Ergebnisse gebracht.

4.4   Fehlender Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft

Voraussetzung für den sozialen Dialog (6) mit den Organisationen der Zivilgesellschaft ist nicht nur der geeignete Rechtsrahmen, sondern auch die gegenseitige Achtung der Beteiligten, das Bemühen um Verständnis und Milderung der Gegensätze sowie vor allem eine Mentalität der Konfliktbereinigung. Aufgrund der totalitären Regime und der von ihnen im eisernen Griff gehaltenen Pseudo-Organisationen hat es im Westbalkanraum nie einen echten Dialog gegeben. Es wird sicherlich noch seine Zeit dauern, bis der soziale Dialog die erforderliche Qualität und das geforderte Niveau erreicht.

4.5   Bedarf an ausgewiesenen repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft

Die Fülle von Organisationen der Zivilgesellschaft wirft berechtigte Fragen bezüglich der tatsächlichen sozialen Situation in der Region auf. Viele dieser Organisationen sind auf Wunsch oder Drängen internationaler Organisationen entstanden, die sie finanzieren und die häufig auch die — eigentlich vom Staat zu leistende — soziale Schutz- und Sorgfaltspflicht wahrnehmen. Andere wiederum sind auf Initiative internationaler Organisationen der Zivilgesellschaft und anderer NRO entstanden, die ihre Tätigkeit auch unmittelbar beeinflussen. Wieder andere gingen aus lokalen Initiativen hervor, hinter denen sich parteipolitische, nationalistische, minderheitenspezifische oder religiöse Interessen verbergen.

5.   Bemerkungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation im Westbalkanraum und zur europäischen Strategie

5.1

In der Jugoslawien-Krise und während des Krieges in Ex-Jugoslawien hat die EU auf internationaler und lokaler Ebene ein erhebliches Stück ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt, da es ihr an konkreten Interventionsstrategien fehlte.

5.2

Im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses sollte die Europäische Kommission eine klarere politische Strategie festlegen und ihre Anwesenheit in der Region bekräftigen. Sie sollte ihr Engagement verstärken, um die Qualität ihres Handelns und ihr Image in der Region zu verbessern.

5.3

Es ist festzustellen, dass sich in einigen Regionen des Westbalkanraums, insbesondere im Kosovo (7), aufgrund der ethnischen Unterschiede weder ein Gefühl der Sicherheit eingestellt hat noch der Friede konsolidiert wurde und dass die Union Serbiens und Montenegros die Erwartungen im Hinblick auf die Schaffung eines demokratischen Staatenbundes (8) nicht erfüllt.

5.4

Es ist festzustellen, dass Bosnien-Herzegowina und Kosovo politische Gebilde (Konstrukte) sind, die von den internationalen Organisationen aufoktroyiert wurden, und es keinerlei Gewähr gibt, dass sie auf Dauer Bestand haben werden. Es muss daher unverzüglich eine grundlegende Lösung für ihre politischen Probleme gefunden werden, die den wirtschaftlichen Wohlstand, den Schutz der Rechte der Minderheiten- und Religionsgruppen und die Stärkung der demokratischen Strukturen unter Gewährleistung der internationalen Organisationen sicherstellt. Die Aufnahme multilateraler Verhandlungen im Jahre 2005 über die Zukunft des Kosovo im Rahmen der Vereinten Nationen stellt die einzige Hoffnung für die Lösung dieser brisanten Problematik dar.

5.5

Der EWSA ist überzeugt, dass die EU ihre Anwesenheit in der Region durch entschlossene praktische Informations- und Kommunikationsmaßnahmen verstärken und sowohl ihre Politik in der Region als auch die Kosten eines EU-Beitritts für diese Länder klären sollte (9).

5.5.1

Die Kopenhagener Kriterien gelten auch für die beitrittswilligen Länder des Westbalkanraums als grundlegend und nicht verhandelbar. Damit der Prozess jedoch ernsthaft voranschreitet und diese Kriterien erfüllt werden, sollte die EU mithilfe ihrer Mechanismen unmittelbar tätig werden, und zwar nicht nur im institutionellen Rahmen der betroffenen Länder, sondern auch bei der praktischen Umsetzung des Acquis.

5.6

Vor diesem Hintergrund muss der geeignetste Weg zur Entwicklung einer entsprechenden integrierten europäischen Strategie über die organisierte Zivilgesellschaft und ihre Organisationen führen. So stellt die organisierte Zivilgesellschaft genauer gesagt eine einzigartige Möglichkeit dar, um während der langjährigen Übergangsphase Normalität zu schaffen und dafür zu sorgen, dass die Kooperations- und Interventionsprogramme für ihre Endbegünstigten auch wirklich nutzbringend sind.

5.7

Der EWSA gelangt anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und seines Fundus an Wissen über die Region, das er — insbesondere nach Einrichtung der Kontaktgruppe „Westbalkan“ — erworben hat, zu den nachstehenden Feststellungen und Bemerkungen:

5.7.1

Aufgrund der rassenbedingten und ethnischen Unterschiede kann es jeden Moment zu heftigen Konflikten im Westbalkanraum kommen, da die Spannungen schwelen und sich urplötzlich Bahn brechen können.

5.7.2

Die organisierte Zivilgesellschaft (10) hat zaghaft damit begonnen, ihre Rolle wahrzunehmen; sie stützt sich dabei jedoch in der Regel auf ausländische Geldgeber, während es ihr in bestimmten Fällen an Sachverstand und Glaubwürdigkeit fehlt.

5.7.3

Die Annahme der Charta der Grundrechte der EU ist eine grundlegende Voraussetzung, die von allen beitrittswilligen Staaten der Region akzeptiert werden muss.

5.7.4

Die Länder des Westbalkanraums benötigen sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf das Know-how andauernde unmittelbare und ernsthafte Hilfe, um ihre neu geschaffenen Institutionen unterstützen und das erforderliche demokratische Fingerspitzengefühl entwickeln zu können. Die Bereitstellung dieser Hilfe muss besser koordiniert werden und — im Falle der EU — in engerer Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Agentur für Wiederaufbau und den EU-Delegationen vor Ort erfolgen.

5.7.5

Grundlegende Voraussetzungen für die Normalisierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in den betroffenen Ländern sind die Notwendigkeit der Stärkung eines vielgestaltigen und mehrseitigen Dialogs und die Schaffung eines demokratischen Rechtsrahmens, der in die Praxis umgesetzt wird, um das Funktionieren der organisierten Zivilgesellschaft zu gewährleisten.

Für die Stärkung des sozialen Dialogs ist insbesondere Folgendes erforderlich:

a)

die Anerkennung der Rolle der Sozialpartner;

b)

die Anerkennung der Rolle der Autonomie der Sozialpartner;

c)

die Achtung des Rechts der Vertretungsorganisationen, gut informiert zu werden, konsultiert zu werden und sich zu allen wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu äußern.

5.7.6

Ferner ist es erforderlich, die Korruption durch die Erlassung strenger, jedoch möglichst einfacher Regeln zu bekämpfen, die mithilfe neuer Technologien strikt angewandt werden.

5.7.7

Schließlich müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft finanziert werden; dies stellt für ihre Entwicklung und insbesondere für den Ausbau des Dialogs das größte Hindernis dar.

5.7.8

Die Justiz muss sich als Stütze der Gesellschaft profilieren. Zu diesem Zweck sollte sie speziell unterstützt und gestärkt werden, damit sie ihre institutionelle Rolle nach dem Vorbild der europäischen Modelle wahrnehmen kann.

5.7.9

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region ist der Schlüssel für einen umfassenden und integrierten Übergang zum Acquis communautaire. Diese Zusammenarbeit wird auch erheblich zu einem Abbau der Spannungen beitragen und weitere Möglichkeiten für Entwicklung und Wohlstand bieten.

5.7.10

Der interkulturelle, religionsübergreifende und internationale Dialog soll die Schaffung von Kanälen für die Annäherung und Kommunikation der Länder des Westbalkanraums untereinander erleichtern. Die Religionsführer der Region sind hier gefordert, eine zweckdienliche Rolle zu spielen, indem sie Spannungen abwenden und die Bemühungen um Stärkung des Dialogs unterstützen.

5.7.11

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Region durch die Unterstützung ausländischer Direktinvestitionen und die notwendigen Privatisierungen erreicht werden kann, die für einen Transfer von Kapital und Know-how sorgen, zur Verschlankung des öffentlichen Sektors beitragen und wichtige positive Entwicklungen für alle noch offenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme einleiten. Zur Verwirklichung dieses Ziels muss neben dem institutionellen Rahmen auch der Bankensektor zuverlässig und unter Anwendung der anerkannten und verbrieften internationalen Regeln operieren, damit die Korruption in allen ihren Formen (Geldwäsche, Schmuggel usw.) unterbunden werden kann.

Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Europäische Investitionsbank (EIB) werden aufgefordert, eine besondere Koordinierungsfunktion in der Region zu übernehmen.

5.7.12

Die internationalen Organisationen (IWF, Weltbank, ILO, UNO usw.) müssen enger mit den Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, um ihre Rolle auf der Ebene der Gesellschaften im Westbalkanraum zu stärken.

5.7.13

Der EWSA stellt fest, dass sich die Koordination zwischen den verschiedenen EU-Einrichtungen in der Region allmählich verbessert hat. Die Europäische Agentur für Wiederaufbau (EAR) verwaltet Programme mit einem Etat in dreistelliger Millionenhöhe, von denen einige die Entwicklung von Humanressourcen oder konkret die Ausbildung von Arbeitskräften voraussetzen bzw. mit sich bringen. An dieser Stelle sollte auch die Arbeit der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (ETF) und des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) erwähnt werden, das — dank seiner ausgezeichneten Zusammenarbeit mit dem ETF und seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu diesem — den Ländern der Region seine reichhaltige Erfahrung und Sachkenntnis zur Verfügung stellen könnte. Zusätzlich zu den EU-Einrichtungen sollte auch die Rolle des Stabilitätspakts hervorgehoben werden, auch wenn seine Zukunft unklar bleibt, wodurch seine Auswirkungen in der Region geschwächt werden könnten.

6.   Vorschläge und Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

6.1

Die Rolle und die Kompetenzen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Für die Annäherung der derzeitigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Realität im Westbalkanraum — mit Blick auf die Zivilgesellschaft — an den Acquis, ist ein neuer Ansatz, sprich eine neue Sichtweise des Entwicklungsverlaufs gefragt. So ist es zunächst erforderlich, die Erfahrungen auf diesem Gebiet, die mit den Gemischten Beratenden Ausschüssen (GBA) aus der großen Erweiterung gewonnen wurden, zu nutzen und die europäische organisierte Zivilgesellschaft bei sämtlichen Verfahren der Konzipierung und Ausgestaltung der einschlägigen Maßnahmen stärker zu beteiligen. Ferner ist auch eine systematischere und eindeutig institutionelle Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft beider Seiten in die politischen Verhandlungen zwischen der EU und den Regierungen der Balkanstaaten notwendig. Schließlich bedarf es integrierter Maßnahmen für die einzelnen Regionen und Ziele.

6.1.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass er aufgrund seiner beachtlichen Humanressourcen und seines einschlägigen Fundus an Wissen (11), das er im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der zehn neuen Mitgliedstaaten zur EU mit den Gemischten Beratenden Ausschüssen erworben hat — auch denjenigen Bulgariens, Rumäniens und der Türkei, die noch operationell sind -, besonders in der Lage ist, bei der Entwicklung der genannten Maßnahmen in Verbindung und Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen und über die gemeinsame Initiativen in der Region eine aktivere Rolle zu spielen.

6.1.2

Der EWSA verfügt — vor allem seit der Einrichtung der Kontaktgruppe „Westbalkan“ und den Besuchen einiger seiner Mitglieder in der Region — über zweckdienliche Informationen und Verbindungen, die es ihm ermöglichen, den Zielen der Lissabon-Agenda in den wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen zu dienen, die in den Ländern des Westbalkanraums eine aktivere und raschere Integration der europäischen Institutionen und Positionen erfordern.

6.1.3

Diesbezüglich erachtet der EWSA seine Initiative, 2006 ein Forum mit den Organisationen der Zivilgesellschaft des Westbalkanraums auszurichten, für wichtig, da dieses Forum alle wichtigen Organisationen der Zivilgesellschaft des Westbalkanraums in direkten Kontakt mit dem EWSA und den europäischen Institutionen insgesamt bringen wird. Er fordert die Kommission auf, diese konkrete Initiative sowie seine Initiativen zur Stärkung der Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft auf nationaler und regionaler Ebene mit allen geeigneten Mitteln zu unterstützen und die Ergebnisse des Forums ernsthaft zu berücksichtigen.

6.1.3.1

Der EWSA ist jederzeit bereit, auf Wunsch seine Dienste zur Verfügung zu stellen, um die Organisationen der Zivilgesellschaft mit den entsprechenden europäischen Organisationen in Kontakt zu bringen, um einen Wissensaustausch zu ermöglichen und ihre Tätigkeit in den Ländern des Westbalkanraums effizienter zu gestalten.

6.1.3.2

Gleichzeitig bringt der EWSA zum Ausdruck, dass sein Interesse insbesondere denjenigen Organisationen der Zivilgesellschaft gilt, die Finanzierungsschwierigkeiten haben und nicht in der Lage sind, ihre Funktionskosten mit Eigenmitteln zu bestreiten. Aus diesem Grund spricht er sich für eine Aufstockung dieser Mittel im Rahmen der Durchführung des Stabilitätspakts aus.

6.1.3.3

Gleiches Interesse bringt der EWSA auch den Problemen der Agrargemeinschaften in den Ländern des Westbalkanraums entgegen. Er fordert die Kommission daher auf, diese Problematik mit derselben Aufmerksamkeit zu verfolgen und die für die Modernisierung des Primärsektors erforderlichen Kenntnisse und Qualifikationen bereitzustellen.

6.1.3.4

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Vorantreiben der wirtschaftlichen Reformen und die wirtschaftliche Entwicklung der Region ganz grundlegende Faktoren für die Lösung der Strukturprobleme darstellen. Die Unterstützung der KMU (12) und der landwirtschaftlichen Betriebe durch ihre Vertretungsorganisationen ist eine grundlegende Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wohlstand der Region und kann durch die Anwendung bewährter Vorgehensweisen, die bereits in den EU-Mitgliedstaaten zum Einsatz kommen, erreicht werden. Der EWSA verfügt über die notwendigen Fachkenntnisse und Humanressourcen, um derartige Maßnahmen zu unterstützen.

6.1.3.5

Diesbezüglich könnte der EWSA in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission an nationalen und lokalen Informationstreffen mit der Zivilgesellschaft teilnehmen.

6.1.3.6

Der EWSA könnte dabei helfen, Informationen über die Tätigkeit internationaler Organisationen in der Region zu verbreiten, die für die Organisationen der Zivilgesellschaft wichtig sind. Darüber hinaus könnte der EWSA zusammen mit der ILO im Rahmen der Gemeinsamen Erklärung des Generalsekretärs der ILO und der Präsidentin des EWSA Aktivitäten in der Region entwickeln, insbesondere zur Stärkung des sozialen Dialogs.

6.1.3.7

Die EU und der EWSA sollten systematische Untersuchungen/Analysen zur sozialen Situation im Westbalkanraum und zum Fortschritt der Zivilgesellschaft planen, veranlassen und unterstützen, die sich hauptsächlich auf das Aufwand-Nutzen-Verhältnis konzentrieren. Zu diesem Zweck können „Leistungsindikatoren“ verwendet (bzw. dort, wo es diese noch nicht gibt, konzipiert) werden, und zwar sowohl für „harte“ als auch für „weiche“ Investitionen, um so etwaige Schwächen oder Lücken der bisherigen Politiken und Maßnahmen der EU zu ermitteln und die erforderlichen Verbesserungen oder Überprüfungen vorzunehmen (z.B. Einteilung der unterschiedlichen Organisationen der Zivilgesellschaft anhand bestimmter grundlegender Merkmale, wie Zweck, Ziele, Satzung, Flächendeckung, Funktionsweise und Kontrollen, Finanzierungsquellen und –umfang usw.).

6.2

Der EWSA ist bereit, Gemischte Beratende Ausschüsse mit allen Staaten der Region einzusetzen, sobald die Bedingungen dies erlauben.

6.3

Der EWSA macht auf der Grundlage der einschlägigen Erfahrungen und Kenntnisse, die er im Kontakt mit den Organisationen der Zivilgesellschaft in den Ländern des Westbalkanraums gewonnen hat, folgende Vorschläge bzw. Empfehlungen:

6.3.1   An die Adresse der regionalen politischen Kräfte der Länder des Westbalkanraums:

6.3.1.1

Der EWSA empfiehlt den Ländern des Westbalkanraums, ihre Annäherung an den Acquis communautaire — insbesondere im Hinblick auf den Schutz der individuellen, sozialen, kollektiven Rechte — stärker zu forcieren, und zwar über vorläufige nationale Entwicklungspläne ähnlich dem, den die Türkei erarbeitet hat, um auf die Aufnahme der künftigen EU-Hilfe vorbereitet zu sein.

6.3.1.2

Der EWSA fordert die betreffenden Regierungen auf, ihre Bemühungen um Demokratisierung und Unterstützung des sozialen Zusammenhalts durch eine Intensivierung des Dialogs mit den Organisationen der Zivilgesellschaft zu intensivieren.

6.3.1.3

Der EWSA appelliert an alle Beteiligten, vor allem den ethnischen und religiösen Minderheiten Achtung entgegenzubringen, indem sie ihm ihre persönlichen, religiösen und politischen Rechte garantieren und die religiösen und kulturellen Denkmäler schützen.

6.3.1.4

Der EWSA begrüßt die Fortschritte im Hinblick auf den Abschluss der Verfahren mit allen Ländern des Stabilisierungs- und Assoziierungsübereinkommens.

6.3.2   An die Adresse der politischen Organe der EU:

6.3.2.1

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die besonderen Probleme bezüglich Gleichstellung und Umwelt-, Verbraucher- und Minderheitenschutz in der Region aufgrund des fehlenden Know-hows und Rechtsrahmens besonders schwerwiegend sind und fordert die Kommission daher auf, den Ländern des Westbalkanraums dabei zu helfen, rascher auf dem Weg zur unentbehrlichen Modernisierung voranzuschreiten.

6.3.2.2

Der EWSA fordert die Kommission auf, zur weitergehenden Stärkung der Verbindungen zwischen der EU und den Staaten der Region nach Abschluss der Stabilisierungs- und Assoziierungsübereinkommen mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien und Kroatien auch ihre Bemühungen um einen Abschluss der Verfahren mit den übrigen Staaten der Region zu intensivieren und entschlosseneren politischen Willen und eine bessere Koordination zur Förderung aller Themen der Thessaloniki-Agenda an den Tag zu legen (13).

6.3.2.3

Der EWSA hält die Thessaloniki-Agenda für einen wichtigen Text über die Zusammenarbeit, der jedoch kontinuierlich aktualisiert werden muss.

6.3.2.4

Der EWSA erachtet die Bildung als den wichtigsten Bereich, in dem die EU die Gesellschaft des Westbalkanraums unterstützen muss. Bessere Bildung und die Verringerung des Analphabetismus können die starken ethnischen, religiösen und minderheitenspezifischen Unterschiede wesentlich mildern und — in Verbindung mit wirtschaftlichem Wohlstand und der Stärkung der demokratischen Institutionen — den Völkern des Westbalkanraums zu einer besseren Regierungsführung verhelfen. Die Kommission kann in Bildungs- und Kulturfragen eine außergewöhnlich wichtige Rolle spielen, insbesondere durch die Entwicklung von Hilfeprogrammen zum Austausch von wissenschaftlichem Personal und der Ausbildung von Jungwissenschaftlern.

6.3.2.5

Vor diesem Hintergrund ist besonders darauf hinzuweisen, dass sich in der Vision EU derzeit eine politische, wirtschaftliche und soziale Leere abzuzeichnen scheint, die auf die Abwesenheit der Länder des Westbalkanraums in ihren Strukturen zurückzuführen ist.

6.3.2.6

Infolgedessen empfiehlt der EWSA die umfassende Integration des Westbalkanraums in die Entwicklungsstrategie der EU, und zwar durch die Verstärkung des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses sowie das Ergreifen zusätzlicher Maßnahmen, sofern dies aufgrund der besonderen Schwierigkeiten der Region erforderlich ist.

6.3.2.7

Der EWSA legt den politischen Organen der EU und den beratenden Versammlungen (EWSA und Ausschuss der Regionen) ferner eine bessere Koordination untereinander nahe mit dem Ziel, Bedingungen für die effizientere Entwicklung des genannten Programms zu schaffen.

6.3.2.8

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die endgültige Festlegung der Frage der staatlichen Existenz des Kosovos für die Sicherheit, den Frieden und die Stabilität in der Region von entscheidender Bedeutung ist, und appelliert an den Rat, die Kommission und das Europäische Parlament, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten zu den Anstrengungen der UN und des Sondervermittlers des UN-Generalsekretariats beizutragen.

6.3.2.9

Die EU sollte den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft und der Vertretungsorganisationen einen Sonderstatus (spezielle Einreisevisa) zuerkennen und sich insgesamt flexibler zeigen (14).

6.3.2.10

Die EU muss eine Bewertung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen mit Blick auf ihre Satzung, Ziele, Organisation und Funktionsweise, ihren Tätigkeitsbereich (öffentlicher oder privater Sektor), ihre Repräsentativität (für alle Unternehmen und Arbeitnehmer oder nach Wirtschaftszweig) usw. vornehmen, um zuverlässige Organisationen auszumachen, mit denen die EU zusammenarbeiten kann. Untersuchungen dieser Art könnten noch weiter vereinfacht werden, indem die EU die Sammlung und Bekanntmachung der hierfür erforderlichen Daten (d.h. Transparenz) zur Vorbedingung für die Genehmigung aller Arten von Hilfsleistungen für öffentliche und private Träger und Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft macht.

Diese Arbeit könnte entweder intern, d.h. von den EU-Institutionen (Kommission, EWSA usw.), oder — je nach Bedarf — ganz oder teilweise extern durchgeführt werden.

6.3.3   An die Adresse der an den Westbalkanraum angrenzenden EU-Mitgliedstaaten und der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft:

6.3.3.1

Der EWSA empfiehlt den EU-Mitgliedstaaten (wie beispielsweise Italien, Ungarn, Slowenien und Griechenland), Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den Ländern des Westbalkanraums zu ergreifen, insbesondere in Fragen der Strategie, der Entwicklung der Humanressourcen, der öffentlichen Verwaltung und der Europäisierung der institutionellen und rechtlichen Strukturen.

6.3.3.2

Gleichzeitig spricht sich der EWSA für eine noch stärkere Sensibilisierung und Aktivierung der europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sowie der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft im Allgemeinen aus, um die Einbindung der entsprechenden Organisationen des Westbalkanraums in die jeweiligen europäischen Strukturen und Funktionen zu fördern.

6.3.3.3

Sowohl die Maßnahmen der an den Westbalkanraum angrenzenden Mitgliedstaaten als auch die entsprechenden Aktionen der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft müssen in das genannte mittel- bis langfristige Programm für die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung integriert werden.

6.4   Finanzierung

6.4.1

Die EU verfügt über eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten, die auf die Stärkung der Zivilgesellschaft im Westbalkanraum abzielen. Gleichzeitig gewähren auch andere internationale Organisationen oder Länder mehreren Organisationen der Zivilgesellschaft des Westbalkanraums Entwicklungshilfe. Obwohl Hilfsmaßnahmen wie diese generell positiv zu bewerten sind, bergen sie relativ viele Gefahren, hauptsächlich in Bezug auf die Art der Hilfeleistung. Die Hauptprobleme, die im Zuge der Anwendung der internationalen Entwicklungshilfe im Westbalkanraum beobachtet wurden, sind im Folgenden aufgeführt.

6.4.1.1

Die internationale Hilfe für den Westbalkanraum mag in wirtschaftlicher Hinsicht zwar relativ umfangreich sein, doch ist sie in den meisten Fällen an Prioritäten gebunden, die von den Gebern bestimmt wurden, ohne den praktischen Bedürfnissen vor Ort Rechnung zu tragen. Was die Zivilgesellschaft betrifft, gelingt es der internationalen Entwicklungshilfe in den meisten Fällen nicht, die Interessen der lokalen Akteure zu berücksichtigen. Sie setzt die Bemühungen um institutionelle Veränderungen mit vereinzelten Aktionen gleich, die mit den bestehenden Macht- und Gesellschaftsstrukturen sowie den Interessen und Traditionen der Empfängerländer in keiner Verbindung stehen. Häufig werden alle Arbeiten an NRO in den Empfängerländern der Hilfe vergeben. Diese NRO sind von den internationalen Hilfsprogrammen vollkommen abhängig und schlagen Initiativen vor, die den Prioritäten der Geber, nicht aber den Bedürfnissen der Hilfsempfänger entsprechen.

6.4.1.2

Die Leistungsfähigkeit der internationalen Entwicklungshilfsprogramme im Westbalkanraum ist insbesondere aufgrund der fehlenden Koordination zwischen den verschiedenen Gebern und der extrem kurzen Laufzeit der Programme, die vielfach Einzelinitiativen unterstützen, stark reduziert. Häufig wurden Arbeiten, die gerade erst Ergebnisse zeitigen, aufgegeben, weil die Geber ihre Finanzierungsprioritäten schon sehr bald geändert und ihre Programmplanung auf wesentlich kürzere Zeiträume zugeschnitten haben, als in den Ländern des Westbalkanraums eigentlich erforderlich wäre. Die Finanzierungsmechanismen der EU und der anderen internationalen Organisationen müssen einsehen, dass eine häufige Änderung der Finanzierungsprioritäten ineffizient ist. In der Regel fallen Programme zur Berufsbildung und zum Kapazitätsaufbau in diese Kategorie. Auch die Unterstützung für institutionelle Akteure ist lückenhaft und wird in der Regel über Konferenzen und kleine Seminare statt durch umfangreiche technische Hilfe geleistet.

6.4.1.3

Viele NRO führen soziale Initiativen durch, um in den Genuss von Einkünften zu gelangen, was die Fähigkeit dieser NRO, echte Verbindungen mit der Gesellschaft herzustellen und ihre erklärten Ziele zu erreichen, erheblich geschmälert hat. Viele NRO sehen ihre Rolle als die von Leitern technischer Hilfsprogramme und operieren auf der Grundlage privatwirtschaftlicher Kriterien mit dem Ziel, eine umfangreichere Finanzierung zu erhalten.

6.4.2

Mit Blick auf die Notwendigkeit, das vorstehend erwähnte Problem der Gewährung substanziellerer Hilfe für die organisierte Zivilgesellschaft anzugehen, macht der EWSA die nachfolgenden Vorschläge für die Finanzierung entsprechender Arbeiten.

6.4.2.1

Die EU muss sowohl die derzeit laufenden Entwicklungshilfeprogramme als auch die Programme, die für den Zeitraum 2007-2013 aufgelegt werden — hauptsächlich auf die Sektoren demokratische und wirtschaftliche Verwaltung und Umweltmanagement ausrichten.

6.4.2.2

Die Regierungen der Länder des Westbalkanraums müssen klare operationelle Programme zur Stärkung der Zivilgesellschaft entwickeln. Diese Programme müssen mit der EU abgesprochen werden. Es wird daher vorgeschlagen, zur Entwicklung dieser Programme eine regelmäßige Kommunikation zwischen der Kommission, dem EWSA und den lokalen Regierungen einzurichten.

6.4.2.3

Es sollte ein sehr tragfähiger Mechanismus geschaffen werden, der die Effizienz der Entwicklungshilfsprogramme im Bereich der Zivilgesellschaft verfolgt. Der EWSA könnte in diesem Rahmen eine wichtige Rolle spielen.

6.4.2.4

Die Planung der Entwicklungshilfeprogramme muss auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Zivilgesellschaft zugeschnitten werden. Bei Entwicklungshilfe, die auf die Schaffung neuer Institutionen der Zivilgesellschaft abzielt, könnte die technische Unterstützung des EWSA umfassend in Anspruch genommen werden.

6.4.2.5

Nach Abschluss des vom EWSA veranstalteten Forums für die Westbalkanländer könnte eine ständige Management-Arbeitsgruppe zwischen der Kontaktgruppe des EWSA und Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft des Westbalkanraums eingesetzt werden. Diese Arbeitsgruppe würde den Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Gestaltung ihrer strategischen und operationellen Agenda helfen und vorbildliche Praktiken und Kenntnisse zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den EU-Mitgliedstaaten und den Ländern des Westbalkanraums bereitstellen.

6.4.2.6

In der Finanziellen Vorausschau der EU für 2007-2013 müssen im Rahmen des Ziels „territoriale Zusammenarbeit“ auch die Finanzmittel berücksichtigt werden, die für die Hilfe von Drittländern bestimmt sind. Die Finanzierungsmechanismen für Drittländer müssen vereinfacht werden — natürlich ohne die notwendige Transparenz zu opfern — und in Nachbarschaftsprogrammen unterstützt werden. Die Erfahrung mit Programmen wie CADSES muss genutzt und verbreitet werden.

6.4.2.7

Bei der Aufstellung von Entwicklungshilfeprogrammen für die Zivilgesellschaft muss die EU auch die Entwicklungsprogramme anderer internationaler Organisationen berücksichtigen. Die Zusammenarbeit mit den Programmen und Sonderdiensten der UN sollte vertieft und auf ein operationelles Niveau gebracht werden.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  In diesem Dokument ist unter „Zivilgesellschaft“ im Einklang mit früheren Stellungnahmen des EWSA Folgendes zu verstehen: 1. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, 2. Vertretungsorganisationen anderer wirtschaftlicher und sozialer Interessen, 3. Nichtregierungsorganisationen (NRO), 4. Basisorganisationen, 5. religiöse Vereinigungen.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Förderung der Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft in Südosteuropa - Erfahrungen der Vergangenheit und künftige Herausforderungen“ (Berichterstatter: Herr WILKINSON) (ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 82).

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“ (ABl. C 329 vom 11.11.1999) und „Die organisierte Zivilgesellschaft und europäische Governance - Beitrag des Ausschusses zur Erarbeitung des Weißbuchs“ (ABl. C 193 vom 10.7.2001).

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der neuen europäischen Strategie für den westlichen Balkan“ (Berichterstatter: Herr CONFALONIERI) (ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 158) und „Förderung der Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft in Südosteuropa - Erfahrungen der Vergangenheit und künftige Herausforderungen“ (Berichterstatter: Herr WILKINSON) (ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 82).

(5)  Gemeinschaftshilfe für Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung (CARDS - Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilisation), Verordnung (EG) Nr. 2666/2000 des Rates vom 5.12.2000.

(6)  Konferenz zum Thema Stärkung des sozialen Dialogs im Westbalkanraum, GD Beschäftigung 6./7. Oktober 2005, Skopje.

(7)  Entschließung des Europäischen Parlaments zum Stand der regionalen Integration im Westbalkan (P6_TA(2005)0131).

(8)  Österreichischer Ratsvorsitz 2006 - Bundesaußenministerium - 23. November 2005 - Europäische Außenpolitik.

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der neuen europäischen Strategie für den westlichen Balkan“ (Berichterstatter: Herr CONFALONIERI) (ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 158).

(10)  Entschließung des Europäischen Parlaments (P6_TA(2005)0131).

(11)  Der EWSA hat bisher zu folgenden Arbeiten im Zusammenhang mit dem Westbalkanraum beigetragen: 1) Informationsbericht zum Thema „Beziehungen zwischen der Europäischen Union und bestimmten südosteuropäischen Ländern“, verabschiedet am 23.7.1998 (Berichterstatter: Herr SKLAVOUNOS) (CES 1025/98 fin), 2) Initiativstellungnahme zum Thema „Entwicklung der Humanressourcen auf dem westlichen Balkan“ (Berichterstatter: Herr SKLAVOUNOS) (ABl. C 193 vom 10.7.2001, S. 99), 3) Aktionsplan über die „Förderung von Kultur und Praxis des sozialen Dialogs sowie der Beteiligung der Zivilgesellschaft und damit verbundener Netzwerke in Südosteuropa“ in Zusammenarbeit mit der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (ETF) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), 4) Initiativstellungnahme zum Thema „Förderung der Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft in Südosteuropa - Erfahrungen der Vergangenheit und künftige Herausforderungen“ (Berichterstatter: Herr WILKINSON) (ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 82), 5) Sondierungsstellungnahme zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der neuen europäischen Strategie für den westlichen Balkan“ (Berichterstatter: Herr CONFALONIERI) (ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 158), 6) Stellungnahme zum Thema „Größeres Europa - Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“ (Berichterstatterin: Frau ALLEWELDT) (ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 148).

(12)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Der Westbalkan und die europäische Integration (KOM(2003) 285 endg. vom 21.5.2003).

(13)  Die Thessaloniki-Agenda für die westlichen Balkanstaaten: Auszüge aus sukzessiven Treffen der Räte Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen, 16. Juni 2003.

(14)  Entschließung des Europäischen Parlaments (P6_TA(2005)0131).


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“

(2006/C 195/24)

Die österreichische Ratspräsidentschaft der EU ersuchte mit Schreiben vom 13. September 2005 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema: „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatter war Herr RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 125 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Die Biodiversität ist Basis und Garant für das Leben auf unserem Planeten. Schon aus einem wirtschaftlichen Eigeninteresse heraus muss der Mensch bestrebt sein, die Stabilität der Ökosysteme zu wahren. Darüber hinaus gebietet es die Verantwortung vor der Schöpfung, die Artenvielfalt zu wahren. Biodiversitätsschutz ist kein „Luxus“, den man sich leisten kann oder auf den verzichtet werden könnte.

1.2

Der Mensch selbst ist der größte Nutznießer der Biodiversität, er ist allerdings derzeit auch Hauptverursacher des Rückgangs.

1.3

Der EWSA sieht die Biodiversität in Europa nach wie vor im höchsten Maße bedroht. Die bisherigen Maßnahmen der EU reichen bislang nicht aus, den negativen Trend der letzten Jahrzehnte zu stoppen.

1.4

Der EWSA begrüßt, dass sich nicht nur alle europäischen Institutionen, sondern auch die EU-Mitgliedstaaten als Vertragspartner der Konvention zum Erhalt der Biodiversität verpflichtet haben, den negativen Trend nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren.

1.5

Doch der EWSA bemängelt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit extreme Lücken klaffen: die öffentliche Hand hat bislang beim Schutz der Biodiversität nicht die Beiträge geleistet, die von ihr hätten erwartet werden können. Sie hat beim Schutz der Biodiversität eigentlich eine Vorbildfunktion einzunehmen, stattdessen tragen Planungsentscheidungen und Förderprogramme häufig dazu bei, die Biodiversität weiter zu gefährden. Hinzu kommt, dass in der Finanzperiode 2007-2013 just in jenen Politikbereichen der EU besonders gespart werden soll, die für den Biodiversitätsschutz von besonderer Bedeutung sind.

1.6

Der Verlust an Biodiversität ist ein schleichender Prozess, der nun schon seit vielen Jahren anhält. Da immer weniger Menschen einen direkten Bezug zur natürlichen Umwelt haben, ist die direkte Betroffenheit und folglich der daraus resultierende politische Gegendruck relativ gering. Dies darf aber die Politik nicht beruhigen, vielmehr sind Gegenstrategien zu entwickeln.

1.7

So wie die Zivilgesellschaft besser über Hintergründe und den Sinn des Biodiversitätsschutzes informiert werden muss, müssen auch Trainings- und Ausbildungsmaßnahmen von lokalen, regionalen und nationalen Beamten und Angestellten der öffentlichen Hand vorgenommen werden — viele wissen gar nicht, worum es sich handelt und häufig fehlt die Motivation.

1.8

Eine von der EU-Präsidentschaft erwogene Kampagne zur Erhaltung der Biodiversität hält der EWSA für sinnvoll, die Zivilgesellschaft kann dabei sowohl praktische Beiträge leisten als auch — besonders wichtig — zur Bewusstseinsentwicklung beitragen. Eine entsprechende Kampagne kann aber die bestehenden Defizite, die die EU selbst benannt hat, nicht kompensieren. Sie darf auch keineswegs dazu führen, dass der Eindruck entsteht, die Probleme ergäben sich allein oder vornehmlich aus einem zu geringen Engagement der Zivilgesellschaft.

1.9

Es bedarf mehr positiver praktischer Beispiele und Modellprojekte, es bedarf mehr an Darstellungen, die den Sinn- und den Nutzwert von Landschaften und Biodiversität generell ins Bewusstsein rücken und es bedarf des Engagements von Vorbildern aus der Öffentlichkeit. Schließlich geht es um die Erhaltung der Lebensgrundlagen des Menschen.

2.   Hauptelemente und Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Mit Schreiben vom 13. September 2005 bat die österreichische Präsidentschaft den EWSA, eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“ zu erarbeiten. In dem Schreiben wird darauf verwiesen, dass eine solche Stellungnahme den Rat und die Kommission inhaltlich und politisch bei dem Ziel unterstützen könnte, dem Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2010 Einhalt zu gebieten (1).

2.2

In dem Schreiben wird vorgeschlagen, dass der EWSA untersuchen könnte,

worin die Ursachen des Verlustes an Artenvielfalt liegen,

ob die bislang vom Rat und der Kommission eingeleiteten Maßnahmen zur Zielerreichung ausreichend sind,

ob die diversen EU-Politiken eine Kohärenz aufweisen,

welche weiteren Initiativen von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffen werden müssen sowie

welche Konsequenzen dies im Rahmen der Lissabon- und Nachhaltigkeitsstrategie haben wird und

wie die Zivilgesellschaft einen Beitrag leisten kann.

2.3

Hintergrund der Bitte der österreichischen Präsidentschaft dürfte die im Schreiben erwähnte Tatsache sein, dass „aktuelle Daten verschiedener Forschungseinrichtungen und Institute wie etwa EUROSTAT belegen ..., dass trotz der bisherigen Bemühungen die Artenvielfalt in Europa und weltweit stetig abnimmt, wobei eine Trendumkehr momentan nicht in Sicht ist. Auch die Kommission geht in ihren Mitteilungen im Zuge des Überprüfungsprozesses der EU-Nachhaltigkeitsstrategie von einem negativen Trend in diesem Bereich aus“.

2.4

Der EWSA dankt der Präsidentschaft dafür, dass sie diese wichtige Frage an den EWSA herangetragen hat. Der Ausschuss wird im Folgenden einzeln auf die aufgeworfenen Fragen eingehen, zu jedem Thema die erbetenen Antworten geben und Ideen für eine „Kampagne“ entwickeln.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Biodiversität ist die Basis des Lebens auf unserem Planeten. Ohne Biodiversität gäbe es für den Menschen keine Überlebensmöglichkeit: Pflanzen, die das Sonnenlicht in Biomasse umwandeln, sind die Basis jener Energie- und Stoffströme auf unserem Planeten, in die der Mensch täglich eingebunden ist, zum Beispiel, wenn er atmet, Nahrung zu sich nimmt oder wirtschaftet. Auch ohne jene Arten, die schließlich die vom Menschen „produzierten“ Abfälle wieder verwerten und umwandeln, wäre menschliches Leben und Wirken unmöglich.

3.2

Biodiversität ist folglich nicht etwas, was sich die Gesellschaft „leisten“ kann, wenn er ihr wichtig erscheint, und worauf sie verzichten kann, wenn scheinbar andere Prioritäten gesetzt werden sollten. Biodiversität ist etwas Unverzichtbares.

3.3

In der „Überprüfung der Umweltpolitik 2003“ (2) stellt die Kommission klar, worum es bei der biologischen Vielfalt (Biodiversität) geht. Biodiversität „ist Ausdruck für Komplexität, Gleichgewicht und Zustand der verschiedenen Ökosysteme. … Biologische Vielfalt erfüllt nicht nur wesentliche Funktionen für die Lebensgrundlage, sondern schafft auch die Basis für wichtige Aktivitäten im Bereich Wirtschaft, Erholung und Kultur“.

3.4

Biodiversität bedeutet übersetzt „Vielfalt des Lebens“; der Begriff kann jedoch auf verschiedenen Ebenen angewendet werden. Er kann sowohl die genetische Vielfalt innerhalb einer Population bezeichnen, als auch den Grad des Artenreichtums in einem bestimmten Habitat.

3.5

Der Mensch ist aufgrund seiner Intelligenz der wesentliche Nutznießer der Biodiversität: keine andere lebende Spezies nutzt bzw. benutzt so viele andere Arten, wie es der Mensch tut. Der Mensch ist aber derzeit auch ihr Hauptzerstörer. Die von ihm vorgenommene Unterteilung von Arten in „nützlich“ oder „schädlich“ ist eine rein wirtschaftlich-anthropozentrische. Die Natur kennt solche Unterscheidungen nicht. Sie kennt lediglich sich weitgehend selbstregulierende Gleichgewichte. Artenvielfalt ist einer den entscheidenden Indikatoren für Nachhaltigkeit.

3.6

Gleichgewichte, die außer Kontrolle geraten, stellen für jene, die an stabilen Verhältnissen ein Interesse haben, ein Problem dar. Mit seinen vielfältigen, vornehmlich wirtschaftlichen Aktivitäten greift der Mensch in die ökologischen Gleichgewichte ein, er beeinflusst sie. Er hat dies seit Jahrtausenden getan, früher oft — z.B. durch extensive Landnutzungsformen — sogar mit dem Effekt, dass neue, wiederum weitgehend stabile Systeme entstanden sind. Doch hat die menschliche Beeinflussung der Biodiversität heute eine nie gekannte Intensität angenommen. Die Artenzusammensetzung wird mit den vielen Möglichkeiten, die sich der Mensch geschaffen hat, nicht mehr nur leicht verändert, sondern vielfach komplett zerstört.

Die derzeitige Situation und die Ursachen des Verlustes an Artenvielfalt

3.7

Die derzeitige Situation im Bereich der Erhaltung der Biodiversität hat die Präsidentschaft in ihrem Schreiben an den EWSA klar und unmissverständlich beschrieben (s. Ziffer 2.3). Ihre Analyse stimmt u.a. mit dem Bericht des UN-Umweltprogramms über die Artenvielfalt überein, dem zufolge die Artenvielfalt auf der ganzen Welt schneller als je zuvor abnimmt.

3.8

Schon in Ihrer Biodiversitätsstrategie aus dem Jahr 1998 (3) wird von der EU darauf verwiesen, dass auch die Lage in Europa höchst bedenklich ist. „Die reiche Artenvielfalt in der Europäischen Union hat sich im Laufe der Jahrhunderte aufgrund menschlicher Eingriffe allmählich verringert. In den vergangenen Jahrzehnten haben diese Eingriffe ungeheure Ausmaße angenommen. Im UNEP-Bericht heißt es, dass in manchen europäischen Ländern bis zu 24 % der Arten bestimmter Kategorien wie Schmetterlinge, Vögel und Säugetiere inzwischen landesweit ausgerottet sind.“

3.9

In der Strategie von Göteborg 2001 (4) (Nachhaltigkeitsstrategie) heißt es: „In den letzten Jahrzehnten hat sich der Rückgang der biologischen Vielfalt in Europa dramatisch beschleunigt.“ Der EWSA weist darauf hin, dass die Rate des Aussterbens von Arten heute zwischen 100- und 1000-mal höher ist als die natürliche Rate, eine neuere Studie der Universität Utrecht geht gar von einem Faktor 1.000 bis 10.000 aus.

3.10

Die Ursachen des Artenrückgangs sind vielfältig. Generell ist festzustellen, dass die Beseitigung bzw. stoffliche Beeinflussung der Lebensräume der Tier- und Pflanzenwelt zum Verlust von Biodiversität führt. Die eigentlichen Ursachen hierfür liegen in der Zerschneidung der natürlichen Lebensräume durch Infrastruktur und Verstädterung, im Nährstoffeintrag, der Überbauung, im Massentourismus, der Verschmutzung von Luft und Wasser.

3.11

Eine ganz besondere, quasi eine Doppelrolle, spielt die Landwirtschaft in Europa, die historisch mit ihren früher extensiven und höchst vielfältigen Nutzungsformen zunächst zur Erhöhung der Artenvielfalt beigetragen hat. Viele dieser extensiven Nutzungsformen sind aber längst nicht mehr wirtschaftlich, sie wurden folglich durch intensivere, d.h. stärker die natürlichen Prozesse beeinflussende Nutzungen abgelöst. Dies hat einen doppelten Effekt für die Biodiversität: Auf der einen Seite trägt die Intensivlandwirtschaft stark zum Artenrückgang bei, auf der anderen Seite gehen mit der Nutzungsaufgabe und dem dauerhaften Brachfallen bzw. der Umnutzung von bislang extensiv oder naturnah bewirtschafteten Flächen wertvolle Biotope verloren. Landwirtschaft kann somit, je nachdem, wie sie betrieben wird, der Biodiversität förderlich oder abträglich sein.

3.12

Die Gehölzsukzession, die Verschiebung des Konkurrenzgleichgewichtes (u.a. durch Nährstoffeinträge), die Aufforstung waldfreier Flächen, das Einschleppen gebietsfremder Arten und die Überfischung sind als weitere wichtige Ursachen zu nennen.

3.12.1

Neue, bisher weniger bedeutsame Ursachen können zukünftig die Situation noch wesentlich verschärfen. Die Europäische Umweltagentur nennt in ihrem neuen Bericht (5) die absehbaren Klimaveränderungen als extreme, zukünftig vielleicht sogar dominante Gefahr für irreversible Veränderungen in der Biodiversität.

3.12.2

Die Anwendung der Grünen Gentechnik könnte potenziell eine weitere neue Gefahr für die Artenvielfalt in Europa sein. Der kommerzielle Anbau von genetisch veränderten Pflanzen könnte nach Ansicht von Forschern große Wirkungen auf die umliegenden Gewächse und damit auch auf Schmetterlinge und Bienen haben. Das ist das Ergebnis einer von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen dreijährigen Studie, an der über 150 Forscher mitgearbeitet haben (6). Der EWSA fordert die Kommission auf, die Untersuchungsaktivitäten in diesem Bereich intensiv zu fördern.

3.13

Die potenziellen Folgen dieses Biodiversitätsverlusts kann an einem konkreten Beispiel erläutert werden. So ist z.B. bei den Bestäuberinsekten ein eindeutiger Populationsrückgang zu verzeichnen, und zwar laut FAO weltweit. Die Befruchtungssysteme der Blütenpflanzen haben sich weiterentwickelt und sich gleichzeitig an die Entwicklung der Bestäuberinsekten angepasst, die wiederum effizientere Mechanismen zum Sammeln von Nektar und Pollen entwickelt haben und somit zu einer besseren Samenproduktion und -verbreitung der bestäubten Pflanzen beitragen. Kreuzbestäubung durch Insekten erhöht die genetische Vielfalt und führt zu wider-standsfähigeren Samen und einer besseren Fruchtqualität. Zwischen 70 und 95 % der bestäubenden Insekten gehören zur Ordnung der Hautflügler (Hymenoptera), zu der auch die vom Menschen genutzte Honigbiene gehört. Der zu verzeichnende Populationsrückgang bei den Bestäuberinsekten kann verheerende (auch wirtschaftliche) Folgen haben.

3.14

Der EWSA kann angesichts vieler Studien und vieler Aussagen, die den eklatanten Rückgang der Biodiversität beschreiben, darauf verzichten, in dieser Stellungnahme die einzelnen Ursachen weiter zu untersuchen bzw. überhaupt für ein entsprechendes Bewusstsein zu werben. Alle politisch Verantwortlichen sollten sich im Klaren darüber sein, wie die Situation aussieht. Informationen, die die Situation treffend beschreiben, gibt es genug.

3.15

Der EWSA begrüßt, dass sich alle EU-Institutionen immer wieder zum Erhalt der Biodiversität bekennen. Doch trotz vielfältigster politischer Bekenntnisse und Erklärungen, trotz der Unterzeichnung des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt, das alle 25 EU-Mitgliedstaaten und die EU ratifiziert haben, trotz sinnvoller Naturschutzregelungen auf EU-Ebene wie der Vogelschutzrichtlinie von 1979 (7) und der FFH-Richtlinie aus dem Jahr 1992 (8) ist weiterhin ein Verlust an Biodiversität zu verzeichnen.

3.16

Auf dem UN-Gipfel (WSSD) in Johannesburg verpflichteten sich die Parteien zur signifikanten Reduzierung der Verarmungsrate an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2010. Die EU ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat sich dazu verpflichtet, den Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen (9).

3.17

Die Erhaltung der Biodiversität ist folglich eine anerkannte, ebenso sinnvolle wie notwendige, aber auch eine höchst komplexe Aufgabe, bei der alle politischen Ebenen (von EU bis zu den Kommunen) und die Zivilgesellschaft Hand in Hand arbeiten und gegenüber der Gesellschaft eine Vorbildfunktion einnehmen müssen.

Der politisch-gesellschaftliche Hintergrund des Biodiversitätsverlusts

3.18

Eine spannende Frage, die leider nur viel zu selten gestellt wird, die aber zwingend zu klären ist, ist die, worin die politischen Ursachen dafür liegen, dass dieser zum Teil dramatische Artenschwund über Jahrzehnte hinweg geschehen konnte, ohne dass ausreichend politische Gegenmaßnahmen ergriffen und umgesetzt wurden?

3.19

Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Problem besteht sicher darin, dass es sich beim Biodiversitätsverlust um einen sehr langsamen, schleichenden und somit zunächst kaum wahrnehmbaren Prozess handelt (Vergleiche mit dem Klimawandel sind durchaus herstellbar). Es ist nicht die „eine Maßnahme“, an der man das Entstehen des Problems festmachen kann, bzw. die eine Gegenmaßnahme, mit der man das Problem lösen könnte. Der festzustellende Biodiversitätsverlust ist die Summe von Millionen von Handlungen und Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, wobei die Auswirkung jeder einzelnen Entscheidung scheinbar unbedeutend oder nur marginal zu sein scheint.

3.20

Insofern fällt es einerseits immer wieder unendlich schwer, vor anstehenden Entscheidungen erfolgreich mit Hinweis auf die Biodiversitätserhaltung zu warnen bzw. diese zurückweisen, zumal von den sogenannten „Eingriffsverwaltungen“ darauf hingewiesen wird, man würde den Eingriff an dieser Stelle der Natur durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen an anderer Stelle wieder gutmachen (was allzu häufig nicht gelingt).

3.21

Ein anderer Grund dürfte darin liegen, dass sich innerhalb eines relativen kurzen Zeitraums eine Entwicklung vollzogen hat, die dazu führte, dass immer weniger Menschen die Bedeutung von Biodiversität und Landschaften sowie deren Veränderung überhaupt noch direkt erfahren und wahrnehmen. Wir erleben eine Art Entfremdung von der Natur, die damit beginnt, dass immer weniger Menschen den Nutzwert  (10) und den Sinnwert  (11) der Landschaften überhaupt noch kennen oder erkennen.

3.22

Die meisten Menschen (inklusive des Großteils der Politiker) dürften sich der Bedeutung und Relevanz der eigentlichen Aufgabe „Biodiversitätsschutz“ (inklusive der großen ethischen und moralischen Verantwortung) nicht wirklich völlig bewusst sein. Sie „konsumieren“ zwar Landschaften, sie freuen sich über die Schönheit, sie genießen sie visuell, verbringen darin ihre Freizeit, treiben Sport, machen Urlaub. Und doch haben sie kaum noch eine Ahnung davon, wie die biotischen Elemente in der Landschaft, die einzelnen Tier- und Pflanzenarten im Zusammenspiel miteinander und untereinander die entsprechenden Landschaften mitgestalten und wie sie für deren Stabilität sorgen und welche herausragende Bedeutung diese fragile Stabilität als Grundgerüst unseres Lebens- und Wirtschaftssystems hat. Natur wird von großen Teilen der Gesellschaft nur sporadisch, manchmal sogar mehr im Fernsehen als in der freien Landschaft wahrgenommen, in Filmbeiträgen, die eher die Schönheiten Afrikas, der Galapagos-Inseln oder anderer ferner Ziele beschreiben, die sich aber kaum mit den Problemen des europäischen Naturerbes auseinander setzen.

3.23

Und so kommt es übrigens nicht von ungefähr, dass Naturschutzorganisationen erstaunt feststellen, dass die Menschen in Europa oft eher bereit sind, für die Erhaltung von Elefanten oder den Schutz des sibirischen Tigers einzutreten, als den Feldhamster vor Ort zu schützen.

3.24

Den Verlust von Biodiversität nimmt man aus Erzählungen, aus Berichten, aus politischen Papieren zur Kenntnis. Die negativen Folgen davon spürt man aber nicht unmittelbar. Teilweise hat man sogar das, was da draußen in der Landschaft verloren geht, selbst noch nie gesehen. Menschen engagieren sich bekanntlich nur für das, was sie wirklich kennen und lieben, wovon sie sich einen wie auch immer gearteten Nutzen erwarten.

3.25

Biodiversität ist aus der täglichen Erfahrung heraus folglich zwar etwas allgemein Anerkanntes, aber gleichzeitig etwas, das immer häufiger weit weg von einer eigenen Betroffenheit der Mehrheit der Bürger liegt. Werte ergeben sich aus Betroffenheit. Biodiversität, so glauben viele Menschen, betrifft einen scheinbar nicht unmittelbar, und somit wird auch die Verantwortung für den Schutz der Biodiversität immer weniger als eigene Aufgabe angesehen, sie wird dem Staat übertragen.

3.26

Der Schutz der Biodiversität wird weltweit davon abhängig sein, inwieweit es den politisch Verantwortlichen gelingen wird, wieder „Betroffenheit“ zu erzeugen. Den Menschen muss deutlich gemacht werden, dass nicht alles, was machbar ist, auch umgesetzt werden darf. Es muss wieder die Erkenntnis reifen, dass aus Rücksicht vor der Natur vom Menschen Verzicht geübt werden muss — ein Verzicht allerdings, der uns bereichert. Dies zu erreichen, sollte Bestandteil einer möglichen Kampagne der EU zum Thema Biodiversitätsverlust sein.

3.27

Und weil die Situation so sein dürfte wie beschrieben, erleben wir derzeit immer wieder Situationen, in denen sich jeder ganz selbstverständlich zum Schutz der Biodiversität bekennt, in der aber gefragt wird

ob die Natur denn ausgerechnet dort geschützt werden muss, wo die neue Umgehungsstraße geplant ist,

ob es sein darf, dass wegen einer nach der FFH-Richtlinie europäisch geschützten Tierart beispielsweise der Bau eines Gewerbegebietes verhindert wird;

und ob Naturschutz wirklich (so viel) Geld kosten muss?

3.28

Mehr noch: In wirtschaftlich angeblich eher schwierigen Zeiten wird der Naturschutz nicht als Lebens- und Wirtschaftsbasis akzeptiert, sondern zum Sündenbock abgestempelt der diese oder jene „positive“, für die Wirtschaft wichtige Entwicklung behindert. Dabei wird, dies sei nur am Rande erwähnt, häufig höchst widersinnig argumentiert: wenn aufgrund von Naturschutzregelungen eine Straße nicht gebaut werden kann, die einem persönlich wichtig erscheint, wird mit dem Kopf geschüttelt. Wenn allerdings das eigene Urlaubs- oder Freizeitgebiet von einer Straße zerschnitten werden soll, werden gern Landschaftserhaltungsgründe zu dessen Schutz angeführt.

3.29

Natur wird derzeit als „frei verfügbares Gemeingut“ gesehen, das nach den ökonomischen Ansprüchen der industriell geprägten, zunehmend verstädterten Gesellschaft mit ihren hohen Freizeitansprüchen mehr oder weniger beliebig gestaltet und beeinflusst werden kann; und die Politik suggeriert dabei fälschlicherweise, dass mit Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen den Ansprüchen des Biodiversitätsschutzes Genüge getan wird.

Wirkung der bislang vom Rat und Kommission eingeleiteten Maßnahmen

3.30

Die Wirkungen der von Rat und Kommission eingeleiteten Maßnahmen sind, das zeigt die Situation, bislang absolut nicht ausreichend gewesen. Dabei war und ist der von der Kommission mit der Vogelschutzrichtlinie von 1979 und der FFH-Richtlinie von 1992 verfolgte Ansatz, die Lebensräume der europäischen Tier- und Pflanzenwelt zu schützen, richtig und sinnvoll. Das entscheidende Problem liegt im politischen Willen bei der Umsetzung und im Vollzug, was die Kommission selbst feststellt: „Die Umsetzung der Vogelschutz- und Habitat-Richtlinien hat sich als schwierig erwiesen. Verstöße gegen diese beiden Richtlinien machten über ein Viertel der Fälle aus, in denen die Europäische Kommission gerichtliche Schritte einleiten musste  (12) .

3.31

Der EWSA sieht hier zwei unterschiedliche Verantwortungsebenen:

3.31.1

Die erste Ebene ist die politische Ebene und dort das mangelnde Bewusstsein. Für den EWSA ist es z.B. völlig unverständlich, dass im Rat von den Mitgliedstaaten die entsprechenden Naturschutzrichtlinien beschlossen worden, die dann in den Mitgliedstaaten selbst nicht oder nur absolut unzureichend umgesetzt werden. Der EWSA hält dies für völlig inakzeptabel. Die Politik selbst erzeugt so eine gewaltige Glaubwürdigkeitslücke, in dem sie beim Vollzug des Naturschutzes versagt.

3.31.2

Unglaubwürdig ist auch eine Politik, die den Anspruch erhebt, den Biodiversitätsverlust bis zum Jahr 2010 zu stoppen, die weiß, dass dies Geld kostet, die aber gleichzeitig im Rahmen der Finanziellen Vorausschau den entsprechenden entscheidenden Etatposten (13) für die alten EU-Mitgliedstaaten um über 30 % kürzt. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten haben so selbst die Weichen für eine Politik gestellt, die den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Die Politik selbst ist schlechtes Vorbild.

3.31.3

Die Mitgliedstaaten dürfen, und dies ist die zweite Verantwortungsebene, das Scheitern ihrer eigenen Politik nicht den Naturnutzern in die Schuhe schieben. Der EWSA hat sich in mehreren Stellungnahmen mit dem Phänomen der mangelnden Umsetzung der für die Biodiversitätserhaltung wichtigen Richtlinien auseinander gesetzt. Er kann sich immer nur wiederholen: Solange Maßnahmen zum Schutz oder zur Verbesserung der Biodiversität beispielsweise mit den (verständlichen) ökonomischen Interessen von Flächennutzern kollidieren, müssen die potenziellen ökonomischen Einbußen zumindest ausgeglichen werden; besser wäre es gar, Anreize für entsprechende Biodiversitätsmaßnahmen zu geben. Die nach dem Beschluss des Europäischen Rates vom 16.12.2005 absolut nicht sichergestellte Finanzierung der Natura-2000-Maßnahmen im Rahmen der kommenden EU-Finanzperiode ist ein entscheidendes Hindernis. Jedes noch so ernst gemeinte politische Bekenntnis zur Bewahrung und Entwicklung der Biodiversität nutzt nichts, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen nicht stimmen!

3.32

Solange also die Finanzierung von Natura 2000 nicht in dem Sinn gelöst ist, wie es EWSA und Europaparlament gleichermaßen fordern (eine eigene, ausreichende Finanzierungslinie für Natura-2000-Ausgleich), wird sich an der Wirkungslosigkeit der Ansatzes der EU nichts grundlegend ändern. Daran können dann auch noch so gut gemeinte Öffentlichkeitskampagnen nichts ändern.

3.33

Eine im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie angekündigte Maßnahme zum Erhalt der Biodiversität war die „Verbesserung der Agrarumweltmaßnahmen im Rahmen der Halbzeitüberprüfung der gemeinsamen Agrarpolitik, so dass ein transparentes System der direkten Zahlungen für die Bereitstellung von umweltbezogenen Dienstleistungen eingeführt wird“. Der EWSA bedauert, dass auch dieses wichtige und richtige Versprechen nicht eingehalten wurde, was sich kontraproduktiv auswirkt. Hauptverantwortlich hierfür war weniger die Kommission als die Haltung der Mitgliedstaaten besonders bezüglich der Finanzen.

Ausreichende Kohärenz der diversen EU-Politiken?

3.34

Der EWSA kann nicht erkennen, dass die diversen Politikbereiche der EU bereits so aufeinander abgestimmt wären, dass der Verlust an Artenvielfalt gestoppt werden könnte. Im Gegenteil: Auch von den von der EU zu verantwortenden Politikbereichen gehen weiterhin Gefährdungen aus, die mit den bescheidenen Naturschutzmaßnahmen nicht kompensiert werden können. Daran ändern auch die bereits laufenden Aktionsprogramme (14) nichts, und auch die derzeit in Bearbeitung befindlichen Thematischen Strategien scheinen daran nichts Entscheidendes ändern zu können (15).

3.35

Als ein Beispiel dafür soll — neben der Agrarpolitik, auf die der Ausschuss bereits in anderen Stellungnahmen eingegangen ist — ein Projekt aus den Transeuropäischen Verkehrsnetzen herangezogen werden. Die Donau, die 2880 km Länge aufweist und 10 europäische Länder durchfließt, kann sicherlich als „der“ europäische Fluss angesehen werden. Zahllose Naturparadiese, die in das Natura-2000-Netz aufgenommen werden sollen, sind an dieser Lebensader erhalten geblieben. Doch die EU sagt, rund 1400 km (also die Hälfte) des Flusses, und das sind vornehmlich die noch verbliebenen Freiflussabschnitte, z.B. Straubing-Vilshofen in Deutschland, bei Hainburg und in der Wachau in Österreich sowie große Teile des Flusses in Ungarn und fast der gesamte Abschnitt in Bulgarien und Rumänien, seien Engpässe für die Schifffahrt, die es zu beseitigen gilt. Mit einer solchen Politik, die auf eine Konfrontation zwischen Wirtschaftswachstum und Naturschutz hinausläuft, werden jene Konflikte erst provoziert und programmiert, die die Politik eigentlich im Rahmen ihrer Nachhaltigkeits- und Biodiversitätsstrategie und somit im Rahmen einer kohärenten Politik lösen sollte.

3.36

Diese Aussage des EWSA, dass keine ausreichend kohärente Politik betrieben wird, gilt im Übrigen nicht nur für die Sektoren, die man im „klassischen Sinn“ als potenziell problembehaftet für den Natur- und Artenschutz ansieht — wie z.B. besagte Verkehrs- und Infrastrukturpolitik oder eine zu intensive Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft -, sondern gilt auch für Politikbereiche, bei denen man zunächst einen direkten Zusammenhang mit Biodiversität nicht vermutet.

3.36.1

Als Beispiel hierfür seien die Bekämpfungsmaßnahmen der Rinderseuche BSE genannt. In diesem Zusammenhang ist es weitgehend endgültig verboten worden, Kadaver in der Landschaft liegen zu lassen bzw. dorthin zu verbringen (16). Bauern sind verpflichtet, tote Tiere der Tierkörperbeseitigung zuzuführen, was extrem viel Geld kostet.

3.36.2

In jenen Bereichen Europas, in denen es noch intakte Bestände an aasfressenden, wildlebenden Tieren wie Geiern, Wölfen oder Bären gibt, sind dadurch erhebliche Artenschutzprobleme zu verzeichnen: In den 90er Jahren und bis 2003 wurden beispielsweise in Asturien pro Jahr im Mittel etwa 3.000 Haustiere bei den Tierkörperbeseitigungsanstalten abgeliefert. Im Jahr 2004 — nach konsequenter Umsetzung der EU-Verordnung — waren es dann etwa 20.000 Haustiere.

3.36.3

Es „fehlen“ also in Asturien (Fläche 10.604 qkm) nun ungefähr 17.000 tote Tiere in der Landschaft, die bis dahin eine wichtige Nahrungsgrundlage für Geier, Bär, Wolf und viele andere Aasfresser waren. Das sind — bei 200 kg pro Tier — 3.400 Tonnen proteinhaltiger Biomasse in der Landschaft (17). Ob das im November 2002 für Spanien erlassene königliche Dekret, das die Fütterung von Aasfressern mit bestimmten verendeten Tieren oder deren Nebenprodukten regelt daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. In anderen EU Mitgliedstaaten gibt es entsprechende einzelstaatliche Maßnahmen nicht!

Welche weiteren Initiativen müssten von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffen werden?

3.37

Die Kommission selbst schreibt in der Überprüfung der Umweltpolitik 2003 (18), dass folgende Prioritäten notwendig wären:

Maßnahmen hin zu einer nachhaltigeren Agrarpolitik;

die Umstellung der Gemeinsamen Fischereipolitik auf umweltfreundliche Technik;

ein besserer Schutz der Böden und der Meeresumwelt;

Verbesserung der Umsetzung auf dem Gebiet des Naturschutzes;

genauere Bestimmung der Trends auf dem Gebiet der biologischen Vielfalt;

Stärkung des Schutzes der biologischen Vielfalt auf internationaler Ebene.

3.38

Die Kommission hat zudem in ihren strategischen Überlegungen für das Jahr 2007 angekündigt, die FFH- und die Vogelschutzrichtlinie zu überarbeiten, um sie an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anzupassen (19). Der EWSA würde es sehr begrüßen, wenn die Kommission möglichst bald darstellen würde, welcher Art diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind und wie weitgehend die Überarbeitung, die nach Auffassung des EWSA nur zu einer Verbesserung des europäischen Naturschutzes führen dürfte, sein wird.

3.39

Für den EWSA ist es keine Frage, den Lebensraumschutz zu verstärken und dafür die notwendigen Finanzmittel bereit zu stellen. Die FFH und Vogelschutzrichtlinie haben noch nicht genug Erfolg gebracht, die europaweit zu schützenden Arten und Lebensräume zu sichern. Hinzu kommt allerdings, und dies muss vom EWSA als kritisch angesehen werden, dass in den Mitgliedstaaten (bis hin zur lokalen Ebene) mittlerweile zum Teil nach dem Motto verfahren wird: Was keinen Europäischen, sondern vielleicht nur einen nationalen Schutzstatus aufweist, ist quasi Natur 2. Klasse. Wenn die EU nicht finanziert, dann tun wir auch nichts. Noch schlimmer sieht es mit Biodiversitätsschutz außerhalb von Schutzgebieten aus, hier sind fast keine Aktivitäten der öffentlichen Hand mehr erkennbar. Biodiversitätsschutz ist aber eine Aufgabe, die sich nicht auf einige wenige Schutzgebiete beschränken lässt.

3.40

An einer solchen Einstellung und Auffassung zeigt sich jedoch mehr als deutlich, dass die ökologischen Zusammenhänge im Allgemeinen und die Notwendigkeiten des Biodiversitätsschutzes im Speziellen bislang vom Großteil der Bevölkerung, aber auch von den meisten der politisch Verantwortlichen, nicht verstanden werden. Vor allem sind auch die öffentlichen Einrichtungen gefordert, die mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Sie müssen der Allgemeinheit vermitteln, dass ihnen Biodiversitätsschutz wichtig ist, dass sie bereit sind, auf ihren Flächen entsprechende Maßnahmen vorzunehmen; auch wenn es kurzfristig wirtschaftlich „effektivere“ Möglichkeiten gäbe.

3.41

Die UN-Dekade für nachhaltige Umweltbildung (2005 bis 2015) sollte deshalb genutzt werden, um eine breit angelegte Kampagne zu starten, die zum Ziel haben sollte, die zu beobachtende Wissens- und Erfahrungserosion in Bezug auf Biodiversität zu stoppen und umzukehren. Es bedarf einer massiven, positiven Kampagne, die vermitteln sollte, dass Natur kein Luxus ist, den sich Gesellschaften zu Zeiten wirtschaftlichen Wohlstandes leisten, und auf den verzichtet werden kann, wenn konjunkturell schwierigere Zeiten herrschen. Artenvielfalt muss der Gesellschaft wieder als wirtschaftlicher und kulturell-geistiger Schatz vermittelt werden. Naturschutz muss als etwas Positives vermittelt werden (und gibt es etwas positiveres als die Erhaltung der Lebensgrundlagen), Naturschutz sollte Freude machen und Spaß bereiten und nicht als Belastung gesehen werden. Es muss dabei auch verständlich gemacht werden, dass die Kosten, die durch eine weitere Erosion unserer natürlichen Lebensgrundlagen verursacht werden, um ein Vielfaches höher liegen werden als die Kosten des Schutzes, und dass Werte verloren gehen, die sich nicht in Euro und Cent ausdrücken lassen.

3.42

Für den EWSA ist klar, dass die EU mit ihrer Naturschutzpolitik nur dafür sorgen kann, dass Zielsetzungen, die nur länderübergreifend erreicht werden können, umgesetzt werden. Es muss aber auch eine entsprechende „Biodiversitätsschutzpolitik“ national, regional, ja lokal bis in den privaten Bereich hinein betrieben werden. Folglich sind die Mitgliedstaaten mindestens genauso gefordert wie die EU.

3.43

Der EWSA würde es deshalb sehr begrüßen, wenn die Kommission im Rahmen einer entsprechenden Kampagne — in Kooperation mit den Umweltgruppen und den betroffenen Landnutzerverbänden — auch europaweit Identität stiftende Naturschutzmodellprojekte unterstützen und massiv öffentlich kommunizieren würde. Eignen könnte sich für eine solche Aktivität, z.B. das sog. „Grüne Band Europas“, eine Initiative von Nichtregierungsorganisationen, die z.T. auch schon von der öffentlichen Hand unterstützt wird (20) und die sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensräume, die sich im Schutz z.T. sogar inhumaner Ländergrenzen entwickelt haben, zu schützen. Das „Grüne Band Europas“, das von Skandinavien bis auf den Balkan reicht, ist (noch) die längste Biotopachse Europas.

3.44

Was die Stärkung des Biodiversitätsschutzes auf internationaler Ebene angeht so ist der EWSA der Auffassung, dass Biodiversität als sog. „non-trade-concern“ integraler Bestandteil des Handelssystems (u.a. der WTO) werden muss.

Konsequenzen für die Lissabon- und Nachhaltigkeitsstrategie

3.45

Der EWSA beschränkt sich an dieser Stelle auf Aussagen zur Lissabonstrategie. Kommentare zur Nachhaltigkeitsstrategie erübrigen sich in diesem Papier, denn einerseits sind die in der entsprechenden Mitteilung der Kommission (21) gemachten Aussagen derart vage und unverbindlich, dass für einen stringenten Biodiversitätsschutz davon kaum etwas erwartet werden kann, zum anderen wird der EWSA auf dieses Dokument in einer gesonderten Stellungnahme eingehen.

3.46

Wenn es zutrifft, was der Europäische Rat auf seiner Frühjahrsitzung 2005 in Brüssel festgestellt hat, dass nämlich die Lissabonstrategie der Nachhaltigkeitsstrategie zugeordnet ist, müsste die Lissabonstrategie so ausgerichtet werden, dass sie nicht nur versucht, Rücksicht auf ökologische Belange zu nehmen, sondern dass sie versucht, die für richtig anerkannten wirtschaftlichen Entwicklungen unter gleichzeitiger bewusster Förderung u.a. des Biodiversitätsschutzes zu erreichen. In den Dokumenten zur Lissabon-Strategie findet sich hierzu aber nicht der Hauch eines Ansatzes.

3.47

Die Kommission sollte möglichst bald eine Gesamtdarstellung darüber anstellen, welche rein volkswirtschaftliche Bedeutung der Schutz von Biodiversität in Europa hat. Es sollten auch viel mehr positive Beispiele beschrieben und kommuniziert werden, die zeigen, dass Biodiversitätsschutz und wirtschaftliche Entwicklung einander fördern. Zudem sollte endlich damit begonnen werden, die gesellschaftlich notwendige Diskussion über die konkreten Wege der Internalisierung externer Kosten zu beginnen.

Der Beitrag der Zivilgesellschaft

3.48

Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Erhaltung der Biodiversität ist wichtig und es kann sicher noch viel mehr Positives geleistet werden. Aber der Beitrag der Zivilgesellschaft kann nicht das ausgleichen bzw. kompensieren, was die öffentliche Hand unterlässt bzw. falsch macht. Von der Zivilgesellschaft einen höheren Beitrag einzufordern ist richtig, darf aber von den Unzulänglichkeiten der öffentlichen Hand nicht ablenken.

3.49

Der EWSA würde eine neue Kampagne, wie sie die Präsidentschaft im Schreiben vom 13.9.2005 an den EWSA angesprochen hat, sehr begrüßen. Sie sollte zum Inhalt haben, Motivation und Verständnis zum Erhalt von Natur und Biodiversität zu fördern. Eine entsprechende Bildungsarbeit müsste sehr früh, in den Kindergärten und den Schulen beginnen und auch zum Ziel haben, klarzumachen, dass jeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss, um die Lebensgrundlagen der Menschheit zu erhalten. Der Schutz der Biodiversität beginnt im eigenen Lebensumfeld, beim Einkauf, der Gestaltung des Gartens etc.

3.50

Der Einzelne tut sich leichter, sich zu engagieren, wenn er weiß, wofür er es tut und dass sein Engagement gewollt und geschätzt ist und wenn er die Politik zum Vorbild nehmen kann. Eine entsprechende Kampagne könnte dazu genutzt werden, nicht nur Grundlagenwissen zu vermitteln, sondern auch „Botschafter“ für die Biodiversitätserhaltung zu gewinnen, Rockmusiker, Literaten, Schauspieler, Politiker, Journalisten etc.

3.51

Nichtregierungsorganisationen, aber auch viele nicht in Verbänden oder Gruppen engagierte Bürger leisten viel anerkennenswerte Arbeit im Natur- und Artenschutz. Landwirte engagieren sich in Rahmen von Agrarumweltprogrammen und freiwilligen Initiativen. Viele andere gesellschaftliche Gruppen arbeiten engagiert zum Schutz der Biodiversität, sie übernehmen teilweise gar Aufgaben, die eindeutig dem Staat zuzuordnen wären. Viele Erfolge im Biodiversitätsschutz wären ohne dieses Engagement nicht möglich gewesen. Gerade auch dank der Arbeit durch private Naturschützer, aber auch durch viele Naturnutzer ist die Situation nicht noch schlimmer, als sie sich derzeit schon darstellt. Die Politik sollte dieses Engagement fördern, auch, aber nicht nur finanziell.

3.52

Dabei kann es nicht nur um die praktische Arbeit in der Landschaft gehen. Wenn Politik wirklich gewillt ist, den Biodiversitätsverlust zu stoppen, dann muss sie ein Interesse daran haben, dass entsprechende gesellschaftliche Nachfrage nach einer entsprechenden Politik vorhanden ist; man kann auch von politischem Druck sprechen. Der entsprechende Grundkonsens in der europäischen Bevölkerung ist zweifellos vorhanden. 9 von 10 Bürgern der EU sind der Meinung, dass politische Entscheidungsträger bei wichtigen Entscheidungen die gleiche Aufmerksamkeit auf Umweltbelange richten sollten wie auf wirtschaftliche und soziale Belange („Attitudes of Europeans towards the Environment“, EC Eurobarometer, 2004).

3.53

Bildungsarbeit innerhalb der Bevölkerung ist zwingend nötig, um Verständnis für politische Maßnahmen (auch Geldausgaben) zu wecken. Die Zivilgesellschaft kann und muss hier Beiträge leisten, bedarf aber dabei der Unterstützung der öffentlichen Hand. Diese muss z.B. dafür sorgen, dass Naturschutz nicht länger als „Fortschrittsfeind“ diffamiert werden darf, sondern dass auf die vorgetragenen Fragen adäquate Antworten gefunden werden, an deren Ende mehr und nicht weniger Biodiversität steht.

3.54

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Initiative „Countdown 2010“ (22) zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, die zum Ziel hat, dass alle europäischen Regierungen die Schritte unternehmen, die notwendig sind, um den Verlust der biologischen Vielfalt bis zum Jahr 2010 tatsächlich zu stoppen, und somit dem erklärten politischen Ziel auch die nötigen Taten folgen zu lassen. Die Kampagne zeigt: Zivilgesellschaft und Regierungen haben gemeinsamen einen großen Aufgabenkatalog abzuarbeiten.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Siehe Beschluss des Europäischen Rates von Göteborg, 15./16. Juni 2001.

(2)  KOM(2003) 745/2.

(3)  Vgl. KOM(1998) 42 endg.

(4)  KOM(2001) 264 endg.

(5)  „The European Environment — State and outlook 2005“, EEA, November 2005.

(6)  Wissenschaftsmagazin Nature vom 22.3.2005.

(7)  ABl. L 103 vom 25.4.1979, S. 1.

(8)  ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7.

(9)  Siehe Ziffer 31, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Göteborg.

(10)  Der Nutzwert der Landschaft, ihr ökonomischer Wert, geht weit über die Bedeutung als „Produktionsstätte“ für die Land- und Forstwirtschaft hinaus. Der Tourismus bzw. die Naherholung ist ein Beispiel dafür. Tourismus basiert auf artenreichen, vielfältigen, gemeinhin als „schön“ bezeichneten Landschaften.

(11)  Landschaft als „Sinnwert“ umfasst zweierlei: einerseits den Eigenwert der Natur, der anerkannt und gewahrt bleiben muss, der nicht unter einer einseitigen technologischen und wirtschaftlichen Nutzung ins Nichts aufgelöst werden darf. Andererseits ist der Wert der Landschaft für die physische, besonders aber auch für die psychische Regeneration des Menschen, für seine Einordnung in die natürliche Lebensumwelt, zu sehen.

(12)  Siehe KOM(2003) 745/2 und wortgleich KOM(2005) 17.

(13)  Die Ländliche Entwicklung in der Rubrik 2 der Finanziellen Vorausschau 2007-2013.

(14)  Z.B. zum ökologischen Landbau.

(15)  Der EWSA bereitet zu den einzelnen Strategien separate Stellungnahmen vor, auf die hier verwiesen werden soll.

(16)  Dies geht nur noch unter bestimmten Voraussetzungen, die aber derart kompliziert sind, dass sie kaum Anwendung finden.

(17)  Die Auswirkungen seien nur kursorisch beschrieben: Im Valle del Trubia macht die spanische Naturschutzorganisation FAPAS seit vielen Jahren ein Gänsegeier-Monitoring. Bis 2003 waren es üblicherweise 10 Paare, die meist zwischen 8 bis 9 Jungvögel durchgebracht haben. Gänsegeier haben immer nur einen Jungvogel. Im Jahr 2004 wurden nur noch 4 Jungvögel flügge. Bärenschützer berichten von hohen Totfunden bei Jungbären, die ebenfalls auf die geringere Futterbasis zurückgeführt werden.

(18)  KOM(2003) 745/2.

(19)  KOM(2006) 122.

(20)  Z.B. vom Bundesamt für Naturschutz.

(21)  KOM(2005) 658 vom 13.12.2005„Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung - ein Aktionsprogramm“.

(22)  Siehe unter: http://www.countdown2010.net/


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“

(2006/C 195/25)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2005, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu erarbeiten: „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr BEDOSSA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 125 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung

Die vorliegende Initiativstellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) beruht auf den Erfahrungen des Begleitausschusses AKP/EU, der seit mehreren Jahren die Anwendung des Abkommens von Cotonou mitverfolgt und aktiv an der Vorbereitung und der Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit den Organisationen der Zivilgesellschaft der AKP-Staaten beteiligt ist.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission (1) veranlasst den EWSA, diese Politiken nun hinsichtlich der Einbindung von Nichtregierungsorganisationen in die Umsetzung des Cotonou-Abkommens sowie die Entwicklungshilfepolitik der EU zu bewerten. Der Ausschuss bedauert sagen zu müssen, dass die im Rahmen dieser Politiken gegebenen Versprechen zu selten eingelöst wurden, und zwar sowohl von europäischer als auch von afrikanischer Seite. In der Vergangenheit klafften die Absichtserklärungen und die konkreten, vor Ort ergriffenen Maßnahmen weit auseinander, aber Entwicklungspolitik bleibt wirkungslos, wenn nicht vor Ort die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden.

Das Abkommen von Cotonou ist insbesondere ein zwischenstaatliches Abkommen, das der Tätigkeit der Zivilgesellschaft vor Ort zu wenig Raum lässt. Außerdem wurden die in diesem Rahmen trotz allem vorgesehenen Hilfen und Instrumentarien nur selten tatsächlich bereitgestellt. Angesichts der Versäumnisse der zivilgesellschaftlichen Organisationen beim Aufbau von Kapazitäten für ein effizientes und unabhängiges Handeln ist es nicht verwunderlich, dass die unmittelbare Zukunft der WPA Fragen aufwirft, Sorgen bereitet und in Zweifel gezogen wird.

Da die Gesellschaftsmodelle Afrikas eigene, tief verwurzelte soziale und politische Besonderheiten aufweisen, die es bei der Verwirklichung der vom EWSA beschriebenen Ziele zu berücksichtigen gilt, ist der Ausschuss der Auffassung, dass er mit seiner Unterstützung der Zivilgesellschaft, des wichtigsten Akteurs der Entwicklungspolitik, zum Erfolg dieser neuen und ehrgeizigen europäischen Afrikastrategie beitragen kann, und stellt zwei wesentliche Bereiche heraus, in denen die Organisationen der Zivilgesellschaft etwas bewegen können:

Gewährleistung einer Regierungsführung, die der Entwicklung des Kontinents verpflichtet ist.

Diese müsste insbesondere folgende Aufgaben in Angriff nehmen:

Einhaltung der Menschenrechte;

Recht auf unabhängige und dezentrale Information;

Schaffung von Transparenz in den Organisationen und den Verwaltungen der afrikanischen Staaten;

Kampf gegen die Korruption, die größte Hürde auf dem Weg zu einer guten Regierungsführung;

Recht auf Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie Bildung für alle;

Recht auf Ernährungssicherheit.

Zu diesem Zweck fordert der EWSA einen erweiterten und leichteren Zugang der Organisationen der afrikanischen Zivilgesellschaft zu den gemeinschaftlichen Mitteln sowie ihre systematische Beteiligung an der Festlegung und Umsetzung der Strategien und Politiken im Bereich der Zusammenarbeit.

Bekämpfung von AIDS

Den zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt bei der Bekämpfung von AIDS (Vorbeugung, Diagnose, Behandlung usw.) eine überaus bedeutende Rolle zu, weil sie zu den Kranken vor Ort besonders guten Zugang haben. Es bedarf eines integrierten Ansatzes zur Bekämpfung der drei Pandemien, wobei Patientenverbände ein wichtiges Glied in diesem Kampf sind.

Durch den Ausbau der technischen Kapazitäten und die Ausbildung sämtlicher Akteure muss die Europäische Union die Überwindung der Krise im Bereich der Humanressourcen ermöglichen. Der Ausschuss ruft alle führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und im sozialen Bereich auf, im Hinblick auf dieses Ziel an einem Strang zu ziehen.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bereitstellung von Medikamenten („all-in-one“) zu von internationalen Gremien kontrollierten Preisen oberste Priorität hat, und die EU sich für die Beschleunigung der Forschung und Entwicklung eines universellen Impfstoffes einsetzen muss.

1.   Einleitung

1.1

Am 12. Oktober 2005 hat die Europäische Kommission eine Mitteilung an den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Thema „Eine Strategie der Europäischen Union für Afrika: Wegbereiter für einen Europa-Afrika-Pakt zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas“ angenommen.

1.2

Der Ausschuss stimmt der generellen Ausrichtung und der Sorge um die Kohärenz dieses ehrgeizigen europäisch-afrikanischen Vorhabens zu, das allerdings von den afrikanischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) unterschiedlich aufgenommen wird. Sie sind desillusioniert und stellen sich die Frage, weshalb ausgerechnet dieses neue Programm dort erfolgreich sein soll, wo andere gescheitert sind.

1.3

Die Mitteilung ist Ergebnis der ausdauernden, vom Kommissar Louis Michel seit seinem Amtsantritt im November 2004 geleisteten Arbeit. Ausgehend vom Bestehen einer großen Vielfalt der politischen Verhältnisse und großer Unterschiede beim erreichten Entwicklungsniveau in Afrika, die aus tief verwurzelten Gegebenheiten herrühren und eine neue Ausrichtung erfordern, wird den 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Mitteilung eine gemeinsame Politik der Zusammenarbeit mit Afrika vorgeschlagen.

1.4

Diese Strategie ist insofern besonders anspruchsvoll, als sie die zahlreichen für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents maßgeblichen Bereiche zwar nicht vollständig, aber doch größtenteils skizziert.

1.5

Von hohem Belang in diesem Zusammenhang ist auch, dass diese Strategie wieder die Politik in den Mittelpunkt der Entwicklung stellt und möglicherweise dazu beitragen kann, dass die Europäische Union einflussreichster Partner in Afrika wird.

1.6

Die vorgeschlagene Methode zielt auch auf eine bessere europäische Koordinierung und die Vergemeinschaftung des praktischen Vorgehens ab, was der Vertiefung der Europäischen Union dient (zu einem Zeitpunkt, an dem das Fehlen einer solchen Vertiefung vielfach bedauert wird).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Es erheben sich zahlreiche warnende Stimmen, die für Afrika das Schlimmste befürchten, wenn Europa und die übrige Welt nicht schnell handeln.

2.2

Wenn Afrika nicht eine unabhängige Entwicklung einschlägt, wird dies in Bezug auf Wanderbewegungen, Krankheiten oder Umweltprobleme zu immer schwerwiegenderen Folgen führen — ob wir dies wollen oder nicht.

2.3

Folglich gilt es den Schluss zu ziehen, dass hinsichtlich der Hilfe der Industrieländer für Afrika ein Umdenken erforderlich ist. Nicht zum ersten Mal wird diesbezüglich Alarm geschlagen, und manche Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft verweisen offen auf die von ihnen beobachtete „Heuchelei“ der Industrieländer.

2.4

Es ist absehbar, dass sich aufgrund der ständig zunehmenden Wanderbewegungen der Druck in den nächsten Jahren weiter erhöhen wird. Die afrikanische Bevölkerung wird in starkem Maße wachsen, während die Aussichten für das Wirtschaftswachstum nach wie vor düster sind. Das Streben der Menschen nach einem gewissen Wohlstand ist berechtigt, solange die Probleme im Zusammenhang mit dem Wasser, der Gesundheit, der Bildung und der Ernährungssicherheit langfristig nicht gelöst werden. Auch der Kommissionspräsident teilt diese Sorge, erklärte er doch, dass man sich mit den strukturellen Ursachen des Entwicklungsrückstands in Afrika beschäftigen müsse. Die seit Monaten geplante Ankündigung dieser neuen Strategie fiel zeitlich mit der Krise von Ceuta und Melilla zusammen.

2.5

Die mit dieser Mitteilung verfolgten Ziele sind für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss klar erkennbar:

Verbesserung der Kohärenz der Entwicklungspolitik in Afrika;

der ausdrückliche Wille, die Milleniums-Entwicklungsziele in Afrika bis zum Jahr 2015 durch besondere Anstrengungen und die Konzentration auf die wesentlichen Ziele zu verwirklichen. Europa und Afrika müssen zu einem Konsens finden, um Ergebnisse zu erzielen. In diesem Sinne bedeutet Handeln, nach Lösungen für die wesentlichen Probleme wie die Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie das Bildungsangebot und die Beschäftigungslage zu suchen. Die Kommission hofft, dass ihre neue Strategie rasch zu positiven Ergebnissen führen wird, da sie — und dies muss betont werden — in Absprache mit den Afrikanern selbst erarbeitet wurde.

2.6

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss überlegt allerdings, ob dieses Projekt nicht gar zu anspruchsvoll ist, insbesondere unter Berücksichtigung folgender Aspekte:

die große Zahl nicht gehaltener Versprechen. Nach wie vor klaffen die Absichtserklärungen und die konkreten, vor Ort ergriffenen Maßnahmen weit auseinander, da Entwicklungspolitik wirkungslos bleiben muss, wenn sie nicht in Abstimmung mit den vor Ort tätigen Organisationen gestaltet wird. Die im Abkommen von Cotonou vorgesehene Direkthilfe für die Zivilgesellschaft ist viel zu lange ein nicht eingelöstes Versprechen geblieben, ist das Abkommen von Cotonou doch in erster Linie ein zwischenstaatliches Abkommen, das das Maß an Präsenz und Aktivität der Zivilgesellschaft vor Ort nicht von Anfang an berücksichtigt hat;

AIDS als die für den Kontinent dringlichste Frage. Es bedurfte eines Zeitraums von 15 Jahren, bis es uns gelungen ist, unsere Möglichkeiten, Afrika wirklich zu helfen, richtig einzuschätzen;

alle mit dem Fehlen einer guten Regierungsführung in diesen Ländern einhergehenden Schwierigkeiten, insbesondere das Problem der häufig von nicht demokratisch legitimierten Regierungen verursachten Überschuldung.

2.7

Um dem ursprünglichen Ziel gerecht zu werden, müssen folglich drei Voraussetzungen erfüllt werden:

Gewährleistung von mehr Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger, im weitesten Sinne des Wortes,

Schaffung eines ausreichenden Wirtschaftswachstums, insbesondere mit Hilfe des Abkommens von Cotonou und der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen,

Verwirklichung einer allerorts besseren Regierungsführung.

2.8

Hierzu sei angemerkt, dass die von der Europäischen Union und der G8 aufgebrachten Mittel eine deutliche Zunahme verzeichnen. In zehn Jahren werden sie das Doppelte betragen, und die Hälfte davon soll Afrika zugute kommen. Aufgrund der vielen leeren Versprechen, die in der Vergangenheit wahrscheinlich von allen Beteiligten gemacht worden sind, ist jedoch Vorsicht geboten. Auch wenn mehr Gelder zugesagt werden — Tatsache ist, dass die von gewissen Industrieländern für Entwicklungshilfe tatsächlich zur Verfügung gestellten Mittel in den letzten Jahren gesunken sind.

2.9

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt mit dem Grundanliegen dieser Mitteilung insbesondere im Hinblick auf die dort enthaltene Definition der Menschenrechtspolitik überein. Zwar sind bezüglich der Menschenrechtskriterien und des Demokratisierungsprozesses seit 2001 in einigen Ländern Fortschritte zu verzeichnen, aber es muss auch weiterhin auf die Stärkung der Menschenrechte und der Demokratie gedrängt werden. Im Interesse der Förderung des Rechtswesens und der Rechtsstaatlichkeit gilt es, die Stärkung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft und insbesondere die Sozialpartner zu unterstützen, deren Dialog in Übereinstimmung mit den Regeln der ILO gewährleistet werden muss.

2.10

Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass Prioritäten gesetzt werden müssen und dies eine Vertiefung der bedeutendsten Fragestellungen erfordert:

Koordinierung der Gemeinschaftspolitiken, wobei vor allem festzulegen ist, wie die Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt werden sollen;

Fortsetzung der Überlegungen bezüglich neuer Finanzierungsformen für Entwicklungsprojekte sowie deren konkrete Umsetzung, insbesondere durch Unterstützung des Arbeitskreises „Suche nach neuen Finanzierungsformen als Ergänzung zu öffentlicher Hilfe“ (der auf der Konferenz in Paris im Februar 2006 eingerichtet wurde);

Überlegungen zur Gestaltung der erforderlichen regionalen Integration und interregionalen Politiken und deren Umsetzung sowie in erster Linie Schaffung interregionaler Infrastruktur mittels Ausschreibungen, wobei präzise Sozial- und Umweltnormen einzuhalten sind. Dies würde den regionalen Institutionen dabei helfen, sich zu etablieren;

Konzentration auf das Problem der Auswanderung, vor allem durch die Schaffung von Möglichkeiten, die der Stabilisierung der Bevölkerung in Afrika dienen. Dazu muss sich die Europäische Union zunächst ganz eindeutig dieses Problems bewusst werden, und da es sich bei den Wanderungsbewegungen aus Subsahara-Afrika vor allem um Landflucht handelt, muss sie sich in Absprache mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen mit allen Mitteln für die Gestaltung und Umsetzung einer Politik der ländlichen Entwicklung einsetzen, um diese Region nach und nach von Lebensmittelhilfe unabhängig zu machen;

um schließlich die Rolle der Regierungsführung besser nutzbar zu machen, bedarf es der wirksamen Einbeziehung der Zivilgesellschaft, denn leider muss man zugeben, dass das Abkommen von Cotonou hierin gescheitert ist und das Europa-Afrika-Forum keine entscheidenden Ergebnisse gebracht hat. Um in den Partnerstaaten eine gute Regierungsführung zu gewährleisten, sollte daher folgender, mehrere Bereiche umfassender Aufgabenkatalog umgesetzt werden:

Einhaltung der Menschenrechte;

Gleichstellung von Mann und Frau;

Recht auf unabhängige und dezentrale Information;

Schaffung von Transparenz in den Organisationen und den Verwaltungen der afrikanischen Staaten;

Kampf gegen die Korruption, die größte Hürde auf dem Weg zu einer guten Regierungsführung;

Recht auf Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie Bildung für alle;

schrittweiser Abbau der informellen Wirtschaft, die in manchen Staaten bis zu 80 % der Wirtschaftsleistung ausmacht.

2.11

Der Ausschuss verweist ferner auf den absoluten Vorrang des Problems der Entwicklung des ländlichen Raums, das häufig falsch eingeschätzt wurde und nach wie vor großer Aufmerksamkeit bedarf. Die Bedeutung der Landwirtschaft für Afrika liegt aus bereits zur Genüge erörterten Gründen auf der Hand: Es geht um Nahrungsmittelselbstversorgung, ein Schlüsselbereich der Entwicklungspolitik, sowie die Stabilisierung der Bevölkerungszahl. Die partizipative Zivilgesellschaft besteht zum Großteil aus Bauern und Tierzüchtern; die Berücksichtigung der Anliegen dieser Berufsgruppen bei der Gestaltung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raumes sowie deren Einbindung bei der Umsetzung sind daher für den Erfolg dieser Politik ausschlaggebend.

2.12

Der EWSA verweist auf die weiterhin bestehende Dringlichkeit des Problems der fehlenden Infrastruktur und Kreativität in diesem Bereich, sowohl was nationale bzw. interregionale Verkehrsmittel als auch die Wasserversorgung betrifft, wobei letzterer zweifellos auch geopolitische Bedeutung zukommt.

2.13

Der Ausschuss fordert ferner, keinerlei direkte Haushaltszuschüsse mehr zu gewähren.

2.14

All dies wird nur durch eine stärkere Mitwirkung der Vertreter der Zivilgesellschaft und bessere Rahmenbedingungen mit einer umfassenden Regierungsführung erreicht werden können, in die alle öffentlichen Stellen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Akteure eingebunden sind.

3.   Besondere Bemerkungen

Im Jahr 2005 stand das Thema Afrika weltweit auf dem Veranstaltungskalender an vorderster Stelle. Im Zeitraum zwischen dem G8-Gipfel in Schottland im Juli letzten Jahres, den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der UNO in New York und der jüngsten Jahrestagung der Bretton-Woods-Institutionen haben alle — von Tony Blair über Horst Köhler bis Paul Wolfowitz, den neuen Weltbankpräsidenten — einmütig festgestellt, dass Afrika vor dem Untergang gerettet werden muss.

An dieser Stelle will der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf die dringlichen Fragen verweisen, zu denen er sich bereits in seinen früheren Stellungnahmen geäußert hat:

Vorrang für Afrika, allerdings unter der Bedingung, dass die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt im Rahmen der neuen Regierungsführung breiten Raum erhält.

Der Bekämpfung von AIDS ist ausdrücklich absolute Dringlichkeit beizumessen, da derzeit unter unseren Augen und bei relativ geringer Anteilnahme eine weitere Tragödie ihren Lauf nimmt.

3.1   Vorrang für Afrika

3.1.1

Der EWSA unterstützt das Vorhaben der Europäischen Kommission, die Entwicklungshilfe der EU vorrangig Subsahara-Afrika zukommen zu lassen. Damit mit dieser Maßnahme die gewünschte Wirkung erzielt werden kann, muss sie aber auf nationaler wie auch auf regionaler Ebene mit einer besseren Regierungsführung in Afrika einhergehen: Dies betrifft sowohl die zwischenstaatlichen afrikanischen Organisationen als auch die afrikanischen Staaten und die Organisationen der Zivilgesellschaft. Letztere sind aufgrund ihrer weiter zu stärkenden Unabhängigkeit, ihrer Nähe zur Bevölkerung und ihrer Reaktionsfähigkeit in der Lage, die Übernahme echter Verantwortung für die Entwicklungspolitik durch die direkt betroffene Bevölkerung zu fördern. Afrikas Entwicklungsrückstand hat sicherlich mehrere Ursachen, aber die fehlende Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft und deren mangelnder Rückhalt sind zweifellos nicht zu unterschätzende Faktoren. Das im Abkommen von Cotonou zur Lösung dieses Problems entwickelte Konzept der Delegierung funktioniert nicht, da die im Cotonou-Abkommen vorgesehene Zuweisung von Direkthilfen an Vereinigungen — die allerdings an Bedingungen gekoppelt war — sich nur schwer verwirklichen lässt.

3.1.2

Daher schlägt der Ausschuss folgendes vor:

Den zivilgesellschaftlichen Organisationen Afrikas muss ein besserer und einfacherer Zugang zu den Finanzhilfen der EU gewährt werden. Auf einzelstaatlicher Ebene sollten Möglichkeiten des direkten Zugangs sichergestellt werden. In Ergänzung zu den einzelstaatlichen Programmen sollte darüber hinaus ein horizontales Programm zur Finanzierung nichtstaatlicher Akteure aufgestellt werden;

Die Zivilgesellschaft sollte stärker und systematischer in die Festlegung und Umsetzung der Strategien und der Politik der Zusammenarbeit einbezogen werden, um sie bei der Übernahme von Verantwortung für den Entwicklungsprozess zu unterstützen und so zur Herausbildung einer guten Regierungsführung beizutragen. Wenn hier und da Fortschritte zu verzeichnen sind, so deshalb, weil sich die Menschen unaufhaltsam und nachdrücklich über alle verfügbaren Kanäle Gehör verschaffen: Die Sozialpartner und die anerkannten Verbände, vor allem diejenigen, die sich um die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau, die lokale Wirtschaft sowie um Bildung und Information kümmern.

3.1.3

Nach Auffassung der EU sind die Menschenrechte im Rahmen der beiden Bewertungsprozesse unantastbar. Der EWSA fordert daher, dass die EU ihre Unterstützung der Zivilgesellschaft unter Berücksichtigung der Menschenrechtsproblematik in die Tat umsetzt:

bei der Definition ist ein pragmatischer Ansatz zu verfolgen;

kompetente Gesprächspartner sind zu finden, die in der Lage sind, einen Dialog mit den Regierungen zu führen, insbesondere durch die Errichtung unabhängiger NRO-Netzwerke;

der Zugang zu Finanzmitteln ist durch Aufrufe zur Einreichung von Projektvorschlägen und die Durchführung kleinerer lokaler Projekte sicherzustellen.

3.1.4

Die gleiche Schwierigkeit gilt es bei der Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zu berücksichtigen. Bei der Durchführung eines Programms zur Schaffung eines echten Binnenmarkts sowie eines umfassenden Reformprogramms ist folgendes zu beachten:

Der Bildungsstand und die technischen Möglichkeiten der Zivilgesellschaft und der afrikanischen Bevölkerung lassen noch sehr zu wünschen übrig, insbesondere betrifft dies Frauen.

Zur Ankurbelung der Produktionsfaktoren ist der zielgerichtete Einsatz der europäischen Hilfe erforderlich, diese muss aber stärker an Bedingungen geknüpft werden. Im Rahmen der WPA muss deutlich gemacht werden, dass es einheitlicher transnationaler Netze bedarf.

3.1.5

Der Ausschuss hat die Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit verschiedenen regionalen Blöcken zur Kenntnis genommen und hofft, dass dieser Prozess zu einer Belebung des Handels mit günstigen Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit der Entwicklung und die Beseitigung der Armut führen wird. Damit diese Abkommen auch tatsächlich der Bevölkerung zugute kommen, müssen nach Auffassung des Ausschusses folgende Punkte umgesetzt werden:

Sicherstellung eines möglichst umfassenden Informationsflusses, um eine systematische Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Verhandlungen und die Erarbeitung von Folgenabschätzungen auf nationaler und regionaler Ebene zu gewährleisten.

Einbeziehung des privatwirtschaftlichen Sektors in die Verhandlungen und Unterstützung beim Ausbau seiner Leistungsfähigkeit.

Berücksichtigung der sozialen Folgen und der geschlechtsspezifischen Dimension in den Folgenabschätzungen.

Flexibilität der Handelsverträge durch die Einführung von Übergangszeiten bei ihrer Durchführung, sodass die Unternehmen der Unterzeichnerstaaten geschützt werden können. Besonderer Schutz für die im Entstehen befindlichen Industriezweige sowie Schutzmaßnahmen, um dem Wettbewerb mit den Schwellenländern standhalten zu können.

Die afrikanischen Staaten müssen nach Auslaufen der zeitlich begrenzten finanziellen Entschädigungen eigene Ressourcen aufbauen, aber möglicherweise auch in den Genuss flexiblerer Regelungen kommen, um sich ein Minimum an Entscheidungsfreiheit in Zollfragen zu bewahren. Tatsächlich stecken die Staaten, bei denen durch Zollsenkungen die Staatseinnahmen zurückgehen, ohnehin häufig in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten und haben Mühe, für das Bildungs- und Gesundheitswesen ein Mindestmaß an öffentlichen Finanzmitteln bereitzustellen.

3.1.6

Damit aber die wirtschaftliche Entwicklung möglichst vielen zugute kommt und kein Missbrauch stattfindet, setzt sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss dafür ein, dass bei den Entwicklungshilfemaßnahmen der Europäischen Union in Afrika die Grundsätze des sozialen Zusammenhalts und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für alle berücksichtigt werden. Zur Wahrung dieser Grundsätze bedarf es eines echten sozialen Dialogs und — im weiteren Sinne — eines Dialogs zwischen den Akteuren der Zivilgesellschaft.

3.1.7

Der Ausschuss schlägt daher vor, mit den afrikanischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturräten im Interesse eines Austauschs von Erfahrungen und Wissen zusammenzuarbeiten, wie dies in der Mitteilung der Europäischen Kommission (2) gefordert wird, um diese zu verlässlichen Partnern bei der sektorbezogenen bzw. geografischen Zuweisung von Investitionen und Hilfsmitteln zu machen;

seine Erfahrungen und sein Know-how erforderlichenfalls auf einzelstaatlicher Ebene einzubringen, und in all jenen Ländern, die bislang nicht über eine solche Einrichtung verfügen, die Errichtung von an die afrikanische Kultur angepassten Wirtschafts- und Sozialräten zu unterstützen bzw. im Bedarfsfall die Reformierung bereits bestehender WSR, die an Profil bzw. Glaubwürdigkeit verloren haben, voranzutreiben. Der EWSA sieht ermutigende Anzeichen, etwa die positive Entwicklung des stetig wachsenden Einflusses der Afrikanischen Union, den Konsens zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission bezüglich der EU-Entwicklungspolitik und, in bestimmten Regionen, die Vernetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Vertretung der Landwirte, KMU, Sozialpartner usw.

Möglicherweise ist sich die Europäische Union bewusst geworden, dass die Zivilgesellschaft bislang nur unzureichend eingebunden war, und sie im Rahmen der neuen Strategie entsprechend einbezogen werden muss.

3.2   Bekämpfung von Pandemien

3.2.1

Der Ausschuss ruft alle führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und im sozialen Bereich auf, im Hinblick auf das Thema AIDS an einem Strang zu ziehen. Er begrüßt, dass die Hauptverantwortlichen des Internationalen Arbeitgeberverbands (OIE) und des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) dem EWSA jüngst einen Besuch abstatteten und ihn zur Zusammenarbeit bei den verschiedenen, 2003 in acht Ländern des südlichen Afrika in die Wege geleiteten AIDS-Bekämpfungsprogrammen aufforderten.

3.2.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sollte sich in allen Instanzen — bei regionalen und lokalen Seminaren und auf Plenartagungen — für diesen Kampf einsetzen. Dank des Bildungswesens und der Mobilisierung der Familie durch die zivilgesellschaftlichen Akteure gibt es zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer. So ist im Senegal, in Uganda und Zimbabwe ein Absinken der Aids-Durchseuchungsrate und ein Anstieg der Lebenserwartung festzustellen. Wir dürfen also nicht aufgeben. Außerdem hat die Kommission angekündigt, dass sie mit den nationalen Partnern Leitlinien für die Programmplanung bei der Aids-Bekämpfung vorlegen wird.

3.2.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es in diesem Kampf bedeutender finanzieller Mittel bedarf, um dauerhaft angelegte Vorbeugestrategien und Behandlungsstrategien mit wirksamen und vereinfachten Therapien verwirklichen zu können, deren Kosten in vollem Umfang im Rahmen der TRIP-Übereinkommen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des Urheberrechts) der WTO getragen werden müssen. Darüber hinaus muss die Erforschung eines zuverlässigen und universell anwendbaren Impfstoffs finanziell unterstützt werden.

3.2.4

Angesichts der heute schon katastrophalen menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen ist der Unterstützungsbedarf der Entwicklungsländer bei der Bewältigung der großen Pandemien, vor allem von HIV/AIDS in Subsahara-Afrika, enorm. Diese Unterstützung muss absoluten Vorrang haben, da sich in manchen Staaten, in denen die Aids-Durchseuchungsrate extrem hoch ist (45-49 %), bereits Hungersnöte abzeichnen. Der EWSA empfiehlt der EU daher, Maßnahmen auf zwei Ebenen zu ergreifen:

auf internationaler Ebene:

Im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde der WTO unterstützt der Ausschuss wie bereits in der Vergangenheit den Standpunkt der Europäischen Kommission, wonach den von den großen Pandemien betroffenen Ländern der Zugang zu Medikamenten erleichtert werden soll. Neue Instrumente führen die EU überdies dazu, an einem umfassenden Dialog mit dem UN-AIDS-Programm, dem Welt-Aids-Fonds, dem Hohen Flüchtlingskommissar der UNO und der Weltgesundheitsorganisation teilzunehmen.

auf einzelstaatlicher Ebene:

Der Ausschuss geht von dem Grundsatz aus, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen besonders gut geeignet sind, die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten jener Länder zu erreichen, in denen es an Infrastruktur mangelt und die Behörden nicht über genügend Mittel verfügen, um auf ihrem gesamten Hoheitsgebiet ein Mindestmaß an Leistungen zu erbringen.

Er greift daher ein Anliegen der Wirtschafts- und Sozialpartner der AKP-Länder auf und fordert die Bereitstellung gesonderter europäischer Finanzmittel, um die zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Lage zu versetzen, für die Verbreitung von Informationen über die Pandemien in der Bevölkerung zu sorgen.

Nach Ansicht des EWSA sollte im Hinblick auf die drei großen Pandemien (AIDS, Malaria und Tuberkulose) ein integrierter Ansatz verfolgt werden, der sich auf die Zivilgesellschaft stützt, vor allem auf mit der Krankheit lebende Personen, die von Patientenvereinigungen vertreten werden, die in den Empfängerländern als Mittler für die Zivilgesellschaft fungieren können.

Die EU muss durch Qualifizierungsmaßnahmen und einen Ausbau der technischen Kapazitäten zur Lösung der Krise im Bereich der Humanressourcen beitragen.

Sobald diese Organisationen über die erforderlichen personellen Ressourcen und Qualifikationen verfügen, sollten sie zur Errichtung von Bündnissen und Partnerschaften mit allen mit der Bekämpfung der Pandemien befassten Akteuren ermutigt werden.

Der EWSA fordert, vorbeugende Maßnahmen, vor allem der Zugang von Frauen zu Verhütungsmitteln sowie die Begleitung der Kranken und deren Umfeld, durch europäische Finanzmittel wirksam zu unterstützen.

3.2.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass sämtliche Akteure — die NRO, die Sozialpartner und die politischen Verantwortungsträger — in noch viel größerem Maße mobilisiert werden müssten, und er selbst in diesem entscheidenden Kampf die Koordinierung der Akteure übernehmen sollte. Der EWSA möchte in diesem Kampf, der in allen betroffenen Ländern von höchster Priorität und entscheidender Bedeutung ist, eine Überwachungsfunktion wahrnehmen, da nicht mehr darüber hinweggesehen werden kann, dass AIDS aufgrund des Fehlens geeigneter Akteure bereits Ursache von Hungersnöten geworden ist.

3.2.6

Die Europäische Union sollte sich im Rahmen einer eigens zu diesem Zweck einzugehenden Partnerschaft mit der WTO vor allem um eine Senkung der Arzneimittelkosten bemühen. Der Ausschuss fordert die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, sich der Initiative zur umfassenden und dauerhaften Finanzierung von Arzneimitteln (Konferenz in Paris im Februar 2006) anzuschließen. Er ist der Auffassung, dass die Einbindung der nationalen WSR durch ihre Einbeziehung in die Umsetzung, Bewertung und auch Kontrolle dieser neuen Initiative gestärkt werden sollte, um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Eine Strategie der Europäischen Union für Afrika: Wegbereiter für einen Europa-Afrika-Pakt zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas, KOM(2005) 489 endg.

(2)  KOM(2005) 132 „Beschleunigte Verwirklichung der entwicklungspolitischen Millenniumsziele - Der Beitrag der Europäischen Union“, April 2005.


18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“

KOM(2005) 548 endg. — 2005/0221 (COD)

(2006/C 195/26)

Der Rat beschloss am 28. November 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Mai 2006 an. Berichterstatterin war Frau HERCZOG.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 124 gegen 2 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt ausdrücklich die Empfehlungen der Kommission zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, die voll und ganz mit der auf eine Wissensgesellschaft abzielenden Lissabon-Strategie und den beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2005-2008 im Einklang stehen.

1.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vorschlag — falls er umgesetzt wird — die aktuellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt mildern und insbesondere die Kluft zwischen der Vorbereitung der verfügbaren Arbeitskräfte und den Anforderungen der Wirtschaft verringern kann.

1.3

Der Vorrang für die Definition von Schlüsselkompetenzen in der Bildung kann zur Erreichung des wesentlichen gemeinsamen Ziels beitragen, dafür zu sorgen, dass junge Menschen am Ende ihrer allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung) entsprechende Schlüsselkompetenzen erworben haben, dass sie für das Erwachsenenleben und für eine erfolgreiche Teilnahme am Arbeitsmarkt — als Arbeitnehmer oder als Arbeitgeber — gerüstet sind, und dass Erwachsene auf der Grundlage einer soliden Allgemeinbildung — einer der Schlüssel für die permanente Anpassungsfähigkeit — diese Kompetenzen ihr ganzes Leben lang ausbauen und auffrischen können.

1.4

Unter den Instrumenten zur Verwirklichung dieses Ziels hält der EWSA die Vorbereitung der Lehrkräfte für besonders wichtig, damit sie im Rahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung) sowie der Erwachsenenbildung imstande sind, den Lernenden beim Erwerb von Schlüsselkompetenzen wirklich zu helfen und sich zugleich die für ihre eigene berufliche Tätigkeit notwendigen Schlüsselkompetenzen anzueignen und kontinuierlich auszubauen.

1.5

Der EWSA unterstützt die allgemeinen Ziele und sieht es dabei als wesentlich an, dass junge Schulabbrecher die Möglichkeit haben, im Rahmen informeller Bildungsprogramme beim Erwerb der in dem Vorschlag genannten Schlüsselkompetenzen unterstützt zu werden.

1.6

In Anbetracht der alternden Bevölkerung ist es notwendig, ältere Arbeitnehmer länger auf dem Arbeitsmarkt zu halten. Aus diesem Grund hält es der EWSA für sehr wichtig, dass ältere Arbeitnehmer sich in den Mitgliedstaaten ebenfalls die fehlenden Kompetenzen aneignen können und dass die Mitgliedstaaten eine Bildungsinfrastruktur schaffen, welche die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung bereits erworbener Kompetenzen ermöglicht.

1.7

Der EWSA erkennt die maßgebliche Rolle der Sozialpartner als Hauptakteure auf dem Arbeitsmarkt sowie bei der Umsetzung und Überwachung der festgesetzten Ziele an. Die gemeinsamen Aktivitäten der europäischen Sozialpartner auf dem Gebiet des lebenslangen Lernens im Rahmen ihres ersten mehrjährigen Arbeitsprogramms 2003-2005 münden in den Aktionsrahmen für den lebensbegleitenden Erwerb beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen ein (Framework of Actions for Lifelong Development of Competences and Qualifications) und werden mit den Folgeaktivitäten auch zum nächsten Mehrjahresprogramm 2006-2008 gehören, in dessen Rahmen die europäischen Sozialpartner die Möglichkeit einer freiwilligen Vereinbarung auf diesem Gebiet erörtern werden.

1.8

Der EWSA ruft auch zur aktiveren Teilnahme der NRO an dem Prozess insgesamt auf und empfiehlt, den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu intensivieren.

1.9

Es ist von grundlegender Bedeutung, dass verlässliche statistische Daten für die Begleitung und Bewertung der Verwirklichung der Ziele für lebenslanges Lernen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grunde unterstützt der EWSA den Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission bezüglich der Erhebung statistischer Daten über lebenslanges Lernen. In der Verordnung wird ein Rahmen geschaffen, der in den Mitgliedstaaten die Harmonisierung, ja Vereinheitlichung der Datenerhebungsmethoden sowie eine größere Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit der Daten gewährleistet. Es ist dafür zu sorgen, dass diese Erhebungen kontinuierlich aktualisierte, verlässliche Daten für die Analysen der wichtigsten Punkte der gemeinschaftspolitischen Ziele liefern können.

2.   Einleitung (1)

2.1

Nach langjährigen Untersuchungen, vorbereitenden Arbeiten und Konsultationen hat die Kommission ihren Vorschlag für ein „Integriertes Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens“ vorgelegt. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bekundet seine Genugtuung darüber und macht darauf aufmerksam, dass die in dieser Stellungnahme zum Ausdruck gebrachten Ideen darauf abzielen, den konkreten Vorschlag der Europäischen Kommission möglichst funktionell und effizient zu gestalten.

2.2

Unter Berücksichtigung vorstehender Bemerkungen spielen in den Standpunkt des Ausschusses zum Kommissionsvorschlag hauptsächlich seine Kenntnisse und Erfahrungen bezüglich folgender Faktoren hinein:

2.3

den Rückstand bei der Annäherung an die Lissabon-Ziele,

2.4

den Rückstand bei der Übereinstimmung von allgemeiner und beruflicher Bildung und Produktivität (2),

2.5

die demografische Situation in Europa und

2.6

die Schwierigkeiten, die bei der Suche nach Lösungswegen für die genannten Probleme in letzter Zeit auf europäischer und internationaler Ebene auftraten (3).

3.   Erläuterung des Kommissionsvorschlags

3.1

Die 2001 im Rahmen des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ eingesetzte Arbeitsgruppe „Grundfertigkeiten“ (4) hat einen Referenzrahmen für die in einer wissensbasierten Gesellschaft notwendigen Schlüsselkompetenzen erarbeitet und zahlreiche Empfehlungen abgegeben, die jedem Bürger den Erwerb dieser Kompetenzen ermöglichen sollen (5).

3.2

Das wichtigste gemeinsame Ziel ist, dafür zu sorgen, dass junge Menschen am Ende der allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung) entsprechende Schlüsselkompetenzen erworben haben, dass sie für das Erwachsenenleben gerüstet sind, und dass Erwachsene diese Kompetenzen ihr Leben lang ausbauen und auffrischen können.

3.3

In der Empfehlung werden folgende Schlüsselkompetenzen genannt: 1. Muttersprachliche Kompetenz, 2. Fremdsprachliche Kompetenz, 3. Mathematische Kompetenz und grundlegende naturwissenschaftlich-technische Kompetenz, 4. Computerkompetenz, 5. Lernkompetenz, 6. Interpersonelle, interkulturelle und soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz, 7. Unternehmerische Kompetenz, 8. Kulturelle Kompetenz. Kompetenz wird in der Empfehlung als eine Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und kontextabhängigen Einstellungen definiert.

3.4

Die Arbeiten zum Thema Schlüsselkompetenzen sind eng mit zahlreichen anderen Initiativen und aktuellen Maßnahmen verbunden, beispielsweise mit den laufenden Arbeiten zur Schaffung eines europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) oder den Anstrengungen für eine größere Transparenz der Qualifikationssysteme (zum Beispiel Anerkennung der durch informelles Lernen erworbenen Kenntnisse).

3.5

Der Vorschlag bietet ein Referenzinstrument zur Ermittlung der von allen benötigten Schlüsselkompetenzen und unterstützt so die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen, Schlüsselkompetenzen in ihren Strategien für lebenslanges Lernen zu berücksichtigen.

3.6

Es handelt sich um ein Referenzinstrument, das die politischen Entscheidungsträger, Dienstleister im Bildungswesen, Arbeitgeber und Lernenden selbst dabei unterstützen soll, die gemeinsamen Ziele auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene zu verwirklichen.

3.7

In der Empfehlung werden die in einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft von jedem Bürger benötigten Schlüsselkompetenzen definiert, und außerdem wird anerkannt, dass Entscheidungen hinsichtlich der Umsetzung auf einzelstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene zu treffen sind. Ferner werden die Mitgliedstaaten in der Empfehlung aufgerufen, dafür zu sorgen, dass alle Menschen am Ende der allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung) Schlüsselkompetenzen erworben haben, sowie Bildungsbenachteiligungen — unter Berücksichtigung der europäischen Referenzkriterien — zu bekämpfen.

3.8

Hinsichtlich der Erwachsenen wird in der Empfehlung dazu aufgefordert, unter Einbeziehung der Sozialpartner eine umfassende Infrastruktur zu schaffen, die älteren Bürgern den Zugang zu Instrumenten für den Kompetenzausbau gewährleistet.

3.9

Schließlich wird die Kommission in der Empfehlung zu Impulsen für einzelstaatliche Reformen aufgerufen — durch Peer-Lernen, den Austausch bewährter Verfahren und die systematische Beobachtung der bei der Verwirklichung der Ziele erzielten Fortschritte.

3.10

Die Empfehlung enthält keine Angaben zum Gemeinschaftshaushalt.

4.   Allgemeine Bemerkungen des EWSA

4.1

Ziel der Empfehlung ist, die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Weiterentwicklung ihrer Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung), das Bildungs- und Ausbildungsangebot für Erwachsene sowie das gesamte System des lebenslangen Lernens zu unterstützen, indem ein Referenzinstrument für Schlüsselkompetenzen konzipiert wird. Für eine genaue inhaltliche Definition der Kompetenzen sind Diskussionen von Fachleuten auch in Zukunft berechtigt (und unerlässlich), doch wird in der Empfehlung insgesamt deutlich, welche inhaltliche Ausrichtung für die Entwicklung der schulischen Grundbildung und des Lernens im Erwachsenenalter notwendig und wünschenswert sind.

4.2

In einer früheren Stellungnahme über den Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und Produktivität (6) hat der EWSA bemängelt, dass es in sämtlichen Mitgliedstaaten an einer ausreichenden Koordinierung und einer Abstimmung der Ausbildungssysteme fehlt. Dieser Kritik zufolge sind die einzelnen Systeme der beruflichen Weiterbildung vom restlichen Bildungssystem isoliert und mit ihrem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld nur unzureichend verbunden. Der Ausbildungsinhalt orientiert sich meistens allzu direkt an einem kurzfristigen Bedarf und kann längerfristig zu einer schlechten Ausrichtung führen. Aufgrund dieser Erkenntnisse ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Empfehlungen zu Schlüsselkompetenzen als gemeinsame, allgemeine Orientierungspunkte für die verschiedenen Bildungsprogramme und eine mögliche Richtschnur für ein harmonischeres Funktionieren der einzelnen Untersysteme des Bildungswesens dienen können.

4.3

Auch die Bewertung der Umsetzung der Gemeinschaftsstrategie verdeutlicht, dass die „Schlüsselkompetenzen“ vielfältig interpretiert werden und die einzelnen praktischen Programme daher divergieren. Seit vielen Jahren wird — innerhalb und außerhalb der EU — über eine zugleich wissenschaftliche und konkrete Definition des Kompetenzbegriffes diskutiert. So hat die OECD im Rahmen des unabhängigen Projekts DeSeCo (Definition and Selection of Competencies) die als am wichtigsten erachteten Schlüsselkompetenzen (die nur teilweise mit den in dem Vorschlag genannten übereinstimmen) definiert.

4.4

Die Aneignung von Wissen, das Vorteile auf dem Arbeitsmarkt verschafft und sozialen Erfolg garantiert, findet — der grundlegenden Logik der „Wissensgesellschaft“ folgend — in einem Wettstreit (Konkurrenzkampf) der verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen der Gesellschaft statt. Eines der Ziele staatlichen Handelns sowie der strategischen Bildungsprogramme der Regierungen sollte gerade der gleichberechtigte Zugang und die Chancengleichheit für alle sein.

4.5

In Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Empfehlung ist hinsichtlich des lebenslangen Lernens und der Kompetenzen zu betonen, dass der Schwerpunkt nicht nur auf dem Erwerb verschiedener Kompetenzen liegen darf, sondern auch die Erhaltung bereits erworbener Kompetenzen — mit Hilfe spezieller Programme — zu fördern ist.

4.6

Die Umsetzung der Empfehlungen zu Schlüsselkompetenzen ist eine große Herausforderung für die Bildungssysteme der Mitgliedstaaten. Ihre Berücksichtigung — vor allem in der Grundbildung und insbesondere in den Bildungssystemen, die sich noch nicht von einem starren, fächerbasierten Aufbau des Bildungswesens verabschieden konnten, — erfordert einen grundlegend neuen Ansatz.

4.7

Die Empfehlung ist eine mindestens ebenso große Herausforderung, was die Änderung der Vorgehensweise und die Vorbereitung der im Bildungssystem tätigen Lehrkräfte angeht. Aus diesem Grund hält der EWSA die Vorbereitung der Lehrkräfte für besonders wichtig, damit sie im Rahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung (Erstausbildung) sowie der Erwachsenenbildung imstande sind, den Lernenden beim Erwerb von Schlüsselkompetenzen wirklich zu helfen, und zugleich sich die für ihre eigene berufliche Tätigkeit notwendigen Schlüsselkompetenzen anzueignen und kontinuierlich auszubauen.

4.8

Dem Vorschlag zufolge besteht eine wichtige Frage des sozialen Zusammenhalts darin, ältere Menschen (7) beim Erwerb nützlicher Kompetenzen zu unterstützen. Im Rahmen der Verwirklichung des Beschäftigungswachstums als vorrangiges Ziel der EU konzentrieren die Mitgliedstaaten ihre Aufmerksamkeit und ihre Bildungsmittel auf die Teilnehmer an der Erstausbildung und auf die erwerbstätige Bevölkerung. Allerdings wirft der Kompetenzmangel älterer Altersklassen zu Recht viele Fragen auf. In bestimmten Bereichen wie etwa der eLiteracy tritt die Kluft zwischen den Generationen bereits deutlich zutage. Darüber hinaus setzen sich die meisten Mitgliedstaaten nationale strategische Ziele — beispielsweise die elektronische Verwaltung oder die elektronische Verfügbarkeit der für die Bürger wichtigen Informationen und Dienste. Dabei wird die Beherrschung von Schlüsselkompetenzen (z.B. grundlegender EDV-Kenntnisse) zur Voraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts auf Information sowie für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Verfolgung dieser Ziele kann sich somit negativ auf den sozialen Zusammenhalt auswirken, weil ältere Menschen — und andere benachteiligte Gruppen — von Programmen zur Förderung des Erwerbs wesentlicher Kompetenzen ausgeschlossen sind.

4.9

Da die Verwirklichung einer kompetenzbasierten Bildung ausgesprochen komplexe Auswirkungen auf die Bildungspolitik hat, wäre es äußerst wichtig, EU-weit einen ständigen Dialog zwischen Fachleuten auf diesem Gebiet einzurichten und die Schlussfolgerungen dieses Austausches einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Angesichts der Komplexität dieses Vorhabens sollte die Kommission — unter Achtung der im EG-Vertrag zugewiesenen Zuständigkeiten und des Subsidiaritätsprinzips — die bildungspolitischen Experten der Mitgliedstaaten unterstützen — nicht nur bei der Festlegung der Ziele, sondern auch bei der Ermittlung einzelner Vorgehensweisen, möglicher Instrumente für deren Konkretisierung und etwaiger Stolpersteine (Neben der Förderung der Beispiele vorbildlicher Verfahren sollte es der Erfahrungsaustausch auch ermöglichen, Lehren aus der Analyse von Misserfolgen zu ziehen).

5.   Erhebung statistischer Daten über lebenslanges Lernen

5.1

In diesem Punkt ist das Thema lebenslanges Lernen eng mit dem Verordnungsentwurf bezüglich Statistiken über Bildung und lebenslanges Lernen (8) verknüpft.

5.2

In dem Verordnungsentwurf heißt es, dass vergleichbare Statistiken und Indikatoren über allgemeine und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen von wachsender Bedeutung für die Europäische Union sind, damit die offene Methode der Koordinierung in der allgemeinen und beruflichen Bildung zum Tragen kommen kann.

5.2.1

Gegenwärtig beruhen die Zusammenarbeit und der Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten auf einem sogenannten Gentlemen's Agreement. Mit dem Verordnungsentwurf soll eine Rechtsgrundlage für die Entwicklung eines nachhaltigen Systems zur Produktion bildungsbezogener Daten geschaffen werden, das als Ausgangspunkt für einschlägige politische Diskussionen — in den verschiedenen Bereichen auf Gemeinschaftsebene — dienen kann.

5.2.2

Das Ziel ist die Einrichtung eines Rahmens, der sich auf alle bestehenden und geplanten Maßnahmen für Statistiken über lebenslanges Lernen mit Ausnahme der innerbetrieblichen Bildung erstreckt; diese wird von der Erhebung zur beruflichen Weiterbildung (CVTS) des Europäischen Statistikamtes Eurostat erfasst, die Gegenstand einer separaten, kürzlich verabschiedeten Verordnung ist.

5.2.3

Der Vorschlag bezieht sich lediglich auf Statistiken über die allgemeine und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen, die der Kommission zur Verfügung gestellt werden müssen, um die Erstellung von Gemeinschaftsstatistiken zu ermöglichen.

5.2.4

Das Hauptziel dieser Verordnung ist die Schaffung gemeinsamer statistischer Standards für die Produktion harmonisierter Daten und somit die Errichtung eines gemeinsamen Rahmens für die systematische Erstellung von Gemeinschaftsstatistiken über lebenslanges Lernen.

5.3

Es ist außerordentlich wichtig, dass ein realistischer Gesamtüberblick über die einschlägigen Prozesse die Grundlage für die Formulierung der strategischen Ziele der Europäischen Union bildet. Mindestens genauso wichtig ist, dass die Bewertungen, die bei der Umsetzung der Strategien als angemessen gelten, auf methodisch verlässlichen, regelmäßigen Datenerhebungen und Datenserien sowie auf den daraus gezogenen Schlussfolgerungen basieren. Es müssen Daten und Indikatoren für internationale Vergleiche zur Verfügung stehen.

5.3.1

In der Praxis sind die Bildungsressourcen äußerst ungleich verteilt; darüber hinaus werden bestehende Ungleichheiten in der Erwachsenenbildung zumeist nicht ausgeglichen, sondern noch verstärkt (wie die einschlägigen Datensammlungen belegen). Die Beobachtung und Bewertung dieses Aspekts können durch eine regelmäßige, auf einheitlichen Grundsätzen und einheitlichen methodischen Grundlagen beruhende Datenermittlung unterstützt werden.

5.4

Gegenwärtig beziehen sich mehrere parallel und großenteils unabhängig voneinander durchgeführte statistische Erhebungen auf die verschiedenen Bereiche der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie der Erwachsenenbildung. Allein können die Datenerhebungssysteme der Europäischen Union nicht den gesamten Themenkreis abdecken — auch nicht mit Hilfe der neuen statistischen Erhebungen, deren Durchführung jetzt beginnt. Angesichts der Merkmale von Eurostat besteht ein gewisser Unterschied — in Inhalt und Ausrichtung — zwischen seinen eigenen statistischen Erhebungen und denen anderer Datenerhebungsstellen.

5.5

Damit die Ressourcen effizienter genutzt werden können, sollte es im Rahmen einer regelmäßigen Datenerhebung keine fachlich ungerechtfertigten Überschneidungen geben; zugleich ist systematisch dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse der einzelnen Erhebungen sich in irgendeiner Weise aufeinander beziehen können. Nur eine enge fachliche Zusammenarbeit mit Spezialeinrichtungen in Drittländern (OECD, die Internationale Vereinigung für die Bewertung der Bildungsleistung International Association for the Evaluation of Educational Achievement — IEA) und eine Interrelationalität mit deren statistischen Erhebungen können die Verwirklichung des Ziels gewährleisten.

5.6

In der gegenwärtigen Lage ist die enge fachliche Zusammenarbeit mit Organisationen in Drittländern wesentlich, da das Messen von Schlüsselkompetenzen momentan nicht in den Zuständigkeitsbereich von Eurostat fällt (Die Erhebungen der OECD, insbesondere die PISA-Studie und das in Arbeit befindliche Programm zur internationalen Bewertung der Kompetenzen von Erwachsenen PIAAC, dürften eine wichtige Rolle beim Messen von Kompetenzen spielen).

5.7

Es herrscht ein erheblicher Bedarf an Statistiken, die für die Entwicklung politischer Maßnahmen nützlich sind, sowie an Daten, die zur Bewertung der erzielten Fortschritte beitragen, und der Bedarf an aktuellen Statistiken steigt noch deutlich an. Entscheidend ist, dass die Mitgliedstaaten ähnliche Methoden für die Datenerhebung verwenden und dass die Zuverlässigkeit und Vergleichbarkeit dieser Angaben Vorrang haben.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1

Der Betrieb von Datenerhebungssystemen ist besonders kostspielig. Der EWSA ist sich dieses Problems bewusst und hält es — falls die Mitgliedstaaten diese Last schultern können, — für berechtigt, langfristig eine Verkürzung der Fünfjahreszyklen für die Erfassung von Daten über lebenslanges Lernen zu erwägen, d.h. die Erhebungen öfter durchzuführen. Hinsichtlich der Datenerfassung könnte die Ergänzung großer statistischer Erhebungen über die politisch relevantesten Themen durch häufigere, gar jährliche gezielte Studien und durch kleinere Erhebungen eine kurzfristige Lösung darstellen. Solche gezielten Erhebungen und die auf ihren Schlussfolgerungen basierenden Analysen können die Beobachtung der politisch wichtigsten Prozesse und die Bewertung der Verwirklichung der Gemeinschaftsziele für lebenslanges Lernen ermöglichen.

6.2

Es scheint gerechtfertigt, dass die Erhebung von Daten über die innerbetriebliche Aus- und Fortbildung ebenfalls in den Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung fällt, betreffen sie doch einen wichtigen Baustein des lebenslangen Lernens. Ein Teil dieser Bildungsmaßnahmen (in Unternehmen mit zehn oder mehr Mitarbeitern) wird gegenwärtig von der alle fünf Jahre durchgeführten Erhebung zur beruflichen Weiterbildung (CVTS) erfasst, die jedoch keine Daten über Bildungsmaßnahmen in Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern umfasst.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts-und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Integrierten Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens“ – SOC/176 – Berichterstatter: Herr KORYFIDIS – ABl. C 221 vom 8.9.2005.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ausbildung und Produktivität“ (SOC/183) vom 28. Oktober 2004, Berichterstatter: Herr KORYFIDIS (ABl. C 120 vom 20.5.2005)

(3)  vgl. hierzu den Kok-Bericht über die Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie im März 2005: http://europa.eu.int/comm/lisbon_strategy/pdf/2004-1866-DE-complet.pdf.

(4)  Die Arbeitsgruppe hat den Begriff „Kompetenz“ - eine Kombination aus Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen – bevorzugt und ferner die „Schlüsselkompetenz“ zur Bezeichnung der von allen benötigten Kompetenzen benutzt. Dieser Begriff umfasst somit die Grundfähigkeiten, reicht jedoch auch über diese hinaus.

(5)  Arbeitsgruppe „Grundfertigkeiten“, Fortschrittsberichte 2003 und 2004: http://europa.eu.int/comm/education/policies/2010/objectives_en.html - basic.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ausbildung und Produktivität“ (SOC/183) vom 28. Oktober 2004, Berichterstatter: Herr KORYFIDIS - ABl. C 120 vom 20.5.2005.

(7)  Definition der Zielgruppe „ältere Menschen“: Menschen, die nicht erwerbstätig sind und/oder endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind.

(8)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erstellung und den Ausbau von Statistiken über Bildung und lebenslanges Lernen, KOM(2005) 625 endg. – 2005/0248 (COD).