ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 155

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

64. Jahrgang
30. April 2021


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIEßUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

558. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 24.2.2021-25.2.2021

2021/C 155/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht? — (Auf der Grundlage von Konsultationen in den 27 Mitgliedstaaten)

1


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

558. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 24.2.2021-25.2.2021

2021/C 155/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung zur Unterstützung der Aufbaustrategie (COM(2020) 312 final), Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus (COM(2020) 313 final), Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (COM(2020) 314 final — 2020/0148 (CNS))

8

2021/C 155/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen — neuer Aktionsplan (COM(2020) 590 final)

20

2021/C 155/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Strategie für ein digitales Finanzwesen für die EU(COM(2020) 591 final)

27

2021/C 155/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowährungen und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937 (COM(2020) 593 final — 2020/0265 (COD)) — Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen (COM(2020) 594 final — 2020/0267 (COD))

31

2021/C 155/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009, (EU) Nr. 648/2012, (EU) Nr. 600/2014 und (EU) Nr. 909/2014(COM(2020) 595 final — 2020/0266 (COD)) und Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2006/43/EG, 2009/65/EG, 2009/138/EG, 2011/61/EU, 2013/36/EU, 2014/65/EU, (EU) 2015/2366 und (EU) 2016/2341(COM(2020) 596 final — 2020/0268 (COD))

38

2021/C 155/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 (COM(2020) 575 final)

45

2021/C 155/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung der Reserve für die Anpassung an den Brexit (COM(2020) 854 final — 2020/0380(COD))

52

2021/C 155/09

Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds](COM(2020) 610 final — 2020/0279(COD)) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl(COM(2020) 613 final — 2020/0277(COD))

58

2021/C 155/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu: Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU (COM(2020) 611 final — 2016/0224(COD)) — Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung des Screenings von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EU) 2017/2226, (EU) 2018/1240 und (EU) 2019/817 (COM(2020) 612 final — 2020/0278(COD)) — Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich biometrischer Daten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) XXX/XXX [Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement] und der Verordnung (EU) XXX/XXX [Neuansiedlungsverordnung], für die Feststellung der Identität illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnungen (EU) 2018/1240 und (EU) 2019/818 (COM(2020) 614 final — 2016/0132(COD))

64

2021/C 155/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Renovierungswelle für Europa: umweltfreundlichere Gebäude, mehr Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen(COM(2020) 662 final)

73

2021/C 155/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr (kodifizierter Text) (COM(2021) 34 final — 2021/0018 (COD))

78


 

Berichtigungen

2021/C 155/13

Berichtigung der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm Pericles IV) (COM(2018) 369 final — 2018/0194(CNS)) ( ABl. C 440 vom 6.12.2018 )

79


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIEßUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

558. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 24.2.2021-25.2.2021

30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht?

(Auf der Grundlage von Konsultationen in den 27 Mitgliedstaaten)

(2021/C 155/01)

Berichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Javier DOZ ORRIT

Luca JAHIER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner Plenartagung am 24./25. Februar 2021 (Sitzung vom 25. Februar) folgende Entschließung mit 268 Stimmen bei 5 Enthaltungen.

1.   Einleitung

1.1.

Der EWSA hat eine Reihe von Stellungnahmen, Entschließungen und Erklärungen zum Aufbauplan NextGenerationEU und seinen verschiedenen Komponenten, insbesondere zur Aufbau- und Resilienzfazilität, verabschiedet. Der Ausschuss stimmt dem Inhalt und der Ausrichtung der Reformvorschläge zu, die die wirtschaftliche und soziale Erholung ankurbeln und eine Umstellung des Produktionsmodells bewirken sollen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass alle Reformen im Rahmen des Umstrukturierungsprozesses auf den Grundsätzen der EU beruhen müssen: Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit. Die Investitionen im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität müssen darauf abzielen, das volle Potenzial des Binnenmarkts zu erschließen, die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der EU zu stärken, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu verwirklichen, eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen, bis spätestens 2050 Klimaneutralität in der EU zu erreichen, Innovationen und Modernisierungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern und die wirksame Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte sicherzustellen, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, Armut zu beseitigen und Ungleichheiten zu verringern. Diese Reformen müssen der durch die Pandemie verursachten Wirtschafts- und Sozialkrise begegnen, dabei berücksichtigen, dass die Auswirkungen schwerwiegender und tiefgreifender als erwartet sein werden und eine rasche Erholung sicherstellen. Die Aufbau- und Resilienzfazilität sollte auch vollständig im Einklang mit den internationalen Übereinkommen und Verträgen umgesetzt werden, denen die EU und die Mitgliedstaaten beigetreten sind, wie etwa dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der Ausschuss erachtet es für unerlässlich, verantwortungsvolles Regierungshandeln, Wachsamkeit gegenüber Korruption bei der Mittelverwaltung und demokratische Rechenschaftspflicht zu gewährleisten.

1.3.

Der Ausschuss hält es auch für sehr wichtig, dass die Reformen sowohl auf die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität als auch auf die Stärkung einer innovativen Wirtschaft mittels Unterstützung von KMU und sozialwirtschaftlichen Unternehmen abzielen. Er betont die Rolle der Forschung auf europäischer Ebene und ihre Verbindung zum Produktionsprozess. Zudem ist er der Auffassung, dass in der EU und in allen Mitgliedstaaten Mechanismen zur Gewährleistung eines fairen ökologischen und digitalen Wandels geschaffen und die wirtschaftliche Wiedereingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen unterstützt werden sollten. In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA seine Besorgnis darüber, dass die im mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) vorgesehenen Mittel für einen gerechten Übergang unzureichend sind.

1.4.

Die EU-Organe haben ganz anders reagiert als auf die Krise von 2008. Die Finanzierung des Aufbauplans durch die Emission gemeinsamer europäischer Schuldtitel ist ein Meilenstein in der Geschichte der EU. Dem Ausschuss ist die Unterstützung für die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ein besonderes Anliegen. Dieses Thema sollte auf der kommenden Konferenz zur Zukunft Europas aufgegriffen werden. Gleichzeitig gilt es auch, die Bedeutung der vom portugiesischen Ratsvorsitz geplanten Gipfel von Porto über die wirksame Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte zu würdigen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einbeziehung der Zivilgesellschaft über den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Bereich hinausgehen muss, um so wichtige Themen wie die Zukunft Europas oder die Beitrittsverhandlungen und Heranführungsgespräche mit Bewerberländern zu bewältigen.

1.5.

Die Kommission sollte bei der Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne den Auswirkungen der Pandemie auf die einzelnen Mitgliedstaaten und ihren Kapazitäten Rechnung tragen.

1.6.

In dieser Entschließung begrüßt der EWSA auch die im Dezember zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat im Rahmen des Trilogs erzielte Einigung. Diese sieht unter anderem eine neue Verordnung vor, nach deren Artikel 18 die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft per Konsultation an der Ausarbeitung und Durchführung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne beteiligt werden müssen.

1.7.

Und eben diese Beteiligung der Zivilgesellschaft ist Gegenstand dieser Entschließung. Auf der Grundlage der Berichte der nationalen Delegationen seiner Gruppe Europäisches Semester möchte der Ausschuss eine erste Bewertung vornehmen, wie sich diese Beteiligung entwickelt hat, und die europäischen Organe und die nationalen Regierungen über die dabei konstatierten Defizite informieren. So könnte der Ausschuss dazu beitragen, dass die nationalen Regierungen und die europäischen Organe vor Ablauf der Frist für die Fertigstellung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne durch die Regierungen der Mitgliedstaaten und deren Genehmigung durch die Europäische Kommission geeignete Korrekturmaßnahmen ergreifen. Diese Bewertung sollte nicht nur Aufschluss geben über den Umfang der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Gestaltung der Pläne, sondern auch über die Qualität ihrer Einbeziehung und wie transparent die einzelnen Mitgliedstaaten die Entwürfe ihrer nationalen Aufbau- und Resilienzpläne veröffentlicht haben.

1.8.

Die auf europäischer Ebene tätigen Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen haben anerkannt, dass bei ihrer Einbeziehung im Vergleich zu den üblichen Verfahren des Europäischen Semesters Fortschritte erzielt wurden. Sie anerkennen auch die positive Rolle der Europäischen Kommission bei der Förderung der Beteiligung der Zivilgesellschaft auf einzelstaatlicher Ebene. Gleichwohl sind die meisten von ihnen der Ansicht, dass die tatsächliche Beteiligung noch höchst unzureichend ist und die Verfahren es nicht erlauben, die Standpunkte der zivilgesellschaftlichen Organisationen ausreichend zur Geltung zu bringen. Die Sozialpartner und die zivilgesellschaftlichen Organisationen fordern, diese Mängel bei der Umsetzung und Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne durch die Einführung formellerer Verfahren für einen echten Austausch zu beheben.

2.   Hintergrund

2.1.

Am 18. Dezember 2020 erzielten der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament eine Einigung über die Aufbau- und Resilienzfazilität. Um Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten, werden die Mitgliedstaaten nun nationale Aufbau- und Resilienzpläne ausarbeiten und darin im Einklang mit den Leitlinien der Europäischen Union bezüglich des Konsultationsverfahrens ein Paket von Investitionen und Reformen vorlegen. Bereits in den ersten, im September veröffentlichten Leitlinien werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, alle Konsultationen und Beiträge der Sozialpartner, der Zivilgesellschaft und anderer einschlägiger Interessenträger bei der Ausarbeitung und Umsetzung des Aufbau- und Resilienzplans darzulegen (1).

2.2.

Die vom Europäischen Parlament und dem Rat im Dezember erzielte Einigung enthält unter anderem eine Bestimmung über die Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Laut Artikel 18 Absatz 4 Buchstabe q müssen die nationalen Reformprogramme Folgendes enthalten: „eine Zusammenfassung des im Einklang mit dem nationalen Rechtsrahmen durchgeführten Prozesses der Konsultation lokaler und regionaler Gebietskörperschaften, von Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft und anderen relevanten Interessenträgern für die Ausarbeitung und, soweit verfügbar, die Umsetzung des Plans und die Art und Weise, wie die Beiträge der Interessenträger in den Plan einfließen“ (2).

2.3.

Das Arbeitsprogramm 2020-2023 der Gruppe Europäisches Semester wurde in der ersten Sitzung der Gruppe am 16. Dezember 2020 angenommen. Ein wichtiges neues Element des Arbeitsprogramms ist die Durchführung von Online-Konsultationen durch EWSA-Mitglieder in den Mitgliedstaaten im Januar 2021. Ziel dieser Konsultationen war es, Informationen über die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne zu sammeln, damit der EWSA auf der Plenartagung im Februar eine Entschließung annehmen kann.

3.   Methode

3.1.

Die für diesen Bericht erforderlichen Daten und Informationen wurden im Januar 2021 gesammelt.

Insgesamt gingen insgesamt 26 nationale Beiträge ein. An den Konsultationen, die auf der Grundlage der Sachkenntnis der Mitglieder durchgeführt wurden, nahmen Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft teil. In einigen Ländern waren nationale Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbare Einrichtungen beteiligt, und in andern wurden auch Regierungsvertreter konsultiert.

3.2.

Die folgenden fünf Fragen dienten als Konsultationsgrundlage:

1)

Gibt es Mechanismen für die Konsultation zu den Aufbau- und Resilienzplänen in Ihrem Land? Halten Sie diese für ausreichend und angemessen?

2)

Unterscheiden sich die Konsultationsmechanismen für die Sozialpartner und die für die übrige Zivilgesellschaft in Ihrem Land?

3)

Ihr Land muss seinen nationalen Aufbau- und Resilienzplan bis spätestens 30. April vorlegen. In welchem Stadium des Verfahrens befindet sich Ihr Land?

4)

Wie unterscheidet sich das Verfahren für den Aufbau- und Resilienzplan von der Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft im normalen Verfahren des Semesters in Ihrem Land?

5)

Inwieweit entspricht der Aufbau- und Resilienzplan Ihres Landes den politischen Zielen der organisierten Zivilgesellschaft in Ihrem Land?

4.   Bemerkungen zu den Ergebnissen der Konsultationen

4.1.   Frage 1: Gibt es Mechanismen für die Konsultation zu den Aufbau- und Resilienzplänen in Ihrem Land?

4.1.1.

Bei der überwiegenden Mehrheit der Antworten wurde angegeben, dass die betreffende nationale Regierung in irgendeiner Form einen Konsultationsmechanismus eingerichtet hat, um die organisierte Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung ihres Aufbau- und Resilienzplans einzubeziehen. In einigen Mitgliedstaaten wurden bereits Konsultationen der Zivilgesellschaft durchgeführt, in anderen sind sie noch im Gange bzw. erfolgen zu einem späteren Zeitpunkt.

4.1.2.

Es werden dabei unterschiedliche Verfahren eingesetzt wie die Einreichung schriftlicher Vorschläge, hochrangige Treffen mit zuständigen Ministern, die Auswertung eigens dafür konzipierter und beantworteter Fragebögen und Diskussionsrunden zwischen Vertretern der Regierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Einige Mitgliedstaaten haben auch bestehende Mechanismen für Konsultationen im traditionellen Rahmen des Europäischen Semesters sowie entsprechend im Rahmen des neuen besonderen Kalenders des Semesters für 2021 und der einschränkenden Umstände der COVID-19-Pandemie genutzt und darauf aufgebaut.

4.1.3.

Gleichwohl wurde in mehreren Antworten auf eine mangelnde echte Einbeziehung der Zivilgesellschaft hingewiesen. Ein Hindernis für die Einbeziehung lag darin, dass einige nationale Regierungen offensichtlich nicht bereit waren, die Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung ihres Plans zu beteiligen. Häufig waren es nicht die Regierungen, die sich um die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bemühten, sondern die Konsultationen wurden erst auf Initiative und nach Beschwerden der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen durchgeführt.

4.1.4.

Ein anderes ermitteltes Hindernis für eine echte Beteiligung besteht darin, dass die Zivilgesellschaft zwar formell eingezogen wurde, aber nicht ausreichend Zeit für ihre Konsultation vorgesehen wurde. Die Teilnehmer kritisierten die knappen Zeitvorgaben einiger Regierungen, da dies die inhaltliche Debatte und die Berücksichtigung der Beiträge der Zivilgesellschaft zu den Aufbau- und Resilienzplänen behindern dürfte. Eine große Zahl von Mitgliedstaaten verfügt über einen Mechanismus zur Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft als Teil des Verfahrens zur Erarbeitung ihrer Aufbau- und Resilienzpläne. Deutlich weniger Mitgliedstaaten ermöglichen aber eine echte Einbeziehung der Zivilgesellschaft und eine tatsächliche Berücksichtigung der daraus hervorgegangenen Vorschläge.

4.1.5.

Einige Teilnehmer bedauerten, dass im Entwurfsstadium ihres nationalen Plans keine Konsultation stattgefunden hat oder geplant ist. Darüber hinaus ging aus einigen Antworten hervor, dass zwar Konsultationen durchgeführt wurden, diese sich aber bislang nur auf die Sozialpartner und nicht auf die breite organisierte Zivilgesellschaft bezogen haben.

4.1.6.

Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen (3) wurden die Mitgliedstaaten in Bezug auf den Gegenstand dieser Entschließung in drei Kategorien unterteilt: Mitgliedstaaten, in denen (zumindest bislang) nahezu keine Beteiligung stattgefunden hat (Dänemark und Slowakei); Mitgliedstaaten, in denen eine gewisse formelle oder informelle Beteiligung stattgefunden hat, jedoch ohne Einflussmöglichkeiten (Österreich, Belgien, Tschechien, Deutschland, Griechenland, Spanien, Estland, Frankreich, Kroatien, Ungarn, Irland, Litauen, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden und Slowenien); und schließlich jene mit einer strukturierteren Beteiligung, die sich mitunter auf einige Aspekte der Pläne auswirkte (Bulgarien, Zypern, Finnland, Italien und Malta).

4.1.7.

Insgesamt zeugen die Antworten vom starken Wunsch der organisierten Zivilgesellschaft, an der Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne mitzuwirken. In den Antworten der Vertreter der Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden Versuche beschrieben, sich mit Vorschlägen und durch Kontaktaufnahme zu Regierungsvertretern zu beteiligen. In einigen Mitgliedstaaten führten diese Initiativen zu einer stärkeren Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung der Pläne, in anderen wiederum waren sie offenbar leider nicht von Erfolg gekrönt.

4.2.   Frage 2: Unterscheiden sich in Ihrem Land die Konsultationsmechanismen für die Sozialpartner und die für die übrige organisierte Zivilgesellschaft?

4.2.1.

Die meisten Mitgliedstaaten verfügen für die Konsultation der Sozialpartner und die der übrigen organisierten Zivilgesellschaft über unterschiedliche Verfahren. Sozialpartner werden den Antworten zufolge auf strukturierterer, institutionalisierter und dauerhafter Basis einbezogen werden, die übrigen zivilgesellschaftlichen Organisationen dagegen ad hoc und informell konsultiert. Wie bereits erwähnt, haben einige Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung ihrer Aufbau- und Resilienzpläne lediglich die Sozialpartner und nicht die breite Zivilgesellschaft konsultiert. In einem Mitgliedstaat wird von der Regierung lediglich das Gremium konsultiert, in dem die breite Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner vertreten ist, nicht aber das nur die Sozialpartner umfassende Gremium. Eine kleine Zahl von Mitgliedstaaten hat sich für ein gemeinsames Verfahren für alle Interessenträger entschieden.

4.3.   Frage 3: Ihr Land muss seinen nationalen Aufbau- und Resilienzplan bis spätestens 30. April vorlegen. In welchem Stadium des Verfahrens befindet sich Ihr Land?

4.3.1.

Auf diese Frage gab es inhaltlich gemischte Antworten. Alle Teilnehmer berichteten zwar, dass ihre nationale Regierung mit der Arbeit an ihrem Aufbau- und Resilienzplan begonnen hat, aber die einzelnen Mitgliedstaaten befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Prozesses.

4.3.2.

In den meisten Mitgliedstaaten wird gerade von den zuständigen Ministerien — meistens dem Finanzministerium — eine erste Fassung des nationalen Aufbau- und Resilienzplans erarbeitet. Einige haben die Konsultationen der Zivilgesellschaft abgeschlossen, während andere noch externe Interessenträger konsultieren müssen. Eine Reihe von Teilnehmern berichteten auch, dass ihre Regierung sich eng mit der Europäischen Kommission abstimmt oder dies in Kürze tun will.

4.3.3.

Es wurde berichtet, dass einige Mitgliedstaaten nach Konsultation mit der Europäischen Kommission an einer zweiten Fassung ihres nationalen Plans arbeiten.

4.4.   Frage 4: Wie unterscheidet sich das Verfahren für den Aufbau- und Resilienzplan von der Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft im normalen Verfahren des Semesters in Ihrem Land?

4.4.1.

Auch hier sind die Antworten geteilt und ergeben kein klares Bild. Allerdings sind die Antworten tendenziell ähnlich wie die zu den vorhergehenden Fragen: einige Befragte berichteten, dass sich dies noch nicht absehen lasse; bei anderen heißt es, dass es gebe keine Zeit für eine angemessene Konsultation, und einige vermelden eine stärkere Beteiligung der Sozialpartner im Vergleich zur übrigen organisierten Zivilgesellschaft. Mitunter wurde berichtet, dass das Verfahren der Aufbau- und Resilienzpläne für die organisierte Zivilgesellschaft offener oder geeigneter gewesen sei als das normale Semesterverfahren. Häufiger aber noch wurde angegeben, dass der bestehende Rahmen für die Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen des normalen Semesters nicht für das Aufbau- und Resilienzplan-Verfahren genutzt werde.

4.5.   Frage 5: Inwieweit entspricht der Aufbau- und Resilienzplan Ihres Landes den politischen Zielen der organisierten Zivilgesellschaft in Ihrem Land?

4.5.1.

Die Antworten auf diese Frage lassen sich in drei etwa gleich große Gruppen unterteilen. Eine Gruppe berichtete, dass die Ziele im Allgemeinen übereinstimmen, entweder aufgrund eines Konsultationsverfahrens oder weil die Interessen bereits vorher dieselben waren. Die Teilnehmer einer anderen Gruppe bedauerten, dass die Regierungen die öffentlich und gut bekannten Interessen der organisierten Zivilgesellschaft bei der Ausarbeitung der Pläne ignoriert haben. Die dritte Gruppe schließlich war nicht in der Lage, zu antworten, entweder aufgrund mangelnder Informationsbasis, oder weil es noch zu früh dafür war.

5.   Schlussfolgerungen

5.1.

Die Verfahren der Konsultation der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen zu den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen sind gegenüber den regelmäßigen Verfahren im Rahmen des Europäischen Semesters der vergangenen Jahre im Allgemeinen verbessert. Dennoch ist der EWSA der Auffassung, dass sie in den meisten Mitgliedstaaten gemessen an den berechtigten Forderungen der Zivilgesellschaft und selbst an den Bestimmungen der Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität alles andere als zufriedenstellend sind. Während die Sozialpartner im Allgemeinen — im Rahmen des sozialen Dialogs oder spezifischer Verfahren der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — mehr Beteiligungsmöglichkeiten haben, sind diese für die übrigen zivilgesellschaftlichen Organisationen eher begrenzt.

5.2.

Die Ergebnisse der Umfrage, auf die sich diese Entschließung stützt, stehen im Einklang mit den Ergebnissen anderer Studien (4), die von gesamteuropäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen über die Beteiligung nationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen an den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen durchgeführt wurden. Diesen Studien zufolge fand in den meisten Ländern nur eine geringe bzw. gar keine echte Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen statt. Die im Januar für diese Studie erhobenen Daten zeigen diesbezüglich nur eine leichte Verbesserung. Ein ähnliches Maß der Unzufriedenheit geht aus der Konsultation des Ausschusses der Regionen (5) zur Beteiligung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften an den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen hervor.

5.3.

Nach Auffassung des Ausschusses ist eine echte Beteiligung dann gegeben, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen in formellen, rechtlich verankerten Konsultationsprozessen auf der Grundlage öffentlicher und transparenter Verfahren mit schriftlichen Unterlagen angemessen informiert werden, genügend Zeit haben, um die Vorschläge der Regierung zu prüfen und eigene Vorschläge auszuarbeiten, die entweder berücksichtigt oder mit einer Begründung abgelehnt werden und in jedem Fall in Protokollen oder öffentlichen Dokumenten festgehalten werden. Nach Inkrafttreten der neuen Rahmenbedingungen sollte diese Konsultation wiederholt werden. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft soll keineswegs den Primat parlamentarischer demokratischer Institutionen ersetzen oder in Frage stellen, sondern diese lediglich im Wege der Zusammenarbeit ergänzen.

5.4.

Der EWSA fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten, die keine angemessenen Verfahren zur Konsultation der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen eingerichtet haben, auf, dies umgehend zu tun und damit die Bestimmungen der Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität einzuhalten. Der EWSA fordert die europäischen Organe und insbesondere die Kommission dazu auf, von ihren Befugnissen Gebrauch zu machen und die nationalen Regierungen ggf. zur Erfüllung ihrer diesbezüglichen Verpflichtungen anzuhalten. Das ist noch innerhalb der für die Annahme der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne vorgesehenen Fristen möglich. Der EWSA teilt die Auffassung der anderen politischen und sozialen Akteure, dass die Mittel für Investitionen in die Erholung und den Wandel der europäischen Wirtschaftssysteme und Gesellschaften so bald wie möglich in den Mitgliedstaaten und ihren Gesellschaften ankommen müssen.

5.5.

Die bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne gewonnenen Erfahrungen und die Bewertung der diesbezüglichen Lücken und Mängel müssen dafür genutzt werden, sicherzustellen, dass diese Defizite bei der kommenden Umsetzung dieser Pläne und im Hinblick auf die Ausarbeitung der Pläne für 2022 behoben werden. Eine enge Einbeziehung der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Allgemeinen gewährleistet von der Basis ausgehende, nachhaltige und wirksame Veränderungen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen auch bei der Umsetzung der Pläne berücksichtigt werden, da sie zahlreiche soziale Dienstleistungen erbringen.

5.6.

Wenn öffentliche und soziale Akteure in kurzer Zeit erhebliche Finanzmittel investieren müssen, besteht u. a. die Gefahr, dass die Mittel nicht innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens in Anspruch genommen und ausgeführt werden können oder nicht wirksam eingesetzt werden. Eine weitere, noch größere Gefahr ist dabei Korruption. Der Ausschuss fordert die nationalen Regierungen auf, zur Bewältigung dieser Gefahren die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der Verwaltungskapazität und zur Förderung der Transparenz und der administrativen und parlamentarischen Kontrolle zu ergreifen. Er betont, dass die Beteiligung der repräsentativer Organisationen der Zivilgesellschaft an der Überwachung der Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ein sehr wirksames Instrument zur Bekämpfung von Korruption und Ineffizienz ist.

5.7.

Der EWSA ist darüber besorgt, dass zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der nationalen Berichte, auf die sich diese Entschließung stützt, in den meisten Mitgliedstaaten zu wenig Klarheit über die Governance-Systeme der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und die Aufteilung der Zuständigkeiten für deren Umsetzung zwischen der zentralen, regionalen und lokalen Ebene herrscht. Ebenso wenig besteht ausreichend Klarheit über geeignete Mechanismen zur Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner an der Umsetzung, Überwachung und Anpassung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne.

5.8.

Im Mittelpunkt dieser Entschließung steht die Beteiligung der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen an den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zu einem Zeitpunkt, da ihre Ausarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Es gilt, diese Verfahren zu verbessern und eine angemessene Beteiligung der Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen an der Umsetzung, Überwachung und Anpassung dieser Pläne zu ermöglichen. Die Inhalte der Pläne, wie sie in den Rahmenprogrammen und in den ersten Entwürfen der nationalen Aufbau- und Resilienzplänen einiger Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommen, sind dem Ausschuss bekannt. Aus der Erhebung geht jedoch hervor, dass in den meisten (zehn von sechzehn) Ländern, aus denen in dieser Verfahrensphase Antworten auf Frage 5 eingingen, eine breite oder teilweise Übereinstimmung besteht zwischen den Zielen der zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Inhalt der Rahmenprogramme und Entwürfe der nationalen Pläne im Einklang mit den von der Kommission und dem Europäischen Parlament für NextGenerationEU und der Aufbau- und Resilienzfazilität festgelegten Zielen und Leitlinien. In den übrigen sechs Ländern äußerten sich die zivilgesellschaftlichen Organisationen diesbezüglich kritisch, und für zehn Länder liegen keine Antworten vor, wohl zumeist, weil dies für verfrüht erachtet wurde.

5.9.

Der Ausschuss möchte jedoch einige Bedenken und Forderungen der Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bezug auf den Inhalt der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne wiedergeben:

Die Investitionen im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und des digitalen Wandels — und dem damit verbundenen gerechten Übergang — sowie die Investitionen in einzelstaatliche Schwachstellen im sozialen Bereich und in die Bereiche Beschäftigung, Gesundheit und Sozialschutz sollten zusammen mit der Umsetzung der in den länderspezifischen Empfehlungen 2019 und 2020 genannten notwendigen Strukturreformen einen Wandel hin zu einem produktivitätssteigernden, ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaftsmodell bewirken.

In den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen sollte der Bezug der Investitionsvorhaben zur jeweiligen nationalen Reformagenda verdeutlicht werden, und es sollten geeignete Indikatoren, Zeitpläne und Überwachungsmethoden festgelegt werden.

NextGenerationEU bietet eine beispiellose Unterstützung der nationalen Haushalte durch die EU. Bei der Bewertung der nationalen Pläne sollte die Kommission verlangen, dass die europäischen Mittel auch dazu verwendet werden, echten europäischen Mehrwert zu schaffen, indem grenzüberschreitende Infrastrukturinvestitionen und -projekte unterstützt werden. Grenzüberschreitende Investitionen haben eindeutig positive wirtschaftliche und soziale Ausstrahlungseffekte, die stärker gefördert werden müssen.

Investitionen im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sollten als Hebel für weitere private Investitionen in den in diesen Plänen als prioritär eingestuften Sektoren dienen. Die Investitionsprogramme müssen den förderfähigen Projekten von KMU und sozialwirtschaftlichen Unternehmen ausreichend Rechnung tragen.

Wie der UN-Sonderberichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte, Olivier de Schutter, in seiner Rede auf der Plenartagung des Ausschusses am 28. Januar 2021 sehr deutlich zum Ausdruck brachte, besteht die Gefahr, dass soziale Fragen, einschließlich Instrumente zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zu kurz kommen. Es muss darauf hingewiesen werden, wie groß die Gefahr ist, dass die digitale Kluft nicht verringert wird, obwohl die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft einer der Schwerpunkte von NextGenerationEU ist.

Investitionen in hochwertige Bildung, lebenslanges Lernen und FuE sind von entscheidender Bedeutung, um die von NextGenerationEU geförderten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen voranzutreiben und zu ergänzen; ebenso wichtig sind Investitionen zur Stärkung der Gesundheitssysteme und der Gesundheitspolitik der von der COVID-19-Pandemie stark betroffenen Gesellschaften.

5.10.

Der EWSA fordert die einzelstaatlichen Regierungen und die EU-Organe auf, diesen Sorgen der europäischen Zivilgesellschaft in Bezug auf den Inhalt der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne bei ihrer Annahme Rechnung zu tragen.

Brüssel, den 25. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  SWD(2020) 205 final.

(2)  ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17.

(3)  Die Berichte aus den Mitgliedstaaten werden im Anhang zu dieser Entschließung analysiert. Alle Daten und Beiträge sind im Internet auf dem Portal des Ausschusses abrufbar.

(4)  Civil Society Europe und European Center for Not-for-Profit Law: Participation of civil society organisations in the preparation of the EU National Recovery and Resilience Plans; Dezember 2020.

(5)  AdR-RGRE: Die Beteiligung der Städte und Regionen an der Aufstellung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne, 20. Januar 2021.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

558. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 24.2.2021-25.2.2021

30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung zur Unterstützung der Aufbaustrategie

(COM(2020) 312 final)

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus

(COM(2020) 313 final)

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung

(COM(2020) 314 final — 2020/0148 (CNS))

(2021/C 155/02)

Berichterstatter:

Krister ANDERSSON

Mitberichterstatter:

Javier DOZ ORRIT

Befassung

Rat der Europäischen Union, 28.7.2020

Europäische Kommission, 12.8.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 113 und 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet grundsätzlich die Legislativvorschläge der Kommission und begrüßt deren Abstimmung mit den globalen Beratungen auf Ebene des inklusiven Rahmens der OECD, um einen weltweiten Konsens zu erreichen.

1.2.

Der EWSA stimmt dem Ansatz der Kommission zu, dass ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich — Grundlage für eine faire Besteuerung — die Steuertransparenz durch den Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, einen fairen Steuerwettbewerb, den Verzicht auf schädliche steuerliche Maßnahmen, effizientere steuerliche Maßnahmen und die Umsetzung international vereinbarter Regelungen erfordert.

1.3.

Der EWSA stimmt darüber hinaus der Feststellung der Kommission zu, dass der Steuerwettbewerb nicht per se problematisch ist (1). Es herrscht gleichwohl die Sorge, dass ein unfairer Steuerwettbewerb innerhalb der EU Steuervermeidung fördert. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es für eine wirksame Währungsunion einer einheitlichen Steuerpolitik und einheitlicher Steuerregelungen ihrer Mitglieder bedarf.

1.4.

Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission für eine Überprüfung des Verhaltenskodex. Er begrüßt, dass im Kommissionsvorschlag die Arbeit der OECD und die Bedeutung der Einbeziehung international vereinbarter Standards gebührend berücksichtigt werden, insbesondere im Hinblick auf allgemeine Grundsätze, die zu einem effektiven Mindestkörperschaftsteuersatz führen.

1.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass das Ergebnis und die Errungenschaften des Verhaltenskodex regelmäßiger aktualisiert werden und für die Zivilgesellschaft öffentlich zugänglich sein sollten. Dies entspricht auch dem Ziel der Kommission, für mehr Transparenz hinsichtlich der konkreten Aktivität und Ergebnisse des Kodex zu sorgen.

1.6.

Der EWSA unterstützt die Entscheidung der Kommission, legislative Maßnahmen durchzuführen, um die Zusammenarbeit zwischen Steuerbehörden zu verbessern und die Harmonisierung von Verfahrensregeln im gesamten Binnenmarkt zu steigern.

1.7.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass Steuerbetrug und Steuerhinterziehung weiter eine Bedrohung für die öffentlichen Finanzen darstellen, vor allem in Krisenzeiten, wie die neuesten Schätzungen der Kommission deutlich zeigen; so veranschlagt sie den Verlust an Einnahmen in der EU aufgrund internationaler Steuerhinterziehung durch Privatpersonen — in Bezug auf Einkommen-, Kapitalertrag-, Vermögen- und Erbschaftsteuer — in ihrer jüngsten Schätzung auf 46 Mrd. EUR. Die Mehrwertsteuerlücke wird auf ca. 140 Mrd. EUR geschätzt, wovon ca. 50 Mrd. EUR mit grenzüberschreitenden Betrugsfällen in Verbindung stehen (2).

1.8.

Der EWSA verweist darauf, dass sich die geschätzte Lücke (3) aufgrund von Steuervermeidung bei der Körperschaftsteuer zahlreichen Schätzungen zufolge gegenüber früheren Prognosen der Kommission von ca. 50 bis 70 Mrd. EUR vor Einführung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) auf ca. 35 Mrd. EUR pro Jahr verringert hat. Er unterstreicht auch den von der Kommission untersuchten Zusammenhang zwischen dieser Verbesserung und den legislativen Anstrengungen der vorherigen Kommission zur Steuervermeidung (4). Dennoch bleibt diese Lücke besorgniserregend in einer Situation, in der die öffentlichen Ausgaben zur Stützung der Wirtschaft und der Gesellschaft eine so wichtige Rolle spielen.

1.9.

Effizienz lässt sich nur durch eine energische Bekämpfung von Steuerstraftaten und Steuerhinterziehung erreichen und muss durch eine intensivierte Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und einen stärker harmonisierten Rechtsrahmen verbessert werden. Die Steuerliche Rahmenbedingungen können nicht als fair betrachtet werden, wenn einige Mitgliedstaaten über Wege verfügen, sie problemlos zu umgehen, was andere demotiviert und Ineffizienz verursacht.

1.10.

Angesichts der derzeit bestehenden Komplexität aufgrund von 27 unterschiedlichen Steuersystemen und der Belastungen, die eine solche Vielzahl von Modellen grenzüberschreitend aktiven Unternehmen und Privatpersonen aufbürdet, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, unter Wahrung der Steuerhoheit die steuerrechtlichen Anzeigepflichten zu harmonisieren und die Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden zu verbessern.

1.11.

Die von der Kommission geplanten 25 Maßnahmen erscheinen sinnvoll. Die meisten betreffen die MwSt, was auf die hohen Einnahmeverluste in diesem Bereich zurückzuführen sein dürfte. Sie werden allerdings nur knapp beschrieben. Daher ist es momentan schwierig, die konkreten Auswirkungen solcher Maßnahmen auf den Alltag der europäischen Bürger und Unternehmen konkret zu bewerten.

1.12.

Die Einführung einer einzigen Mehrwertsteuerregistrierung ist sehr zu begrüßen. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines vertieften Binnenmarkts und damit zur Verringerung der Unsicherheit und Kosten bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten.

1.13.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Modernisierung und Harmonisierung der Mehrwertsteuermeldepflichten durch die verstärkte Nutzung einer umsatzbasierten Meldung („in Echtzeit“) und der elektronischen Rechnungsstellung.

1.14.

Der EWSA begrüßt ferner, dass überprüft wird, ob auf Finanzdienstleistungen Mehrwertsteuer erhoben werden sollte. Es bedarf einer gründlichen Folgenabschätzung, die auch die mehrwertsteuerliche Behandlung von Finanzdienstleistungen in Drittländern mit einschließt.

1.15.

Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission für einen „Cooperative Compliance“-Rahmen der EU, der auf mehr Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Steuerverwaltungen basiert, um grenzübergreifende Fragen im Bereich der Körperschaftsteuer zu lösen. KMU müssen in diesem Rahmen genauso behandelt werden wie größere Unternehmen. Der Ausschuss weist darauf hin, dass der Aufwand zur Einhaltung der Vorschriften für KMU wesentlich höher ist als für multinationale Großunternehmen. Er fordert die Kommission auf, Schritte zur Verminderung des Aufwands für KMU zu unternehmen.

1.16.

Nach Auffassung des EWSA spielt die Frage der Steuererstattung eine zentrale Rolle, insbesondere in Krisenzeiten wie aktuell, die sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmen ein hohes Risiko für Liquiditätsengpässe bedeuten.

1.17.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf zu prüfen, wie ein einfacherer, stärker harmonisierter Mechanismus für einen Nachlass wegen Mehrwertsteuer-Forderungsausfalls auf den Weg gebracht werden kann. Mit diesem Mechanismus sollte sichergestellt werden, dass Unternehmen Mehrwertsteuer, die sie bei ihren Kunden nicht einziehen können, aber bereits an die Steuerbehörden abgeführt haben, bei den Steuerbehörden zügig und zeitnah zurückfordern können.

1.18.

Dem EWSA zufolge müssen für digitale Plattformen unbedingt klare und international einheitliche Steuer- und Beschäftigungsvorschriften gelten. Der EWSA unterstützt das Bemühen um eine höhere Transparenz digitaler Plattformen, um inkonsequente Einkommensangaben zu verhindern, die ein hohes Risiko für Steuerhinterziehungen bergen. Meldepflichten und Steuerformulare sollten in allen Mitgliedstaaten gleich sein.

1.19.

Der EWSA unterstreicht, dass gemeinsame Prüfungen, die grundsätzlich ein nützliches und wirksames Instrument sind, unter Wahrung der Rechte von Steuerzahlern, einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in Bezug auf die Verteidigungsrechte und die Vorhersehbarkeit sowohl der sie betreffenden verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften als auch der Erhebung von Beweismitteln durch die ermittelnden Steuerbehörden im Hinblick auf mögliche Sanktionen durchgeführt werden sollten.

1.20.

Zwar sind beim Verhalten von Ländern und Hoheitsgebieten, die auf der Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke geführt wurden, Fortschritte zu verzeichnen, doch ist die Menge an unterschlagenem, hinterzogenem, entzogenem und gewaschenem Geld insgesamt nach wie vor so hoch, dass verstärkte Anstrengungen unternommen werden müssen.

1.21.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass jetzt die Erstellung der Liste überprüft und ermittelt werden muss, wie sie — auch in Anbetracht der neuen Herausforderungen einer global digitalisierten Wirtschaft — wirksamer und fairer sein kann. Der EWSA befürwortet auch das Kriterium der Kommission, Hoheitsgebieten mit geringen Risiken und Kapazitätsengpässen die Gelegenheit zu geben, ihre Standards für verantwortungsvolles Handeln und Transparenz im Steuerbereich innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu verbessern, wenn sie auf der Liste stehen oder auf die Liste gesetzt werden könnten.

1.22.

Der EWSA schlägt vor (5), einen Europäischen Pakt zur wirksamen Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Geldwäsche auf den Weg zu bringen. Der EWSA hat die Europäische Kommission aufgefordert, eine politische Initiative unter Einbeziehung der nationalen Regierungen und der anderen EU-Institutionen anzustoßen, um dieses Ziel zu erreichen, den notwendigen Konsens zu fördern und die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sollte die tragende Säule des Paktes sein.

1.23.

Der EWSA betont, dass die Zusammenarbeit zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft insgesamt und den Regierungen zur Sensibilisierung für Umweltsteuern beitragen und durch die Schaffung gerechterer und nachhaltigerer Gesellschaften in Entwicklungs- und Industrieländern einen Beitrag zur Entwicklung leisten könnte.

1.24.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bewertung der Wirksamkeit früherer Richtlinien über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden fortzuführen.

2.   Hintergrund und Kommissionsvorschläge

2.1.   Hintergrund

2.1.1.

Eine faire und effiziente Besteuerung ist eines der wichtigsten Ziele der Kommission (6) in der laufenden Mandatsperiode. Für die Zeit nach der COVID-19-Krise kommt diesem Ziel sogar eine noch größere strategische Bedeutung zu. Gemäß dem Vertrag fallen Steuervorschriften in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten können sich aber auf Richtlinien und Verordnungen einigen, um das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern. Für eine effektive Währungsunion bedarf es einer einheitlichen Steuerpolitik und einheitlicher Steuerregelungen ihrer Mitglieder.

2.1.2.

Die COVID-19-Pandemie verursacht schwere Störungen bei den Volkswirtschaften im gesamten Binnenmarkt. Zudem muss die EU die COVID-19-Krise in Zeiten des Wandels bewältigen, die durch ökologische Herausforderungen, die kontinuierliche digitale Innovation und eine wachsende Ungleichheit zwischen den Bürgern gekennzeichnet ist. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen in beispielloser Weise reagieren und dabei alle verfügbaren Ressourcen und Instrumente nutzen.

2.1.3.

Zweck der Kommissionsvorschläge (7) ist zum einen die Entwicklung einer angemessenen Reaktion auf die COVID-19-Krise und zum anderen die Steuerung des Übergangs zu einer grüneren und stärker digitalisierten Welt im Einklang mit den in den Verträgen verankerten Grundsätzen einer sozialen Marktwirtschaft.

2.1.4.

Dabei spielt eine faire und effiziente Besteuerung eine wichtige Rolle. Eine wirksame Antwort auf die großen Probleme infolge der Krise hängt weitgehend davon ab, inwieweit Unternehmen ihre Geschäfte im In- und Ausland unter fairen Wettbewerbsbedingungen und unterstützt von einem effizienten und einfachen Steuersystem fortführen und die Mitgliedstaaten ihre Steuereinnahmen sichern können, die sie benötigen, um die Erholung durch eine faire Besteuerung von Bürgern und Unternehmen zu finanzieren. Der Kampf gegen Steuerbetrug, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung sowie die Unterstützung europäischer Unternehmen bei der Vereinfachung und Harmonisierung ihrer Steuerverwaltung in der täglichen Praxis sind entscheidende Aspekte für eine wirksame Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen (8).

2.1.5.

Besteuerung ist auch ein politisches Instrument, um bis 2050 Klimaneutralität (9) und die anderen Umweltziele des europäischen Grünen Deals (10) zu erreichen. Deshalb ist es von größter Bedeutung, dass die öffentliche Hand über angemessene Steuereinnahmen verfügt, um den gründen Wandel unterstützen zu können. Gleichzeitig muss die Wirtschaftspolitik einer ungünstigen demografischen Entwicklung mit einer alternden Bevölkerung Rechnung tragen.

2.1.6.

Der Kommissionsvorschlag zur Festlegung eines Aktionsplans für eine effizientere und fairere Besteuerung gliedert sich in drei verschiedene Teile. Der erste ist eine Mitteilung mit Maßnahmen zum Abbau von Hindernissen für die Besteuerung von Unternehmen im Binnenmarkt. Insbesondere strebt die Kommission eine Steuervereinfachung als Instrument zur Verbesserung des Geschäftsumfelds an. Der zweite ist ein Legislativvorschlag zur Änderung der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden durch einen automatischen Informationsaustausch zwischen Steuerverwaltungen. Damit soll eine angemessene Besteuerung von Einkünften, die von Verkäufern auf digitalen Plattformen erzielt werden, ermöglicht werden. Drittens hat die Kommission eine Mitteilung über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus veröffentlicht, um solches Handeln in Ländern und Gebieten inner- und außerhalb der Union zu verbessern.

2.1.7.

Die Kommission weist darauf hin, dass der Aktionsplan Teil eines breiter angelegten und ehrgeizigeren Steuerprogramms für die EU ist, das in naher Zukunft Initiativen zu folgenden Bereichen beinhalten wird: i) Umweltsteuern, ii) eine Reform der Körperschaftsbesteuerung zum Zweck einer Anpassung der Besteuerungsrechte an die Wertschöpfung und die Festlegung einer effektiven Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen, iii) eine Empfehlung, dass die Mitgliedstaaten ihre finanzielle Unterstützung für Unternehmen in der EU davon abhängig machen, dass keine Verbindungen zwischen diesen Unternehmen und den auf der Liste der Europäischen Union aufgeführten nicht kooperativen Ländern und Gebieten (11) bestehen, und iv) die Prüfung, wie Vorschläge zur Besteuerung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Artikel 116 AEUV erlassen werden können.

2.1.8.

Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen dargelegt, welche Maßnahmen seiner Ansicht nach notwendig sind, um den Binnenmarkt effizienter zu gestalten, die Eigenmittel der EU zu erhöhen und eine Debatte zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Steuerfragen anzustoßen. Der EWSA fordert nun, die Kommissionsvorschläge zum Paket für eine faire und einfache Besteuerung schnellstmöglich zu behandeln.

2.2.   Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung

2.2.1.

In ihrer Mitteilung zur Steuervereinfachung legt die Kommission einen neuen Ansatz dar, der Maßnahmen gegen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung mit Initiativen zur Vereinfachung des Lebens der Steuerzahler kombiniert. Der Plan umfasst 25 Maßnahmen, die in den kommenden Jahren bis 2024 nach und nach umgesetzt werden sollen (12).

2.2.2.

Konkrete Maßnahmen sind im Hinblick auf Registrierungspflichten (Identifikation und Mehrwertsteuer-Registrierung) geplant. Eine wirksame und effiziente Registrierung wird als entscheidend angesehen, um sicherzustellen, dass die Steuerpflichtigen ihren gerechten Beitrag zum Steueraufkommen leisten. Daher unterstützt die Kommission verschiedene Maßnahmen, damit die Datenbanken mit den Daten der Steuerpflichtigen reibungslos funktionieren und stets auf dem neuesten Stand sind. Auch ein geringer Aufwand bei der Registrierung wird als wichtig erachtet, vor allem für den Wechsel von Steuerpflichtigen in einen anderen Mitgliedstaat.

2.2.3.

Ein weiteres Bündel von Maßnahmen ist im Zusammenhang mit den Meldepflichten geplant. Die Meldung durch die Steuerpflichtigen sollte möglichst effizient sein und auf der gegenseitigen Zusammenarbeit mit den Steuerverwaltungen basieren. Die Steuererklärungen sollten einfach gehalten sein, und die erforderlichen Angaben sollten sich auf ein Mindestmaß beschränken und mittels unkomplizierter Verfahren über eine digitale einzige Anlaufstelle verarbeitet werden. Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie haben viele Mitgliedstaaten einige Zahlungsregelungen für die Mehrwertsteuer vereinfacht.

2.2.4.

Es werden noch weitere Maßnahmen erwartet, die die Entrichtung von Steuern erleichtern sollen, insbesondere, indem den Steuerpflichtigen elektronische Zahlungsverfahren, wie etwa Smartphone-Anwendungen, zur Verfügung gestellt werden (13). Der geschuldete Steuerbetrag sollte von Anfang an korrekt sein, um aufwendige Erstattungsverfahren möglichst zu vermeiden. Wenn Erstattungen erwartet werden, sollten die Steuerverwaltungen diese zügig bearbeiten, um Liquiditätsprobleme für die Steuerpflichtigen zu vermeiden.

2.2.5.

Neben der wirksamen Streitbeilegung ist die Schaffung von Rechtssicherheit für die Steuerpflichtigen ein vorrangiges Ziel des Aktionsplans der Kommission. Streitigkeiten sollten vermieden werden oder, wenn sie auftreten, zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Rechtssysteme und des Unionsrechts rasch beigelegt werden.

2.2.6.

Die Kommission erachtet es für wichtig, dass eventuelle Missverständnisse ausgeräumt oder geklärt werden können, um die Eskalation von Streitigkeiten zu vermeiden. Daher wird die Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten im Verbund mit der zügigen Beilegung noch offener Fälle unterstützt, um sowohl für die Steuerpflichtigen als auch für die Steuerverwaltungen Zeit und Geld zu sparen. Einige Interessenträger haben sich bereits für ein stärkeres Eingreifen auf EU-Ebene zur Vermeidung und Beilegung von Streitigkeiten ausgesprochen (14).

2.3.   Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Finanzbehörden

2.3.1.

In den vergangenen Jahren hat sich die EU vor allem auf die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung sowie auf die Erhöhung der Transparenz durch eine angemessene Zusammenarbeit der Steuerverwaltungen konzentriert. Beim Informationsaustausch sind erhebliche Fortschritte erzielt worden. Allerdings wird im Kommissionvorschlag betont, dass bei den geltenden Bestimmungen noch Verbesserungsbedarf besteht.

2.3.2.

Insbesondere möchte die Kommission die Herausforderungen der Digitalisierung der Wirtschaft vor allem mit Blick auf digitale Plattformen besser bewältigen, deren Nutzung die Rückverfolgbarkeit und Erkennung von Steuertatbeständen durch die Steuerbehörden erschwert (15). Dieses Problem verschärft sich noch, wenn entsprechende Transaktionen im Zuge der Nutzung digitaler Plattformen durchgeführt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Hoheitsgebiet außerhalb der EU ansässig sind (16).

2.3.3.

Die Vertreter von Betreibern digitaler Plattformen sind sich weitgehend einig über die Vorzüge eines homogenen EU-Rechtsrahmens für die Erfassung von Informationen von Plattformen und über die möglichen Vorteile einer Lösung ähnlich der einzigen Mehrwertsteueranlaufstelle.

2.3.4.

Hinsichtlich der Frage des Informationsaustauschs auf Ersuchen konzentriert sich der Kommissionsvorschlag auf das Konzept der voraussichtlichen Erheblichkeit. Artikel 5a enthält eine Definition des Standards der voraussichtlichen Erheblichkeit, der bei einem Informationsersuchen Anwendung findet, in der die von der beteiligten Behörde zu beachtenden Standard- und Verfahrensvorschriften festgelegt werden. Das Informationsersuchen kann sich auf einen oder mehrere Steuerpflichtige beziehen, solange diese einzeln ausgewiesen sind. Der Standard der voraussichtlichen Erheblichkeit soll keine Anwendung finden, wenn ein Informationsersuchen infolge des Austauschs über einen grenzüberschreitenden Vorbescheid oder eine Vorabverständigung über die Verrechnungspreisgestaltung übermittelt wird.

2.3.5.

Vor einem Informationsersuchen ist die Steuerbehörde verpflichtet, alle üblichen Informationsquellen auszuschöpfen, die sie zur Erlangung der erbetenen Informationen genutzt haben könnte, und alle verfügbaren Mittel zu nutzen. Würde die ersuchende Behörde dabei jedoch mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten konfrontiert werden und Gefahr laufen, die Erreichung ihrer Ziele zu gefährden, gilt diese Verpflichtung nicht. Ist die ersuchende Behörde dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, kann die ersuchte Behörde die Übermittlung der Informationen ablehnen.

2.3.6.

In Abschnitt IIa wird ein Rechtsrahmen für die Durchführung gemeinsamer Prüfungen festgelegt. Eine gemeinsame Prüfung wird definiert als eine behördliche Ermittlung, die gemeinsam von den zuständigen Behörden von zwei oder mehr Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Die zuständigen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten handeln koordiniert, im Einklang mit ihren Rechtssystemen, um einen Fall im Zusammenhang mit einer oder mehreren Personen von gemeinsamem oder ergänzendem Interesse für ihren jeweiligen Mitgliedstaat zu prüfen.

2.4.   Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus

2.4.1.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich beginnt mit der Feststellung, dass eine faire Besteuerung für das Wirtschafts- und Sozialmodell der EU von zentraler Bedeutung ist und dass verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich die Grundlage für eine faire Besteuerung und nachhaltige Einnahmen zur Stützung dieses Modells bildet (17). Die Mitteilung enthält Vorschläge zur i) Reform des Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, ii) Überprüfung der EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete und iii) Förderung eines verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich auf internationaler Ebene.

2.4.2.

Seit seiner Festlegung im Jahr 1997 ist der Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung (im Folgenden „der Kodex“) (18) das wichtigste Instrument der EU zur Vermeidung von schädlichem Steuerwettbewerb; er umfasst Grundsätze für einen fairen Steuerwettbewerb und für die Entscheidung, ob eine Steuerregelung schädlich ist oder nicht (19).

2.4.3.

Trotz seiner Errungenschaften muss der Kodex modernisiert werden. Art und Form des Steuerwettbewerbs haben sich in den letzten Jahren aufgrund von Globalisierung, Digitalisierung, der wachsenden Rolle multinationaler Unternehmen in der Weltwirtschaft und komplexen Anreizsystemen, die in einigen Mitgliedstaaten eingeführt wurden, wesentlich geändert.

2.4.4.

Konkret will die Kommission den Geltungsbereich des Kodex erweitern, um alle Maßnahmen abzudecken, die die Gefahr unlauteren Steuerwettbewerbs bergen. Zudem sollte der Kodex auch aktualisiert werden, um sicherzustellen, dass möglichst viele Fälle von sehr niedriger Besteuerung gebührend geprüft werden, und zwar innerhalb und außerhalb der EU.

2.4.5.

Die im Kodex festgelegten Grundsätze zählen zu den Kriterien, die für die Beurteilung von Drittländern im Rahmen der Aufstellung der EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete verwendet werden. Die Kommission beabsichtigt, den geografischen Anwendungsbereich der EU-Liste zu überprüfen und hierzu das ursprüngliche Scoreboard zu aktualisieren, das für die Auswahl der vordringlich zu überprüfenden Länder und Gebiete verwendet wurde.

2.4.6.

Bei den Überlegungen zum geografischen Anwendungsbereich der EU-Liste werden auch die Kriterien betrachtet, die die ausgewählten Länder und Gebiete erfüllen müssen. Ein Land oder Gebiet, das aktuell in den Anwendungsbereich der EU-Liste fällt, von der Liste zu entfernen, würde die Wettbewerbsgleichheit beeinträchtigen und die überaus positive Arbeit untergraben, die die meisten dieser Länder und Gebiete bereits geleistet haben. Es sollte jedoch überlegt werden, ob die Kriterien für die Aufnahme in die EU-Liste im Falle bestimmter Länder und Gebiete gezielter angewendet werden könnten.

2.4.7.

Im Dialog mit Drittländern — und im Einklang mit dem in der EU verfolgten Ansatz — wird die Kommission außerdem den Schwerpunkt auf Umweltziele sowie auf das Verursacherprinzip legen, das ein Einpreisen der negativen externen Effekte auf die Umwelt verlangt. Laut Kommissionsmitteilung besitzen Umweltsteuern ein bislang wenig erforschtes Potenzial, zu einer nachhaltigen Entwicklung weltweit und gerechteren Gesellschaften in Entwicklungsländern beizutragen. Die Zusammenarbeit zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft insgesamt könnte zu einer Sensibilisierung in diesem Bereich beitragen.

2.4.8.

Angesichts der derzeitigen Anwendung einer rechtlich verbindlichen Verknüpfung zwischen den Standards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich und dem Einsatz von EU-Mitteln vertritt die Kommission die Auffassung, dass diese Mittel viel wirksamer zur Stärkung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich eingesetzt werden könnten (20). Diesbezüglich fordert die Kommission die Mitgliedstaaten zudem auf, die Anforderungen der EU in ihren nationalen Förderstrategien sowie in den Befolgungsvorschriften ihren Förderbanken und Entwicklungsagenturen widerzuspiegeln.

2.4.9.

Die Kommission empfiehlt ferner den Mitgliedstaaten, ihre finanzielle Unterstützung davon abhängig zu machen, dass keine Verbindungen zwischen den begünstigten Unternehmen und den in die Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke aufgenommenen Ländern bzw. Gebieten bestehen. Die Kommission fügt allerdings hinzu, dass für Unternehmen, die in den Ländern und Gebieten auf der Liste über eine substantielle wirtschaftliche Präsenz verfügen (die mit personellen Ressourcen, Ausstattung, Vermögenswerten und Räumlichkeiten einhergeht), eine Ausnahmeregelung möglich sein sollte. Bei den Anstrengungen der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet muss kohärent die Notwendigkeit berücksichtigt werden, die internationale Steuergerechtigkeit sicherzustellen.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.   Aktionsplan für eine faire und einfache Besteuerung

3.1.1.

Der EWSA befürwortet die Legislativvorschläge der Kommission und begrüßt deren Abstimmung mit den Beratungen, die global auf Ebene des inklusiven Rahmens der OECD geführt werden, um einen weltweiten Konsens zu erreichen (21). Er verweist insbesondere auf die dringende Notwendigkeit, wegen der rasch voranschreitenden Digitalisierung der Wirtschaft und der erforderlichen wirksamen Bekämpfung von Steuervermeidung eine Einigung über einheitliche Regeln für die Zuordnung von zu versteuernden Gewinnen zwischen Ländern im inklusiven Rahmen der OECD zu erzielen.

3.1.2.

Der EWSA begrüßt ebenfalls den von der Kommission gewählten regulatorischen Ansatz für die Entwicklung ihrer Vorschläge und für alle in Rede stehenden Rechtsvorschriften. Ziel ist es, die allgemeine Effizienz der Steuersysteme zu verbessern, sodass sie gerechte Systeme werden, die die für die Gestaltung der öffentlichen Politik erforderlichen Einkünfte erbringen und gleichzeitig Beschäftigungs- und Wachstumsmöglichkeiten schaffen.

3.1.3.

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass Steuerbetrug und Steuerhinterziehung weiter eine Bedrohung für die öffentlichen Finanzen darstellen, vor allem in Krisenzeiten, wie die in den Vorschlägen angeführten neuesten Schätzungen deutlich zeigen. Laut Kommission beläuft sich der Verlust an Einnahmen in der EU aufgrund internationaler Steuerhinterziehung durch Privatpersonen — in Bezug auf Einkommen-, Kapitalertrag-, Vermögen- und Erbschaftsteuer — für 2016 auf 46 Mrd. EUR. Die Mehrwertsteuerlücke hingegen wird auf ca. 140 Mrd. EUR geschätzt, wovon ca. 50 Mrd. EUR mit grenzüberschreitenden Betrugsfällen in Verbindung stehen (22). Einzelne Mitgliedstaaten müssen maßgebliche Schritte unternehmen, um das Problem ihrer nationalen Mehrwertsteuerlücke zu lösen.

3.1.4.

Der EWSA begrüßt, dass sich die geschätzte Lücke aufgrund von Steuervermeidung bei der Körperschaftsteuer gegenüber früheren Schätzungen der Kommission von 50 bis 70 Mrd. EUR auf ca. 35 Mrd. EUR pro Jahr verringert hat, und dass die Kommission den Zusammenhang zwischen dieser Verbesserung und den legislativen Anstrengungen der vorherigen Kommission zur Steuervermeidung (über zwanzig Steuerrichtlinien in fünf Jahren) untersucht hat. (23)

3.1.5.

Um Privatpersonen und Unternehmen in den schwierigen Zeiten aufgrund der COVID-19-Krise uneingeschränkt zu unterstützen, fordert der EWSA die Kommission auf, die Senkung der mit steuerlichen Verpflichtungen verbundenen Befolgungskosten weiter zu verfolgen. Die Befolgungskosten im Steuerbereich machen bei großen Unternehmen schätzungsweise ca. 2 % und bei KMU rund 30 % der gezahlten Steuern aus.

3.1.6.

Angesichts der derzeit bestehenden Komplexität aufgrund von 27 unterschiedlichen Steuersystemen und der Schwierigkeiten, die eine solche Vielzahl von Modellen für grenzüberschreitend aktive Unternehmen und Privatpersonen mit sich bringt, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, die steuerrechtlichen Anzeigepflichten zu harmonisieren und die Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden zu verbessern. Im Zuge der verlängerten und erweiterten Arbeit der Gruppe „Verhaltenskodex“ müssen schädliche steuerliche Maßnahmen beseitigt und — im Verbund mit legislativen Reformen — Wettbewerbsgleichheit geschaffen werden, um ein ausreichendes Niveau steuerlicher Konvergenz zu erreichen und unfairen Steuerwettbewerb zu vermeiden.

3.1.7.

Die von der Kommission geplanten 25 Maßnahmen erscheinen sinnvoll, der EWSA befürwortet sie voll und ganz. Die meisten betreffen die MwSt, was auf die hohen Einnahmeverluste in diesem Bereich zurückzuführen sein dürfte. Die Maßnahmen werden allerdings nur knapp beschrieben. Daher ist es momentan schwierig, die konkreten Auswirkungen solcher Maßnahmen auf den Alltag der europäischen Bürger und Unternehmen konkret zu bewerten. Die Mitgliedstaaten müssen entschlossen handeln, um ihre nationalen Vorschriften durchzusetzen, nationale MwSt-Probleme anzugehen und gleichzeitig enger grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten.

3.1.8.

Die Annahme einer einheitlichen MwSt-Registrierung durch eine weitere Ausweitung des Anwendungsbereichs der einzigen Anlaufstelle — analog zum Paket für den elektronischen Geschäftsverkehr — ist sehr zu begrüßen. Wenngleich keine näheren Angaben zu den zu erfassenden Sektoren gemacht werden, kann eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der einzigen Anlaufstelle auf Artikel 36 bis 39 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates (24) („Mehrwertsteuerrichtlinie“) bezüglich der B2C-Lieferungen von Gegenständen als sehr bedeutsamer Fortschritt angesehen werden. So könnte z. B. eine Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der einzigen Anlaufstelle auf die grenzüberschreitende Lieferung von Gas, Elektrizität, Wärme oder Kälte (Artikel 39 der Mehrwertsteuerrichtlinie) auch den EU-Energiemarkt vertiefen und die Energiewende unterstützen.

3.1.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Modernisierung und Harmonisierung der Mehrwertsteuermeldepflichten durch verstärkte Nutzung einer umsatzbasierten Meldung („in Echtzeit“) und der elektronischen Rechnungsstellung. Eine umsatzbasierte Meldung ermöglicht den Steuerverwaltungen einen vollständigen Überblick über die verschiedenen Lieferketten in Echtzeit und führt so zu gezielteren Prüfungen und einer wesentlich früheren Entdeckung von Betrug und potenziell risikobehafteten Marktteilnehmern. Die Berichtspflichten müssen jedoch leicht einzuhalten sein und dürfen nicht — vor allem nicht für KMU — zu hohen Verwaltungskosten oder kostspieligen Investitionsausgaben führen (25). Ebenso könnte die elektronische Rechnungsstellung durch eine stärkere Nutzung und harmonisierte Norm zur Senkung der Lagerungs- und Befolgungskosten und zur besseren Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug führen.

3.1.10.

Der EWSA begrüßt ferner, dass überprüft wird, ob auf Finanzdienstleistungen Mehrwertsteuer erhoben werden sollte. Für viele Unternehmen sind damit zusätzliche Kosten verbunden, da einige Unternehmen oder Finanzinstitute nicht mehrwertsteuerpflichtig sind. Zudem können befreite Unternehmen keinen Vorsteuerabzug geltend machen, solange auf den geschaffenen Mehrwert keine Mehrwertsteuer erhoben wird. Dies ist eine komplexe Angelegenheit, und der EWSA erwartet, dass umfassende Folgenabschätzungen durchgeführt werden. Der EWSA weist darauf hin, dass ein Anstieg der Mehrwertsteuereinnahmen auch positive Auswirkungen für den EU-Haushalt hätte.

3.1.11.

Der EWSA stellt fest, dass die Mitgliedstaaten die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft nutzen können, um gegen Mehrwertsteuerbetrug vorzugehen. Diese Möglichkeit wurde zur Bekämpfung des Mehrwertsteuer-Karussellbetrugs genutzt. Der EWSA fordert die Kommission auf zu bewerten, welche Methode bei der Bekämpfung von Karussellbetrug am wirksamsten und mit dem geringsten Verwaltungsaufwand verbunden ist.

3.1.12.

Die Steuerverwaltungen sind darauf angewiesen, dass ihnen die Steuerpflichtigen korrekte Informationen übermitteln. Einige Mitgliedstaaten haben „Cooperative Compliance“-Systeme eingerichtet, um dieses Zusammenwirken aufzuwerten. Leider funktionieren diese Systeme derzeit nur auf nationaler Ebene. Vor diesem Hintergrund unterstützt der EWSA die Initiative der Kommission für einen EU-Kooperationsrahmen zur Steuerehrlichkeit, der auf mehr Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Steuerverwaltungen basiert, um grenzübergreifende Fragen im Bereich der Körperschaftsteuer zu lösen. KMU müssen in diesem Rahmen genauso behandelt werden wie größere Unternehmen.

3.1.13.

Allerdings ist noch unklar, wie dieser „Cooperative Compliance“-Rahmen der EU in der Praxis funktionieren wird, und der EWSA ist bereit, entsprechende Entwicklungen zu bewerten und während des Entwicklungs- und Umsetzungsprozesses einen konstruktiven Beitrag zu leisten.

3.1.14.

Eine erste Bewertung zeigt, dass der von der Kommission geplante präventive Dialog eine sinnvolle und positive Entwicklung ist, die außerdem von der Wirtschaft schon seit Langem gefordert wird. Ein harmonisierter Ansatz mehrerer Mitgliedstaaten wäre sehr zu begrüßen, auch wenn noch zu untersuchen wäre, wie er sich, ausgehend vom gegenwärtigen heterogenen regulatorischen Szenario, konkret umsetzen ließe (26).

3.1.15.

Die Frage der Steuererstattung ist immer wichtig, vor allem aber in der jetzigen Krise, die sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmen ein hohes Risiko für Liquiditätsengpässe mit sich bringt. Während der COVID-19-Pandemie haben mehrere Länder Mehrwertsteuerrückzahlungen und Erstattungen im Allgemeinen schneller abgewickelt, um sicherzustellen, dass die Unternehmen über genügend Liquidität verfügen, um eine unvorhergesehene und destabilisierende wirtschaftliche Lage zu bewältigen.

3.1.16.

Da einige Unternehmen bereits unter Liquiditätsproblemen leiden, werden Rechnungen möglicherweise verspätet oder gar nicht bezahlt. Dies hätte zur Folge, dass Unternehmen, die auf ihren Rechnungen Mehrwertsteuer ausgewiesen haben, diesen Betrag bei den Steuerbehörden im relevanten Mehrwertsteuererklärungszeitraum einreichen müssen, ohne Mehrwertsteuer erhalten zu haben (sogenannte „uneinbringliche Forderungen“). Vor diesem Hintergrund fordert der EWSA die Kommission außerdem dringend auf zu prüfen, wie ein einfacherer, besser harmonisierter Mechanismus für einen Nachlass wegen Mehrwertsteuer-Forderungsausfalls auf den Weg gebracht werden kann. Mit diesem Mechanismus sollte sichergestellt werden, dass Unternehmen Mehrwertsteuer, die sie bei ihren Kunden nicht einziehen können, aber bereits an die Steuerbehörden gezahlt haben, bei den Steuerbehörden zügig und zeitnah zurückfordern können.

3.1.17.

Der EWSA fordert die nationalen Steuerverwaltungen auf, mit dieser zügigen Abwicklung von Erstattungen sowohl bei direkten als auch bei indirekten Steuern fortzufahren; er empfiehlt ein europaweit harmonisiertes Verwaltungsverfahren und weist darauf hin, dass ein gemeinsames System der Quellensteuer für grenzüberschreitende Wertpapieranlagen ein erster Fortschritt wäre.

3.1.18.

Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und damit zusammenhängende Straftaten werden von den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Reihe strafrechtlicher Bestimmungen verfolgt. In vielen Fällen haben diese Steuerstraftaten jedoch eine transnationale Dimension. Nach Ansicht des Ausschusses ist es wichtig, diesen Aspekt sowie die Sanktionsstruktur zu berücksichtigen, vor allem bei gemeinsamen Prüfungen von Mitgliedstaaten. Die Auswirkungen unterschiedlicher Sanktionen in den Mitgliedstaaten sollten untersucht werden.

3.1.19.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission für eine Empfehlung zu den Rechten der Steuerpflichtigen im Binnenmarkt. Um die Beziehungen zwischen Steuerpflichtigen und Steuerverwaltungen EU-weit zu vereinfachen und dadurch das Steuerbewusstsein der Bürger zu stärken und die Erhebung von Einnahmen zu verbessern, sollten die Mitgliedstaaten einen Überblick über bewährte Verfahren der Vereinfachung und Digitalisierung im Steuerbereich erhalten. Der EWSA betrachtet dies als gutes Beispiel für eine Initiative, die nicht auf zwingendem Recht beruht.

3.2.   Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Finanzbehörden

3.2.1.

Der EWSA unterstützt die Entscheidung der Kommission, legislative Maßnahmen durchzuführen, um die Zusammenarbeit zwischen Steuerbehörden zu verbessern und die Harmonisierung von Verfahrensregeln im gesamten Binnenmarkt zu steigern.

3.2.2.

Der Vorschlag steht voll und ganz im Einklang mit dem in Artikel 5 AEUV verankerten Subsidiaritätsprinzip, denn er sieht ein Eingreifen des europäischen Gesetzgebers zur Klärung von Fragen vor, die von den Mitgliedstaaten nicht angemessen geregelt werden können.

3.2.3.

Der EWSA unterstützt die Absicht, die Kompetenzen des Eurofisc-Netzwerks zu stärken, damit es zu einem Referenzzentrum für grenzüberschreitende Steuerstraftaten wird.

3.2.4.

Die Anwendung geltender Bestimmungen der Richtlinie hat gezeigt, dass erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. Denn einige Mitgliedstaaten sind bereit, umfassend zu kooperieren und Informationen auszutauschen, während andere einen restriktiven Ansatz verfolgen oder einen Austausch sogar ablehnen.

3.2.5.

Der EWSA unterstützt ebenfalls das Bemühen um verstärkte Transparenz digitaler Plattformen, um inkonsequente Einkommensangaben zu verhindern, die ein hohes Risiko für Steuerhinterziehungen bergen. Zwar haben einige Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtssystemen eine Meldepflicht eingeführt, doch die Erfahrung zeigt, dass nationale Bestimmungen gegen Steuerhinterziehung vor allem im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Aktivitäten nicht immer voll wirksam sind. Rechtssicherheit und Klarheit können deshalb durch einheitliche, für alle Mitgliedstaaten geltende Meldepflichten und Steuerformulare erreicht werden.

3.2.6.

Der EWSA begrüßt außerdem die Verhältnismäßigkeit des Kommissionsvorschlags in Bezug auf die Verfahren der Zusammenarbeit zwischen nationalen Steuerbehörden. Denn die vorgelegten Änderungen gehen offenbar nicht über das hinaus, was zu Erreichung des Ziels eines wirksameren Informationsaustauschs und einer besseren Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden notwendig ist.

3.2.7.

Das System der Sanktionen für Plattformbetreiber, die sich nicht an ihre Meldepflichten halten, im Sinne von Artikel 25a des Vorschlags für die Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (DAC 7) muss in allen Staaten möglichst einheitlich angewendet werden, damit seine Wirksamkeit auch bei nationaler Zuständigkeit sichergestellt ist.

3.2.8.

Da die festgestellten Verzerrungen durch Plattformbetreiber, die sich auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, über die Grenzen einzelner Mitgliedstaaten hinausgehen, stellen die gemeinsamen Vorschriften der EU den geringstmöglichen Eingriff dar, der für eine wirksame Bekämpfung der Probleme notwendig ist. Daher fordert der EWSA die Kommission auf, ihre Rolle und die Zusammenarbeit innerhalb der OECD bei der Digitalisierung der Wirtschaft weiterzuentwickeln, um für die Lösung globaler Fragen einen gemeinsamen internationalen Ansatz der Steuerverwaltungen zu erreichen.

3.2.9.

Laut Artikel 12a Absatz 6 wird die gemeinsame Prüfung gemäß den Verfahrensmodalitäten durchgeführt, die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem die Prüfungsmaßnahmen stattfinden. Die während der gemeinsamen Prüfung erhobenen Beweismittel werden von allen zuständigen Behörden der teilnehmenden Mitgliedstaaten gegenseitig anerkannt.

3.2.10.

Der EWSA unterstreicht, dass gemeinsame Prüfungen, die grundsätzlich ein nützliches und sehr wirksames Instrument sind, unter Wahrung der Grundrechte von Steuerzahlern und konsequenter Beachtung der Grundsätze der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (27) in Bezug auf die Verteidigungsrechte und die Vorhersehbarkeit sowohl der sie betreffenden verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften als auch der Erhebung von Beweismitteln durch die ermittelnden Steuerbehörden im Hinblick auf mögliche Sanktionen durchzuführen sind.

3.2.11.

Insbesondere ist der Umfang der von den Steuerverwaltungen auszutauschenden und zu übermittelnden Daten im Einklang mit den Verpflichtungen gemäß DSGVO (28), die streng ausgelegt und angewendet werden sollten, so festzulegen, dass nur solche Daten erfasst werden, die für die Aufdeckung von Verstößen durch zu niedrige Angaben oder Nichtmeldungen mindestens erforderlich sind. Alle etwaigen negativen Auswirkungen auf personenbezogene Daten sollten durch geeignete IT- und verfahrensbezogene Maßnahmen insbesondere hinsichtlich ihrer Erfassung, Verarbeitung und anschließenden Aufbewahrung möglichst gering gehalten werden.

3.2.12.

Der EWSA betont, dass die Verwendung von Gruppenersuchen gemäß DSGVO-Vorschriften gut begründet sein und sorgfältig ausgeführt werden muss, damit die Rechte natürlicher und juristischer Personen nicht verletzt werden und es nicht zu Beweisausforschungen („fishing expeditions“) kommt.

3.2.13.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bewertung der Wirksamkeit früherer Richtlinien über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden fortzuführen (29).

3.3.   Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus

3.3.1.

Der EWSA stimmt dem Ansatz der Kommission zu, demzufolge ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich — die Grundlage für eine faire Besteuerung — Steuertransparenz durch den Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, das Vermeiden unfairen Steuerwettbewerbs, den Verzicht auf schädliche steuerliche Maßnahmen und die Umsetzung international vereinbarter Regelungen erfordert. Er stimmt auch dem Europäischen Parlament zu, dass die EU entschlossen gegen schädlichen Steuerwettbewerb und aggressive Steuerplanung, insbesondere in Steueroasen vorgehen sollte.

3.3.2.

Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission für eine Überprüfung des Verhaltenskodex. Er begrüßt, dass im Kommissionsvorschlag die Arbeit der OECD und die Bedeutung der Einbeziehung international vereinbarter Standards gebührend berücksichtigt werden, insbesondere im Hinblick auf allgemeine Grundsätze, die zu einem effektiven Mindestkörperschaftsteuersatz führen.

3.3.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass das Ergebnis und die Errungenschaften des Verhaltenskodex regelmäßiger aktualisiert werden und für die Zivilgesellschaft öffentlich zugänglich sein sollten. Dies entspricht auch dem Ziel der Kommission, für mehr Transparenz hinsichtlich der konkreten Aktivität und Ergebnisse des Kodex zu sorgen.

3.3.4.

Mit dem Ansatz der Kommission wird anerkannt, dass der Steuerwettbewerb nicht per se problematisch ist (30). Gleichzeitig haben die Kommission und das Europäische Parlament jedoch wiederholt die Sorge über einen unfairen Steuerwettbewerb innerhalb der EU geäußert, der Steuervermeidung fördert. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass viel Arbeit nötig ist, um dieses komplizierte Problem zu lösen. Er hat kürzlich eine Stellungnahme (31) angenommen, in der er einen Europäischen Pakt zur wirksamen Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Geldwäsche vorschlägt. Der EWSA hat die Europäische Kommission aufgefordert, eine politische Initiative unter Einbeziehung der nationalen Regierungen und der anderen EU-Institutionen anzustoßen, um dieses Ziel zu erreichen, den notwendigen Konsens zu fördern und die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sollte die tragende Säule des Paktes sein.

3.3.5.

Die Entscheidung, den Geltungsbereich des Verhaltenskodex der EU auf andere Maßnahmen, die den Steuerwettbewerb beeinträchtigen, auszuweiten, wird vom EWSA ebenfalls unterstützt. Eine Aktualisierung, um sicherzustellen, dass Regelungen geprüft werden, die innerhalb oder außerhalb der EU dazu führen, dass nur eine sehr niedrige oder gar keine Besteuerung erfolgt, ist überfällig. Allerdings ist der Kodex ein nicht verbindliches Instrument, das alle Fragen abdecken muss, die nicht durch europäische Rechtsvorschriften geregelt werden.

3.3.6.

Nach Einschätzung der Kommission muss zudem Drittländern das Verfahren zur Aufstellung der Liste besser erläutert werden, um transparenter darzustellen, warum ein Land oder Gebiet auf die Liste gesetzt wird oder nicht. Eine stärkere Harmonisierung der von den EU-Mitgliedstaaten angenommenen Normen und eine bessere Koordinierung zwischen nationalen Listen und der EU-Liste wären sinnvoll, denn die EU und einige Mitgliedstaaten befolgen unterschiedliche Normen, was zu Verwechslungen führen kann.

3.3.7.

Die Kommission bewertet auch die seit 2017 bestehende sogenannte schwarze Liste für Steueroasen und hat weltweit Hunderte von schädlichen Steuerregelungen geprüft. Viele auf der Liste stehende Länder und Gebiete haben sich gegenüber dem Rat verpflichtet, Bedenken wegen eines unfairen Steuerwettbewerbs und eingeschränkter Transparenz auszuräumen. Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die Liste nun überprüft und ermittelt werden muss, wie sie in Anbetracht der neuen Herausforderungen einer globalen und digitalisierten Wirtschaft wirksamer und fairer sein kann. Der EWSA befürwortet auch das Kriterium der Kommission, Hoheitsgebieten mit geringen Risiken und Kapazitätsengpässen die Gelegenheit zu geben, ihre Standards für verantwortungsvolles Handeln und Transparenz im Steuerbereich innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu verbessern, wenn sie auf der Liste stehen oder auf die Liste gesetzt werden könnten.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  „Er [der Verhaltenskodex] beruht auf der Prämisse, dass der Steuerwettbewerb zwischen Ländern zwar nicht per se problematisch ist, es aber gemeinsame Grundsätze geben muss, um zu regeln, inwieweit die Länder Steuerregelungen und Steuerpolitik dafür einsetzen dürfen, Unternehmen und Gewinne anzuziehen. Dies ist besonders wichtig in einem Binnenmarkt, in dem die in den Verträgen niedergelegten Freiheiten die Mobilität von Gewinnen und Investitionen steigern.“ (COM(2020) 313 final, S. 3).

(2)  Siehe auch „Mehrwertsteuerlücke: Den EU-Mitgliedstaaten sind 2018 MwSt-Einnahmen in Höhe von 140 Mrd. EUR entgangen — 2020 weiterer Anstieg aufgrund von COVID-19 möglich“ https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_1579.

(3)  COM(2020) 312 final, S. 5. Anderen Schätzungen, z. B. des Europäischen Parlaments, zufolge werden die Verluste aufgrund von Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung auf 190 Mrd. EUR veranschlagt. Auf der Grundlage der umfassenden Arbeit der OECD am Bericht über Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS), Maßnahme 11, beliefen sich die weltweiten Einnahmeverluste, bevor Maßnahmen zur Bekämpfungen der BEPS beschlossen wurden, auf rund 100-240 Mrd. USD oder 0,35 % des weltweiten BIP. Nach Schätzungen der EU-Kommission entfielen hiervon ca. 50-70 Mrd. EUR auf die EU, bevor die Mitgliedstaaten den beiden Richtlinien zur Vermeidung von Steuerhinterziehung zugestimmt haben.

(4)  Die Europäische Kommission hat in ihrer vorherigen fünfjährigen Mandatsperiode 20 wichtige Legislativvorschläge vorgelegt.

(5)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuervermeidung und Geldwäsche“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 6).

(6)  Politische Leitlinien für die künftige Europäische Kommission 2019-2024.

(7)  Siehe COM(2020) 312 final, COM(2020) 313 final und COM(2020) 314 final.

(8)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuervermeidung und Geldwäsche“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 6).

(9)  Siehe COM(2020) 312 final. Siehe auch Stellungnahme des EWSA „Besteuerungsverfahren zur Verringerung der CO2-Emissionen“, (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 21).

(10)  Siehe COM(2019) 640 final.

(11)  Diese Bestimmung betrifft die in Anlage I der einschlägigen Schlussfolgerungen des Rates aufgeführten Länder und Gebiete. Diese Liste wird regelmäßig aktualisiert: https://ec.europa.eu/taxation_customs/tax-common-eu-list_de

(12)  Diese Maßnahmen sind in COM(2020) 312 final aufgeführt.

(13)  Europäische Kommission (2018), Study on tax compliance costs for SMEs (Studie über die Befolgungskosten im Steuerbereich für KMU).

(14)  Antworten auf die öffentliche Konsultation zur Bewertung der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, zusammengefasst in Anhang 2 zu: Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Bewertung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (SWD(2019) 328 final).

(15)  Es wurde die Forderung nach einer Registrierung in jedem Mitgliedstaat erhoben. Dies würde den Verwaltungsaufwand erhöhen und KMU die Expansion in neue Länder und Gebiete erschweren.

(16)  Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, (COM(2020) 314 final).

(17)  Mitteilung „Verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich in der EU und darüber hinaus“ (COM(2020) 313 final).

(18)  Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. Dezember 1997 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung (ABl. C 2 vom 6.1.1998, S. 2).

(19)  Der Standpunkt der Kommission zum schädlichen im Gegensatz zum fairen Steuerwettbewerb kam im Laufe der Zeit auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Bei der Vorlage des Richtlinienentwurfs über die gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage betonte die Kommission, dass ein fairer Steuerwettbewerb auf der Grundlage von Steuersätzen mehr Transparenz biete und gefördert werden müsse (COM(2011) 121/2 final, S. 4). In der 2020 vorgelegten Mitteilung über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich wird der Steuerwettbewerb als solcher nicht als problematisch angesehen, sondern es werden gemeinsame Grundsätze für die Anwendung der Steuerregelungen durch die Mitgliedstaaten als notwendig erachtet (COM(2020) 313 final, S. 3). Es kann davon ausgegangen werden, dass es einen guten Steuerwettbewerb und einen schädlichen, unlauteren Steuerwettbewerb gibt. Die Mitgliedstaaten beschließen zwar Steuerregelungen, sind jedoch verpflichtet, dies in offener und transparenter Weise unter Einhaltung des Vertrags und unter Verzicht auf schädliche und diskriminierende Regelungen zu tun. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen einen gut funktionierenden Binnenmarkt mit einem ausreichenden Maß an Konvergenz auch im Steuerbereich gewährleisten.

(20)  Mehrere Finanzierungsinstrumente verhindern die Finanzierung von Projekten, die zur Steuervermeidung beitragen. Siehe Haushaltsordnung, Europäischer Fonds für nachhaltige Entwicklung (EFSD), Europäischer Fonds für strategische Investitionen (EFSI) und das EIB-Mandat für die Darlehenstätigkeit in Drittländern. Siehe die Mitteilung der Kommission über neue Vorgaben hinsichtlich der Bekämpfung von Steuervermeidung in den EU-Rechtsvorschriften für Finanzierungs- und Investitionstätigkeiten (C(2018) 1756 final vom 21.3.2018).

(21)  Siehe EWSA-Stellungnahmen „Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuervermeidung und Geldwäsche“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 6); „Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft“ (ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 17); und „Besteuerung der Gewinne multinationaler Konzerne in der digitalen Wirtschaft“ (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73).

(22)  Siehe auch „Mehrwertsteuerlücke: Den EU-Mitgliedstaaten sind 2018 MwSt-Einnahmen in Höhe von 140 Mrd. EUR entgangen — 2020 weiterer Anstieg aufgrund von COVID-19 möglich“ https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_1579.

(23)  Anderen Schätzungen, z. B. des Europäischen Parlaments, zufolge werden die Verluste aufgrund von Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung auf 190 Mrd. EUR veranschlagt. Auf der Grundlage der umfassenden Arbeit der OECD am Bericht über Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS), Maßnahme 11, beliefen sich die weltweiten Einnahmeverluste, bevor Maßnahmen zur Bekämpfungen der BEPS beschlossen wurden, auf rund 100-240 Mrd. USD oder 0,35 % des weltweiten BIP. Nach Schätzungen der EU-Kommission entfielen hiervon ca. 50-70 Mrd. EUR auf die EU, bevor die Mitgliedstaaten den beiden Richtlinien zur Vermeidung von Steuerhinterziehung zugestimmt haben.

(24)  Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347 vom 11.12.2006, S. 1).

(25)  Es gibt zahlreiche gute Beispiele dafür, wie Länder ihre MwSt-Lücke verringert haben. Die Reform von 2014 in Estland wurde als ein solches Beispiel genannt.

(26)  Siehe EWSA-Stellungnahme zum Thema „Verbesserung der Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten“ (ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 29).

(27)  Siehe Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 202 vom 7.6.2016, S. 389).

(28)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Bewertung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (SWD(2019) 328 final) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1).

(29)  SWD(2019) 327 final.

(30)  Es liegt auf der Hand, dass die Kommission ebenso wie die OECD zwischen gutem, transparentem Steuerwettbewerb und schädlichem, unlauterem Steuerwettbewerb unterscheidet.

(31)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuervermeidung und Geldwäsche“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 6).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen — neuer Aktionsplan

(COM(2020) 590 final)

(2021/C 155/03)

Berichterstatter:

Pierre BOLLON

Befassung

Europäische Kommission, 11.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

226/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission „Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen — neuer Aktionsplan“. Sie knüpft an die Ergebnisse des ersten Aktionsplans aus dem Jahr 2015 und dessen Halbzeitbilanz 2017 an und ist die dringend notwendige Fortsetzung zu diesen Dokumenten, die der EWSA in seinen Stellungnahmen „Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion“ (1) und „Kapitalmarktunion: Halbzeitbilanz“ (2) unterstützt hatte. Zudem veröffentlichte der Ausschuss in den letzten beiden Jahren mehrere Stellungnahmen zu Themen, die mit der Kapitalmarktunion in engem Zusammenhang stehen, darunter die Initiativstellungnahmen „Eine krisenfestere und nachhaltige europäische Wirtschaft“ (3) und „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ (4).

1.2.

Die ursprünglichen Ziele des Aktionsplans, nämlich in Europa Kapital zu mobilisieren und es in Unternehmen, Infrastruktur und langfristige Projekte zu lenken, um positive Auswirkungen auf die Beschäftigung zu erzielen, sind nach wie vor in vollem Umfang relevant. Diese Ziele sind von höchster Bedeutung, um die EU der 27, ihre Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, bei der Stärkung ihrer finanziellen und wirtschaftlichen geostrategischen Souveränität sowie bei den wichtigen Prozessen des klimapolitischen, gesellschaftlichen und digitalen Wandels entscheidend voranzukommen. Zudem betont der EWSA, dass die Kapitalmarktunion die angestrebten Ziele nur erreichen kann, wenn Finanzstabilität und Verbraucherschutz weiterhin Vorrang haben, damit gravierende negative Auswirkungen auf Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher und die Wirtschaft insgesamt vermieden werden können.

1.3.

Aufgrund der unerwarteten schweren COVID-19-Krise muss der Aktionsplan verstärkt und beschleunigt werden. Europäische Unternehmen jeglicher Größe sahen sich gezwungen, neue Schulden aufzunehmen, und werden in den kommenden Monaten und Jahren ihr Eigenkapital oder ihre Eigenmittel aufstocken müssen, um in die Zukunft investieren und gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen zu können.

1.4.

Die Ende Dezember 2020 erreichte Einigung zum Brexit ist ein weiterer entscheidender Grund dafür, die Kapitalmarktunion mit neuem Elan voranzutreiben. Die Finanzzentren in der EU-27 müssen in der Lage sein, Dienstleistungen anzubieten, die bisher vom Finanzzentrum London erbracht wurden. Es gilt, in den 27 Mitgliedstaaten stark integrierte, funktionale und faire Finanz- und Kapitalmärkte zu entwickeln, wobei nach Auffassung des EWSA ein einheitlicheres Regelwerk erforderlich ist, um sowohl Schlupflöcher als auch Hindernisse zu vermeiden, die zu Größennachteilen führen.

1.5.

Der EWSA begrüßt alle 16 von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen, unterstreicht jedoch, wie wichtig es ist, die Initiativen (mit konkreten Etappenzielen zur Messung der Fortschritte) zu priorisieren und zu koordinieren; er hebt diejenigen hervor, die er für am wichtigsten erachtet und unterbreitet gezielte Ergänzungsvorschläge.

1.6.

Der Ausschuss verweist auf die Bedeutung öffentlicher Mittel, ist aber auch der Auffassung, dass die in Europa im Vergleich zu anderen Regionen hohen Spareinlagen eindeutig besser genutzt werden sollten. Eine allgemeine Grundvoraussetzung für die Erreichung dieses Ziels ist es, die Vermittlung von Finanzwissen an die europäischen Bürgerinnen und Bürger zu verbessern (Maßnahme 7). Der EWSA empfiehlt, bewährte nationale Verfahren und gute Erfahrungen im Bereich der Wissensvermittlung und -rezeption zu ermitteln und zu verbreiten. Zudem sollten seiner Meinung nach alle Interessenträger, einschließlich der Arbeitnehmer- und Verbrauchervertreter, in die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Vermittlung von Finanzwissen in ganz Europa einbezogen werden, so dass solide Schutzvorschriften noch wirksamer gestaltet und Informationsasymmetrien zwischen den Finanzdienstleistern und den Bürgern abgebaut werden. Insbesondere empfiehlt der Ausschuss, dass bei der künftigen Überarbeitung des Rahmens für Schlüsselkompetenzen auch Finanzkenntnisse darin aufgenommen werden.

1.7.

Um die strategische Autonomie der EU in wichtigen Wirtschaftsbereichen und Schlüsselkapazitäten weiterzuentwickeln, stimmt der EWSA dem Ansatz der Kommission zu, technische Maßnahmen vorzuschlagen: (i) Vereinfachung der Notierungsvorschriften für KMU (Maßnahme 2), (ii) Unterstützung grenzüberschreitend tätiger Aktionäre bei einer besseren Ausübung ihrer Rechte (Maßnahme 12), (iii) Verbesserung der grenzübergreifenden Abrechnungsdienste (Maßnahme 13), (iv) Einrichtung eines konsolidierten Nachhandels-Datentickers für Eigenkapitalinstrumente (Maßnahme 14) und gezielte Ausrichtung des InvestEU-Portals (Maßnahme 15). Eine erste weitere positive Maßnahme bestünde darin, dass die Europäische Kommission die Machbarkeit einer ISIN-Kennnummer der Form „.eu“ für europäische Anlagefonds prüft, um deren grenzübergreifende Verfügbarkeit zu steigern.

1.8.

Der EWSA stimmt der Feststellung des Europäischen Rechnungshofs zu, dass die neuen Rechtsvorschriften zur Verbriefung zwar ein Fortschritt sind, den Banken in der Praxis jedoch nicht ermöglicht haben, ihre Kreditvergabekapazität, insbesondere gegenüber KMU, zu steigern. Es gibt also Raum für Verbesserungen (Maßnahme 6), sofern wirksame Kontrollen bestehen, die ein erneutes Entstehen systemischer Risiken verhindern.

1.9.

Im Hinblick auf Kleinanleger ist es wichtig, dass das Subsidiaritätsprinzip berücksichtigt wird, da spezielle Spargewohnheiten tief in nationalen Verhaltensmustern verwurzelt sind. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA der Kommission, bei ihren sehr begrüßenswerten Anstrengungen zur Verbesserung der Qualität der Finanzberatung (Maßnahme 8) die Vorteile der unterschiedlichen Modelle zu berücksichtigen. Dabei sollte sie bedenken, dass die Verfügbarkeit von Beratung sowie vergleichbare und angemessene/aussagekräftige Informationen von entscheidender Bedeutung sind, wenn man die Bürgerinnen und Bürger für Investitionen gewinnen möchte.

1.10.

Bei den Renten wären, — abgesehen vom Paneuropäischen Privaten Pensionsprodukt (PEPP), das ein positives Instrument für Grenzgänger ist und erfolgreich sein wird, sofern leicht umzusetzende Rechtsvorschriften der Stufe 2 verabschiedet werden und die Verbraucher die wesentlichen Merkmale der unter dieser Bezeichnung vertriebenen Produkte verstehen — paneuropäische Universalvorschriften für kapitalgedeckte Modelle zur Ergänzung umlagefinanzierter Modelle nicht förderlich, da die Altersvorsorge fest im einzelstaatlichen Sozialrecht verankert ist. Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission (Maßnahme 9), empfehlenswerte Verfahren zu sammeln, weiterzugeben und zu fördern.

1.11.

Die Energiewende ist zu Recht eine Priorität auf der Agenda der Kommission, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Der EWSA empfiehlt, dass Erwägungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) mit besonderem Schwerpunkt auf dem sozialen Bereich berücksichtigt, jedoch gleichzeitig die wirtschaftliche Erholung sowie der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert werden. Die grüne und die sozialpolitische Agenda sollten für Europa zu einem Wettbewerbsvorteil werden. Als zweite zusätzliche Maßnahme wäre es wichtig, dass Anleger auf zuverlässige ESG-Daten zugreifen und ihre aktuelle Abhängigkeit von Anbietern von Finanzanlagen, Indexanbietern und Ratingagenturen außerhalb der EU verringern können.

1.12.

Nach Auffassung des EWSA sollten die verschiedenen Formen von Investitionen mit sozialen Auswirkungen, insbesondere in der „Sozialwirtschaft“, bei der Kapitalmarktunion in vollem Umfang berücksichtigt werden, um so einen positiven Beitrag zum allgemeinen Interesse und zum Gemeinwohl zu leisten. Die Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF) sollten nachdrücklich unterstützt werden, u. U. durch eine Überarbeitung der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (5), mit der sie geschaffen wurden.

1.13.

Neben den bereits erwähnten Maßnahmen spricht sich der Ausschuss für zwei Prioritäten aus, die, wenn sie im Rahmen dieses Aktionsplans angenommen und in den Mitgliedsstaaten rechtlich umgesetzt werden (hier wäre ein Überwachungsprogramm begrüßenswert), ein sozial und ökologisch verantwortliches europäisches Finanzsystem ermöglichen würden, das seiner Funktion als Schnittstelle zwischen Angebot und Nachfrage wirksamer gerecht werden könnte sowie wettbewerbsfähiger und widerstandsfähiger gegenüber Schocks wäre.

1.14.

Eine erste Priorität ist die Verbesserung der Effizienz der Kapitalmarktunion durch drei zentrale Maßnahmen: (i) die Schaffung des einheitlichen europäischen Zugangspunkts zur Unterstützung von Anlegern unter anderem bei der Auswahl von Emittenten (Maßnahme 1); (ii) die Anwendung eines einheitlichen Regelwerks auf Basis einer genauen Überwachung und unter Vermeidung von Arbitrage und Schlupflöchern, so dass die Größenvorteile den Marktteilnehmern in ganz Europa zugutekommen (kein Finanzzentrum wird eine dominante Stellung haben) (Maßnahme 16); (iii) die Vereinfachung der Verfahren zur Quellensteuererleichterung an der Quelle bei gleichzeitiger Verbesserung ihres Schutzes vor Steuerbetrug (Maßnahme 10).

1.15.

Eine zweite Priorität besteht darin, den Übergang von langfristigen Spareinlagen zu langfristigen Investitionen zu unterstützen. Die hohen Spareinlagen in Europa — die eine Stärke der EU der 27 sind — kommen den Unternehmen bzw. Bürgern nicht ausreichend zugute. Der Ausschuss unterstützt drei zentrale Maßnahmen, um diese Situation zu ändern: (i) durch die Überarbeitung des europäischen langfristigen Investmentfonds (ELTIF) sollte es für institutionelle Anleger und Kleinanleger einfacher werden, ihre Ersparnisse in börsennotierte oder nicht börsennotierte Aktien bzw. Anteile von KMU und Midcap-Unternehmen sowie in Infrastrukturprojekte zu investieren (Maßnahme 3); (ii) im Zuge der geplanten Überarbeitung des Aufsichtsrahmens für Versicherungen ergibt sich die Möglichkeit, die Rolle der Versicherungsgesellschaften auf den Kapitalmärkten zu stärken, indem der Langfristigkeit und Stabilität ihrer Eigenkapitalbeteiligungen besser als bisher Rechnung getragen wird (Maßnahme 4); (iii) die Weiterentwicklung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen wäre ein begrüßenswertes drittes ergänzendes Element im Aktionsplan, wie das Europäische Parlament in seinem von Isabel Benjumea erarbeiteten Initiativbericht von Oktober 2020 klar dargelegt hat. Eine fair umgesetzte generalisierte Kapital- und Gewinnbeteiligung von Mitarbeitern würde nämlich zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Wirtschaftlichkeit beitragen. Der neue Aktionsplan zur Kapitalmarktunion könnte die Möglichkeit bieten, solche Programme in Übereinstimmung mit der Sozialagenda entsprechend zu fördern.

1.16.

Schließlich empfiehlt der EWSA, dass zu jeder neuen Regelung im Zusammenhang mit der Schaffung der Kapitalmarktunion mit Blick auf die politischen Erfolge neben den erforderlichen „herkömmlichen“ Testfragen („Ist sie gut für den Aufbau eines Binnenmarkts?“ und „Schützt sie die Verbraucher in Europa?“) vier weitere Fragen gestellt werden:

„Hat sie positive Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Finanzunternehmen in der Welt, durch die die strategische geopolitische Autonomie der EU gestärkt wird?“

„Gewährleistet sie die Stabilität der Finanzmärkte?“

„Ist sie positiv für die langfristige Finanzierung europäischer Unternehmen, insbesondere KMU und Midcap-Unternehmen, sowie die Beschäftigung?“

„Ist sie positiv für den klimapolitischen, sozialen und digitalen Wandel?“

2.   Hintergrundinformationen

2.1.

Die Kapitalmarktunion soll einen echten Kapitalbinnenmarkt in der EU schaffen und dafür sorgen, dass Investitionen und Ersparnisse in sämtliche Mitgliedsstaaten fließen. Ein gut funktionierender integrierter Kapitalmarkt würde einen Beitrag zu nachhaltigem Wachstum leisten, die Wettbewerbsfähigkeit Europas steigern und der EU zu mehr Gewicht auf globaler Ebene verhelfen.

2.2.

Die Kapitalmarktunion ist auch für die Verwirklichung einiger zentraler Ziele der EU von entscheidender Bedeutung: Aufbau einer inklusiven und widerstandsfähigen Wirtschaft, Unterstützung des Übergangs zu einer digitalen und nachhaltigen Wirtschaft und einer strategisch offenen Autonomie in einem zunehmend komplexen weltwirtschaftlichen Kontext sowie Beitrag zur Erholung nach der COVID-19-Krise. Um diese Ziele zu erreichen, sind massive Investitionen erforderlich, die mit öffentlichen Geldern und herkömmlichen Finanzierungen durch Bankkredite allein nicht geleistet werden können.

2.3.

Der erste Aktionsplan zur Kapitalmarktunion wurde von der Kommission 2015 angenommen. Seither hat die EU durchaus Bausteine an die richtige Stelle gelegt. Allerdings bestehen nach wie vor erhebliche Hindernisse für den Binnenmarkt. Zudem muss das ursprüngliche Maßnahmenpaket zur Kapitalmarktunion durch neue Maßnahmen ergänzt werden, mit denen die neuen Herausforderungen wie der digitale und der ökologische Wandel und die dringend benötigten Aufbaumaßnahmen infolge der COVID-19-Pandemie angegangen werden können.

2.4.

In diesem neuen Aktionsplan (6) legt die Kommission eine Liste von 16 neuen Maßnahmen vor, die entscheidende Fortschritte bei der Vollendung der Kapitalmarktunion ermöglichen und mit denen folgende drei Hauptziele erreicht werden sollen:

Unterstützung einer grünen, digitalen, inklusiven und resilienten wirtschaftlichen Erholung durch einen besseren Finanzierungszugang für europäische Unternehmen;

Gestaltung der EU als noch sichererer Platz für die langfristige Spar- und Anlagetätigkeit der Menschen;

Integration der nationalen Kapitalmärkte in einen echten Binnenmarkt.

2.5.

Seit Beginn dieses Projekts ist der EWSA aktiv in die Schaffung eines einheitlichen europäischen Kapitalmarkts eingebunden. Seine erste diesbezügliche Stellungnahme hat der Ausschuss zum Grünbuch zur Kapitalmarktunion (7) veröffentlicht und sich danach sowohl zum ursprünglichen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion (8) als auch zu dessen Halbzeitbilanz (9) sowie zu zahlreichen aus diesen Aktionsplänen hervorgegangenen Legislativvorschlägen geäußert. In der vorliegenden Stellungnahme gibt der EWSA Empfehlungen zum neuen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion, die sowohl auf seinen früheren Arbeiten aufbauen als auch den neuen Prioritäten und Herausforderungen in Europa Rechnung tragen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den neuen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion als notwendige Fortsetzung dessen, was im Rahmen des ersten Plans aus dem Jahr 2015 bereits erreicht wurde. Die Fortführung des Plans ist angesichts der unerwarteten COVID-19-Krise umso dringlicher, als sich die Analyse, die durch die ausgezeichnete Arbeit der nächsten hochrangigen Expertengruppe zur Kapitalmarktunion und des High-Level Forums (HLF) zur Kapitalmarktunion untermauert wurde, durch das Ausmaß der Krise etwas ändert, was einige Anpassungen und Verstärkungen rechtfertigt. Der EWSA bedauert, dass die Umsetzung des Aktionsplans 2015 nur langsam voranschreitet, was vor allem auf die mangelnde Unterstützung seitens einiger Mitgliedstaaten zurückzuführen ist. Ein weiteres wichtiges Projekt, die Bankenunion, verzögert sich ebenfalls. Nach Ansicht des EWSA bedarf es des starken politischen Willens der Mitgliedsstaaten, um die Maßnahmen für die Verwirklichung der Kapitalmarktunion, die kein Selbstzweck ist, zu unterstützen (entsprechende Fortschritte könnten vielleicht durch den Prozess des Europäischen Semesters überwacht werden). Eine sichere und gut funktionierende Kapitalmarktunion ist von entscheidender Bedeutung, um die wirtschaftliche Erholung und Umstrukturierung nach COVID-19 zu fördern sowie einschlägige Kapital-, Infrastruktur- und Sozialinvestitionen in der gesamten EU, den europäischen Grünen Deal und den digitalen Wandel voranzutreiben. In diesem Zusammenhang erkennt der EWSA auch die Bedeutung der öffentlichen Mittel an, die ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen, da sie private Investitionen anziehen und die Unsicherheit verringern. Zudem könnten ausländische Investitionen als Ergänzung zu den europäischen Spareinlagen eine sinnvolle Rolle spielen.

3.2.

Darüber hinaus stellte die Europäische Kommission fest, dass „das Risiko [besteht], dass die Krise die Unterschiede innerhalb der Union vergrößert und die kollektive wirtschaftliche und soziale Resilienz gefährdet“. In diesem Zusammenhang möchte der EWSA unterstreichen, wie wichtig eine Priorisierung und Koordinierung der Initiativen ist. Im Aktionsplan zur Kapitalmarktunion sind 16 Maßnahmen genannt, die ihn zu einem ziemlich umfangreichen Programm machen. Aufgrund der Belastungen für die Wirtschaft und der steigenden Verschuldung sowohl der Mitgliedsstaaten als auch der privaten Unternehmen und angesichts des sehr unterschiedlichen Ausmaßes der Auswirkungen der Krise auf die Länder der EU und die verschiedenen Wirtschaftssektoren muss der Aktionsplan zur Kapitalmarktunion sehr sorgfältig erwogen und geprüft werden. Der EWSA leistet mit dieser Stellungnahme seinen Beitrag mit dem Ziel, ein sozial verantwortliches europäisches Finanzsystem zu ermöglichen, das seiner Funktion als Schnittstelle zwischen Angebot und Nachfrage wirksamer gerecht wird und gleichzeitig widerstandsfähiger gegenüber Schocks ist.

3.3.

Maßnahmen, mit denen sich in Verbindung mit hohen öffentlichen und privaten Schulden bestehende systemische Risiken angehen lassen, sollten Priorität haben. Gleichzeitig sollten vorrangig von der Krise betroffene, aber lebensfähige sowie neu gegründete Unternehmen unterstützt werden, um die Beschäftigung und die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft weiterzuentwickeln, vor allem da asiatische Volkswirtschaften von den Auswirkungen der COVID-19-Krise weniger betroffen zu sein scheinen als westliche Länder. Externe Abhängigkeiten bei der Wirtschaftsfinanzierung können ebenfalls systemische Risiken mit sich bringen, weshalb mit dem Aktionsplan zur Kapitalmarktunion verstärkt auf die europäischen Spareinlagen zurückgegriffen werden sollte. Die im Vergleich zu anderen Regionen hohen Spareinlagen in Europa sollten besser genutzt werden. Eine allgemeine Grundvoraussetzung für die Erreichung dieses Ziels ist es, die Vermittlung von Finanzwissen an die europäischen Bürger und ihre Finanzbildung zu verbessern (Maßnahme 7). Hier empfiehlt der EWSA, dass bewährte nationale Verfahren und Erfahrungen im Bereich der einschlägigen Wissensvermittlung und -rezeption ermittelt werden, um sie in ganz Europa zu verbreiten, so dass solide Schutzvorschriften für Investoren noch wirksamer gestaltet und Informationsasymmetrien (angemessene Informationen sind unabdingbar) zwischen den Finanzdienstleistern und den Bürgern abgebaut werden. Der EWSA empfiehlt, dass bei der künftigen Überarbeitung des Rahmens für Schlüsselkompetenzen auch Finanzkenntnisse darin aufgenommen werden. Der EWSA empfiehlt ferner, alle Interessenträger, einschließlich Arbeitnehmer- und Verbrauchervertreter, in die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Vermittlung von Finanzwissen einzubeziehen.

3.4.

Die Kernaufgabe eines sozial verantwortlichen Finanzsystems besteht darin, als Schnittstelle zwischen Angebot von und Nachfrage nach Finanzanlagen zu fungieren und dabei gegen Schocks gewappnet zu sein, da ein fragiler Finanzsektor schwerwiegende negative Auswirkungen auf Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher sowie auf die Wirtschaft insgesamt hat. Der EWSA betont daher, dass die Kapitalmarktunion die angestrebten Ziele nur erreichen kann, wenn die Finanzstabilität und der Verbraucherschutz im Aktionsplan für die Kapitalmarktunion weiterhin Priorität haben. Insbesondere der Kleinanlegerschutz darf nicht beeinträchtigt werden. Bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion müssen Aufsichtsarbitrage und regulatorische Schlupflöcher vermieden werden.

3.5.

Wie die Europäische Kommission außerdem feststellt, besteht ein „strategische[s] Interesse […] im Hinblick auf die Lieferketten im Binnenmarkt […], sodass die EU in wichtigen Wirtschaftszweigen sowie bei Schlüsselkapazitäten eine strategische Autonomie entwickelt“. In dieser Hinsicht sollten mehrere technische Vorschläge im neuen Aktionsplan zur Kapitalmarktunion unterstützt werden, wie die Vereinfachung der Notierungsvorschriften für KMU (Maßnahme 2), die Verbreitung einer elektronischen Stimmabgabe und Fortschritte bei der EU-Definition des Begriffs „Aktionär“, damit grenzüberschreitend tätige Aktionäre ihre Rechte besser ausüben können (Maßnahme 12), die Verbesserung grenzübergreifender Abrechnungsdienste (Maßnahme 13) und die Einrichtung eines konsolidierten Nachhandels-Datentickers (Maßnahme 14). Eine weitere positive Maßnahme bestünde darin, dass die Europäische Kommission die Vorteile und Machbarkeit einer ISIN-Kennnummer der Form „.eu“ zur Nutzung durch europäische Anlagefonds bewertet, welcher deren grenzübergreifende Verfügbarkeit steigern würde. Dank dieser Maßnahmen wird die Kapitalmarktunion auch eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung des ökologischen und digitalen Wandels von KMU sowie Unternehmen jeglicher Größe spielen, da sie ihre Chancen auf Erhalt von Finanzierung über zusätzliche Kanäle zum Bankensektor verbessert.

3.6.

In Bezug auf die Rechtsvorschriften über Verbriefung schließt sich der EWSA der Bewertung des Europäischen Rechnungshofs an, dass diese zwar ein Fortschritt sind, jedoch bisher nicht für die erwartete Erholung auf dem europäischen Verbriefungsmarkt nach der Finanzkrise gesorgt und es auch den Banken nicht ermöglicht haben, ihre Kreditvergabekapazität u. a. gegenüber KMU zu erhöhen. Die Transaktionen konzentrieren sich weiter auf eine kleine Zahl von Assetklassen (wie Hypotheken und Autokredite), und selbst das nur in bestimmten Mitgliedsstaaten. Der Verbriefungsmarkt sollte in der Tat durch wirksame Kontrollen verbessert werden (Maßnahme 6), um das erneute Entstehen systemischer Risiken durch die Schwächung der Vorschriften zu vermeiden.

3.7.

Eine tiefere finanzielle Integration ist ein Eckpfeiler der Kapitalmarktunion. Allerdings muss bei der Prüfung einiger ihrer Aspekte weiterhin pragmatisch und realistisch vorgegangen werden. Bei Investitionen von Kleinanlegern sind aufgrund der notwendigerweise in geografischer Nähe stattfindenden Finanzberatung häufig nationale Präferenzen und spezifische Verhaltensmuster vorherrschend. Auch die Sprachbarriere darf nicht außer Acht gelassen werden, wenn es um die Märkte der privaten Sparer geht. Zudem ist bei Vertriebsmodellen von Finanzprodukten für Kleinanleger Uniformität nicht unbedingt gleichbedeutend mit Effizienz. Die Kommission sollte bei ihren sehr begrüßenswerten Anstrengungen zur Verbesserung der Qualität der Finanzberatung (Maßnahme 8), die Vorteile der unterschiedlichen Modelle berücksichtigen und dabei bedenken, dass die Verfügbarkeit und Qualität von Beratung, vergleichbare und aussagekräftige Informationen, einschließlich Informationen zur Nachhaltigkeit, sowie solide und vertrauensbildende Vorschriften von entscheidender Bedeutung sind, wenn man die Bürgerinnen und Bürger für Investitionen gewinnen möchte.

3.8.

Bei den Renten sollten — abgesehen von dem geplanten PEPP — die verschiedenen im Sozialrecht verankerten nationalen Systeme beibehalten werden, sofern sie ihren Zweck zufriedenstellend erfüllen, auch wenn sie nicht alle identisch sind. Daher unterstützt der EWSA uneingeschränkt den mit Blick auf die Kapitalmarktunion unterbreiteten Vorschlag, dass empfehlenswerte Verfahren, wie automatische Mitgliedschaft, nationale Tracking-Systeme, die allen Bürgern offenstehen, sowie nationale Dashboards mit Indikatoren, weitergegeben werden. Die Verfügbarkeit von Beratung und eine stärkere Einbeziehung der Vertreter von Sparern, Arbeitnehmern und Rentnern sollten hinzugefügt werden. In jedem Fall muss das Ziel darin bestehen, umlagefinanzierte Modelle zu ergänzen und nicht zu schwächen (Maßnahme 9).

3.9.

Nach Auffassung des EWSA sollten die verschiedenen Formen von Investitionen mit sozialen Auswirkungen, insbesondere in der „Sozialwirtschaft“, bei der Kapitalmarktunion in vollem Umfang berücksichtigt werden, um so einen positiven Beitrag zum allgemeinen Interesse und zum Gemeinwohl zu leisten. Die Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF) sollten nachdrücklich unterstützt werden, u. U. durch eine Überarbeitung der Verordnung (EU) Nr. 346/2013, mit der sie geschaffen wurden.

3.10.

Vor der COVID-19-Krise standen ökologische Erwägungen und die Energiewende zurecht weit oben auf der Agenda der EU und der Kommission. Im neuen Kontext der Pandemie empfiehlt der EWSA, dass die Agenda für Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungskriterien (ESG) mit besonderem Schwerpunkt auf den sozialen Kriterien weiterhin oberste Priorität hat und mit Blick auf die wirtschaftliche Erholung, die Wiederherstellung und den Erhalt von Arbeitsplätzen sowie finanzielle Stabilität geprüft wird. In diesem Zusammenhang muss die EU auch die Wettbewerbsaspekte berücksichtigen, damit die grüne und die sozialpolitische Agenda Europa weiterhin zum Vorteil gereichen. Es wird unter anderem wichtig sein, europäische Anbieter von Informationen und Ratings zu nutzen, die auf konvergierenden und verlässlichen Standards beruhen, und gleichzeitig international auf weltweite Konsistenz hinzuarbeiten. Darüber hinaus wären spezifische Vorschriften für ESG-Daten und -Ratingagenturen im Einklang mit dem Gesetz über digitale Märkte begrüßenswert, entweder durch eine Änderung der Verordnung (EU) Nr. 462/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (10) (Verordnung über Ratingagenturen) oder in Form einer separaten Verordnung.

3.11.

Durch die COVID-19-Pandemie haben sich auch die Disparitäten zwischen den Mitgliedsstaaten verschärft, insbesondere durch die drastischen Auswirkungen auf bestimmte Wirtschaftsbereiche, wie Tourismus oder Verkehr. Alle Maßnahmen, die zu einem Abbau dieser wirtschaftlichen Disparitäten beitragen können, müssen ebenfalls als Priorität erachtet werden, wie die Förderung einer grenzübergreifenden Finanzierung für europäische Länder mit Entwicklungsrückstand. Die Schaffung des InvestEU-Portals könnte diese Finanzierung erleichtern, sofern es entsprechend zielgerichtet ist (Maßnahme 15). Auch die europäische Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz sind von zentraler Bedeutung, und Europa braucht starke Akteure aller Größen, die auf globaler Ebene wettbewerbsfähig sind und dadurch andere Akteure mitziehen können. Dafür müssen die europäischen Entscheidungsträger dieselben Wettbewerbsbedingungen wie in anderen Märkten der Welt schaffen.

3.12.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der Aktionsplan zur Kapitalmarktunion beim Abbau der wesentlichen Hindernisse, die einem grenzübergreifenden Kapitalfluss entgegenstehen, nicht zu einem Durchbruch geführt hat, und dass in einigen Mitgliedsstaaten noch immer Kapital und Liquidität abgeschirmt werden (Ring-Fencing), was eine angemessene Ressourcenverteilung verhindert, den Markt fragmentiert und die wirtschaftliche Erholung verlangsamt.

3.13.

Der Brexit ist ein weiterer Störfaktor, den es zu berücksichtigen gilt. Die Finanzmärkte in Kontinentaleuropa sind stark fragmentiert und durch eine ungleiche Liquiditätsausstattung gekennzeichnet. Aus diesem Grund könnte die EU der 27 tatsächlich Gefahr laufen, noch weiter von stärker integrierten ausländischen Finanzmärkten abhängig zu werden, da sich eine Reihe europäischer Unternehmen in der Vergangenheit für eine Börsennotierung im Vereinigten Königreich oder in den USA entschieden hat. Der EWSA schließt sich der Feststellung des Europäischen Rechnungshofs an, dass die Kommission (und nach Ansicht des Ausschusses auch das Europäische Parlament und der Rat) allen Mitgliedsstaaten, in denen die Kapitalmärkte weniger gut entwickelt sind, entsprechende Reformen empfehlen sollte(n). Zudem ist hervorzuheben, dass die Schaffung einer entwickelten Marktinfrastruktur für die EU von entscheidender Bedeutung für ihre finanzielle und wirtschaftliche Autonomie ist und zu einer stärkeren internationalen Rolle des Euro führen kann.

3.14.

Über die bereits erwähnten technischen Maßnahmen hinaus lässt sich der Standpunkt des EWSA in der Empfehlung zusammenfassen, dass bei den 16 Vorschlägen im Aktionsplan zwei Prioritäten gesetzt werden sollten:

Erweiterung der Finanzmärkte der EU zur Verbesserung ihrer Effizienz. Dies sollte durch drei zentrale Maßnahmen unterstützt werden: (i) durch die Schaffung des einheitlichen europäischen Zugangspunkts zur Unterstützung von Anlegern u. a. bei der Auswahl von Emittenten (Maßnahme 1), (ii) durch die Stärkung des einheitlichen Regelwerks, insbesondere in Bezug auf Marktplätze, CCP (zentrale Gegenparteien) und Datenanbieter. Generell wären Aufsichtskonvergenz und stärkere Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung, um Aufsichtsarbitrage und Schlupflöcher zu vermeiden (Maßnahme 16), und (iii) durch die Vereinfachung grenzüberschreitender Investitionen und die Einführung eines gemeinsamen, standardisierten EU-weiten Systems für Quellensteuererleichterungen an der Quelle, um Steuerbetrug und Steuerarbitrage zu verhindern (Maßnahme 10).

Übergang von langfristigen Spareinlagen zu langfristigen Investitionen. Die hohen Spareinlagen in Europa — die eine Stärke der EU der 27 sind — kommen der Realwirtschaft nicht ausreichend zugute. Bei der Überarbeitung des europäischen langfristigen Investmentfonds (ELTIF) muss ein neuer Rahmen für diesen langfristigen Fondstyp entstehen, mit dem sich insbesondere langfristige Spareinlagen von institutionellen Anlegern und Kleinanlegern leicht in die börsennotierten oder nicht börsennotierten Aktien bzw. Anteile von KMU und Midcap-Unternehmen sowie in Infrastrukturprojekte investieren lassen (Maßnahme 3). Eine bessere Aufsichtsregelung für die Investitionen von Versicherungsgesellschaften und Banken in Eigenkapitalbeteiligungen muss dazu dienen, die Wirksamkeit der Aufsichtsvorschriften zu vergrößern, nicht sie einzuschränken (Maßnahme 4). Zusätzlich sollten die Mitgliedsstaaten daran arbeiten, die steuerliche Bevorzugung der Fremd- gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung auszugleichen, was bereits im Initiativbericht des Europäischen Parlaments zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion (11) unterstrichen wurde. Dabei sollte es jedoch nicht darum gehen, die Höhe der Steuereinnahmen insgesamt zu verringern. Die Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen ist ein weiteres wichtiges Thema, das im Aktionsplan fehlt und von der Kommission erneut in den Mittelpunkt gerückt werden könnte. Eine fair umgesetzte Kapital- und Gewinnbeteiligung von Mitarbeitern würde nämlich zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Wirtschaftlichkeit beitragen. Damit die Arbeitnehmer keinen unangemessenen Risiken ausgesetzt sind, ist die Einbeziehung ihrer Vertreter und ein solider Anlegerschutz von entscheidender Bedeutung. Die Kapitalmarktunion sollte eine neue Möglichkeit darstellen, diese Programme in Übereinstimmung mit der Sozialagenda und entsprechend der Aufforderung im Initiativbericht des Europäischen Parlaments zu fördern.

3.15.

Die letztgenannten Maßnahmen wären ein begrüßenswerter erster starker Impuls zugunsten der Kapitalmarktunion und würden gleichzeitig zu Fortschritten bei wichtigen, jedoch schwierigeren Zielen führen, wie einer stärkeren Konvergenz in gezielten Bereichen des Insolvenzrechts (Maßnahme 11) oder stärker integrierten europäischen Börsen und Handelsplätzen.

3.16.

Über die Erwägungen in der vorliegenden Stellungnahme hinaus würde der EWSA empfehlen, dass mit Blick auf die politischen Erfolge bei jeder neuen Regelung die potenziellen positiven bzw. negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen abgewogen werden, um die Finanzunternehmen der EU in der Welt zu stärken und so die strategische geopolitische Autonomie der EU auf ihrem Weg zum dringend benötigten klimapolitischen, gesellschaftlichen und digitalen Wandel auszubauen.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 17.

(2)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 117.

(3)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 23.

(4)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 32.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 346/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (ABl. L 115 vom 25.4.2013, S. 18).

(6)  COM(2020) 590 final.

(7)  ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 64.

(8)  ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 17.

(9)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 117.

(10)  Verordnung (EU) Nr. 462/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen (ABl. L 146 vom 31.5.2013, S. 1).

(11)  BERICHT über die Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion: Verbesserung des Zugangs zu Finanzmitteln am Kapitalmarkt, insbesondere durch KMU, und Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten für Kleinanleger.


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Strategie für ein digitales Finanzwesen für die EU“

(COM(2020) 591 final)

(2021/C 155/04)

Berichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Mitberichterstatter:

Jörg Freiherr FRANK VON FÜRSTENWERTH

Befassung

Europäische Kommission, 11.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

237/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Paket zur Digitalisierung des Finanzsektors der Kommission, das seiner Auffassung nach strategische legislative und nichtlegislative Elemente zur Entwicklung dieses Sektors enthält.

1.2.

Das von der Kommission vorgelegte Programm mit seinen vier Prioritäten deckt nahezu alle wichtigen Bereiche des digitalen Wandels im EU-Finanzsektor ab. Der EWSA unterstützt diese Ansätze der Kommission.

1.3.

Die Kommission setzt bei der Einführung digitaler Finanzdienstleistungen zu Recht auf starke europäische Marktteilnehmer. Allerdings meint der EWSA, dass dabei auch den Besonderheiten der spezialisierten, regionalen und/oder genossenschaftlichen bzw. auf Gegenseitigkeit beruhenden lokalen Finanzdienstleister Rechnung getragen werden muss.

1.4.

Aufgrund der Digitalisierung ist der EU-Finanzsektor einem enormen Wandel unterworfen, der mit weitreichenden Umstrukturierungen, Filialschließungen, dem Wandel beruflicher Qualifikationsprofile der Mitarbeiter und völlig neuen Formen der Arbeit einhergeht. Diese großen Herausforderungen dürfen keinesfalls übersehen werden. Sie stellen die Dienstleister — und natürlich auch die Beschäftigten im Finanzsektor — vor eine große Aufgabe.

1.5.

Die Kommission kündigt an, dass über eine EU-Plattform für das digitale Finanzwesen in der EU nachgedacht werden muss. Der EWSA begrüßt dies und empfiehlt die Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in diesen Prozess.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Bewältigung der mit dem digitalen Wandel verbundenen Herausforderungen und Risiken einige entscheidende Aspekte unbedingt berücksichtigt werden müssen, damit ein digitaler Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen entstehen kann: Regulierung der Technologieanbieter, Verbraucherschutz, garantierter Zugang zu Finanzdienstleistungen, Betriebsstabilität und Sicherheit der Netze und Informationssysteme.

1.7.

Deshalb begrüßt der EWSA im Bereich der Cybersicherheit das Projekt GAIA-X, um Alternativen zur Dominanz der USA und Chinas bei den Cloud-Diensten zu schaffen. Dieses Projekt, an dem auch die Europäische Kommission beteiligt ist, soll der EU die Datenhoheit bzw. die Daten-Governance durch ein Cloud-Netz in der EU verschaffen.

1.8.

Das Bekenntnis der Kommission zu dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiches Risiko, gleiche Regeln“ — wozu auch die gleiche Aufsicht gehört —, ist grundlegend und ein Schlüssel zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. Der EWSA hält die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Finanzinstitute für besonders wichtig.

2.   Die Vorschläge der Kommission

2.1.

Am 24. September 2020 legte die Kommission ein Paket zur Digitalisierung des Finanzsektors vor. Es besteht aus einer Strategie für ein digitales Finanzwesen für die EU (1), einer EU-Strategie für den Massenzahlungsverkehr (2), Legislativvorschlägen für einen EU-Regulierungsrahmen für Kryptowerte (3) und die zugrunde liegende Distributed-Ledger-Technologie (4) sowie Vorschlägen für einen EU-Rechtsrahmen zur Betriebsstabilität digitaler Systeme (5).

2.2.

Angesichts der besonderen Dynamik der digitalen Innovation, die durch die COVID-19-Krise noch einmal verstärkt wurde, schlägt die Kommission eine Strategie mit einem strategischen Ziel, vier Prioritäten und daran anknüpfenden Maßnahmen für ein digitales Finanzwesen vor. Diese Strategie ist Gegenstand der vorliegenden Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA).

2.3.

Das von der Kommission formulierte strategische Ziel ist die Nutzung des digitalen Finanzwesens zum Wohl der Verbraucher und Unternehmen. Die vier Prioritäten bestehen darin, (1) der Fragmentierung des digitalen Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen entgegenzuwirken, damit die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher grenzübergreifend auf Dienstleistungen zugreifen und die europäischen Finanzunternehmen ihr digitales Geschäft ausweiten können, (2) sicherzustellen, dass der Regulierungsrahmen der EU die digitale Innovation im Interesse von Verbrauchern und Markteffizienz erleichtert, (3) auf der Grundlage der europäischen Datenstrategie einen europäischen Finanzdatenraums zur Förderung datengestützter Innovationen einschließlich eines verbesserten Datenzugriffs und Datenaustausches innerhalb des Finanzsektors zu schaffen und (4) mit dem digitalen Wandel verbundene neue Herausforderungen und Risiken anzugehen.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Mit der Initiative zur Entwicklung und Umsetzung einer Strategie für ein digitales Finanzwesen für die EU (die Teil des von der Kommission vorgelegten Pakets zur Digitalisierung des Finanzsektors ist) bekräftigt die Kommission die große Bedeutung der Digitalisierung im Finanzsektor (digitale Finanzdienstleistungen). Ihre Bedeutung hat sich in der COVID-19-Krise mit aller Deutlichkeit gezeigt. Das von der Kommission vorgelegte Programm mit seinen vier Prioritäten deckt nahezu alle wichtigen Bereiche des digitalen Wandels im EU-Finanzsektor ab. Der EWSA unterstützt diese Ansätze der Kommission.

3.2.

Die Kommission setzt bei der Einführung digitaler Finanzdienstleistungen zu Recht auf starke europäische Marktteilnehmer. Allerdings meint der EWSA, dass dabei auch den Besonderheiten der spezialisierten regionalen und/oder genossenschaftlichen bzw. auf Gegenseitigkeit beruhenden Finanzdienstleister Rechnung getragen werden muss, da die Vielfalt im Finanzsektor zur Deckung spezifischer Bedürfnisse von Verbrauchern und KMU und zu wettbewerbsfähigen Märkten beiträgt. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Verhältnismäßigkeit in Bezug auf Art, Umfang und Komplexität der Finanzinstitute und ihrer Produkte zu wahren.

3.3.

Die Mitteilung der Kommission ist äußerst technisch, und hat einen Schwachpunkt: Sie geht nicht auf die große Umwälzung ein, die durch die Digitalisierung in der europäischen Finanzwirtschaft ausgelöst wurde. Eng mit diesem Prozess verbunden sind weitreichende Umstrukturierungen, Filialschließungen, der Wandel beruflicher Qualifikationsprofile der Mitarbeiter und völlig neue Formen der Arbeit. Diese großen Herausforderungen dürfen keinesfalls übersehen werden. Sie stellen die Dienstleister — und natürlich auch die Beschäftigten im Finanzsektor — vor eine große Aufgabe. Der EWSA wirbt für den sozialen Dialog, um in den vom Wandel betroffenen Bereichen Lösungen zu finden.

3.4.

Die Kommission legt dar, dass ein gut funktionierender Binnenmarkt für digitale Finanzdienstleistungen dazu beiträgt, dass Verbraucher und Kleinanleger Finanzdienstleistungen in der EU besser nutzen können. Der EWSA unterstützt diese Sicht der Kommission. Um die Fragmentierung des digitalen Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen zu reduzieren, müssen sich die Märkte weiterentwickeln können.

3.5.

Die Kommission stellt fest, dass über eine EU-Plattform für digitale Finanzierungen in der EU nachgedacht werden muss. Der EWSA begrüßt dies und empfiehlt die Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in diesen Prozess.

3.6.

Die Praxis hat gezeigt, dass ein Binnenmarkt für digitale Finanzdienstleistungen nur dann funktionieren kann, wenn neue Kunden schnell und problemlos auf Finanzdienstleistungen zugreifen bzw. problemlos „mit an Bord“ kommen können („Onboarding“). Der EWSA nimmt das entscheidende Problem in diesen von der Kommission hervorgehobenen Bereichen zur Kenntnis.

3.7.

Die Tatsache, dass die verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Geldwäsche recht uneinheitlich sind, macht die grenzüberschreitende Nutzung digitaler Identitäten schwer oder sogar unmöglich. Die Vorschriften über die Kundenidentifikation sollten EU-weit harmonisiert werden. Der EWSA empfiehlt daher der Kommission, für die europaweite rechtliche Interoperabilität digitaler Identitäten Sorge zu tragen.

3.8.

Bei der Ausarbeitung der Strategie für ein digitales Finanzwesen für die EU darf die Sicherheit der Bürger nicht vergessen werden. In die Strategie sollte eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten aufgenommen werden, parallel zur Umsetzung der Strategie rechtliche und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, um dem Problem des Identitätsdiebstahls zu begegnen. Dieses dürfte im Zuge der Entwicklung von digitalen Diensten und Produkten immer öfter auftreten und könnte die Umsetzung der Strategie behindern, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

3.9.

Der EWSA unterstützt die Vorschläge der Kommission in Bezug auf einen innovationsfreundlichen und wettbewerbsfähigen Rahmen für die Finanzmärkte, von dem Verbraucher und Wirtschaft profitieren. Allerdings muss sichergestellt sein, dass sich die Aufsichtspraktiken und die EU-Rechtsvorschriften weiterhin an dem leitenden Grundsatz der Technologieneutralität ausrichten und bestehende Dokumentationsanforderungen überprüft werden.

3.10.

Auf dem digitalen Markt bieten einige FinTech-Unternehmen Finanzgesellschaften Dienstleistungen an, andere wiederum konkurrieren mit ihnen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission diese Aspekte bei der Ausarbeitung neuer Vorschriften berücksichtigen sollte. Deshalb empfiehlt der EWSA, die neuen Vorschriften auf die Förderung von Partnerschaften zwischen etablierten Finanzinstituten und FinTech-Unternehmen auszurichten. Zwar sind die Banken offensichtlich die bedeutendsten Institute, doch sollten bei der Gestaltung von Rechtsvorschriften nicht einfach für alle pauschal die gleichen Anforderungen festgelegt werden, weil man so möglicherweise nicht allen Arten von Finanzdienstleistungen gerecht wird. Es muss unterschieden werden zwischen verbraucherorientierten Produkten, die als Bedarfsgüter angesehen werden können, und komplexeren Produkten, bei denen der Anwendungsbereich und die Kundennachbetreuung von erheblicher Bedeutung sind.

3.11.

Der EWSA sieht die Notwendigkeit des Datenaustausch auch jenseits des Finanzsektors und erinnert die Kommission an seine Empfehlung (6) zu ihrer Mitteilung „Eine europäische Datenstrategie“. Der EWSA hatte die von der Kommission vorgeschlagene Datenstrategie begrüßt, in der dem sektorübergreifenden Datenaustausch Priorität eingeräumt wird und über legislative sektorspezifische Maßnahmen Verbesserungen hinsichtlich Nutzung, Austausch, Zugang und Verwaltung von Daten angestrebt werden. Außerdem hatte er betont, dass der Rahmen hohe Datenschutzstandards, den sektorübergreifenden und verantwortungsvollen Datenaustausch, klare Kriterien für die sektorspezifische Datenverwaltung, eine bessere Qualität der Daten sowie eine bessere Kontrolle des Einzelnen über seine Daten miteinander vereinen muss. Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass die von einer als Zahlungsdienstleister tätigen Tochtergesellschaft einer BigTech-Unternehmensgruppe gewonnenen Daten nicht an die Muttergesellschaft weitergegeben oder mit deren Datenbeständen zusammengeführt werden. Damit dieser Grundsatz funktioniert, muss es Trennwände zwischen Tochter- und Muttergesellschaft geben.

3.12.

Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Bewältigung der mit dem digitalen Wandel verbundenen Herausforderungen und Risiken einige entscheidende Aspekte unbedingt berücksichtigt werden müssen, damit ein digitaler Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen entstehen kann: die Regulierung der Technologieanbieter, Verbraucherschutz, garantierter Zugang zu Finanzdienstleistungen, Betriebsstabilität und Sicherheit der Netze und Informationssysteme.

3.13.

Zur Cybersicherheit merkt der EWSA an, dass die meisten systemrelevanten Finanzinstitutionen in Europa FinTech-Dienste von in Drittstaaten ansässigen Großunternehmen nutzen. Der Legislativvorschlag der Kommission über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors (DORA) (7) könnte sich in bestimmten Situationen als unzureichend erweisen. Deshalb begrüßt der EWSA das Projekt GAIA-X, um Alternativen zur Dominanz der USA und Chinas bei den Cloud-Diensten zu schaffen. Dieses Projekt, an dem auch die Europäische Kommission beteiligt ist, soll der EU die Datenhoheit bzw. die Daten-Governance durch ein Cloud-Netz in der EU verschaffen. Da wir tendenziell immer stärker auf digitale Dienste angewiesen sind, müssen die Interessenträger in der EU von externen Cloud-Anbietern unabhängig sein. Für die EU selbst geht es um ihre wirtschaftliche und politische Souveränität. Ein europäisches Cloud-Netz würde auch den Datenfluss zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern.

3.14.

Das Bekenntnis der Kommission zu dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiches Risiko, gleiche Regeln“ — wozu auch die gleiche Aufsicht gehört —, ist grundlegend und ein Schlüssel zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. Angesichts des zunehmenden Markteindringens von BigTech, Plattformen und großen Technologieunternehmen sowie der nutzbringenden Aktivitäten der Technologieunternehmen im Finanzsektor hält es der EWSA für dringend angezeigt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle einschlägigen Marktteilnehmer zu schaffen.

3.15.

Die Kommission erwägt eine Strategie zur Förderung der Allgemeinbildung auf dem Gebiet der Finanzen mit dem Schwerpunkt Digitalisierung. Dies könnte sowohl zu mehr Offenheit bei digitalen Diensten als auch zu einem besseren Schutz der Verbraucher ungeachtet Alter, Geschlecht und beruflicher Stellung führen. Der EWSA ermutigt die Kommission, diesen Ansatz weiterzuverfolgen.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2020) 591 final.

(2)  COM(2020) 592 final.

(3)  COM(2020) 593 final.

(4)  COM(2020) 594 final.

(5)  COM(2020) 595 final und COM(2020) 596 final.

(6)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 290.

(7)  COM(2020) 595 final. Siehe auch die diesbezügliche EWSA-Stellungnahme zur Betriebsstabilität digitaler Systeme (ECO/536). (Siehe Seite 38 dieses Amtsblatts).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowährungen und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937

(COM(2020) 593 final — 2020/0265 (COD))

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen

(COM(2020) 594 final — 2020/0267 (COD))

(2021/C 155/05)

Berichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Befassung

Europäisches Parlament, 13.11.2020

Rat der Europäischen Union: 18.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

235/1/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die beiden Initiativen der Europäischen Kommission zu einem Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates (1) bzw. zu einem Vorschlag für eine Verordnung über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie (DLT) basierende Marktinfrastrukturen.

1.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission dringend eingreifen muss, um ein umfassendes Regelwerk für ein immer mehr Verbreitung und Anwendung findendes technologisches Phänomen zu schaffen, das sich zudem ständig weiterentwickelt und schnell verändert.

1.3.

Der EWSA hält daher eine rasche Umsetzung der verschiedenen regulatorischen Anpassungsmaßnahmen, die für die von der Kommission geplante Modernisierung der Finanzdienstleistungen erforderlich sind, für zweckmäßig. Dabei dürfen der Verbraucherschutz und die aufsichtsrechtlichen Vorschriften nicht vernachlässigt werden.

1.4.

Da mehrere Mitgliedstaaten in den letzten Monaten im Rahmen legislativer Maßnahmen und von Leitlinien der sektoralen Regulierungsbehörden einzelstaatliche Regulierungsinstrumente angenommen haben, muss die EU dringend handeln. Ansonsten besteht die Gefahr eines fragmentierten Rechtsrahmens, der die Konsolidierung des Binnenmarktes untergraben und die Befolgungskosten für die Unternehmen erhöhen könnte.

1.5.

Der EWSA unterstützt daher die Ziele der Kommission, innerhalb eines einheitlichen Rechtsrahmens: a) die Endnutzer im digitalen Finanzwesen zu schützen; b) die Finanzstabilität zu sichern; c) die Integrität des EU-Finanzsektors zu schützen und d) gleiche Wettbewerbsbedingungen für die verschiedenen Akteure des Wirtschafts- und Finanzsystems zu gewährleisten.

1.6.

Der EWSA befürwortet auch das Ziel, Emittenten globaler Stablecoins angesichts der möglichen systemischen Bedeutung solcher Instrumente strengeren Anforderungen in Bezug auf Kapital, Anlegerrechte und Aufsicht zu unterwerfen.

1.7.

Der EWSA fordert praktische Maßnahmen zur Förderung einer angemessenen Information und Sensibilisierung von Verbrauchern und Kleinanlegern, um die Informationsasymmetrie zu verringern. Aufgrund des neuartigen und ausgesprochen technischen Charakters der in dieser Stellungnahme behandelten Fragen könnten diese Personenkreise besonders betroffen sein.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, den in den Vorschlägen, die Gegenstand dieser Stellungnahme sind, konzipierten Kontrollen im Vorfeld einer Zulassung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies betrifft insbesondere die Zuverlässigkeit zulassungspflichtiger Emittenten, um die negativen Folgen opportunistischen und schädlichen Verhaltens zu vermeiden.

1.9.

Es gibt bislang noch keine entsprechende Standardisierung und Interoperabilität der DLT, die eine sichere Beurteilung der technologischen Zuverlässigkeit und Cyber-Resilienz der von den Emittenten verwendeten Infrastruktur ermöglichen. Deshalb empfiehlt der EWSA, den Rechtsrahmen für diese Instrumente, die sich ständig weiterentwickeln, so klar wie möglich zu definieren. Denn die Tatsache, dass sie sich stets weiterentwickeln, könnte die Anwendung unterschiedlicher Rechtsvorschriften erforderlich machen.

1.10.

In Anbetracht der noch bestehenden technologischen Risiken steht der EWSA dem Vorschlag für ein Pilotprojekt für Marktinfrastrukturen auf der Grundlage der DLT zuversichtlich gegenüber. Die Pilotregelung bietet ein Testfeld in einem kontrollierten Umfeld, das vorübergehende Ausnahmen von den geltenden Regeln erlaubt. Die Regulierungsbehörden und die Emittenten können so schrittweise Erfahrungen mit dem Einsatz der Distributed-Ledger-Technologie in Marktinfrastrukturen sammeln, um die Marktintegrität und die Finanzstabilität zu schützen.

1.11.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für die Pilotregelung, ist jedoch der Auffassung, dass die fünfjährige Frist für die Berichterstattung der ESMA an die Kommission angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich digitale Finanztechnologien weiterentwickeln, zu lang ist. Ferner sollte das Augenmerk auf die Modalitäten des Ausstiegs aus der Pilotregelung gelegt werden, um den Schutz der in dieser Erprobungsphase beteiligten Nutzer zu gewährleisten.

1.12.

Was schließlich die Anwendung der Verordnung über Märkte für Kryptowährungen betrifft, hegt der EWSA große Zweifel bezüglich der Übergangsregelung. Diese sieht die dauerhafte Ausnahme von der Einhaltung der Verordnung für diejenigen Kryptowerte vor, die bereits vor Inkrafttreten der Verordnung vermarktet wurden. Dies birgt die Gefahr, dass bereits ausgegebene Kryptowerte von den Regeln und vom Grundsatz der Gleichbehandlung bezüglich desselben Risiken und derselben Aktivitäten ausgenommen werden.

2.   Die Vorschläge der Kommission

2.1.

Die vorliegende Stellungnahme betrifft zwei Initiativen der Europäischen Kommission: a) den Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937; b) den Vorschlag für eine Verordnung über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie (DLT) basierende Marktinfrastrukturen. Diese Vorschläge sind Teil eines Maßnahmenpakets der Kommission, zu dem auch die Mitteilung zur digitalen Finanzstrategie und der Vorschlag für eine Verordnung über die digitale Betriebsbereitschaft (DORA) gehören, die Gegenstand der EWSA-Stellungnahmen zu den Themen „Strategie für ein digitales Finanzwesen in der EU“ (2) und „Betriebsstabilität digitaler Systeme“ (3) sind.

2.2.   Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937

2.2.1.

Mit der Verordnung über Märkte für Kryptowerte soll Rechtssicherheit für Kryptowerte, die nicht unter die geltenden EU-Rechtsvorschriften fallen, geschaffen werden. Zum anderen sollen einheitliche Vorschriften für Emittenten von Kryptowerten und Dienstleistungsanbieter für virtuelle Vermögenswerte (VASP) festgelegt werden. Ziel der Verordnung ist es, die bestehenden einzelstaatlichen Rahmen zu ersetzen, die derzeit außerhalb des Anwendungsbereichs der geltenden europäischen Rechtsvorschriften liegen. Dadurch sollen die gewünschten gleichen Wettbewerbsbedingungen sichergestellt werden.

2.2.2.

Zur Untermauerung ihres Vorschlags betonte die Kommission die Notwendigkeit, „eines mit den Mitgliedstaaten abgestimmten Konzepts in puncto Kryptowerte, um die daraus erwachsenden Chancen bestmöglich nutzen und den damit möglicherweise verbundenen neuen Risiken begegnen zu können“.

2.2.3.

Mit dem Vorschlag werden vier Ziele verfolgt: a) Gewährleistung von Rechtssicherheit; b) Förderung von Innovationen in einem Sektor mit großem Potenzial; c) Gewährleistung eines angemessenen Maßes an Verbraucher- und Anlegerschutz sowie Marktintegrität; d) Gewährleistung der Finanzstabilität.

2.2.4.

Der Vorschlag betrifft nicht nur Emittenten von Kryptowerten, sondern auch Unternehmen, die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Kryptowerten erbringen. Das sind z. B. Unternehmen, die Kryptowerte von Kunden verwahren, Unternehmen, die Kunden den An- oder Verkauf von Kryptowerten für Geld ermöglichen, und Unternehmen, die Handelsplattformen betreiben. Deshalb gehören Kapitalanforderungen, Anforderungen an die Unternehmensführung und Anlegerrechte gegenüber dem Emittenten zu den eingeführten Schutzmaßnahmen.

2.2.5.

Vor allem, wenn wertreferenzierte Token und E-Geld-Token aufgrund ihrer Bedeutung (in puncto Umfang, Gegenwert, Größe des Kundenstamms) als „signifikant“ eingestuft werden und damit in den Anwendungsbereich der sogenannten globalen Stablecoins fallen, unterliegen die Emittenten strengeren Anforderungen.

2.2.6.

Angesichts der realen Möglichkeit, dass Stablecoins in Zukunft eine breitere Akzeptanz und gegebenenfalls Systemrelevanz erlangen, enthält der Vorschlag der Kommission auch Vorkehrungen zur Eindämmung der sich aus Stablecoins potenziell ergebenden Risiken für die Finanzstabilität und die geordnete Geldpolitik.

2.2.7.

Bei solchen Instrumenten handelt es sich um Kryptowerte, die bspw. im Unterschied zum bekannten Bitcoin einen relativ stabilen Preis haben, weil sie an ein ebenso stabiles Tauschmittel (d. h. eine institutionelle Währung) gebunden sind. Daher könnten sie in naher Zukunft zu weit verbreiteten Zahlungs- und Anlagesystemen werden.

2.2.8.

Im Einzelnen regelt Titel II des Vorschlags das öffentliche Angebot und die öffentliche Vermarktung von Kryptowerten, bei denen es sich nicht um wertreferenzierte Token und E-Geld-Token handelt. Es wird festgelegt, dass Emittenten berechtigt sind, solche Kryptowerte öffentlich anzubieten oder die Zulassung zum Handel auf einer Handelsplattform zu beantragen, sofern Folgendes erfüllt wird: a) die in Artikel 4 genannten Anforderungen, darunter die Verpflichtung, eine juristische Person zu sein; b) die Verpflichtung zur Erstellung eines Informationsdokuments, auch als Kryptowert-Whitepaper bezeichnet (Artikel 5); c) die weitere Verpflichtung, das Whitepaper den zuständigen Behörden zu notifizieren und es zu veröffentlichen (Artikel 7 und 8).

2.2.9.

Ein Whitepaper ist nicht erforderlich, wenn der Gesamtgegenwert des Angebots von Kryptowerten über einen Zeitraum von zwölf Monaten unter 1 000 000 EUR liegt, um so einen übermäßigen Verwaltungsaufwand für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zu vermeiden.

2.2.10.

Die Kommission schlägt außerdem vor, klarzustellen, dass die derzeitige Definition von „Finanzinstrumenten“ — die den Anwendungsbereich der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) abgrenzt — auch Finanzinstrumente einschließt, die auf DLT basieren. Ihr Vorschlag enthält zudem eine spezielle Regelung für Kryptowerte, die nicht in den Anwendungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften fallen, sowie E-Geld-Token.

2.2.11.

Die Verordnung konzentriert sich auch auf die Ausgabe von Kryptowerten (oder Token) durch Emittenten, die auf dem europäischen Binnenmarkt agieren wollen und die sich an folgende Bestimmungen halten müssen:

Transparenz- und Offenlegungsanforderungen für die Ausgabe und Zulassung zum Handel der jeweiligen Token;

die Zulassungs- und Aufsichtsregelung für Anbieter von Dienstleistungen und Emittenten von Stablecoins;

Anforderungen in puncto Betrieb, Organisation und Unternehmensführung von Emittenten von Stablecoins (was auch hier wohlgemerkt nicht die anderen Token, d. h. im Wesentlichen Utility-Token betrifft) und Dienstleistungsanbieter;

Verbraucherschutzvorschriften in Bezug auf die Frage, Aushandlung und Verwahrung von Kryptowerten;

Verbraucherschutzvorschriften in Bezug auf die Ausgabe, den Handel und die Verwahrung von Kryptowerten.

2.3.   Vorschlag für eine Verordnung über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen

2.3.1.

Der Vorschlag zur Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen verfolgt vier allgemeine Ziele: 1.) Schaffung von Rechtssicherheit; 2.) Förderung von Innovationen durch Beseitigung von Hindernissen für die Anwendung neuer DLT-Technologien im Finanzsektor; 3.) Gewährleistung des Verbraucher- und Anlegerschutzes sowie der Marktintegrität; 4.) Sicherung der Finanzstabilität.

2.3.2.

Um diese Ziele zu erreichen, werden in der Pilotregelung geeignete Schutzmaßnahmen eingeführt, z. B. mittels Begrenzung der Arten handelbarer Finanzinstrumente bzw. mittels Vorschriften, die gezielt die Finanzstabilität sowie den Verbraucher- und den Anlegerschutz gewährleisten sollen.

2.3.3.

Durch die Einführung einer Pilotregelung zur Erprobung von DLT-Marktinfrastrukturen mit dem Verordnungsvorschlag soll es den Unternehmen in der EU ermöglicht werden, das volle Potenzial des bestehenden Rahmens auszuschöpfen. Aufsichts- und Regulierungsbehörden sollten Regulierungshindernisse ermitteln können. Die Regulierungsbehörden und die Unternehmen können so nach und nach wertvolle Erkenntnisse über die Nutzung von DLT gewinnen.

2.3.4.

Aus diesen Gründen und wegen der Notwendigkeit eines schrittweisen Vorgehens sollte die Pilotregelung als das im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele verhältnismäßigste Instrument angesehen werden, da es derzeit keine ausreichenden Gründe gibt, die die Einführung dauerhafter, bedeutenderer und weitreichenderer regulatorischer Änderungen rechtfertigen würden.

2.3.5.

Der Vorschlag zielt darauf ab, den Marktteilnehmern, die eine DLT-Marktinfrastruktur betreiben wollen, durch die Festlegung einheitlicher Verwaltungsanforderungen Rechtssicherheit und Flexibilität zu bieten. Die im Rahmen dieser Verordnung erteilten Genehmigungen würden es den Marktteilnehmern auch ermöglichen, in allen Mitgliedstaaten unter angemessener Aufsicht eine DLT-Marktinfrastruktur zu betreiben und Dienstleistungen zu erbringen.

2.3.6.

Im Einzelnen werden in Artikel 1 der Gegenstand und der Anwendungsbereich des Vorschlags definiert. In Artikel 2 die einschlägigen Begriffe und Definitionen festgelegt werden, darunter folgende: „DLT-Marktinfrastruktur“, „multilaterales DLT-Handelssystem“ oder „DLT MTF“, „DLT-Wertpapierabwicklungssystem“ und „durch DLT übertragbare Wertpapiere“.

2.3.7.

Artikel 3 beschreibt die Beschränkungen in Bezug auf durch DLT übertragbare Wertpapiere, die zum Handel über DLT-Marktinfrastrukturen zugelassen oder von DLT-Marktinfrastrukturen verbucht werden können. Bei Aktien sollte die — auch voraussichtliche — Marktkapitalisierung des Emittenten des von durch DLT übertragbaren Wertpapieren weniger als 200 Mio. EUR betragen; bei sonstigen öffentlichen Anleihen, gedeckten Schuldverschreibungen und Unternehmensanleihen liegt die Obergrenze bei 500 Mio. EUR. DLT-Marktinfrastrukturen sollten keine öffentlichen Anleihen zum Handel zulassen oder verbuchen.

2.3.8.

In Artikel 4 sind die Anforderungen für ein DLT-MTF festgelegt, wobei diese denen für MTF gemäß der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (4) entsprechen, und es werden die gemäß dieser Verordnung möglichen Ausnahmen aufgeführt. Artikel 7 und Artikel 8 legen das Verfahren für die besondere Genehmigung für den Betrieb eines DLT-MTF bzw. eines DLT-Wertpapierabwicklungssystems fest und enthalten Einzelheiten zu den Informationen, die der zuständigen Behörde übermittelt werden müssen. In Artikel 9 ist die Zusammenarbeit zwischen DLT-Marktinfrastrukturen, zuständigen Behörden und der ESMA geregelt. In Artikel 10 ist vorgesehen, dass die ESMA der Kommission spätestens nach fünf Jahren einen ausführlichen Bericht über die Pilotregelung vorlegen wird.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA teilt die Ziele der Europäischen Kommission und vertritt in dieser Stellungnahme die Auffassung, dass die Umsetzung der verschiedenen, für die Modernisierung der Finanzdienstleistungen erforderlichen regulatorischen Anpassungen bis Mitte 2022 nützlich und wichtig ist. Dabei dürfen der Verbraucherschutz und die Marktintegrität nicht vernachlässigt werden.

3.2.

Die Legislativvorschläge sollen insbesondere Rechtssicherheit in Bezug auf Kryptowerte gewährleisten. Die Klarheit des Rechtsrahmens, der für alle Arten von Kryptowerten sowie für alle Anbieter damit verbundener Dienste gilt, ist eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung innovativer Mehrwertlösungen auf diesem Markt. Insbesondere trägt die Entscheidung für eine Verordnung anstatt einer Richtlinie dazu bei, angemessene Einheitlichkeit in puncto Inhalt und Anwendung der neuen Vorschriften für den Binnenmarkt zu erreichen.

3.3.

Nach Ansicht des EWSA ist das seit Langem erwartete gesetzgeberische Eingreifen der Kommission dringend erforderlich, um eine umfassende Regulierung eines sich ständig weiterentwickelnden und sich schnell verändernden technologischen Phänomens zu gewährleisten.

3.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die geplanten Maßnahmen sinnvoll sind, um a) die Endnutzer im digitalen Finanzwesen zu schützen; b) die Finanzstabilität zu sichern; c) die Integrität des EU-Finanzsektors zu schützen und d) gleiche Wettbewerbsbedingungen für die verschiedenen Akteure des Wirtschafts- und Finanzsystems zu gewährleisten.

3.5.

Der EWSA stimmt dem Vorschlag zu und unterstützt ihn, um sicherzustellen, dass Emittenten von bedeutenden Kryptowerten, die als globale Stablecoins bezeichnet werden, strengeren Anforderungen in Bezug auf Kapital, Anlegerrechte und Aufsicht unterworfen werden. Die Regulierung ist unabdingbar, um Geldströme zu verhindern, die außerhalb der Kontrolle durch die Zentralbanken, die sektoralen Behörden und die demokratischen Institutionen liegen.

3.6.

Der EWSA begrüßt die taxonomischen Bemühungen der Kommission, bei der Definition der Begriffe Kryptowerte und Distributed-Ledger-Technologie die verschiedenen Arten von Kryptowerten zu berücksichtigen. Damit sind die Definitionen für mögliche künftige technologische Entwicklungen und Marktentwicklungen geeignet.

3.7.

Gleichwohl würde nach Auffassung des EWSA die Ausarbeitung detaillierterer Spezifikationen für die verschiedenen Unterkategorien von Kryptowerten und ihren Anwendungsbereich für noch mehr Klarheit sorgen. So könnten Auslegungsrisiken bei der Behandlung von Kryptowerten vermieden werden, die unter die Restkategorie „andere Kryptowerte als wertreferenzierte Token und E-Geld-Token“ fallen.

3.8.

Der EWSA begrüßt die sorgfältige Vermeidung von Doppelungen in den Rechtsvorschriften durch die Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Verordnungsvorschlags gemäß Artikel 2 Absatz 2. Diese Bestimmungen sind angemessen und relevant. Überschneidungen bei den Anforderungen und Doppelungen in den Rechtsvorschriften des Verordnungsvorschlag über Märkte für Kryptowerte, z. B. mit der MiFID sind zu vermeiden.

3.9.

Rechtsvorschriften dürfen nicht kollidieren. Dies würde zu Rechtsunsicherheit, Befolgungskosten und übermäßigen Belastungen für die Akteure führen und Innovationen potenziell einschränken. Um eine klare Trennung zwischen den beiden Bereichen und damit die notwendige Rechtssicherheit zu erreichen, sollte eine Definition des Begriffs „Sicherheitstoken“ erarbeitet werden. Dabei sollten klare Angaben über die Kennzeichen eines als Finanzinstrument einzustufenden Kryptowerts gemacht werden.

3.10.

Der EWSA begrüßt daher die institutionelle Einbindung des operativen Fachwissens der EBA (5) und der ESMA (6), sowohl im Vorfeld der Veröffentlichung der in dieser Stellungnahme behandelten Vorschläge als auch im Hinblick auf die zu erwartende Verwaltungszusammenarbeit zwischen diesen europäischen Fachbehörden und den zuständigen nationalen Behörden bei der Umsetzung der neuen Vorschriften.

3.11.

Durch die Entscheidung, die Anwendung des Vorschlags im Wesentlichen auf Utility-Token und Stablecoins zu begrenzen, beschränkt die Kommission den regulatorischen Eingriff auf andere Aktivitäten als Finanzinstrumente und Anlageprodukte, die als „digitale Darstellungen“ von Rechten aus Investitionen und Geschäftstätigkeiten definiert werden können, die mithilfe von DLT verwaltet werden. Dadurch müssen Token oder Kryptowerte mit konkreten Werten verknüpft werden. Sie sind daher weniger dem Risiko einer opportunistischen Nutzung ausgesetzt, die zum Aufbau von Ersparnissen ohne die notwendigen Absicherungen der Anleger führen könnte.

3.12.

Nach Ansicht des EWSA müssen „hybride“ Token eindeutiger klassifiziert werden. Einige Kryptowerte können nach der Ausgabephase unterschiedliche Funktionen haben und ihre Beschaffenheit unter bestimmten Bedingungen verändern. Daher sollte die Regelung für diese sich verändernden hybriden Instrumente präzisiert werden, da eine grundlegende Veränderung möglicherweise die Anwendung unterschiedlicher Rechtsvorschriften erfordert.

3.13.

Der EWSA unterstützt auch Maßnahmen der EU zur Beseitigung potenzieller Innovationshemmnisse im Zusammenhang mit neuen digitalen Technologien. Diese unterliegen Rechtsvorschriften für Finanzdienstleistungen, die nicht immer mit der Geschwindigkeit der technologischen Innovation im Laufe der Zeit Schritt halten können.

3.14.

Unter den Innovationen mit einem disruptiven Potenzial für den Finanz- und Geldsektor muss der DLT besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hierzu gehört zum Beispiel die bekannte Blockchain-Technologie, die die Infrastruktur darstellt, auf der der Erfolg von Bitcoin und anderen Formen von Kryptowerten beruht.

3.15.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU mit den vorgeschlagenen Änderungen zur Anpassung der Richtlinie (EU) 2019/1937 die wirksame Anwendung der bestehenden Vorschriften auf das neue Umfeld sicherstellen kann. Die europäische Regulierung kann auch die sichere Entwicklung eines neuen Regulierungsrahmens gewährleisten, wie er in dem Pilotvorschlag für eine Verordnung von Marktinfrastrukturen auf Basis der DLT dargelegt ist.

3.16.

Diese Maßnahmen müssen für regulatorische Klarheit sorgen und den institutionellen Finanzsektor in die Lage versetzen, durch eine breitere Nutzung der DLT mehr Effizienz zu erreichen. Sie sind nicht zuletzt eine Reaktion auf die mitunter unkontrollierte Verbreitung alternativer Kryptowährungen oder Zahlungssysteme, die von unregulierten Akteuren entwickelt wurden.

3.17.

Die EU muss auch deshalb eingreifen, weil mehrere Mitgliedstaaten begonnen haben, Regulierungsinstrumente zu verabschieden, und zwar sowohl im Zuge gesetzgeberischer Eingriffe als auch mit Empfehlungen und Leitlinien der sekundären Regulierungsbehörden oder -institutionen wie den Zentralbanken oder den Finanzmarktaufsichts- und -kontrollbehörden.

3.18.

Obwohl diese Interventionen dieselben grundlegenden Ziele verfolgen, besteht die Gefahr, dass sie zu einem fragmentierten und uneinheitlichen Rechtsrahmen im Binnenmarkt führen. Andererseits haben einige Mitgliedstaaten bisher keinerlei Initiativen ergriffen. Dies trägt zu einer uneinheitlichen, fragmentierten Regulierungslandschaft mit divergierenden bzw. überhaupt keinen Regulierungsmaßnahmen bei.

3.19.

Nach Auffassung des EWSA müssen die Auslegung der Verordnung und die Entscheidungen der zuständigen nationalen Behörden im Genehmigungsverfahren so kohärent wie möglich sein. Es gilt, gleiche Ausgangsbedingungen zu gewährleisten und rechtliche Willkür zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Dabei sollte die Möglichkeit der EU-weiten Portabilität einer erhaltenen Zulassung erwogen werden.

3.20.

Deshalb unterstützt der EWSA die Entscheidung der Kommission, durch eine spezifische Verordnung für eine einheitliche und gleichzeitige europäische Regulierung zu sorgen. Denn eine einheitliche und standardisierte Regulierung im Sinne des in den Verträgen verankerten Subsidiaritätsprinzips ist sicherlich wirksamer als eine Vielzahl einzelstaatlicher Maßnahmen.

3.21.

Der EWSA begrüßt, dass die wichtigsten Ziele des Verordnungsvorschlags darin bestehen, die Transparenz der Informationen zu gewährleisten und ein geeignetes Zulassungssystem zu schaffen. Bevor die Kommissionsvorschläge, die Gegenstand der vorliegenden Stellungnahme sind, vorgelegt wurden, fehlte im Rechtsrahmen ein Filter für die Zulassung von Aktivitäten, die auf DLT-Technologie basieren, sowie eine wirksame Aufsicht über die Operationen.

3.22.

Der EWSA hofft, dass praktische Schritte unternommen werden, um Verbraucher und Kleinanleger angemessen über die zu erlassenden neuen Vorschriften zu informieren und zu sensibilisieren. Dabei sind sowohl die Risiken als auch die Vorteile und Chancen der neuen Technologien für den Finanz- und Anlagesektor hervorzuheben. Es gilt, die für den Finanzsektor bereits typische Informationsasymmetrie zu verringern. Diese ist in Bezug auf die in dieser Stellungnahme behandelten Themen, die aufgrund ihres neuartigen und technischen Charakters schwer zu verstehen sind, für Verbraucher und Kleinanleger in besonderem Maße einschneidend und unverhältnismäßig.

3.23.

Der EWSA empfiehlt, den vor der Zulassung durchzuführenden Prüfungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere hinsichtlich der geschäftlichen Zuverlässigkeit der zuzulassenden Stellen, um opportunistisches und schädliches Verhalten zu vermeiden.

3.24.

In der Tat scheint es auch heute noch kein entsprechendes Maß an Standardisierung und Interoperabilität der DLT zu geben, das eine sichere Beurteilung der technologischen Zuverlässigkeit und Cyber-Resilienz der von den Betreibern verwendeten Infrastruktur ermöglicht. Daher ist auf die Gewährleistung eines hohen Maßes an Verbraucher- und Anlegerschutz zu achten.

3.25.

Der EWSA hofft auf konkrete Fortschritte bei der Betriebsstabilität digitaler Systeme, die Gegenstand des spezifischen Vorschlags für die DORA-Verordnung ist und die zum Maßnahmenpaket zum digitalen Finanzwesen gehört. Diese Paket greift vom Finanzsektor hervorgehobene kritische Aspekte auf und zielt darauf ab, Rechtsklarheit in Bezug auf die Bestimmungen zu IKT-Risiken zu schaffen. Ferner soll die regulatorische Komplexität und der Verwaltungsaufwand für Unternehmen verringert werden, wie in der EWSA-Stellungnahme zum Thema „Betriebsstabilität digitaler Systeme“ (7) hervorgehoben wurde.

3.26.

In diesem Sinne begrüßt der EWSA den Vorschlag für eine Verordnung über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen. Die Kommission bezieht sich darin auf Marktinfrastrukturen, die den Handel mit und die Abrechnung von Geschäften mit Finanzinstrumenten in Form von Kryptowerten ermöglichen sollen. Im Einzelnen werden die Anforderungen und Bedingungen für die Erteilung einer besonderen Genehmigung für den Betrieb eines DLT-MTF festgelegt und diese Anforderungen in einen Rahmen für die Beaufsichtigung durch die sektoralen Behörden gestellt.

3.27.

Darüber hinaus verfolgt die Pilotregelung einen sogenannten „Sandkasten“-Ansatz, bei dem ein Testbereich in einer kontrollierten Umgebung identifiziert wird, der vorübergehende Ausnahmen von den bestehenden Regeln ermöglicht. Dieser Ansatz ermöglicht es Regulierungsbehörden und Marktteilnehmern, Erfahrungen mit dem Einsatz der DLT in Marktinfrastrukturen zu sammeln und so ausreichend Zeit zu gewähren, um die Risiken für Anleger, Marktintegrität und Finanzstabilität angemessen zu steuern.

3.28.

Durch die Annahme der Pilotregelung (bzw. des „Sandkastens“) kann ein empirischer Ansatz verfolgt werden. Dieser basiert auf konkreten und zeitlich begrenzten Experimenten. Zu einem späteren Zeitpunkt und im Lichte der gewonnenen Erfahrungen kann dann eine einschneidendere regulatorische Anpassung erfolgen, ohne dabei die Einführung und vollständige Entwicklung der DLT und die Innovationen, die ihre Nutzung mit sich bringen kann, zu behindern. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Phase des Ausstiegs aus der Pilotregelung gewidmet werden, um die Nutzer und Akteure, die an der Erprobung teilgenommen haben, zu schützen.

3.29.

Der EWSA hält den Vorschlag für die Pilotregelung für begrüßenswert. Gleichwohl ist er der Auffassung, dass die fünfjährige Frist für die Berichterstattung der ESMA an die Kommission angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich digitale Finanztechnologien weiterentwickeln, zu lang ist.

3.30.

Zudem sollte die Möglichkeit erwogen werden, die Pilotregelung im Anschluss an den ESMA-Bericht zu beenden, indem ein schrittweiser Ausstieg eingeführt wird. Dieser könnte den Betreibern einen schrittweisen Ausstieg aus der Pilotregelung und die Erstattung möglichst aller bei der Erprobung entstandenen Kosten ermöglichen. Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass das Modell der Pilotregelung auch angewandt werden könnte, um die Rolle von Wertpapierfirmen und Banken anzuerkennen, die Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Betrieb von DLT-Infrastrukturen für Wertpapierhandel, Wertpapierverwahrung und -verwaltung ausüben.

3.31.

Was schließlich die Anwendung der Verordnung über Kryptomärkte insgesamt betrifft, so ist EWSA über die Anwendung einer „Übergangsregelung“ tief besorgt, die eine dauerhafte Befreiung von den Vorschriften für solche Kryptowerte vorsieht, die bereits vor Inkrafttreten der Verordnung auf dem Markt waren und unter die Restkategorie „andere Kryptowerte als wertreferenzierte Token und E-Geld-Token“ fallen (Artikel 123).

3.32.

Der EWSA fordert daher, die Möglichkeit, für einen bereits ausgegebenen Kryptowert eine solche Ausnahme dauerhaft in Anspruch zu nehmen, sorgfältig zu prüfen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung desselben Risikos und derselben Tätigkeit muss gewahrt werden. Es wäre in der Tat zweckmäßiger, die fragliche Bestimmung tatsächlich zu befristen und einen Zeitraum für die Anpassung solcher bereits auf dem Markt befindlichen Kryptowerte festzulegen.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17).

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Strategie für ein digitales Finanzwesen in der EU (ECO/534) (siehe Seite 27 dieses Amtsblatts).

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Betriebsstabilität digitaler Systeme (ECO/536) (siehe Seite 38 dieses Amtsblatts).

(4)  Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 349).

(5)  Europäische Bankaufsichtsbehörde.

(6)  Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Betriebsstabilität digitaler Systeme (ECO/536) (siehe Seite 38 dieses Amtsblatts).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/38


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009, (EU) Nr. 648/2012, (EU) Nr. 600/2014 und (EU) Nr. 909/2014“

(COM(2020) 595 final — 2020/0266 (COD))

und „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2006/43/EG, 2009/65/EG, 2009/138/EG, 2011/61/EU, 2013/36/EU, 2014/65/EU, (EU) 2015/2366 und (EU) 2016/2341“

(COM(2020) 596 final — 2020/0268 (COD))

(2021/C 155/06)

Berichterstatter:

Antonio GARCÍA DEL RIEGO

Befassung

Europäisches Parlament, 17.12.2020

Rat der Europäischen Union, 22.12.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 53 Absatz 1, Artikel 114 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

243/1/4

1.    Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung über die Betriebsstabilität digitaler Systeme (Digital Operational Resilience Act — DORA). Dieser zielt darauf ab, Rechtsklarheit in Bezug auf die Bestimmungen über Risiken im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zu schaffen, die regulatorische Komplexität zu verringern, eine Reihe gemeinsamer Standards zur Entschärfung von IKT-Risiken festzulegen und ein harmonisiertes Aufsichtskonzept zu ermöglichen. Gleichzeitig soll für Rechtssicherheit und die notwendigen Schutzmaßnahmen für Finanzunternehmen und IKT-Dienstleister gesorgt werden. Die DORA-Verordnung erhöht nicht nur die Widerstandsfähigkeit des Sektors gegenüber IKT-Risiken, sondern ist auch für eine Reihe von Akteuren wie Kunden, Anleger und Mitarbeiter von Interesse und trägt zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung bei.

1.2.

Der EWSA empfiehlt, die Wirksamkeit des DORA-Verordnungsvorschlags durch folgende Schritte zu erhöhen:

1.2.1.

Einbeziehung aller Anbieter von kritischen Finanzdienstleistungen, die Finanztätigkeiten erbringen, in den Geltungsbereich des DORA-Vorschlags, und Ausnahme von IKT-Dienstleistungen für nicht kritische Funktionen.

1.2.2.

Sicherstellung der Kohärenz in Definition und Geltungsbereich zwischen dem DORA-Vorschlag und den Anforderungen in den bestehenden Leitlinien der europäischen Finanzaufsichtsbehörden.

1.2.3.

Begünstigung eines Rahmens für einen grundsatz- und risikobasierten Ansatz im IKT-Management, der die Durchführung von Kontrollen erleichtert, die zukunftssicher, flexibel und den Risiken angemessen sind.

1.2.4.

Vollständige Angleichung bei IKT-bezogenen Vorfällen an das Instrumentarium des Finanzstabilitätsrats für Gegenmaßnahmen und Wiederherstellung bei Cybervorfällen (Cyber Incident Response and Recovery toolkit).

1.2.5.

Berücksichtigung nicht nur der Größe des Finanzinstituts, sondern auch der Komplexität und der kritischen Eigenschaften der Dienstleistungen beim Testen der Betriebsstabilität digitaler Systeme; Vermeidung der obligatorischen Auslagerungen von Tests, die von einer begrenzten Anzahl externer Prüfer durchgeführt werden, und gegenseitige Anerkennung der Testergebnisse.

1.2.6.

Konsolidierung der für Auslagerungen geltenden Anforderungen in einem einzigen Regelwerk, um Rechtssicherheit für alle Marktteilnehmer durchzusetzen und die Erwartungen in puncto Aufsicht zuverlässig zu erfüllen.

1.2.7.

Vollständige Durchsetzung der Empfehlungen der federführenden Aufsichtsbehörden und eine klare Festlegung der Rollen und Verantwortlichkeiten der verschiedenen an der Aufsicht über kritische IKT-Drittanbieter beteiligten Behörden.

1.2.8.

Sicherstellung des Zugangs zu ausgelagerten Dienstleistungen, die für in Drittländern ansässige IKT-Drittanbieter als kritisch erachtet werden, um die Vertragsfreiheit der Unternehmen und die Fähigkeit, auf die Dienstleistungen von Anbietern besonderer Mehrwertdienste zuzugreifen, nicht einzuschränken.

1.2.9.

Aufnahme der Verhältnismäßigkeit in die Sanktionsregelung, um negative Anreize zu vermeiden, aufgrund derer IKT-Anbieter vor der Diensteerbringung für EU-Finanzunternehmen zurückschrecken, und Abkehr von der derzeitigen Bezugnahme auf den weltweiten Umsatz.

1.2.10.

Klärung der Fähigkeit von Firmen, Informationen über Cyber-Bedrohungen auszutauschen. Damit soll sichergestellt werden, dass solche Vereinbarungen auf freiwilliger Basis getroffen werden und dass eine ausdrückliche Bestimmung, die den Austausch von personenbezogenen Daten erlaubt, in den DORA-Vorschlag aufgenommen wird.

1.2.11.

Die Anhebung der Schwellenwerte für die Ausnahme von Kleinst- und Kleinunternehmen gemäß Definition der Empfehlung der Kommission 2003/361/EG (1) Anhang I, Artikel 2 Absatz 2 (Unternehmen, das weniger als 50 Personen beschäftigt und dessen Jahresumsatz bzw. Jahresbilanz 10 Mio. EUR nicht übersteigt) sowie die Verringerung der Zahl der Anforderungen für KMU im Verhältnis zum jeweiligen digitalen Risikoprofil könnten erwogen werden.

1.3.

Der EWSA begrüßt, dass die federführenden Aufsichtsbehörden zur Durchführung der Prüfungs- und Kontrollverfahren für die kritische IKT-Drittanbieter bevollmächtigt werden und so ein besseres Verständnis für die von den kritischen IKT-Drittanbietern ausgehenden potenziellen Risiken erlangen können. Dies könnte dazu beitragen, die Auslagerungsverfahren der Banken zu straffen.

2.    Hintergrund

2.1.

Europäische Verbraucher und Unternehmen setzen zunehmend auf digitale Finanzdienstleistungen. Gleichzeitig setzen die Marktteilnehmer immer mehr innovative Lösungen auf der Grundlage neuer Technologien ein. Die digitale Transformation ist der Schlüssel für den europäischen Aufschwung und für die Schaffung einer nachhaltigen und widerstandsfähigen europäischen Wirtschaft.

2.2.

Im Einklang mit den Prioritäten der Europäischen Kommission, Europa für das digitale Zeitalter fit zu machen und eine zukunftsfähige Wirtschaft aufzubauen, die im Dienste des Menschen steht, hat die Kommission ein Paket zur Digitalisierung des Finanzsektors vorgelegt. Dieses Paket skizziert Maßnahmen, um weitere Digitalisierungspotenziale des Finanzsektors in Bezug auf Innovation und Wettbewerb freizusetzen und zu fördern und gleichzeitig die damit verbundenen Risiken einzudämmen.

2.3.

Neben dem Vorschlag zur Betriebsstabilität digitaler Systeme enthält das Paket zur Digitalisierung des Finanzsektors (2) eine neue Strategie zur Digitalisierung des EU-Finanzsektors und einen Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte zusammen mit einem Vorschlag für eine Verordnung über eine Pilotregelung zur Marktinfrastruktur für die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) (3).

2.4.

Die Betriebsstabilität digitaler Systeme ist die Fähigkeit von Unternehmen, sicherzustellen, dass sie allen Arten von Störungen und Bedrohungen im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) standhalten. Aufgrund der stetig zunehmenden Abhängigkeit des Finanzsektors von Software und digitalen Prozessen sind IKT-Risiken Teil des Finanzwesens. Finanzunternehmen sind zur Zielscheibe von Cyberangriffen geworden, die bei Verbrauchern und Unternehmen zu schwerwiegenden finanziellen Schäden und Rufschädigungen führen. Diese Risiken müssen gut verstanden und gehandhabt werden, insbesondere in Stressphasen.

2.5.

Während die Reformen infolge der Finanzkrise 2008 die Widerstandsfähigkeit des EU-Finanzsektors stärkten, wurden IKT-Risiken nur indirekt angegangen. Das Fehlen eines umfassenden Regulierungsrahmens auf europäischer Ebene für die Betriebsstabilität digitaler Systeme führte dazu, dass man sich auf nationale Regulierungsinitiativen verließ. Dies hat jedoch die grenzübergreifende Wirksamkeit eingeschränkt und zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes geführt, die die Stabilität und Integrität des EU-Finanzsektors untergräbt. Vor diesem Hintergrund schlägt die Kommission vor, einen umfassenden Rahmen für die Betriebsstabilität digitaler Systeme von EU-Finanzunternehmen zu schaffen.

2.6.

Der Legislativvorschlag zur Betriebsstabilität digitaler Systeme (DORA) (4) zielt darauf ab, die Durchführung des IKT-Risikomanagements durch Finanzunternehmen zu verbessern und zu straffen, gründliche Resilienztests für IKT-Systeme einzuführen, den Informationsaustausch zu fördern und das Bewusstsein der Aufsichtsbehörden für Cyberrisiken und IKT-bezogene Vorfälle, mit denen Finanzunternehmen konfrontiert sind, zu schärfen sowie Befugnisse für Finanzaufsichtsbehörden einzuführen, um Risiken zu überwachen, die sich für Finanzunternehmen aus der Abhängigkeit von IKT-Drittdienstleistern ergeben. Mit dem Vorschlag soll auch ein einheitlicher Mechanismus zur Meldung von Vorfällen geschaffen werden, der dazu beitragen könnte, den Verwaltungsaufwand für Finanzunternehmen zu verringern und die Wirksamkeit der Aufsicht zu stärken.

2.7.

Die Kommission hat auch einen Vorschlag für eine Richtlinie (5), da eine vorübergehende Ausnahme für multilaterale Handelssysteme geschaffen und gewisse Bestimmungen in bestehenden EU-Finanzdienstleistungsrichtlinien geändert oder geklärt werden müssen, um die Ziele des Vorschlags zur Betriebsstabilität digitaler Systeme zu erreichen.

2.8.

Als eine der weltweit größten Branchen wurde der Wert des IKT-Marktes im Jahr 2019 auf über fünf Billionen US-Dollar geschätzt. Dieser Wert soll bis 2022 auf geschätzt über sechs Billionen US-Dollar steigen. Das kontinuierliche Wachstum bestätigt die ständig zunehmende Verbreitung und Bedeutung von Technologien in der heutigen Gesellschaft. Laut Folgenabschätzung zum Legislativvorschlag ist der Finanzsektor mit einem Anteil von ca. 20 % der gesamten IKT-Ausgaben der größte IKT-Nutzer der Welt.

2.9.

COVID-19 hat die Verbreitung digitaler Finanzdienstleistungen vorangetrieben, während die Filialnetze der Finanzinstitute nach wie vor nicht ausreichend ausgelastet sind. Dies wird Investitionen in digitale Selbstbedienungstools, Anwendungen im Bereich Open Finance und Mehrwertdienste anregen. Insgesamt wird die aktuelle Situation Finanzinstitute dazu zwingen, mehr in die IT-Infrastruktur zu investieren, die Migration kritischer Arbeitslasten zu priorisieren und bestehende Anwendungen zu aktualisieren. Der europäische Finanzsektor durchläuft bereits eine große digitale Transformation. Seine Fähigkeit, im globalen Wettbewerb zu bestehen, wird weitgehend von der Fähigkeit der europäischen Institute abhängen, von den fortschrittlichsten Technologien zu profitieren.

3.    Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Verordnungsvorschlag zur Betriebsstabilität digitaler Systeme (DORA). Dieser greift viele der vom Finanzsektor angeführten Forderungen auf und zielt darauf ab, Rechtsklarheit in Bezug auf die Bestimmungen über IKT-Risiken zu schaffen, die regulatorische Komplexität zu verringern und den Verwaltungsaufwand zu reduzieren, der sich aus den in der EU bestehenden unterschiedlichen Vorschriften für Finanzunternehmen ergibt. Die DORA-Verordnung wird nicht nur die Widerstandsfähigkeit des Sektors gegenüber IKT-Risiken erhöhen. Sie ist auch für eine Reihe von Interessenträgern, darunter Kunden, Anleger und Mitarbeiter, von Interesse und trägt zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung bei.

3.2.

Der EWSA sieht im DORA-Vorschlag einen wichtigen Schritt zur Schaffung gemeinsamer Standards, um IKT-Risiken einzudämmen und einen harmonisierten aufsichtsrechtlichen Ansatz zu erleichtern. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass keine zusätzlichen Hürden aufgebaut werden, die die EU-Finanzinstitute daran hindern könnten, am globalen Innovationsprozess teilzunehmen.

3.3.

Für den EWSA von vordringlicher Bedeutung, dass die EU-Behörden eine verhältnismäßige und risikobasierte Regelung anstreben. Diese sollte den Aufsichtsbehörden Instrumente an die Hand geben, die ihren Aufgaben gerecht werden, und gleichzeitig Rechtssicherheit und die notwendigen Schutzmaßnahmen für Finanzunternehmen und IKT-Anbieter bieten.

4.    Besondere Bemerkungen

4.1.   Anwendungsbereich und regulatorische Überschneidungen

4.1.1.   Einbeziehung weiterer relevanter Finanzmarktteilnehmer

Der EWSA anerkennt und begrüßt, dass die vorgeschlagene Rechtsvorschrift auf ein breites Spektrum von Finanzmarktteilnehmern abzielt und die einheitliche Anwendung der Vorschriften im gesamten EU-Finanzsektor gewährleisten wird. Er empfiehlt jedoch den politischen Entscheidungsträgern in der EU, auch Finanzmarktteilnehmer einzubeziehen, die nicht als Teil des Anwendungsbereichs dieser vorgeschlagenen Rechtsvorschrift gelten, wie z. B. Hypothekarkreditgeber und Anbieter von Verbraucherkrediten. Alle Anbieter von Finanzdienstleistungen, die identische Tätigkeiten erbringen und die gleichen Risiken eingehen, sollten den gleichen Vorschriften und der gleichen Aufsicht unterliegen, um zum Schutz der Verbraucher und der Finanzstabilität den gleichen Mindestrahmen für die digitale Resilienz zu gewährleisten.

4.1.2.   Kohärenz auf internationaler und EU-Ebene, sowie mit bestehenden Regelungen

Es ist von entscheidender Bedeutung, den Unternehmen Klarheit zu verschaffen, insbesondere denjenigen, die grenzüberschreitend tätig sind, indem sichergestellt wird, dass die Definitionen und Begriffe kohärent sind und Doppelungen, Überschneidungen und unterschiedliche Auslegungen darüber, wie ähnliche regulatorische Erwartungen in verschiedenen Rechtsordnungen erfüllt werden sollen, vermieden werden. Der EWSA empfiehlt den politischen Entscheidungsträgern der EU, die Bestimmung des Begriffs der Betriebsstabilität an die Definition des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht (BCBS) (6) anzugleichen und sicherzustellen, dass dies die für die EU-Finanzinstitute geltende maßgebliche Regelung ist. Es gilt, die Gefahr von Widersprüchen mit anderen Regelungen zu vermeiden. Außerdem sind viele der in DORA festgelegten Grundsätze und Anforderungen bereits in den bestehenden Leitlinien zu Auslagerungen definiert (7). IKT-Risiken und Anforderungen an das Sicherheitsrisikomanagement sind ebenfalls bereits in den EBA-Leitlinien definiert. Es ist von entscheidender Bedeutung, in puncto Definition und Geltungsbereich die Kohärenz zwischen DORA und den in den bestehenden Leitlinien festgelegten Anforderungen sicherzustellen, um die Harmonisierung der regulatorischen Anforderungen der EU zu erreichen.

4.1.3.

Ebenso empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission, dafür zu sorgen, dass die laufende Überarbeitung der Richtlinie über die Sicherheit von Netz- und Informationssystemen (NIS) und der DORA-Vorschlag dieselben Definitionen und Anforderungen an die Meldepolitik für Sicherheitsvorfälle für Finanzunternehmen enthalten.

4.2.   IKT-Risikomanagement

Einige Elemente des Rahmens sind zu sehr auf die Einhaltung von Vorschriften fokussiert, anstatt darauf, wie Firmen Ergebnisse in einem grundsatz- und risikobasierten Ansatz nachweisen können. Da sie zu präskriptiv und detailliert sind, laufen sie Gefahr, mit der Weiterentwicklung der Cyber- und IKT-Risikolandschaft zu veralten. Der EWSA empfiehlt einen stärker grundsatz- und risikobasierten Ansatz, der die Durchführung von Kontrollen erleichtert, die zukunftssicher, flexibel, verhältnismäßig und den Risiken angemessen sind.

4.3.   IKT-bezogene Vorfälle

Der EWSA empfiehlt eine vollständige Angleichung zwischen dem kürzlich vom Rat für Finanzstabilität (FSB) bereitgestellten Instrumentarium für Gegenmaßnahmen und Wiederherstellung bei Cybervorfällen (CIRR) (8), das bewährte Verfahren für die Meldung von Vorfällen enthält, und den Vorschlägen in DORA zu Management, Klassifizierung und Meldung von IKT-bezogenen Vorfällen. Es gibt Überschneidungen, die zu regulatorischer Unsicherheit führen und den Verwaltungsaufwand der Unternehmen erhöhen.

4.4.   Prüfung der Betriebsstabilität digitaler Systeme

4.4.1.

Der EWSA begrüßt das europaweite System für bedrohungsorientierte Penetrationstests (TLPT — Threat Led Penetration Testing), da es die Effizienz erhöhen und die Fragmentierung verringern wird. Gleichwohl empfiehlt der EWSA den Behörden, sich nicht nur auf die Größe oder die Reichweite des Finanzinstituts zu konzentrieren, sondern auch auf die Komplexität und Kritikalität des Dienstes. Dabei ist ggf. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen und die Unterscheidung zwischen grundlegenden Prüfungen für alle Finanzinstitute und anspruchsvolleren Prüfungen für bedeutende Finanzinstitute aufzuheben. Es muss sichergestellt werden, dass die Kunden kleinerer Finanzinstitute gleichermaßen geschützt sind und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Finanzinstitute geschaffen werden.

4.4.2.

Der EWSA empfiehlt, die Auslagerung von Prüfungen an externe Prüfer nicht zwingend vorzuschreiben, da die Zahl der externen Prüfer begrenzt ist. Firmen können durchaus ihre eigenen internen Prüfteams haben, die mit der Firmenumgebung vertraut sind und in der Lage sind, anspruchsvollere und gezieltere Prüfungen durchzuführen.

4.4.3.

Die Einbeziehung von IKT-Drittanbietern in den Anwendungsbereich des TLPT sollte überprüft werden. Die Tatsache, dass IKT-Drittanbieter möglicherweise eine Reihe von Kunden bedienen, könnte zu erheblichen Doppelprüfungen führen, was wiederum relevante Risiken für den IKT-Drittanbieter und die von ihm betreuten Kunden schaffen könnte.

4.4.4.

Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, ausdrücklich auf die gegenseitige Anerkennung von Prüfergebnissen zu verweisen, da diese zur Risikominderung und zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes beiträgt. Zudem lassen sich so Mehrkosten für grenzüberschreitend tätige Finanzunternehmen vermeiden.

4.5.   Steuerung des Risikos durch IKT-Drittanbieter und des Überwachungsrahmens für kritische IKT-Drittanbieter

4.5.1.   Sicherstellung der Kohärenz mit den bestehenden Leitlinien zu Auslagerungen

Der EWSA begrüßt, dass mit DORA ein gemeinsamer Rechtsrahmen für eine zuverlässige Steuerung des Risikos durch IKT-Drittanbieter für alle Finanzmarktteilnehmer in Europa geschaffen wird. Es wird jedoch von entscheidender Bedeutung sein, eine vollständige Angleichung zwischen dieser gemeinsamen Grundlage, die in den allgemeinen Grundsätzen (Artikel 25, 26 und 27) festgelegt ist, und den bestehenden Vorschriften wie den Leitlinien der europäischen Aufsichtsbehörden zu Auslagerungen sicherzustellen (d. h. die bestehende Dichotomie im Anwendungsbereich zwischen „Auslagerung“ und „Drittdienstleistung“ (9) aufzulösen). Darüber hinaus hält der EWSA dies für eine gute Gelegenheit für die EU-Behörden, die Anforderungen an die Auslagerung in einer einzigen Verordnung zu konsolidieren — mit hinreichender Ausführlichkeit, um unterschiedliche Auslegungen zu vermeiden –, die allen Marktteilnehmern Rechtssicherheit bringen und die aufsichtsbezogenen Erwartungen zuverlässig erfüllen könnte.

4.5.2.   Anforderungen, die für kritische oder wichtige ausgelagerte Tätigkeiten gelten

Bei der Anwendung von Artikel 25 Absatz 2 der Verordnung muss im Interesse eines risikoorientierten Fokus konkreter darauf eingegangen werden, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewandt wird, indem die Anforderungen spezifiziert werden, die für kritische oder wichtige ausgelagerte Tätigkeiten gelten würden, und diejenigen, die für die übrigen Tätigkeiten gelten würden (10). Der EWSA empfiehlt die Nutzung von IKT-Diensten für nicht kritische Funktionen vom Anwendungsbereich von DORA auszunehmen.

4.5.3.   Direkter Aufsichtsrahmen für kritische Drittanbieter

Der EWSA begrüßt die Einführung eines direkten Aufsichtsrahmens, der in Ermangelung eines horizontalen, sektorübergreifenden EU-Rahmens eine kontinuierliche Überwachung der Tätigkeiten von kritischen IKT-Drittanbietern durch die Finanzbehörden ermöglicht. In der vorgeschlagenen Verordnung sollten die EU-Behörden anerkennen, dass die Risikoexposition von Finanzinstituten aufgrund der kontinuierlichen Überwachung ihrer Aktivitäten sinkt, wenn ein kritischer IKT-Anbieter unter diese Aufsicht fällt. Daher sollte dieser neue Aufsichtsrahmen auch dazu beitragen, die Auslagerungs-Verfahren der Banken zu straffen. Ein Teil des Aufwands, dem Finanzunternehmen derzeit ausgesetzt sind, wird verringert, z. B. in Bezug auf die Durchführung von Prüfungs- und Kontrollverfahren bezüglich der als kritisch eingestuften Drittanbieter.

4.5.4.

Der EWSA befürwortet die Ermächtigung der federführenden Aufsichtsinstanz zur Durchführung der Prüfungs- und Kontrollverfahren bei den kritischen IKT-Drittanbietern. Denn die federführenden Aufsichtsinstanzen würden ein besseres Verständnis der Risiken erlangen, die von den diesen kritischen Drittanbietern ausgehen können, da sie deren Prozesse und Gegebenheiten aus erster Hand kennen und sich nicht auf die derzeitige Berichterstattung der beaufsichtigten Finanzinstitute verlassen müssten. Die Strategien der Finanzinstitute zu Risikominderung und die entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen sollten beibehalten werden. Werden Kontrollen und Audits jedoch bereits von der federführenden Aufsichtsinstanz durchgeführt, sollten die Finanzinstitute von diesem zusätzlichen Sicherheitsniveau profitieren und diese Kontrollen und Audits nicht erneut durchführen müssen.

4.5.5.   Federführende Aufsichtsinstanz und zuständige nationale Behörden

Nach Abschluss des Aufsichtsprozesses werden die Empfehlungen der federführenden Aufsichtsinstanz von den zuständigen nationalen Behörden weiterverfolgt, die bei benannten kritischen Drittanbietern ihren eigenen Ansatz zur Umsetzung der Ergebnisse der federführenden Aufsichtsinstanz haben können. Der EWSA empfiehlt, vollständige Klarheit über die Rollen und Zuständigkeiten der verschiedenen Behörden zu schaffen, um eine Situation zu vermeiden, in der sich unterschiedliche Auslegungen je nach zuständiger Behörde unterschiedlich auf die Kunden kritischer Drittanbieter auswirken. Das Risiko einer Fragmentierung soll so verringert werden. Angesichts der derzeitigen Unklarheit von Artikel 37 in Bezug auf ihre Verbindlichkeit sollten diese Empfehlungen auch vollständig durchsetzbar gemacht werden.

4.5.6.   Aussetzung der Nutzung eines kritischen Drittanbieters

Gemäß Verordnungsvorschlag haben die nationale Finanzaufsichtsbehörden die Befugnis, von Kunden zu verlangen, die Nutzung eines IKT-Anbieters vorübergehend teilweise oder vollständig auszusetzen, bis die in den Empfehlungen ermittelten Risiken behoben sind. Die Forderung nach einer sofortigen Beendigung der Zusammenarbeit mit einem kritischen Drittanbieter würde sich definitiv auf bestehende oder künftige geschäftliche und betriebswirtschaftliche Entscheidungen auswirken (z. B. vor Investitionen in der EU abschrecken) und möglicherweise die Finanzstabilität beeinträchtigen. Bevor solche Entscheidungen getroffen werden, sollten die zuständigen Behörden neben anderen Faktoren sorgfältig die potenziellen negativen Auswirkungen der Beendigung des Dienstes für die Finanzunternehmen abwägen, die diesen speziellen kritischen Drittanbieter in Anspruch nehmen (11), genaue Kriterien für die Anwendung einer solchen Forderung festlegen und mögliche Korrekturmaßnahmen erwägen.

4.5.7.

Sollte eine solche Situation jedoch letztlich eintreten, empfiehlt der EWSA zudem, die Finanzunternehmen rechtzeitig zu informieren und ihnen ausreichend Zeit für den Wechsel einzuräumen.

4.6.   Erhalt der globalen Wettbewerbsfähigkeit europäischer Finanzunternehmen

4.6.1.

Der neue Rahmen muss die Fähigkeit der europäischen Finanzunternehmen bewahren, mindestens auf die gleichen Technologien zuzugreifen wie ihre globalen Wettbewerber. EU-Finanzunternehmen stehen im globalen Wettbewerb. Der künftige EU-Rechtsrahmen sollte die EU-Unternehmen nicht benachteiligen, indem der Zugang zu den fortschrittlichsten Technologien einschränkt wird, solange die Anbieter dieser Technologien die EU-Standards in puncto Resilienz und Sicherheit erfüllen.

4.6.2.   Drittanbieter mit Sitz in Drittländern

Die Möglichkeit der Auslagerung von als kritisch erachteten Dienstleistungen an Drittanbieter mit Sitz in Drittländern sollte durch die Verordnung nicht einschränkt werden. Diese Einschränkung würde die Vertragsfreiheit der einzelnen Unternehmen und die Fähigkeit der europäischen Finanzinstitute massiv einschränken, auf die Dienste von Anbietern mit hohem Mehrwert zuzugreifen, die es in Europa höchstwahrscheinlich nicht in ausreichender Zahl geben wird. Dies ist umso relevanter, als der vorgeschlagene Aufsichtsrahmen auf den Finanzsektor beschränkt ist. Das würde ungleiche Wettbewerbsbedingungen für andere Akteure schaffen, die nicht dieser Regulierung unterliegen, und am Ende die Gefahr einer Konzentration erhöhen, die mit der Verordnung ja gerade vermieden werden soll.

4.6.3.   Zwangsgelder auf der Grundlage des globalen Umsatzes

Der Vorschlag sieht Strafzahlungen in Bezug auf den weltweiten Umsatz für IKT-Anbieter vor, wenn diese den Aufforderungen der EU-Finanzaufsichtsbehörden nicht nachkommen. Eine unverhältnismäßige Anwendung solcher Sanktionen könnte globale IKT-Anbieter davon abhalten, EU-Finanzunternehmen zu bedienen. Für EU-Finanzunternehmen könnte dies de facto die Auswahl an Anbietern einschränken. Darüber hinaus würde es nicht kritische IKT-Drittanbieter davon abhalten, sich dem Aufsichtsregime anzuschließen. Es besteht die Gefahr, mit unverhältnismäßigen Bußgeldern bestraft zu werden, weshalb sie den Wettbewerb im vorgelagerten Markt verringern könnten. Der EWSA spricht sich für die Einführung der Verhältnismäßigkeit bei der Sanktionsregelung aus. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um zu verhindern, dass IKT-Anbieter, die Dienstleistungen für EU-Finanzinstitute erbringen wollen, abgeschreckt werden.

4.7.   Vereinbarung über den Austausch von Informationen

4.7.1.

Der EWSA begrüßt Vereinbarungen über den Informationsaustausch über Cyberbedrohungen zwischen Finanzinstituten auf freiwilliger Basis. Denn ein rechtzeitiger Informationsaustausch ist von entscheidender Bedeutung, um Angriffsvektoren wirksam zu ermitteln und potenzielle Bedrohungen zu isolieren und zu verhindern.

4.7.2.

Der EWSA empfiehlt ferner, dass die EU-Behörden unter den Bedingungen dieses Vorschlags eine explizite Grundlage für den Austausch personenbezogener Daten (wie z. B. IP-Adressen) vorsehen. Dadurch würde die Unsicherheit verringert und die Fähigkeit der Finanzunternehmen gestärkt, ihre Verteidigungsfähigkeiten zu verbessern, Bedrohungen besser zu erkennen und das Risiko einer Ansteckung untereinander zu verringern. Weitergehende Klarheit ist aufgrund der vertraulichen und sensiblen Natur der Daten erforderlich.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. L 124 vom 20.5.2003, S. 36.

(2)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/534 — Strategie für ein digitales Finanzwesen in der EU (Siehe Seite 27 dieses Amtsblatts).

(3)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/535 — Kryptowerte und Distributed-Ledger-Technologie (Siehe Seite 31 dieses Amtsblatts).

(4)  COM(2020) 595 final.

(5)  COM(2020) 596 final.

(6)  Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, Principles for operational resilience, (Grundsätze für die Betriebssicherheit) 6. November 2020.

(7)  So z. B. die Leitlinien der EBA, der EIOPA sowie der Entwurf der ESMA-Leitlinien, die sich in der Konsultation befanden.

(8)  Rat für Finanzstabilität, Final Report on Effective Practices for Cyber Incident Response and Recovery (Abschlussbericht zum wirksamen Umgang mit Cybervorfällen), 19. Oktober 2020.

(9)  DORA bezieht sich nur auf Dienstleistungen von IKT-Drittanbietern in Bezug auf die Grundsätze für eine zuverlässige Steuerung des Risikos durch IKT-Drittanbieter (Kapitel V). Der Anwendungsbereich der EBA-Leitlinien zu Auslagerungsvereinbarungen wiederum basiert auf einer Definition von Auslagerung, bei der die Tätigkeit wiederholt oder laufend erbracht wird (Ziffer 26). Die EBA-Leitlinien enthalten auch eine Liste von Ausnahmen, die nicht als Auslagerung gelten (Ziffer 28.).

(10)  Auch hier wird es entscheidend sein, die Definition von „kritischen oder wichtigen Funktionen“ in DORA und in den EBA-Leitlinien zu Auslagerungen aneinander anzugleichen. Die EBA-Leitlinien definieren insbesondere die Faktoren, die Finanzinstitute bei der Beurteilung, ob sich eine Auslagerungsvereinbarung auf eine kritische oder wichtige Funktion bezieht, berücksichtigen sollten (Ziffern 29, 30 und 31).

(11)  Eines der Kriterien, um einen IKT-Anbieter als kritisch zu benennen, ist der Grad der Substituierbarkeit des IKT-Drittanbieters unter Berücksichtigung des Mangels an echten Alternativen oder der Schwierigkeiten, die mit einer teilweisen oder vollständigen Migration der Dienste verbunden wären (Artikel 28 Absatz 2). Wenn dies zutrifft, wäre es für Finanzinstitute schwierig, den Dienst zu einem anderen Anbieter zu migrieren. Darüber hinaus würde die Forderung an exponierte Finanzinstitute, zu einem anderen Dienstleister zu wechseln, letztlich zu einer verstärkten Konzentration auf dem europäischen Markt beitragen. Dies würde jedoch gerade der Intention dieser Verordnung zuwiderlaufen.


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021

(COM(2020) 575 final)

(2021/C 155/07)

Berichterstatter:

Krzysztof BALON

Befassung

Europäische Kommission, 11.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

12.2.2021

Verabschiedung im Plenum

25.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

237/2/22

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass mit der Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität (1) endlich bestätigt wurde, wie wichtig eine echte Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner an der Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ist. Gleichzeitig spricht sich der EWSA für die Einführung eines verbindlichen Konditionalitätsgrundsatzes aus, in dessen Rahmen die Regierungen verpflichtet werden, die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft an der Planung und Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sowie anderer Instrumente des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) auf der Grundlage von auf EU-Ebene festgelegten Mindeststandards zu beteiligen.

1.2.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Stärkung eines für das Wirtschaftswachstum förderlichen Umfelds und insbesondere das weitere reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für eine wirksame Umsetzung gemeinsamer Maßnahmen im Rahmen der jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 sowie für eine erfolgreiche Umsetzung der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität unerlässlich sind. Dabei gilt es insbesondere, Behinderungen des freien Personen- und Warenverkehrs zu vermeiden. Sowohl beim Aufbau und bei der Stärkung der Resilienz als auch bei der Förderung der europäischen Solidarität und Identität kommt der Aufrechterhaltung offener Grenzen im Schengen-Raum nach wie vor eine Schlüsselbedeutung zu. Die Mitgliedstaaten sollten nach Ansicht des EWSA weder direkt noch indirekt Bestimmungen erlassen, die zu einer Einschränkung der Freizügigkeit führen, es sei denn, diese werden auf EU-Ebene koordiniert.

1.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die öffentliche Verschuldung, die sich aus der Aufnahme von Krediten zur Finanzierung der Programme im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität ergibt, nicht auf den künftigen Generationen in der EU lasten sollte. In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten, im Rahmen der Fazilität Mittel für Haushaltsausgaben im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise bereitzustellen und sie als Chance zu nutzen, um unsere Volkswirtschaften und Gesellschaften nachhaltig und gerecht zu gestalten. Der EWSA erkennt auch an, dass öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung erforderlich sind, um die wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit für künftige Generationen zu gewährleisten. Darüber hinaus ist dies auch die Grundlage für die langfristige Sicherung von Wohlstand, Einkommen und Wettbewerbsfähigkeit.

1.4.

Da es sich bei den Darlehen um ein unter außergewöhnlichen Umständen angewandtes außergewöhnliches Mittel handelt, schlägt der EWSA zudem vor, diese Darlehen im EU-Haushaltsrahmen mittelfristig nicht auf das Haushaltsdefizit des jeweiligen Mitgliedstaates anzurechnen. Darüber hinaus muss die Haushaltspolitik zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung fortgesetzt werden. Der EWSA warnt deshalb davor, Unterstützungsmaßnahmen (wie die allgemeine Ausweichklausel) zu früh auslaufen zu lassen, und spricht sich für die Festlegung neuer haushaltspolitischer Regeln aus, die den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten nach der Pandemie Rechnung tragen.

1.5.

Der EWSA begrüßt, dass in der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 den Herausforderungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie im Rahmen des europäischen Grünen Deals ein angemessener Stellenwert eingeräumt wird. Dies bedeutet, dass die Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigeren und inklusiveren Wirtschaftsmodells sowie insbesondere der Umstellung auf ein umweltverträgliches Wachstum fortgesetzt werden. Der EWSA betont jedoch, dass es für einen erfolgreichen ökologischen Wandel unerlässlich ist, dass die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne mit den im Rahmen des Mechanismus für einen gerechten Übergang vorgeschlagenen territorialen Plänen für einen gerechten Übergang im Einklang stehen.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der digitale Wandel nicht nur zu Produktivitätssteigerungen, sondern auch zur Verbesserung der Bildung sowie der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe aller Unionsbürgerinnen und -bürger beitragen sollte. Bei der Förderung des gleichberechtigten Zugangs zu digitalen Infrastrukturen, Geräten und Kompetenzen muss insbesondere älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, von sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen sowie weiteren schutzbedürftigen Gruppen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Schaffung eines universellen Zugangs aller Unionsbürgerinnen und -bürger zur Breitbandinternetversorgung als kostenloser öffentlicher Dienstleistung eines der Ziele des digitalen Wandels sein sollte.

1.7.

Der EWSA bedauert, dass den sozialen Aspekten in der Strategie zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dabei ist es dringend notwendig, die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte konsequent voranzutreiben. Ebenso stellt der EWSA besorgt fest, dass der in der Strategie vorgeschlagene Ansatz nicht in vollem Umfang ausgewogen ist. Die Maßnahmen zur Förderung einer schnellen Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft dürfen nämlich nicht zu einer weiteren Zunahme von Armut und einer Verschärfung der sozialen Ausgrenzung führen. Es wird von ausschlaggebender Bedeutung sein, eine gleichmäßige Verteilung der sich aus der wirtschaftlichen Erholung ergebenden Vorteile sicherzustellen. Dies wird nicht nur zu mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern auch zu einer Stabilisierung der Nachfrage als Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung beitragen.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass die gegenwärtige sozioökonomische Situation junger Menschen — u. a. die Tatsache, dass sie wichtige Lebensentscheidungen (beispielsweise über die Gründung einer Familie) aufschieben — negative Auswirkungen auf die künftige Entwicklung der EU haben kann. Deshalb spricht sich der EWSA für eine rasche Umsetzung der verstärkten Jugendgarantie und der begleitenden Initiativen aus.

1.9.

Die öffentlichen Finanzen sollten nach Ansicht des EWSA u. a. dadurch stabilisiert werden, dass die existierenden Instrumente effizienter gemacht und sowohl auf EU-Ebene als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten neue Instrumente geschaffen werden, um gegen Steuerhinterziehung, nicht angemeldete Erwerbstätigkeit, Schattenwirtschaft (und den damit zusammenhängenden mangelnden Schutz der Arbeitnehmerrechte), Geldwäsche und Korruption vorzugehen — auch im Hinblick auf internationale Konzerne.

1.10.

Der EWSA empfiehlt, die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen gemeinsamen, koordinierten europäischen Leitinitiativen zu überarbeiten, damit sie den sozialen Aspekten des Übergangs stärker Rechnung tragen. Außerdem spricht er sich dafür aus, diese Initiativen durch die Entwicklung der Sozialwirtschaft in Verbindung mit einem europäischen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft sowie durch einen gleichberechtigten Zugang zu erschwinglichen Gesundheits- und Sozialdiensten von hoher Qualität zu ergänzen.

1.11.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, den Inhalt der Mitteilung in einem weiteren Dokument klarer und einfacher darzustellen, sodass er von den Organisationen der Zivilgesellschaft erörtert werden kann.

2.   Einführung

2.1.

Am 17. September 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission die Mitteilung „Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021“ (2) und am 11. November 2020 ersuchte sie den EWSA um eine diesbezügliche Stellungnahme. Der EWSA unterstützt uneingeschränkt den in der Kommissionsmitteilung dargelegten Grundgedanken, dass angesichts der plötzlichen tiefen Rezession infolge der COVID-19-Pandemie die Unionsbürgerinnen und -bürger sowie ihre Gesundheit und Arbeitsplätze geschützt werden müssen und gleichzeitig überall in der EU für Gerechtigkeit, Resilienz und makroökonomische Stabilität gesorgt werden muss.

2.2.

Der Schwerpunkt der Strategie liegt darauf, die durch die COVID-19-Pandemie verursachte, plötzliche tiefe Rezession zu überwinden und gleichzeitig das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sowie einen ausgewogenen, gerechten und demokratischen Übergang im Sinne des europäischen Grünen Deals im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Der EWSA stellt allerdings fest, dass sich das Kommissionsdokument in seinem Titel zwar auf das Jahr 2021 bezieht, inhaltlich jedoch eher mittelfristig ausgelegt ist.

2.3.

Die Kommission verweist auf die zentrale Bedeutung der vom Europäischen Rat am 21. Juli 2020 erzielten Einigung über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und die Initiative NextGenerationEU, zu der auch die Aufbau- und Resilienzfazilität gehört. Diese Einigung wurde im Dezember 2020 gemeinsam mit dem Europäischen Parlament besiegelt, was das Inkrafttreten der dazugehörigen Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene ermöglicht hat. Ebenso wichtig ist es, dass die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren Verfassungsbestimmungen den Eigenmittelbeschluss zügig billigen, damit die Kommission die Mittel zur Finanzierung der Programme im Rahmen dieses Instruments auf dem Finanzmarkt aufnehmen kann.

2.4.

Der EWSA teilt die in der Mitteilung zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass für die wirksame Durchführung gemeinsamer Maßnahmen im Rahmen der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 sowie für eine erfolgreiche Umsetzung der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität das weitere reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts unerlässlich ist. Dabei gilt es insbesondere, Behinderungen des freien Personen- und Warenverkehrs zu vermeiden. Deshalb begrüßt der EWSA die Empfehlung des Rates vom 12. Oktober 2020 zum gemeinsamen und koordinierten Vorgehen bei Einschränkungen der Freizügigkeit (3). Sowohl beim Aufbau und bei der Stärkung der Resilienz als auch bei der Förderung der europäischen Solidarität und Identität kommt der Aufrechterhaltung offener Grenzen im Schengen-Raum, einschließlich des Verzichts auf Grenzkontrollen, eine Schlüsselbedeutung zu. Die Mitgliedstaaten sollten weder direkt noch indirekt Bestimmungen erlassen, die zu einer Einschränkung der Freizügigkeit führen, es sei denn, diese werden auf EU-Ebene koordiniert.

2.5.

Nach Auffassung des EWSA werden Maßnahmen zur Stärkung eines unternehmensfreundlichen Umfelds dazu beitragen, dass die Privatwirtschaft ihrer Rolle bei der Verwirklichung der Ziele der Strategie gerecht werden kann. Derartige Maßnahmen könnten die Verringerung des Verwaltungsaufwands für KMU, den Abbau von Hindernissen für den Markteintritt von Start-ups, die Schließung der Qualifikationslücken, die Erleichterung der Finanzierung von Unternehmensgründungen und die Anpassung der Vorschriften an neue wirtschaftliche Risiken umfassen.

2.6.

Die in der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 festgelegten Schlüsseldimensionen ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und makroökonomische Stabilität bilden die Grundlage des Europäischen Semesters und sind weiterhin die Leitprinzipien für die Aufbau- und Resilienzpläne der Mitgliedstaaten. Gleichzeitig muss nach Ansicht des EWSA geprüft werden, ob die Empfehlungen, die der Rat in den vergangen Jahren im Rahmen des Europäischen Semesters abgegeben hat, unter den pandemiebedingten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen umsetzbar sind.

3.   Europäische Aufbau- und Resilienzfazilität — für eine wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit

3.1.

Die Aufbau- und Resilienzfazilität soll als Kernbestandteil der Initiative NextGenerationEU eines der wichtigsten Instrumente für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sein. Durch einen wirksamen Einsatz des Instruments lassen sich bis 2024 ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 2 % erreichen und 2 Millionen Arbeitsplätze schaffen (4). Der EWSA betont jedoch, dass dieses Instrument zwar kurzfristig vor allem auf die Wiederherstellung und Stärkung der Resilienz ausgerichtet ist, mittel- bis langfristig jedoch in erster Linie der Förderung des ökologischen und digitalen Wandels dienen sollte.

3.2.

Zur Gewährleistung von Synergien werden die Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen Mittel aus verschiedenen Instrumenten kombinieren können, insbesondere aus den EU-Kohäsionsfonds und aus der Aufbau- und Resilienzfazilität. Auch in diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten zur Ausschöpfung der EU-Mittel verbessern, u. a. durch geeignete Mechanismen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und verantwortungsvolle Regierungsführung, gute öffentliche Verwaltung und wirksame Korruptionsbekämpfung sowie durch die Anpassung des Europäischen Semesters an die Nutzung des Instruments, wobei auch das nationale Reformprogramm und der Aufbau- und Resilienzplan in einem einzigen Dokument zusammengeführt werden sollten.

3.3.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung eines alle sechs Monate aktualisierten Scoreboards im Rahmen der Fazilität. Nach Ansicht des EWSA wird dieses für mehr Transparenz sorgen, wodurch das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten erheblich gestärkt werden könnte. Außerdem wird dies die Überwachung der Verteilung und Verwendung der Mittel erleichtern und zur Bekanntmachung bewährter Vorgehensweisen aus den Ländern beitragen, in denen Mittel zum Einsatz kommen.

3.4.

Gleichzeitig verweist der EWSA auf das potenzielle Risiko, dass die Mitgliedstaaten die Mittel der Fazilität für Haushaltsausgaben verwenden könnten, die nicht mit der derzeitigen Krise zusammenhängen. Deshalb empfiehlt der EWSA, die ordnungsgemäße Mittelverwendung streng zu kontrollieren.

3.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Erarbeitung und Annahme der Initiative NextGenerationEU in der richtigen Form und zum richtigen Zeitpunkt erfolgt ist. Durch die Gewährleistung finanzieller Unterstützung wird sie den wirtschaftlichen Aufschwung sichern und möglicherweise dazu beitragen, dass die EU infolge öffentlicher Investitionen in Infrastrukturen, Bildung und Bewältigung der Klimakrise aus der gegenwärtigen Krise stärker und widerstandsfähiger hervorgeht. Gleichzeitig ist jedoch zu betonen, dass die zur Finanzierung der Programme im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität aufgenommenen Kredite eines Tages zurückgezahlt werden müssen. Die Kommission könnte in ihrer Mitteilung ein zweites Szenario zur Finanzierung des Plans unter Berücksichtigung der Möglichkeit künftiger Krisen skizzieren. Der EWSA erkennt auch an, dass öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung erforderlich sind, um die wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit für künftige Generationen zu gewährleisten. Darüber hinaus ist dies auch die Grundlage für die langfristige Sicherung von Wohlstand, Einkommen und Wettbewerbsfähigkeit.

4.   Grüner Wandel

4.1.

Der EWSA begrüßt, dass den Herausforderungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie im Rahmen des europäischen Grünen Deals ein angemessener Stellenwert eingeräumt wird. Dies bedeutet, dass die zuvor angekündigten Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigeren und inklusiveren Wirtschaftsmodells, der Ziele für nachhaltige Entwicklung und insbesondere der Umstellung auf ein umweltverträgliches Wachstum trotz der Turbulenzen im Zusammenhang mit den globalen Herausforderungen von COVID-19 fortgesetzt werden. Der Übergang im Rahmen des europäischen Grünen Deals bietet eine besondere Chance für die Entwicklung der Unternehmen der Sozialwirtschaft.

4.2.

In diesem Zusammenhang befürwortet der EWSA den Standpunkt der EU-Organe, dass im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne mindestens 37 % der Mittel für klimabezogene Ziele bereitgestellt werden sollten.

4.3.

Der EWSA betont, dass es für einen erfolgreichen ökologischen Wandel unerlässlich ist, dass die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne mit den im Rahmen des Mechanismus für einen gerechten Übergang vorgeschlagenen territorialen Plänen für einen gerechten Übergang im Einklang stehen.

5.   Digitaler Wandel und Produktivität

5.1.

Der EWSA begrüßt, dass im Rahmen der Aufbau- und Resilienzpläne mindestens 20 % der Ausgaben einen Bezug zur Digitalisierung haben sollen.

5.2.

Gleichzeitig warnt der EWSA davor, die Digitalisierung als rein produktivitätssteigerndes Instrument zu sehen. Der digitale Wandel sollte dazu beitragen, die allgemeine Bildung, die Lebensqualität und die politische, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe aller Unionsbürgerinnen und -bürger zu verbessern.

5.3.

Deshalb teilt der EWSA die in der Mitteilung zum Ausdruck gebrachte Auffassung der Kommission, dass der gleichberechtigte Zugang zu digitaler Infrastruktur und Ausrüstung sowie digitale Kompetenzen gefördert werden sollen. Nach Auffassung des EWSA sollte der Förderung dieses Zugangs und der digitalen Kompetenzen von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen sowie von sozialer Ausgrenzung bedrohter Menschen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.- Darüber hinaus sollte nach Auffassung des EWSA die Gewährleistung eines universellen, kostenlosen Zugangs aller Unionsbürgerinnen und -bürger zu Breitbandinternetversorgung als kostenloser öffentlicher Dienstleistung eines der Ziele des digitalen Wandels sein.

6.   Gerechtigkeit

6.1.

Die COVID-19-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass es dringend Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Gerechtigkeit bedarf. Die Krise wird die sozialen Ungleichheiten u. a. in Bezug auf Wohlstand, Einkommen, Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung, Wohnraum und Lebenserwartung wahrscheinlich noch weiter verschärfen. 2021 werden viele Unionsbürgerinnen und -bürger von der zunehmenden Armut und sozialen Ausgrenzung betroffen sein und unter Zukunfts- und Existenzängsten leiden. Vor diesem Hintergrund kommt es maßgeblich darauf an, dafür zu sorgen, dass die Vorteile aus der wirtschaftlichen Erholung allen gleichmäßig zugutekommen, um die soziale Gerechtigkeit zu stärken und die Nachfrage als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung zu stabilisieren.

6.2.

Die derzeitige Krise sollte auch als Chance für eine Neugestaltung des sozioökonomischen Modells in Europa gesehen werden. Die Aufbau- und Resilienzfazilität sollte ein europäisches Modell der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung fördern, das auf sozialer Inklusion und der Schaffung und Förderung hochwertiger Arbeitsplätze beruht (5).

6.3.

In der Strategie wird sozialen Fragen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies betrifft in erster Linie die dringende Notwendigkeit einer konsequenten Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte auch auf Ebene der Mitgliedstaaten. Diese sollten Maßnahmen ergreifen, um Chancengleichheit, inklusive Bildung, faire Arbeitsbedingungen, allgemeine Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und angemessenen Sozialschutz zu gewährleisten. Die Maßnahmen zur Förderung einer schnellen Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft dürfen nämlich nicht zu einer weiteren Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung führen. Um wirksam auf die Folgen der COVID-19-Pandemie zu reagieren, reicht es deshalb nicht aus, lediglich die wirtschaftlichen Auswirkungen genau zu beobachten. Auch soziale Indikatoren müssen überwacht werden, und zwar nicht nur im Bereich Beschäftigung, sondern auch im Hinblick auf die soziale Ausgrenzung, die wachsenden Ungleichheiten und die Diskriminierung.

6.4.

Die Krise hat gezeigt, wie wichtig der Erhalt der bestehenden und die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Stärkung der Sozialschutzsysteme ist. Millionen von Menschen ohne soziale Absicherung haben ihre Lebensgrundlage verloren. Deshalb sind Reformen erforderlich, die bessere und sicherere Beschäftigungsverhältnisse sowie die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Beschäftigungsförderprogrammen gewährleisten. Der EWSA unterstützt die allgemeine Zielsetzung, dass weitere Anstrengungen zur Angleichung der Löhne und Festlegung angemessener Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten sowie zur Stärkung der Tarifverhandlungssysteme und der Rolle der Sozialpartner in der gesamten EU entsprechend dem jeweiligen nationalen System der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen erforderlich sind. Die Kommission hat im Hinblick auf diese Ziele einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, zu dem der EWSA derzeit eine Stellungnahme erarbeitet. Der EWSA fordert außerdem ein angemessenes Maß an Sicherheit und menschenwürdigen Lebensbedingungen für alle, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

6.5.

Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung angekündigten Bemühungen um mehr sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt und um stärkere Anreize für die Beschäftigung von jungen Menschen, Frauen sowie besonders schutzbedürftigen und von Ausgrenzung bedrohten Personen. Gleichzeitig betont er, dass in diesem Zusammenhang noch mehr Anstrengungen sowie mutigere und konkretere Initiativen und Anreize für Maßnahmen und zur Unterstützung aller Betroffenen erforderlich sind.

6.6.

Der EWSA stellt besorgt fest, dass in der Mitteilung nicht ausreichend auf die gegenwärtige sozioökonomische Situation junger Menschen eingegangen wird, u. a. auf die Tatsache, dass diese wichtige Lebensentscheidungen, beispielsweise über die Gründung einer Familie, aufschieben, was sich negativ auf die künftige Entwicklung der EU auswirken kann. Deshalb fordert der EWSA eine zügige Umsetzung der verstärkten Jugendgarantie sowie der dazugehörigen Begleitinitiativen, die jungen Menschen einen besseren Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen und ihnen unterschiedliche Formen der Unterstützung bieten. Andernfalls könnte — ganz im Widerspruch zur eigentlichen Absicht von NextGenerationEU — eine „Generation Coronavirus-Pandemie“ entstehen, die nie ihr volles Potenzial entfalten wird.

6.7.

Eine weitere Gruppe, die von der Krise besonders stark betroffen ist, sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Dies bringt nicht nur das soziale Gleichgewicht zwischen den Generationen ins Wanken, sondern wirkt sich jetzt und in Zukunft auch negativ auf die Systeme der sozialen Sicherheit aus.

6.8.

Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung geäußerte Absicht, die Konvergenz zu fördern und die Resilienz der Regionen zu verbessern, um die territorialen Unterschiede zu verringern. Es ist jedoch beunruhigend, dass die für den Fonds für einen gerechten Übergang vorgesehenen Mittel im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Kommission gekürzt wurden, zumal in den vom Klimawandel am stärksten betroffenen Gebieten öffentliche Direktinvestitionen getätigt, alternative Industriezweige aufgebaut und neue Unternehmen gegründet werden müssen. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auch auf die Notwendigkeit einer angemessenen Anpassung der Vorschriften über staatliche Beihilfen.

6.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Umsetzung der in der Strategie dargelegten Vision auf mangelnde Akzeptanz und Unverständnis stoßen kann, da es an neuen Governance-Mechanismen fehlt, die eine proaktive Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen sowie öffentlichen und privaten Akteuren auf lokaler und regionaler Ebene an der Ermittlung und Lösung von Problemen vor Ort ermöglichen würden. Die im Weißbuch aus dem Jahr 2001 aufgeführten Werte des europäischen Modells der Mitbestimmung könnten in dieser Hinsicht hilfreich sein.

7.   Makroökonomische Stabilität

7.1.

Der EWSA plädiert für einen ausgewogenen Ansatz, der sowohl der Stabilität der öffentlichen Finanzen als auch der Förderung des Wirtschaftswachstums mittels einer aktiven öffentlichen Investitionspolitik und eines öffentlichen Beschaffungswesens Rechnung trägt, das auch die sozialen Ziele berücksichtigt. Der Erfolg des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs sowie des ökologischen und digitalen Wandels wird nicht nur von privaten Investitionen abhängen, sondern auch von einer angemessenen öffentlichen Finanzierung.

7.2.

Zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen ist es nach Ansicht des EWSA erforderlich, die bestehenden Instrumente effizienter zu machen und sowohl auf EU-Ebene als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten neue Instrumente zu schaffen, um gegen Steuerhinterziehung, nicht angemeldete Erwerbstätigkeit, missbräuchliche Nutzung von Beschäftigungsformen mit unzureichendem Schutz der Arbeitnehmerrechte, Schattenwirtschaft, Geldwäsche und Korruption vorzugehen, auch im Hinblick auf internationale Konzerne.

7.3.

Es bedarf weiterer haushaltspolitischer Maßnahmen zur Förderung der Vertrauensbildung, der Beseitigung von Ungleichheiten und der Vermeidung weiterer Risiken. Der EWSA warnt deshalb davor, Unterstützungsmaßnahmen wie beispielsweise die allgemeine Ausweichklausel zu früh auslaufen zu lassen. Wenn die allgemeine Ausweichklausel nur bis 2021 in Kraft bleibt, werden die Mitgliedstaaten ihre Defizite ab 2022 schrittweise verringern müssen. Die Darlehen im Rahmen der Fazilität werden den Mitgliedstaaten einerseits dabei helfen, das Wachstum und die Liquidität ihrer Volkswirtschaften zu stärken, andererseits aber auch zu einem Anstieg der Haushaltsdefizite führen. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass die durch die Vergabe von Darlehen im Rahmen der Fazilität geschaffenen Möglichkeiten zur Förderung des Wachstums möglicherweise eingeschränkt werden, wenn die Mitgliedstaaten gleichzeitig gezwungen sind, zusätzliche Maßnahmen zur Konsolidierung ihrer öffentlichen Finanzen zu ergreifen.

7.4.

In diesem Zusammenhang und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei diesen Darlehen um ein unter außergewöhnlichen Umständen angewandtes außergewöhnliches Mittel handelt, könnte es durchaus zweckmäßig sein, besondere Regeln für den Umgang mit diesen Darlehen im haushaltspolitischen Rahmen der EU einzuführen. So könnten diese Darlehen beispielsweise nicht in die Berechnung des Haushaltsdefizits der einzelnen Mitgliedstaaten einbezogen werden.

7.5.

Darüber hinaus schlägt der EWSA die Festlegung neuer haushaltspolitischer Regeln vor, die den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheit nach Überwindung der Pandemie Rechnung tragen.

7.6.

Der EWSA schließt sich der in der Mitteilung geäußerten Auffassung an, wonach eine hohe Qualität und die Effizienz der öffentlichen Verwaltung und der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sichergestellt werden müssen. Gleichzeitig weist er jedoch darauf hin, dass dies in einigen Mitgliedstaaten bedeutet, dass menschenwürdige und stabile Beschäftigungsbedingungen gewährleistet werden müssen.

7.7.

Die Haushaltsdefizite im Zusammenhang mit den Kosten für die Krisenbewältigung mindern die Chancen auf die Einführung der einheitlichen europäischen Währung in Nicht-Euro-Ländern und schwächen das Vertrauen in den Euro. Deshalb hält es der EWSA für unumgänglich, die Kriterien für den Beitritt zum Euro-Währungsgebiet sowie die Maßnahmen zur Stabilisierung des Euro gegenüber anderen führenden Währungen und Kryptowährungen zu überprüfen-.

8.   Europäische Leitinitiativen

8.1.

Der EWSA befürwortet die Absicht der Kommission, gemeinsame, koordinierte europäische Leitinitiativen festzulegen. Außerdem begrüßt er, dass die Kommission die Mitgliedstaaten nachdrücklich dazu ermutigt, diese Initiativen im Rahmen ihrer Aufbau- und Resilienzpläne zu berücksichtigen.

8.2.

Gleichzeitig spricht sich der EWSA dafür aus, die vorgeschlagenen Initiativen zu überarbeiten, damit sie den sozialen Aspekten des Wandels stärker Rechnung tragen und besser zur Verwirklichung der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung 2030 und der sechs Prioritäten der Europäischen Kommission für die Jahre 2019-2024 (6) beitragen.

8.3.

Darüber hinaus schlägt der EWSA vor, die Liste der europäischen Leitinitiativen um den Ausbau der Sozialwirtschaft im Zusammenhang mit dem Europäischen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft sowie um Maßnahmen zur Förderung des gleichberechtigten Zugangs zu erschwinglichen und hochwertigen Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zu ergänzen, wobei den spezifischen Gegebenheiten für die Erbringung dieser Dienstleitungen vor Ort Rechnung zu tragen ist.

9.   Rolle der Zivilgesellschaft, sozialer und ziviler Dialog

9.1.

Um die Krise zu bewältigen und die Initiative NextGenerationEU wirksam umzusetzen, ist die EU auf die aktive Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Deshalb begrüßt der EWSA, dass in der im Dezember 2020 angenommenen Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität letztendlich bestätigt wurde, wie wichtig eine echte Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner an der Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ist. Gemäß Artikel 18 Absatz 4 Buchstabe q der Verordnung müssen die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne eine Zusammenfassung der mit lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft, Jugendorganisationen und anderen einschlägigen Interessenträgern geführten Konsultationen hinsichtlich der Ausarbeitung und Umsetzung des Plans sowie Informationen darüber enthalten, inwiefern die Beiträge der Interessenträger im Plan berücksichtigt wurden. Der EWSA unterstreicht die Schlüsselrolle der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Planung, Umsetzung und Bewertung der Maßnahmen sowohl im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität als auch anderer Elemente des Europäischen Semesters in den Mitgliedstaaten.

9.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Demokratie in der Mitteilung als einer der wichtigsten Werte bei den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Strategie genannt wird. Gleichzeitig stellt er fest, dass in diesem Zusammenhang vor allem Absichtserklärungen abgegeben werden, die weder ausreichend in den geplanten Maßnahmen (z. B. im Zusammenhang mit der Umsetzung der europäischen Leitinitiativen) noch bei der Anerkennung der partnerschaftlichen Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen als Schlüsselakteure der partizipativen Demokratie berücksichtigt wurden.

9.3.

Der krisenbedingte Verzicht und die mit der Pandemie einhergehenden Zwänge lassen sich bei einer umfassenden Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen in das Krisenmanagement und die Organisation von Informationskampagnen, insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene, viel leichter bewältigen. Lokale Medien und Bildungseinrichtungen sollten die Zivilgesellschaft in diesem Bereich unterstützen. Die Mitgliedstaaten sollten ermutigt werden, solche Aktivitäten finanziell zu unterstützen und dabei wo immer dies möglich ist, auch auf EU-Mittel zurückgreifen.

9.4.

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten, die Regionen und die territorialen Gebietskörperschaften nachdrücklich auf, das von der Kommission befürwortete Modell der Mitgestaltung in die Tat umzusetzen und die politischen Maßnahmen, Programme und Strategien gemeinsam mit den Unionsbürgerinnen und -bürgern zu entwickeln, und nicht für sie.

9.5.

Der EWSA hat wiederholt betont, dass eine intensivere Einbeziehung der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen in das Europäische Semester notwendig ist. Die konsequente Einhaltung des Partnerschaftsprinzips bei der Planung, Umsetzung und Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne stellt — erst recht in Krisenzeiten — die grundlegende Voraussetzung für deren wirksame Umsetzung dar. Insbesondere in der ersten Phase der Krise haben der öffentliche Dialog und die öffentlichen Konsultationen erheblich an Qualität eingebüßt. Dies hatte in vielen Fällen zu einer schlechten Qualität der Rechtsvorschriften und zu Schwierigkeiten bei deren Umsetzung, insbesondere durch die Unternehmen, geführt. Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass Kollektivverhandlungen in der Mitteilung unerwähnt bleiben.

9.6.

Aus diesem Grund und auch unter Berücksichtigung des Beitrags der Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung einer Entschließung über die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der Aufbau- und Resilienzpläne spricht sich der EWSA nachdrücklich für die Einführung eines verbindlichen Konditionalitätsgrundsatzes aus. Gemäß diesem Grundsatz müssen die Regierungen die Zivilgesellschaft auf der Grundlage von auf EU-Ebene festgelegten Mindeststandards in die Planung und Umsetzung dieser Pläne einbinden.

9.7.

Der EWSA betont auch die Bedeutung des Dialogs mit der jungen Generation in der EU (NextGenerationEU), unter anderem im Rahmen eines zivilen Dialogs mit Jugendorganisationen.

9.8.

Der Jargon der an die Organe und Einrichtungen der EU gerichteten Mitteilung ist für die Unionsbürgerinnen und -bürger unverständlich, so dass es schwierig sein wird, sie in den Organisationen der Zivilgesellschaft zu erörtern (7). Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die Europäische Kommission die Inhalte der Mitteilung in einem Zusatzdokument klarer und verständlicher darlegt.

Brüssel, den 25. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität (ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17).

(2)  COM(2020) 575 final.

(3)  COVID-19: Rat verabschiedet Empfehlung zur Koordinierung von Maßnahmen mit Auswirkungen auf die Freizügigkeit.

(4)  COM(2020) 575 final, S. 2.

(5)  How good is your job? Measuring and assessing job quality (OECD, Februar 2016).

(6)  https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024_de.

(7)  Als Beispiel für einfachere Formulierungen kann die Kommissionsmitteilung COM(2020) 698 final dienen.


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung der Reserve für die Anpassung an den Brexit

(COM(2020) 854 final — 2020/0380(COD))

(2021/C 155/08)

Hauptberichterstatter:

Florian MARIN

Befassung

Europäisches Parlament, 18.1.2021

Europäischer Rat, 20.1.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 175 Absatz 3 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

242/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält den Brexit für ein sehr komplexes und schwieriges Unterfangen. Mit dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (1) werden zwar einige der wirtschaftlichen und sozialen Schäden eines No-Deal-Szenarios abgemildert. Die künftigen wirtschaftlichen und finanziellen Verluste lassen sich jedoch in einer solchen frühen Phase nur schwer beziffern. Daher muss ganz klar gezielt und rasch gehandelt werden, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen abzufedern.

1.2.

Die neue Partnerschaft stellt die bestehende wirtschaftliche, soziale und handelspolitische Verflechtung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ernsthaft in Frage. Der EWSA beobachtet bereits negative Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Mobilität und Hemmnisse für den Handel mit Waren und Dienstleistungen. Dies könnte zu Arbeitsplatzverlusten und Unternehmensinsolvenzen, insbesondere von KMU, führen. In der derzeitigen Anpassungsphase ist mehr Flexibilität und mehr Verständnis für die Interessenträger in der EU entscheidend.

1.3.

Der EWSA begrüßt die Schaffung der Reserve für die Anpassung an den Brexit (2) (nachstehend „Reserve“) im Rahmen der Sonderinstrumente außerhalb der Haushaltsobergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) (3). Der EWSA ist der Auffassung, dass Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten grundlegende Werte der EU sind. Er begrüßt die rückwirkende Anwendung der Reserve ab Juli 2020.

1.4.

Die Arbeitnehmerrechte müssen unverzüglich geschützt und die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen weiter ausgehandelt werden. Der EWSA empfiehlt allen Mitgliedstaaten, umgehend Informationskampagnen für die Bürger zur Bekanntmachung der neuen rechtlichen Regelungen zu organisieren. Damit dies ein voller Erfolg wird, müssen die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend einbezogen werden. Den Gewerkschaften sowie den Organisationen der Arbeitgeber und der Zivilgesellschaft kommt beim Aufbau einer starken Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft mit dem Vereinigten Königreich eine entscheidende Rolle zu.

1.5.

Der EWSA empfiehlt für den Fischereisektor eine getrennte, nur für diesen Sektor konzipierte Reserve vorzusehen. Anderen Sektoren wie dem Tourismus und der Landwirtschaft muss besondere Beachtung geschenkt werden. Angemessene Infrastrukturinvestitionen und Unterstützung für Unionsbürger, die nach dem Brexit in ihr Heimatland zurückkehren, sollten ebenfalls erwogen werden.

1.6.

Der EWSA erwartet langwierige Diskussionen unter den Interessenträgern darüber, wer den größten Teil der Reserve erhält, und ist der Ansicht, dass unverzüglich zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt werden sollten. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die gesetzgebenden Organe auf, die vorgeschlagene Obergrenze anzuheben.

1.7.

Der EWSA ruft alle Mitgliedstaaten auf, verantwortungsvoll zu handeln und die verfügbaren Mittel gezielt an diejenigen Regionen, Unternehmen, Arbeitnehmer und Bürger weiterzureichen, die sie am dringendsten benötigen. Andernfalls wären die Solidarität, die einer solchen Reserve konzeptionell zugrunde liegt, und die Erfolgsaussichten dieses Instruments gefährdet.

1.8.

Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a sollte wie folgt geändert werden: „Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, Arbeitnehmern bei der Umschulung und beruflichen Neuorientierung und lokalen Gemeinschaften, auf die sich der Austritt negativ auswirkt“. Darüber hinaus sollte Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe d wie folgt geändert werden: „Maßnahmen des Beschäftigungsschutzes und zur Förderung der Beschäftigung, wie Kurzarbeitsregelungen, Umschulung und berufliche Bildung in den betroffenen Sektoren“. Der Indikator 15.4 aus dem Anhang II sollte entsprechend angepasst werden.

1.9.

Der Förderzeitraum könnte um zwei weitere Jahre verlängert werden, damit die Mitgliedstaaten ausreichend Zeit haben, um ihren Teil der Reserve abzurufen und die vom Brexit ausgehenden Schockwellen abzufedern.

1.10.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein kleiner Teil der Reserve für technische Unterstützung vorgesehen werden sollte, falls ein neues Verwaltungssystem eingeführt wird. Seiner festen Überzeugung nach sollte der Großteil der Reserve jedoch für die Beschäftigungsförderung und Unterstützung der Wirtschaftstätigkeit bereitgestellt werden.

1.11.

KMU sind von den neu eingeführten Zollverfahren, dem Regelungsaufwand und den steigenden Transportkosten besonders betroffen. Da es ihnen zumeist an den administrativen und rechtlichen Kapazitäten mangelt, um einen umfassenden Notfallplan umzusetzen, fordert der EWSA speziell auf sie zugeschnittene Unterstützungsmaßnahmen.

1.12.

Der EWSA empfiehlt, soweit möglich und in Absprache mit der Europäischen Kommission die vereinfachte Kostenoption zu nutzen. Vereinfachte Regeln und weniger Bürokratie bei der Inanspruchnahme werden zu einer rascheren Verteilung der Finanzmittel beitragen.

1.13.

Der EWSA fordert die Einrichtung eines Begleitausschusses in jedem Mitgliedstaat, dessen Hauptaufgabe darin besteht, mögliche Risiken, die bei der Inanspruchnahme der Reserve auftreten könnten, zu beseitigen und gleichzeitig die förmliche Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Prozess sicherzustellen. Diesen Ausschüssen sollten Vertreter der Sozialpartner, NGO und öffentlichen Stellen angehören, die an der Inanspruchnahme der Reserve beteiligt sind.

1.14.

Der EWSA ist der Ansicht, dass in Bezug auf die Governance für mehr Klarheit gesorgt werden sollte, indem klar ein leitendes Organ für die Reserve benannt wird. Die Europäische Kommission sollte gleiche Bedingungen für alle Mitgliedstaaten sicherstellen.

1.15.

Der EWSA fordert die Schaffung eines Leistungsrahmens für die Zwischenbewertung auf der Grundlage spezifischer leistungsorientierter Indikatoren, die von den Mitgliedstaaten festgelegt und jährlich von der Europäischen Kommission bewertet werden. Er ist der Auffassung, dass sich die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Brexits entsprechend verstärken werden, wenn die verfügbaren Finanzmittel nicht ausgeschöpft werden.

1.16.

Die Übernahme des im Rahmen der europäischen Struktur- und Investitionsfonds bestehenden Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften (4) in die Verwaltung der Reserve wird Interessenträgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen ermöglichen, eine zentrale Rolle als Vermittler zu spielen.

1.17.

Schließlich empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission, die Wirksamkeit, Effizienz und den Nutzen der Reserve zu bewerten und dem Europäischen Parlament und dem Rat innerhalb von drei Monaten nach der vorgesehenen Frist darüber Bericht zu erstatten.

2.   Einleitung

2.1.

Das nach vier Jahre währenden Verhandlungen unterzeichnete Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich regelt die künftige Partnerschaft zwischen beiden Seiten. Es umfasst drei neue Säulen:

ein Freihandelsabkommen,

eine neue Partnerschaft für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und

eine horizontale Governance-Vereinbarung.

2.2.

Die wichtigsten Spielregeln wurden zwar festgelegt, doch die Bürger und Unternehmen müssen sich erst an die neue Situation anpassen und sich mit den neuen Beschränkungen und sektorspezifischen Problemen im Einzelnen vertraut machen. Die künftigen wirtschaftlichen und finanziellen Verluste lassen sich in einer solch frühen Phase nur schwer beziffern, fest steht aber, dass gezielt und rasch Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die negativen Auswirkungen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene abzumildern.

2.3.

Der Brexit ist tatsächlich ein sehr komplexes und schwieriges Unterfangen. Die Mitgliedstaaten müssen gegebenenfalls die Kontrollmaßnahmen auf See, in Häfen und auf Flughäfen verstärken, um bei der Ausstellung von Bescheinigungen und der Zulassung von Erzeugnissen zusätzliche Überwachungsmaßnahmen und Inspektionen durchzuführen, damit die Anforderungen in puncto Niederlassung und die Vorschriften über SPS (gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Standards) und Etikettierung und Kennzeichnung eingehalten werden. Sie müssen gegebenenfalls auch besondere Informationskampagnen über die Folgen des Austritts für die Bürger und Unternehmen in Erwägung ziehen und diese Informationen aktualisieren.

2.4.

Die neuen Zollkontrollen und die Überprüfung der Einhaltung der Vorschriften verursachen Verzögerungen und Mehrkosten und damit häufig Störungen in den Lieferketten. Die wirtschaftlichen Aktivitäten werden durch die neuen Vorschriften und Konformitätsanforderungen bereits spürbar beeinträchtigt. Das gilt insbesondere für das laufende Jahr, in dem die meisten nachteiligen Folgen zu erwarten sind. Nunmehr geltende zusätzliche Steuern wie die Mehrwertsteuer können Wirtschaftsbeziehungen und Unternehmenspartnerschaften beeinträchtigen. Zur Minimierung der negativen Auswirkungen des Brexits auf die EU-Wirtschaft müssen alle Interessenträger aktiv einbezogen werden: EU, Mitgliedstaaten, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft usw.

2.5.

Darüber hinaus ist noch nicht klar, wie die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen ablaufen wird, wie der Datenfluss sichergestellt werden soll und welche Vorschriften für den Dienstleistungssektor gelten werden. Weitere Verhandlungen sind dringend erforderlich, um zum beiderseitigen Vorteil praktikable Lösungen zu finden.

2.6.

Andererseits müssen wir uns daran gewöhnen, dass wir es nun mit zwei verschiedenen Märkten und verschiedenen Normsystemen und Rechtsräumen zu tun haben. Diese Änderung stellt für alle Interessenträger ein großes Hindernis dar und wird sich auf die öffentlichen Verwaltungen, Bürger und Unternehmen gleichermaßen auswirken. Die neue Partnerschaft stellt die bestehende wirtschaftliche, soziale und handelspolitische Verflechtung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ernsthaft in Frage. Negative Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Mobilität und Hindernisse für den Handel mit Waren und Dienstleistungen sind bereits zu beobachten. Dies könnte zu Arbeitsplatzverlusten und Unternehmensinsolvenzen, insbesondere von KMU, führen.

2.7.

In dem Verordnungsvorschlag werden die förderfähigen öffentlichen Ausgaben genau festgelegt: Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen und lokalen Gemeinschaften, Unterstützung der Beschäftigung einschließlich Umschulung und Ausbildung, Beschäftigungsschutz, Festlegung von Regeln für die Zertifizierung und Zulassung, Kommunikations- und Sensibilisierungsmaßnahmen, Maßnahmen, damit die Grenzen funktionieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt zunächst das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, das erst ganz am Ende des Übergangszeitraums unterzeichnet wurde. Das Abkommen regelt die künftigen Beziehungen, schützt gleichzeitig die Integrität des Binnenmarktes und sorgt für Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen. Damit werden die meisten wirtschaftlichen und sozialen Schäden eines No-Deal-Szenarios aufgefangen, und das Abkommen kann als Auftakt für neue Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich betrachtet werden. In der derzeitigen Anpassungsphase müssen die Behörden flexibler sein und den Interessenträgern in der EU mehr Verständnis entgegenbringen. Die EU und die Mitgliedstaaten sollten jedoch besonderes Augenmerk auf den Schutz des Binnenmarkts und seiner Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Lebensmittelstandards legen, um dem Risiko eines Missbrauchs von Marktmacht zu begegnen.

3.2.

Der vereinbarte Null-Zollsatz für Waren, die den Ursprungsregeln entsprechen, und der allgemeine freie Kapitalverkehr sind wichtige positive Ergebnisse. Der EWSA ist jedoch darüber besorgt, dass es noch keine Vereinbarungen über die Freizügigkeit (nach dem 30. Juni 2021) und den Dienstleistungsverkehr gibt. Obendrein fällt der Brexit mit der COVID-19-Krise zusammen, die bereits zu steigender Arbeitslosigkeit und Einkommenseinbußen geführt hat. Der EWSA ist zudem äußerst besorgt, dass die zunehmende soziale Ungleichheit überall in der EU deutlicher zutage tritt und bekräftigt, dass „der europäischen Säule sozialer Rechte […] in der Kohäsionspolitik Vorrang eingeräumt werden muss“ (5).

3.3.

Die Kommission hat nach Auffassung des EWSA das geeignete Instrument gewählt, da die Inanspruchnahme der Reserve im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung erfolgt. Eine Verordnung stellt eine klare und einheitliche Anwendung der Vorschriften überall in der EU mit gemeinsamen Berichtspflichten und Fristen und damit gleiche Wettbewerbsbedingungen in allen Mitgliedstaaten sicher.

3.4.

Der EWSA begrüßt die Schaffung der Reserve für die Anpassung an den Brexit im Rahmen der Sonderinstrumente außerhalb der Haushaltsobergrenzen des MFR. Damit sollen die negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen in allen Mitgliedstaaten angegangen und die Unternehmen und Beschäftigung in den am stärksten betroffenen Sektoren sowie die regionalen und lokalen Gemeinschaften unterstützt werden. Gemeinsame Herausforderungen wie der Brexit erfordern ein abgestimmtes Vorgehen, wobei der EWSA den Zusammenhalt und die Solidarität zwischen Mitgliedstaaten als Grundwerte der EU hervorhebt.

3.5.

Die Reserve für die Anpassung an den Brexit soll die im Rahmen des Aufbauinstruments NextGenerationEU (6) und des MFR verfügbaren Mittel ergänzen. Es handelt sich um ein völlig neues Instrument, das Unterstützung bieten sollte, um die negativen Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU abzumildern und gleichzeitig den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt zu stärken und die Arbeitsplätze zu schützen. Der EWSA hat der Kommission bereits empfohlen, „die Schaffung eines EU-Instruments zu erwägen, mit dem politische Situationen und Krisen dieser Art in Zukunft bewältigt werden können“ (7).

3.6.

Den Gewerkschaften sowie den Organisationen der Arbeitgeber und der Zivilgesellschaft kommt beim Aufbau einer starken Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft mit dem Vereinigten Königreich eine entscheidende Rolle zu.

3.7.

Der EWSA begrüßt, dass alle Mitgliedstaaten für eine Unterstützung aus der Reserve in Betracht kommen und dass 80 % der Mittel für die Vorfinanzierung bereits 2021 ausgezahlt werden sollen. Dies ist ein klarer Beleg für die europäische Solidarität und stellt einen koordinierten Ansatz dar, um die kurzfristigen Auswirkungen des Brexit abzufedern.

3.8.

Die vorgeschlagene Zuweisungsmethode trägt sowohl dem Umfang des Handels mit dem Vereinigten Königreich als auch der Bedeutung der Fischerei Rechnung. Der EWSA ist allerdings der Ansicht ist, dass die beiden Bereiche hätten getrennt werden müssen. Dem von der Kommission vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel zufolge entfallen auf den Fischereisektor 600 Mio. EUR. Der EWSA empfiehlt daher, für den Fischereisektor eine getrennte, nur für diesen Sektor konzipierte Reserve vorzusehen. Anderen Sektoren wie dem Tourismus und der Landwirtschaft muss ebenfalls besondere Beachtung geschenkt werden.

3.9.

Es liegt auch ganz klar auf der Hand, dass diese Reserve ein Fonds für die Anpassung ist, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Brexits auszugleichen. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die Reserve in Höhe von 5,4 Mrd. EUR nicht ausreicht, um die negativen Auswirkungen des Brexits aufzufangen. Daher sollten seiner Ansicht nach unverzüglich zusätzliche Mittel bereitgestellt werden, entweder durch die Zuweisung weiterer Mittel für die Reserve oder durch separat konzipierte Fonds. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die gesetzgebenden Organe — EP und Rat — auf, die vorgeschlagene Obergrenze anzuheben.

3.10.

Nach Auffassung des EWSA sind einige Sektoren stärker betroffen als andere. Unter anderem die Landwirtschaft und der Tourismus sollten in der Reserve an vorderster Stelle berücksichtigt werden und von den verfügbaren Mitteln profitieren. Die Tourismusbranche ist aufgrund der COVID-19-Krise dramatisch eingebrochen und durch den Brexit mit zusätzlichen Problemen konfrontiert. Auch die Landwirte sind stark von den Folgen betroffen, so zum Beispiel in Irland oder den Niederlanden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Einige Mitgliedstaaten haben bereits auf nationaler Ebene Maßnahmen ergriffen, um die negativen Auswirkungen des Brexit auf ihre Volkswirtschaften und auf die Verwaltungsabläufe ihrer Behörden zu bewältigen. Deshalb wird die rückwirkende Anwendung der Reserve ab Juli 2020 als bedeutendes Mittel der Unterstützung betrachtet.

4.2.

Mehr als 4 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich wurde ein neuer Aufenthaltsstatus (8) gewährt. Nun gilt es, unverzüglich die Arbeitnehmerrechte zu schützen und weitere Verhandlungen über die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen zu führen. Die Mitgliedstaaten sollten unverzüglich Informationskampagnen in die Wege leiten, um die Bürger über die neuen Vorschriften und über die Bemühungen der EU zur Ausweitung des Abkommens zu informieren. Damit dies ein voller Erfolg wird, müssen die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend einbezogen werden.

4.3.

Es sollten besondere Förderregelungen zur angemessenen Unterstützung der vom Brexit betroffenen Regionen und Sektoren ausgearbeitet werden. Alle Mitgliedstaaten sollten verantwortungsvoll handeln und die verfügbaren Mittel gezielt an diejenigen Regionen, Unternehmen, Arbeitnehmer und Bürger weiterreichen, die sie am dringendsten benötigen. Andernfalls wären die Solidarität, die einer solchen Reserve konzeptionell zugrunde liegt, und die Erfolgsaussichten dieses Instruments gefährdet.

4.4.

Der Förderzeitraum könnte um zwei weitere Jahre verlängert werden, damit die Mitgliedstaaten ausreichend Zeit haben, um ihren Teil der Reserve abzurufen und die vom Brexit verursachten Schockwellen abzufedern. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, angemessene Infrastrukturinvestitionen und die Unterstützung für Unionsbürger, die nach dem Brexit in ihre Heimatländer zurückkehren, sorgfältig zu berücksichtigen.

4.5.

Der EWSA ist überdies der Ansicht, dass es besser gewesen wäre, einen Teil der Reserve für technische Unterstützung vorzusehen, falls ein neues Verwaltungssystem eingeführt wird. Die technische Unterstützung für die Verwaltung, Überwachung, Information und Kommunikation, Beschwerdeabwicklung sowie Kontrolle und Prüfung wird dazu beitragen, das Instrument zum Erfolg zu führen, das Risikomanagement zu verbessern und den effizienten Einsatz der zugewiesenen Mittel sicherzustellen.

4.6.

Einige nationale Verwaltungen, insbesondere die an den wichtigsten Ein- und Ausgangspunkten für den Handel mit dem Vereinigten Königreich, haben bereits massiv in Infrastruktur und Personal einschließlich Bildungsmaßnahmen investiert. Das gilt auch für Mitgliedstaaten mit besonderen Beziehungen zum Vereinigten Königreich im Bereich des Tourismus. Seiner festen Überzeugung nach sollte der Großteil der Reserve jedoch für die Beschäftigungsförderung und Unterstützung der Wirtschaft bereitgestellt werden.

4.7.

Der Vorschlag der Kommission sieht eine besondere Maßnahme zur Verkürzung des Aufsichtszeitraums für KMU von fünf auf drei Jahre nach der abschließenden Zahlung der Fördergelder vor. Der EWSA geht davon aus, dass KMU am stärksten betroffen sein werden, und ist der Überzeugung, dass ein erheblicher Teil der Reserve für ihre wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung bereitgestellt werden sollte. Das Ziel besteht dabei letztlich darin, die Arbeitsplätze zu erhalten und die Unternehmen zu retten.

4.8.

KMU sind von den neu eingeführten Zollverfahren, dem Regelungsaufwand und den steigenden Transportkosten besonders betroffen. Die Unternehmen sind bereits durch die COVID-19-Pandemie mit großen zusätzlichen Belastungen konfrontiert und müssen sich in allen Mitgliedstaaten an die von den Regierungen verhängten Lockdown-Maßnahmen anpassen. Den KMU mangelt es zumeist an den administrativen und rechtlichen Kapazitäten, um einen umfassenden Notfallplan umzusetzen. Deshalb fordert der EWSA, mit den Mitteln der Reserve speziell auf sie zugeschnittene Unterstützungsmaßnahmen zu finanzieren. Die Mitgliedstaaten werden ersucht, die Bemühungen von KMU zur Inanspruchnahme von staatlichen Beihilfen innerhalb des bestehenden Rahmens zu unterstützen.

4.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Reserve im Interesse der Vereinfachung durchaus mithilfe der bereits existierenden Verwaltungssysteme gesteuert werden kann. Dabei muss soweit möglich und in Absprache mit der Europäischen Kommission die vereinfachte Kostenoption zur Anwendung kommen. Vereinfachte Regeln und weniger Bürokratie bei der Umsetzung und die Vermeidung von Mehrkosten und zusätzlichem Verwaltungsaufwand werden zu einem schnelleren Einsatz der Finanzmittel und zu besseren Ergebnissen bei der Abmilderung der negativen Auswirkungen des Brexits beitragen.

4.10.

Da es sich bei der Reserve um ein völlig neues Instrument handelt und es nahezu unmöglich ist, die künftigen negativen Auswirkungen des Brexit zu bewerten, schlägt der EWSA die Einrichtung eines Begleitausschusses in jedem Mitgliedstaat vor. Diesen Ausschüssen sollten Vertreter der Sozialpartner, NGO und öffentlichen Stellen angehören, die an der Inanspruchnahme der Reserve beteiligt sind. Die Ausschüsse sollten mindestens zweimal pro Jahr zusammentreten, um zu bewerten, wie die Reserve zur Verringerung der negativen Auswirkungen des Brexit beiträgt. Ihre Hauptaufgabe darin besteht, mögliche Risiken, die bei der Inanspruchnahme der Reserve auftreten könnten, zu beseitigen und gleichzeitig die förmliche Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Prozess sicherzustellen. Die breite (nicht organisierte) Gesellschaft sollte über die Fortschritte beim Umsetzungsplan informiert werden, und der Abschlussbericht sollte eine Zusammenfassung der Öffentlichkeitsarbeit enthalten. Die Koordinierung auf EU-Ebene sollte sichergestellt werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt zu gewährleisten. Der EWSA sollte dabei neben dem Europäischen Parlament einbezogen werden.

4.11.

Der EWSA ist der Ansicht, dass in Bezug auf die Governance der Reserve für mehr Klarheit gesorgt werden sollte. Insbesondere sollte ein Leitungsorgan für die Reserve benannt und konkretisiert werden, ob es noch mehr Governancegremien geben wird.

4.12.

Notwendig ist auch ein Leistungsrahmen für die Zwischenbewertung auf der Grundlage spezifischer leistungsorientierter Indikatoren, die von den Mitgliedstaaten festgelegt und jährlich von der Europäischen Kommission bewertet werden. Dies wird für eine genaue Überwachung und Bewertung der Inanspruchnahme und der Ausgaben ermöglichen, wobei gleichzeitig ermittelt werden kann, welche Mitgliedstaaten die Finanzmittel nicht oder nur in begrenztem Umfang abrufen. Die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Brexits dürften sich entsprechend verstärken, wenn die verfügbaren Finanzmittel nicht ausgeschöpft werden.

4.13.

Die Zivilgesellschaft muss offiziell in die Durchführung der Reserve einbezogen werden. Die Übernahme des im Rahmen der europäischen Struktur- und Investitionsfonds bestehenden Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften in die Verwaltung der Reserve „wird Interessenträger und zivilgesellschaftliche Organisationen dazu befähigen, eine zentrale Rolle als Vermittler zu spielen und Projekte näher an die Endbegünstigten zu bringen“ (9). Das Verfahren zur Auswahl der Partner sollte transparent und klar definiert sein, und den ausgewählten Organisationen sollten ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt werden sollten.

4.14.

Die Kommission schlägt vor, bis zum 30. Juni 2026 die Wirksamkeit, Effizienz und den EU-Mehrwert der Reserve zu bewerten und dem Europäischen Parlament und dem Rat ein Jahr später Bericht zu erstatten. Nach Ansicht des EWSA könnte diese Berichterstattung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und den Rat innerhalb von drei Monaten nach der Evaluierung, d. h. bis zum 30. September 2026 erfolgen.

4.15.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a wie folgt geändert werden sollte: „Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, Arbeitnehmern bei der Umschulung und beruflichen Neuorientierung und lokalen Gemeinschaften, auf die sich der Austritt negativ auswirkt“. Darüber hinaus sollte Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe d wie folgt geändert werden: „Maßnahmen des Beschäftigungsschutzes und zur Förderung der Beschäftigung, wie Kurzarbeitsregelungen, Umschulung und berufliche Bildung in den betroffenen Sektoren“. Der Indikator 15.4 aus dem Anhang II sollte entsprechend angepasst werden.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. L 444 vom 31.12.2020 S. 14, ).

(2)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung der Reserve für die Anpassung an den Brexit (COM(2020) 854 final — 2020/0380 (COD)).

(3)  Langfristiger EU-Haushalt 2021-2027 und Aufbaupaket.

(4)  Delegierte Verordnung (EU) Nr. 240/2014 der Kommission vom 7. Januar 2014 zum Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ABl. L 74 vom 14.3.2014, S. 1).

(5)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den Kohäsionsfonds“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 90).

(6)  NextGenerationEU.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Änderung des Solidaritätsfonds — Brexit ohne Abkommen“ (ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 84).

(8)  Europäische Kommission — Bürgerrechte.

(9)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den Kohäsionsfonds“ (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 90).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/58


Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds]“

(COM(2020) 610 final — 2020/0279(COD))

und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl“

(COM(2020) 613 final — 2020/0277(COD))

(2021/C 155/09)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Befassung

Europäisches Parlament, 11.11.2020

Europäische Kommission, 27.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

25.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

235/5/25

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Gewährleistung der Ausgewogenheit bei der Bearbeitung von Asylanträgen mit dem Ziel, dass die Personen, die internationalen Schutz benötigen, diesen Schutz auch erhalten, oder dass die Personen, die diesen Schutz nicht benötigen, tatsächlich rückgeführt werden, sollte nicht allein Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten sein, sondern dies sollte von der EU als Ganzes gesteuert werden.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erkennt an, dass Migration ein menschliches und strukturelles Phänomen ist, dass unter Verfolgung leidende Menschen ein Grundrecht auf Asyl und internationalen Schutz haben und dass die Unterzeichnerstaaten der Genfer Konvention einer völkerrechtlichen Verpflichtung unterliegen. Der EWSA weist darauf hin, dass Grundrechte und personenbezogene Daten gemäß den Vorschlägen, die Gegenstand dieser Stellungnahme sind, geschützt werden sollten.

1.3.

Der EWSA begrüßt die verbesserte Information von Asylsuchenden über das in den geplanten Verordnungen vorgesehene Antragsverfahren und ihre einschlägigen Rechte und Pflichten. Dies wird es ihnen ermöglichen, ihre Rechte besser wahrzunehmen. Durch die Präzisierung des Geltungsbereichs des Rechtsbehelfs und die Auflage, Gerichtsentscheidungen innerhalb einer einheitlichen Frist zu treffen, wird das Recht auf Rechtsbehelf gestärkt. Die Rechtsbehelfsbestimmungen werden auch angepasst, um das Rechtsbehelfsverfahren erheblich zu beschleunigen und zu vereinheitlichen.

1.4.

Der EWSA begrüßt außerdem, dass das Recht auf Privat- und Familienleben und die Rechte unbegleiteter Minderjähriger gestärkt werden, indem der Anwendungsbereich der Verordnung im Rahmen der Kriterien für die Familienzusammenführung auf Geschwister sowie auf Familien, die in Transitländern gegründet wurden, ausgeweitet und der Grundsatz des Kindeswohls angewendet wird.

1.5.

Der EWSA hält es für wichtig, dass die Vorschläge den Rechtsstatus einer Verordnung — im Gegensatz zu einer Richtlinie — haben, da eine Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und gemäß den Verträgen in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt. Allerdings müssen alle maßgeblichen vorgeschlagenen Verordnungen im Interesse einer tragfähigen Strategie gleichzeitig erlassen werden: Sollte einer der Vorschläge nicht angenommen werden, würde sich dies direkt auf die Umsetzung der anderen auswirken. Ferner besteht angesichts früherer Verstöße gegen verbindliche EU-Rechtsvorschriften seitens einiger Mitgliedstaaten viel Raum für Zweifel an der Umsetzung mehrerer Bestimmungen der vorgeschlagenen Verordnungen.

1.6.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Vorschläge das Ergebnis gründlicher Konsultationen mit Interessenträgern, nationalen und lokalen Behörden (1), zivilgesellschaftlichen, nichtstaatlichen und internationalen Organisationen wie dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) (2) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) (3) sowie von Denkfabriken und Hochschulen sind.

1.7.

Der EWSA begrüßt, dass sich die Verordnungen auf die Grundsätze der Solidarität und der gerechten Lastenteilung stützen, ist jedoch der Ansicht, dass diese Belastung nicht durch ein entsprechendes Maß an Solidarität ausgeglichen wird. Einfach ausgedrückt: Solidarität in Form von Übernahmen kann nicht auf Freiwilligkeit beruhen. Solidarität muss verbindlicher Natur sein, und zwar in Form obligatorischer Übernahmen.

1.8.

Der EWSA teilt die zweifache Sorge um die Sicherheit der Menschen, die internationalen Schutz oder ein besseres Leben suchen, einerseits und um das Wohlergehen der Länder an den EU-Außengrenzen andererseits, die sich Sorgen machen, dass der Migrationsdruck ihre Kapazitäten übersteigt.

1.9.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Dublin-III-Verordnung nicht dazu angelegt war, hohen Migrationsdruck zu bewältigen oder eine gerechte Teilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Ebenso wenig wurden das Management gemischter Migrationsströme und der damit einhergehende Druck auf die Migrationssysteme der Mitgliedstaaten berücksichtigt.

1.10.

Da das Gesamtkonzept des Migrations- und Asylpakets jedoch auf Grenzkontrollen und der Verhinderung von Sekundärbewegungen beruht, erhöht es die Last der Verantwortung und den Aufwand für die Mitgliedstaaten der ersten Einreise, neben den in den Vorschlägen zum Screening vor der Einreise und zu Grenzkontrollen vorgesehenen Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen stellen eine Belastung für die betreffenden Länder dar, denn sie erhöhen die Zahl der Personen, die an der Grenze verbleiben müssen — mit möglicherweise gravierenden Folgen für ihr eigenes Wohl wie auch das Wohl der Aufnahmegesellschaften.

1.11.

Der EWSA wertet es als ermutigend, dass die Tatsache anerkannt wird, dass ein umfassenderes Solidaritätskonzept erforderlich ist und Solidarität einen verbindlichen Charakter haben sollte, um auf die sich wandelnde Situation mit einem wachsenden Anteil gemischter Migrationsströme in die Union auf vorhersehbare und wirksame Weise zu reagieren und um eine gerechte Teilung der Verantwortung im Einklang mit dem Vertrag sicherzustellen. Dieser Ansatz bleibt jedoch hinter den Erwartungen an einen Solidaritätsmechanismus zurück, der den Mitgliedstaaten der ersten Einreise eine echte Entlastung bringen würde.

1.12.

Der EWSA regt an, dass die vorgeschlagene Politik der Rückführung in die Herkunftsländer durch ein System klarer positiver und negativer Anreize für Drittländer gestützt werden sollte. Darüber hinaus sollte die Rückführungspolitik auf einer stärkeren Rolle und Beteiligung der EU fußen, wobei nationale Maßnahmen in den Fällen unterstützend wirken, in denen der betreffende Mitgliedstaat Einfluss auf ein bestimmtes Drittland ausüben kann. In Bezug auf die so genannte „dreifache Verbindung“ (triple nexus) zwischen humanitärer Hilfe, Entwicklung und Frieden in den Herkunftsländern der Asylsuchenden müssen weitere Anstrengungen unternommen werden.

1.13.

Da ein so großer und wohlhabender Kontinent wie Europa in der Lage sein sollte, mehr zum wirksamen Schutz von Flüchtlingen beizutragen, würde der EWSA rasche und verbindliche Maßnahmen gemäß dem Vorschlag der Europäischen Kommission befürworten.

1.14.

Da die Entscheidung für Übernahmen oder für Rückkehrpatenschaften auf Freiwilligkeit beruht, könnte der EWSA einer verbindlichen Zuweisung von Übernahmen insofern zustimmen, als sich die derzeitige Situation in den Mitgliedstaaten der ersten Einreise noch weiter verschärfen würde, falls sich alle Staaten für die Finanzierung von Rückführungen, aber nicht für die Übernahmen entscheiden bzw. nur eine sehr kleine Zahl von Übernahmen akzeptieren.

1.15.

Der EWSA hält den Vorschlag bezüglich der Notwendigkeit, Kontrollmechanismen zur Überwachung des Verfahrens (vom Screening bis zur Rückführung) sowie zur Einhaltung der Grundrechte einzurichten, für beachtenswert. Mit solchen Mechanismen könnte u. a. der Rückgriff auf so genannte „Push-Backs“ (Zurückweisungen) vermieden werden. Zudem muss ausreichend Zeit für die Einrichtung des Mechanismus eingeplant werden, da die in der Screening-Verordnung und der Asylverfahrensverordnung vorgeschlagenen allgemeinen Verfahren innerhalb der vorgegebenen zeitlichen Rahmen nur schwerlich durchführbar scheinen.

1.16.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt durch die Einführung materiellrechtlicher Bestimmungen über den Schutz personenbezogener Daten zu stärken. Darüber hinaus schlägt er vor, die Frist für die Aussetzung der internationalen Verpflichtungen eines in einer Krise befindlichen Staates so lange zu verlängern, wie diese Krise andauert.

1.17.

Der EWSA ist skeptisch, ob die in den vorliegenden Verordnungsvorschlägen vorgesehenen Bestimmung wirksam angewandt werden, und äußert seine Besorgnis darüber, dass Menschen, die Asyl benötigen, aufgrund der Mängel der geplanten Verfahren möglicherweise nicht in der Lage sein werden, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Krise im Jahr 2015 hat erhebliche strukturelle Schwächen und Mängel bei der Gestaltung und Umsetzung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik aufgezeigt — einschließlich des Dublin-Systems, das nicht dafür ausgelegt wurde, eine langfristig tragfähige Teilung der Verantwortung für Menschen, die internationalen Schutz beantragen, in der gesamten EU zu gewährleisten. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 28. Juni 2018 wurde eine Reform der Dublin-Verordnung gefordert, die mit Blick auf Menschen, die nach Such- und Rettungseinsätzen auf See an Land gebracht werden, auf einem ausgewogenen Verhältnis von Verantwortung und Solidarität beruht.

2.2.

Das neue Migrations- und Asylpaket, das zusammen mit dem Vorschlag für eine neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement vorgelegt wird, soll einen Neubeginn in der Migrationspolitik darstellen, der auf einem Gesamtkonzept für das Migrationsmanagement beruht. Als maßgeblicher Beitrag zu dem umfassenden Ansatz wird mit diesem Vorschlag ein gemeinsamer Rahmen für das Asyl- und Migrationsmanagement auf EU-Ebene geschaffen, der das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten fördern soll.

Mit Blick auf jüngste Migrationskrisen werden insbesondere die folgenden Herausforderungen hervorgehoben.

2.2.1.

Fehlen eines integrierten Ansatzes bei der Umsetzung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik:

Das Fehlen gleicher Bedingungen für alle Mitgliedstaaten beeinträchtigt die Bemühungen um die Gewährleistung von Verfahrenszugang, Gleichbehandlung, Klarheit und Rechtssicherheit.

2.2.2.

Einzelstaatliche Unzulänglichkeiten und mangelnde EU-weite Harmonisierung des Asyl- und Migrationsmanagements:

Herausforderungen der Verknüpfung von Rückkehr und Asyl;

eingeschränkte Anwendung von Programmen zur unterstützten freiwilligen Rückkehr;

Fehlen gestraffter Verfahren bei der Einreise;

Verzögerungen beim Zugang zu Asylverfahren und langsame Bearbeitung von Anträgen;

Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grenzverfahrens.

2.2.3.

Fehlen eines umfassenden und flexiblen Solidaritätsmechanismus:

Übernahmen sind nicht die einzige wirksame Reaktion zur Bewältigung gemischter Migrationsströme.

2.2.4.

Ineffizienzen im Dublin-System:

Fehlen einer tragfähigen Teilung der Verantwortung unter dem derzeitigen System;

geltende Bestimmungen zur Verlagerung der Zuständigkeit zwischen Mitgliedstaaten tragen zu unerlaubten Migrationsbewegungen bei;

ineffiziente Datenverarbeitung;

verfahrensmäßige Unzulänglichkeiten des Dublin-Systems führen zu Verwaltungsaufwand.

2.2.5.

Fehlen gezielter Mechanismen zur Bewältigung extremer Krisensituationen:

Schwierigkeit der EU bei der Gewährleistung des Zugangs zu Asyl- oder anderen Verfahren an Grenzen in extremen Krisensituationen.

2.2.6.

Fehlen eines gerechten und wirksamen Systems zur Wahrnehmung von Grundrechten und Schwierigkeiten bei der Festlegung neuer legaler Wege für Asylsuchende und bei der wirksamen Behandlung der Migrationsursachen, einschließlich humanitärer Aspekte und Fragen der Entwicklung und des Friedens.

2.3.

Es besteht die Hoffnung, dass diese Herausforderungen mithilfe der Vorschläge auf folgende Weise zu bewältigen sind.

2.3.1.

In höherem Maße effizientes, lückenloses und harmonisiertes Migrationsmanagementsystem:

ein Gesamtkonzept für effizientes Asylmanagement (Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für das Asyl- und Migrationsmanagement auf EU-Ebene);

ein lückenloses Asyl- und Rückführungsverfahren und die einfachere Anwendung von beschleunigten Verfahren und Grenzverfahren;

eine koordinierte, effektive und zügige Screening-Phase (Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung des Screenings von Drittstaatsangehörigen, die im Zusammenhang mit der irregulären Überschreitung von EU-Außengrenzen aufgegriffen werden, die nach Such- und Rettungseinsätzen auf See an Land gebracht werden oder die an Grenzübergangsstellen um internationalen Schutz ersuchen).

2.3.2.

Ein gerechterer, umfassenderer Solidaritäts- und Übernahmeansatz:

ein auf Verbindlichkeit fußender Solidaritätsmechanismus mit einem umfassenderen Anwendungsbereich (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement).

2.3.3.

Vereinfachte und effizientere Bestimmungen für ein solides Migrationsmanagement:

eine umfassendere und gerechtere Definition der Zuständigkeitskriterien, wodurch die Übertragung und Verlagerung der Zuständigkeit eingeschränkt werden (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement);

eine effizientere Datenerfassung und -verarbeitung, womit die Zählung der Antragsteller anstelle der Anträge ermöglicht wird, und die Berücksichtigung einer eigenen Kategorie für Such- und Rettungseinsätze (Neufassung der Eurodac-Verordnung)

verbesserte Verfahrenseffizienz (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement).

2.3.4.

Ein gezielter Mechanismus zur Bewältigung extremer Krisensituationen (Vorschlag für eine Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen).

2.3.5.

Die wirksamere Wahrung der Grundrechte von Migranten und Asylsuchenden (4).

3.   Anmerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds]

3.1.

Im Paket wird zu Recht die fehlende Einheitlichkeit der Asyl- und Rückführungssysteme der Mitgliedstaaten hervorgehoben und betont, dass es notwendig ist, durch Beseitigung der Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung für eine größere Solidarität innerhalb der EU zu sorgen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu verbessern und zu stärken. Es ist jedoch nicht klar, ob sich die im letzten Jahrzehnt entstandenen zentralen Herausforderungen für die Koordinierung mithilfe des Grundsatzes einer freiwilligen und selektiven Solidarität bewältigen lassen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der ersten Einreise auf unverhältnismäßige Weise belastet werden.

3.2.

Wie in der Stellungnahme des EWSA (SOC/649 (5)) festgestellt wurde, könnten sich die Mitgliedstaaten gemäß dem neuen Solidaritätsmechanismus an der Umsiedlung oder der geförderten Rückkehr von Personen in einer irregulären Situation beteiligen. Der EWSA bezweifelt die Umsetzbarkeit dieses Mechanismus, für den eine hypothetische freiwillige Solidarität Voraussetzung ist. Es werden keinerlei Anreize erwähnt, die notwendig wären, um die Mitgliedstaaten zur Teilnahme an diesem Mechanismus zu bewegen. Dies ist besonders bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass sich manche Mitgliedstaaten weigern, an der bisherigen Umsiedlungsregelung (6) teilzunehmen, bzw. dass es keine ausdrückliche Verpflichtung dazu gibt. Dieser auf Solidarität beruhende Mechanismus könnte auch den gegenteiligen Effekt haben, nämlich dass die betroffene Person in den unterstützenden Mitgliedstaat umgesiedelt würde, wenn die Rückführung nicht tatsächlich innerhalb von acht Monaten stattfindet. Daraus ergäben sich Lücken in der Rechenschaftspflicht bezüglich der Rechte von Rückkehrern. Ferner haben im Rahmen des vorgeschlagenen neuen Solidaritätsmechanismus die Mitgliedstaaten einen Anreiz, sich nicht an der Übernahme — der dringenderen, schwierigeren und kostenintensiveren Option — zu beteiligen, sondern sich stattdessen für die Rückführung zu entscheiden (7). Daher müssen verbindliche Solidaritätsmaßnahmen in Form obligatorischer Maßnahmen gemäß der Mitteilung der Europäischen Kommission eingeführt werden.

3.3.

Der EWSA begrüßt, dass der Zeitraum bis zum Erhalt eines langfristigen Aufenthaltsstatus für Personen, die unter internationalem Schutz stehen, von fünf auf drei Jahre verkürzt werden soll, wenn diese sich dazu entschließen, in dem Mitgliedstaat zu bleiben, der ihnen diesen Schutz gewährt. Ziel ist eindeutig die Integration in die lokalen Gemeinschaften, auch wenn eingewandt werden könnte, dass so die Freizügigkeit innerhalb der EU eingeschränkt wird; damit wird bestätigt, dass die Last weiterhin bei den Mitgliedstaaten der ersten Einreise liegt.

3.4.

Der EWSA begrüßt das vorgelegte Konzept der gerechten Teilung der Verantwortung, ist jedoch der Ansicht, dass diese Belastung nicht durch ein entsprechendes Maß an Solidarität ausgeglichen wird.

3.5.

Der EWSA begrüßt die Maßnahmen zur Verbesserung der Koordinierung zwischen nationalen Strategien zu Asyl- und Rückführungsmaßnahmen, bedauert jedoch, dass mehr Vorschläge zur Koordinierung von Rückführungsinstrumenten als zur Koordinierung der Verfahren im Bereich Asyl und Aufnahme von Flüchtlingen gemacht wurden.

3.6.

Der EWSA ist sich der Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf wirksame Rückführungsmaßnahmen bewusst und nimmt die Bereitschaft der Kommission zur Kenntnis, Schritte hin zu einem gemeinsamen und wirksamen europäischen Rückführungssystem zu unternehmen. Der Vorschlag beruht auf der Verbesserung der operativen Unterstützung für Rückführungsmaßnahmen. Außerdem sieht er die Ernennung nationaler Rückführungskoordinatoren vor. Der EWSA bedauert, dass Probleme bei der Durchführung von Rückführungsprogrammen nicht eindeutig ermittelt werden (8), sodass dieser als strategisch wichtig eingeschätzte Ansatz von der Kooperationsbereitschaft der Drittstaaten, d. h. der Herkunfts- oder Transitstaaten, abhängt. Die EU sollte deshalb in Bezug auf eine allgemeine Rückführungspolitik eine größere Rolle übernehmen.

3.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass Solidarität ein Automatismus sein muss. Die Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten der ersten Einreise sind unverhältnismäßig. Die Verfahren sind nach wie vor komplex und langwierig und bieten keine Gewähr für eine Übernahme. Es gibt nur verbindliche Grenzverfahren ohne automatischen Mechanismus zur Teilung der Lasten. Die Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen zur Stärkung der Infrastruktur (Zelte, Sachleistungen usw.), der finanziellen Unterstützung oder der freiwilligen Rückkehr ergreifen. Es gibt keine eindeutigen Kriterien für die Frage, wie die einzelnen Mitgliedstaaten einen Beitrag leisten werden. Dies ist keine wirksame Lösung, sondern verstärkt den Druck auf die Staaten der ersten Einreise nur noch weiter und nimmt lange Zeit in Anspruch (8 Monate), sodass die Gefahr besteht, dass Antragsteller untertauchen. Gebraucht wird ein Mechanismus, der in stärkerem Maße automatisch ist und eine bessere Verteilung der Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten ermöglicht.

3.8.

Ebenso ist der EWSA der Ansicht, dass die Einteilung in drei unterschiedliche Kategorien von Notlagen (Fälle von Druck oder Risiko von erhöhtem Druck, Fälle von Krisensituationen und Fälle von Such- und Rettungseinsätzen) für Solidaritätszwecke nicht praktikabel ist. Mitgliedstaaten müssen Unterstützung in einer der drei Kategorien beantragen. Die Kommission entscheidet (anhand von 21 Bewertungskriterien), ob der Antrag zulässig ist, und ersucht andere Länder um praktische Hilfe, die in zwei Hauptformen erfolgen kann: Übernahme oder Rückkehrpatenschaft. Das ist ein unzweckmäßiges und zeitaufwändiges Verfahren: Zuerst muss Solidarität beantragt werden, dann wird eine Stellungnahme dazu erarbeitet, danach kann Solidarität auf freiwilliger Basis angeboten werden und am Ende wird über verbindliche Solidarität entschieden. Sogar im Falle verbindlicher Solidarität hängt die Entscheidung der Kommission von der Stellungnahme eines Sonderausschusses ab; falls keine positive Stellungnahme abgegeben wird, werden keine Maßnahmen ergriffen.

3.9.

Nach Auffassung des EWSA wird — abgesehen von der Ungenauigkeit der gebotenen Begriffsbestimmungen (insbesondere in der Verordnung für Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt) — der Begriff „Migrationsdruck“ trotz seiner häufigen Nennung im Verordnungsentwurf nicht klar definiert.

3.10.

Auch wenn die Idee von Rückführungen durch Mitgliedstaaten entsprechend ihren Beziehungen zu Drittstaaten attraktiv erscheinen mag, funktioniert sie möglicherweise nicht, da sich die Gegebenheiten im Herkunftsland wandeln oder die betreffenden Länder Rückführungen schlichtweg verbieten könnten. Auch besteht das Problem, dass im Wesentlichen Haftbedingungen geschaffen werden: Personen, die rückgeführt werden sollen, verbleiben an der Grenze und machen den Mitgliedstaat der ersten Einreise so zu einem großen „Abschiebezentrum“. Da Rückführungen hauptsächlich von der Zusammenarbeit der Drittstaaten abhängen, mit denen die EU noch verhandeln und sich einigen muss (beispielsweise in puncto Visumerteilung), lässt sich in der Praxis nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob eine Beschleunigung der Verfahren (so wie in der Screening-Verordnung vorgesehen) tatsächlich zu einer höheren Zahl an Rückführungen beitragen würde. Damit würde nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverstößen steigen, sondern auch der Druck auf die Bevölkerung vor Ort erhöht.

3.11.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass der für den Asylantrag zuständige Mitgliedstaat — die zentrale Säule des neuen Asylmanagementverfahrens — als das Land definiert werden könnte, in dem ein oder mehrere Geschwister eines Zuwanderers/einer Zuwandererin leben, in dem er/sie gearbeitet oder studiert hat oder in dem ein Visum ausgestellt wurde. Obwohl eine solche Ausweitung der Kriterien begrüßenswert ist, wird damit letztlich nur bestätigt, welche enorme Last noch auf den Mitgliedstaaten der ersten Einreise liegt.

4.   Anmerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl

4.1.

Der EWSA begrüßt die Einführung einer Komponente zur Berücksichtigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl. Er ist allerdings der Ansicht, dass die betreffenden Begriffsbestimmungen unklar oder unzweckmäßig sind. Diese Tatsache — in Verbindung mit dem Fehlen oder dem Vorhandensein objektiver Indikatoren — verursachen einen Mangel an Rechtssicherheit.

4.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt zwar eine günstige Gelegenheit für verbindliche Solidarität schafft, aber eher Unterstützung in Verfahrensfragen als Solidaritätsmaßnahmen in Notlagen vorsieht. Die komplexen und bürokratischen Verfahren, die zur Umsetzung von Solidarität erforderlich sind, führen zu deren Aushöhlung. Es liegt auf der Hand, dass in Krisensituationen oder bei großem Druck Übernahmen sichergestellt werden müssen. Darüber hinaus sollten Maßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass Mitgliedstaaten überhaupt in eine Krisensituation gelangen.

4.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Einführung von Verfahren und Mechanismen zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl auch mit den Grundrechten und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sowie des Völkerrechts vereinbar sein sollte.

4.4.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass Mitgliedstaaten durch die Aktivierung des Mechanismus in Krisenzeiten in der Lage sind, ihre internationalen Verpflichtungen (z. B. zur Bearbeitung von Asylanträgen) für die Dauer von bis zu drei Monaten auszusetzen. Darüber hinaus sollte diese Frist so lange verlängert werden können, wie die Krise andauert. Es wäre nützlich, die Frage zu klären, wie Krisensituationen bestimmt werden, sowie eindeutige Richtwerte für den Fall festzulegen, dass die Kapazitäten eines Landes überschritten werden bzw. werden könnten.

4.5.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, Mitgliedstaaten mehr Zeit für die Bewältigung von Krisensituationen zu geben, gleichzeitig jedoch einen wirksamen und unverzüglichen Zugang zu den einschlägigen Verfahren und Rechten zu gewährleisten, sowie die Möglichkeit der Kommission, die Anwendung des Asylkrisenmanagementverfahrens und des Rückkehrkrisenmanagementverfahrens für einen Zeitraum von sechs Monaten zu genehmigen, der bis zu einem Zeitraum von höchstens einem Jahr verlängert werden kann. Nach Ende des betreffenden Zeitraums sollten die im Asylkrisenmanagementverfahren und im Rückkehrkrisenmanagementverfahren vorgesehenen verlängerten Fristen nicht mehr auf neue Anträge auf internationalen Schutz angewendet werden.

4.6.

Allerdings ist der EWSA der Auffassung, dass der begrenzte Geltungsbereich des Vorschlags, d. h. die Verlängerung oder Beschleunigung der Verfahren, seine Funktion als Mechanismus schwächt, der bei solidarischen Notfallmaßnahmen zur Anwendung kommt.

4.7.

Nach Ansicht des EWSA könnte dieser Vorschlag als Gelegenheit dienen, für verbindliche Solidarität zu plädieren; allerdings findet er keine Berücksichtigung im verfügenden Teil der betreffenden Verordnung. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass er in den verfügenden Teil der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds] aufgenommen werden sollte, um jegliche Unsicherheiten zu vermeiden und das Risiko seiner Nichtannahme zu beseitigen, da hier eine wechselseitige Abhängigkeit besteht.

Brüssel, den 25. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Beispielsweise der von 33 Organisationen und Gemeinden unterzeichnete Berliner Aktionsplan für eine neue europäische Asylpolitik vom 25. November 2019.

(2)  Empfehlungen des UNHCR zu dem von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Migrations- und Asylpaket, Januar 2020.

(3)  Empfehlungen der IOM zum neuen Migrations- und Asylpaket der Europäischen Union, Februar 2020.

(4)  SWD(2020) 207 final.

(5)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15.

(6)  Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-715/17, C-718/17 and C-719/17 Kommission gegen Polen, Ungarn und Tschechische Republik.

(7)  Leider gibt es keinen Schutz vor Situationen, in denen sich Regierungen dazu entschließen, im Zuge einer populistischen Mobilisierung gegen Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge bei Rückführungen eine Schlüsselrolle zu spielen.

(8)  COM(2017) 200 final.


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu:

Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU

(COM(2020) 611 final — 2016/0224(COD))

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung des Screenings von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EU) 2017/2226, (EU) 2018/1240 und (EU) 2019/817

(COM(2020) 612 final — 2020/0278(COD))

Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich biometrischer Daten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) XXX/XXX [Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement] und der Verordnung (EU) XXX/XXX [Neuansiedlungsverordnung], für die Feststellung der Identität illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnungen (EU) 2018/1240 und (EU) 2019/818

(COM(2020) 614 final — 2016/0132(COD))

(2021/C 155/10)

Berichterstatter: Panagiotis GKOFAS

Befassung

Europäische Kommission, 27.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

25.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/9/28

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt das neue Migrations- und Asylpaket zur Kenntnis, mit dem ein vielschichtiges und komplexes Problem angegangen werden soll. Er ist der Auffassung, dass die neuen Regelungen einen positiven Beitrag zu mehr Sicherheit an den EU-Grenzen leisten. Es wird ein besseres und sichereres Verfahren zur Kontrolle aller Personen geschaffen, die in die EU einreisen. Allerdings ist eine integrierte gemeinsame EU-Strategie, die tragfähig und zukunftsorientiert ist, dringend erforderlich und bereits seit langem überfällig. Was die Migrations- und Asylthematik insgesamt betrifft, so können die vorliegenden Vorschläge nicht als der deutliche Schritt nach vorn gewertet werden, der so dringend nötig ist. Darüber hinaus werden die vier oder fünf betroffenen Mitgliedstaaten ausgehend vom Prinzip der Nichteinreise (1) bis zum Abschluss des Verfahrens, also für einen Zeitraum von bis zu sechs oder sieben Monaten, „geschlossene Zentren“ für die Migrantinnen und Migranten einrichten müssen, was zu Situationen führt, die viel schlimmer sind als vorher.

1.2.

Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten müssen mehr und intensivere Anstrengungen unternehmen. In kürzlich verabschiedeten Stellungnahmen (SOC/649 (2) und SOC/669 (3)) kritisiert der EWSA wesentliche Aspekte sowohl der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement als auch der Asylverfahrensverordnung. Der EWSA weist auch darauf hin, dass er die Chancen für die Umsetzung dieser neun unterschiedlichen Verordnungen nach Prüfung der neun Verordnungen und seinen Kontakten zur Kommission in verschiedener Hinsicht für fraglich hält. Nötig ist eine umfassendere Migrationsstrategie, um bessere Synergien zwischen den verschiedenen EU-Verordnungen herzustellen und Antworten auf die wichtigen Probleme in den Mitgliedstaaten zu geben, die stärker von der Migration betroffen sind.

1.3.

Der EWSA hegt Bedenken in Bezug auf die neuen Verfahren an der Grenze, insbesondere mit Blick auf das zu schützende Recht, einen Asylantrag zu stellen, sowie auf folgende Punkte:

das mangelhafte Konzept „Länder mit geringen Anerkennungsraten in Asylverfahren“,

Verwendung schlecht definierter Rechtsbegriffe (Gefahr für die Sicherheit, öffentliche Ordnung) die zu Rechtsunsicherheit führen,

ausländische Kinder im Alter zwischen 12 und 18, die auch nach dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 als Kinder zu betrachten sind,

die Fragen, wo und unter welchen Bedingungen Menschen während des Grenzverfahrens untergebracht werden sollen und wie ein Rechtsvakuum vermieden werden kann, indem das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz gewährleistet wird.

1.4.

Der EWSA erkennt den Mehrwert und die Notwendigkeit gemeinsamer, umfassender und wirksamer Asylverfahren an, die mit den internationalen Übereinkommen und den Rechtsgarantien im Einklang stehen; erforderlich sind auch das Vertrauen der EU und der Mitgliedstaaten durch konkrete Solidaritätsmechanismen sowie gerecht verteilte Zuständigkeiten und Verpflichtungen. Doch ein solches gemeinsames Asylsystem — ein Asylsystem, das umfassend ist, Solidarität beweist und die Verantwortung gerecht auf die Mitgliedstaaten verteilt — bietet dieser Vorschlag der Kommission nicht. Die Bestimmung betreffend die Solidarität sollte auch in das Asylverfahren aufgenommen werden, und zwar direkt nach dem Screening und mit informationstechnischer Unterstützung durch Eurodac. Wenn die verbindliche Solidarität nicht die Form einer verbindlichen Übernahme im Rahmen der Asylverfahrensverordnung annimmt oder wenn nicht Verfahren eingerichtet werden, die es Menschen erlauben, in EU-Mitgliedstaaten um Asyl zu ersuchen, ohne dass sie eine EU-Grenze überqueren müssen, dann wird die Verordnung in der Praxis nicht funktionieren. Auch sollten positive und negative Anreize für die Übernahme geschaffen werden, und in jedem Fall sollte es möglich sein, das Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat durchzuführen und nicht nur im Land der ersten Einreise.

1.5.

Der EWSA betont, dass die Wirksamkeit der vorgeschlagenen neuen Verfahren mithilfe von Mechanismen zur Überwachung der Achtung der Grundrechte kontinuierlich gemessen werden muss, insbesondere im Hinblick auf die Rechte schutzbedürftiger Personen und von Kindern, das Recht auf individuelle Prüfung des Asylantrags und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Es stellt sich jedoch die Frage, wo und wie und mit welcher Art von Solidaritäts-, Übernahme- und Neuansiedlungsmaßnahmen das verbesserte neue Paket und die begleitenden Vorschläge umgesetzt werden sollen.

1.6.

Der EWSA spricht sich für ein stärker integriertes und ausgewogeneres IT-System für das Migrationsmanagement auf der Grundlage einer aufgerüsteten Eurodac-Datenbank mit Fokus auf den Asylanträgen und den Asylbewerberinnen und -bewerbern aus. Der EWSA hatte den Eindruck, dass die Kommission anerkennt, dass es eines gemeinsamen Ansatzes für die obligatorische Abnahme von Fingerabdrücken, die Gesundheitskontrolle und die Sicherheitsüberprüfung vor der Einreise bedarf. Doch trotz des vorgeschlagenen ausgeklügelten Systems besteht leider nicht die Möglichkeit, einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat als dem Land der Ersteinreise zu stellen — das sollte jedoch möglich sein. Die Regeln für die Feststellung, welcher Mitgliedstaat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, die gegenwärtig in der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement niedergelegt sind, gehören in die Asylverfahrensverordnung, womit über Eurodac die Möglichkeit bestünde, dass Anträge auch in anderen Mitgliedstaaten bearbeitet werden können.

1.7.

Obwohl der EWSA neue, schnellere Entscheidungsverfahren an den EU-Grenzen befürwortet, die im Einklang mit sämtlichen Grundrechten, Menschenrechten und rechtlichen Verfahren stehen, ist damit eine Vielzahl von Fragen verbunden — wie etwa die, auf welche Weise wir diese Verfahren durchführen und absichern. Wie setzen wir die Rückkehr bzw. Rückführung um? Wo ist denn die Solidarität in der Asylverfahrensverordnung, von der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement ganz zu schweigen — wenn überhaupt Solidarität vorgesehen ist? Kann sich eine Person, der Asyl gewährt wurde, vom Land der ersten Einreise in einen anderen Mitgliedstaat begeben (4)? Können die Mitgliedstaaten Asyl gewähren, um Menschen in Not zu helfen, oder werden sie beginnen, sie zurückzuweisen? Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, jeden Teil des Vorschlags gründlich zu prüfen und zu erläutern sowie insbesondere die Frage zu beantworten, in welcher Weise dieses neue Paket das gemeinsame Asylverfahren verbessert und das Recht auf einen Asylantrag wahrt.

1.8.

Der EWSA ist besorgt über die Anwendung der neuen Screening-Verfahren für Drittstaatsangehörige an den Außengrenzen. Mit diesem neuen Mechanismus wird der Druck auf die Mitgliedstaaten erhöht, die über maritime EU-Außengrenzen verfügen, und es wird die Schaffung geschlossener Zentren vorangetrieben, die sich an den Außengrenzen oder in deren Nähe befinden. Ähnliche Zentren haben zu ernsten Bedenken in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte und die Sicherstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen für deren Bewohner geführt.

1.9.

Das Ergebnis des Verfahrens an der Grenze wird entweder die Gewährung von Asyl oder die Ablehnung und Rückkehr bzw. Rückführung sein. Im Falle der Asylgewährung ist der gewährende Mitgliedstaat für die Integration der betreffenden Personen zuständig. Im Szenarium des neuen Pakets bedeutet dies allerdings, dass ihre Integration in den Ländern des Südens erfolgt, ohne dass eine Möglichkeit der Umsiedlung in einen anderen Mitgliedstaat bzw. der solidarischen Übernahme durch einen anderen Mitgliedstaat besteht. Wird der Asylantrag abgelehnt, muss der Mitgliedstaat den abgelehnten Asylbewerber zurückführen. Bei diesem Ansatz müssen Möglichkeiten gefunden werden, um mit den Drittländern, die Herkunfts- und Transitländer sind, EU-Abkommen zu schließen und wirksame Verfahren im Einklang mit dem Völkerrecht und den Menschenrechtsinstrumenten sicherzustellen. Weder können Mitgliedstaaten allein untereinander Einzelabkommen schließen noch erwähnt die Kommission derartige Verfahren auch nur mit einem Wort.

1.10.

Die Herausforderungen des Migrationsmanagements — insbesondere im Zusammenhang mit der Sicherstellung einer raschen Identifizierung von Personen, die internationalen Schutz benötigen, oder der praktischen Durchführung der Rückführung von Personen, die keinen Schutz benötigen — sollen von der gesamten EU in einheitlicher Weise bewältigt werden, doch wird dies mit den vorliegenden Vorschlägen wohl nicht erreicht. Faktisch ist dies eine Angelegenheit, um die sich nur der Mitgliedstaat der ersten Einreise kümmern muss; eine gerechte Lastenteilung findet nicht statt, etwa in Form einer verbindlichen Übernahme von Asylbewerbern im Rahmen des Asylverfahrens sowie der Prüfung von Asylanträgen.

1.11.

Insbesondere ist es wichtig, ein besseres Verfahren zur Identifizierung der Personen zu schaffen, die in der EU wahrscheinlich keinen Schutz erhalten werden (5). Mit dem Vorschlag der Kommission wird ein Screening vor der Einreise eingeführt, dem alle Drittstaatsangehörigen zu unterziehen sind, die sich — ohne die Einreisevoraussetzungen zu erfüllen oder nach der Ausschiffung im Anschluss an einen Such- und Rettungseinsatz — an der Außengrenze aufhalten. Bedauerlicherweise erfolgt dieses „Screening vor der Einreise“ im Hoheitsgebiet des Landes der ersten Einreise in die EU an der Grenze. Das Wort „vor“ bedeutet, dass die betroffene Person in ein „geschlossenes Haftzentrum“ gebracht wird, dort verbleibt und nicht weiterreisen kann, bis die Behörden dieses Mitgliedstaats entscheiden, ihr entweder Asyl zu gewähren (6) oder ihre Rückführung in das Herkunfts- oder Transitland zu veranlassen, sofern diese Rückkehr überhaupt möglich ist — und in den meisten Fällen ist sie nicht möglich.

1.12.

Der EWSA unterstützt den EU-Rahmen zur Festlegung einheitlicher Vorschriften für das Screening von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgegriffenen irregulären Migranten, die sich bei der Einreise in den Schengen-Raum den Grenzkontrollen entzogen haben. Damit sollen der Schengen-Raum geschützt und die wirksame Steuerung der irregulären bzw. illegalen Migration sichergestellt werden.

1.13.

Der EWSA fordert die Organe und Agenturen der EU sowie die Sozialpartner auf, sich an der Ausarbeitung weiterer Strategien und Programme, dem Austausch bewährter Verfahren und multilateralen Partnerschaftsprogrammen (z. B. Fachkräftepartnerschaften) zu beteiligen, die bestehende „humanitäre Korridore“ betreffen. Er fordert ferner, dass ein neuer Rechtsrahmen ausgearbeitet wird, dass schnelle Verfahren eingeführt werden, die es ermöglichen, dass Visa aus humanitären Gründen in größerem Umfang und von einer größeren Zahl von Personen genutzt werden (durch Anpassung der geltenden Bestimmungen von Artikel 25 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates (7)), und dass die „Patenschaft“ ebenfalls als gewöhnlicher legaler Zugangsweg im Bereich der Drittstaatsangehörige aus Nicht-EU-Ländern betreffenden Einwanderungspolitik einbezogen wird. Der EWSA macht die gesetzgebenden Organe darauf aufmerksam, dass geltendes EU-Recht wie das Schengener Übereinkommen und der Vertrag von Lissabon schon den „subsidiären und vorübergehenden Schutz“ von Menschen vorsehen, die vor Kriegen oder Naturkatastrophen fliehen. Dies zeigt, dass die reguläre Einreise von Personen, die internationalen Schutz benötigen, mithilfe von Rechtsinstrumenten garantiert werden kann, die den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits zur Verfügung stehen.

2.   Allgemeine Bedenken und Bemerkungen

2.1.

Das neue Paket der EU steht für eine integrierte Politikgestaltung, bei der die Maßnahmen in den Bereichen Asyl, Migration, Rückkehr und Rückführung, Schutz der Außengrenzen, Bekämpfung der Migrantenschleusung und Beziehungen zu wichtigen Drittstaaten im Rahmen eines ressortübergreifenden Ansatzes zusammengeführt werden. Letztendlich werden die vorgeschlagenen Verordnungen jedoch den Mitgliedstaaten Südeuropas eine enorme Belastung aufbürden, was unvermeidlich dazu führen wird, dass die Verordnungen nicht anwendbar sind und nicht die mit ihnen beabsichtigte Wirkung entfalten. Nach einer überschaubaren Zeit werden die Mitgliedstaaten de facto gezwungen sein, viele Asylanträge abzulehnen, und zwar auch solche, bei denen die Voraussetzungen für die Asylgewährung erfüllt sind, um zu vermeiden, dass immer mehr Menschen unter unmenschlichen Bedingungen zusammen festgehalten werden.

2.2.

Die Mitgliedstaaten im Süden Europas werden unweigerlich zu Gewahrsams- oder Abschiebezentren werden.

2.3.

Diese Stellungnahme wird sich auf drei der neun Instrumente konzentrieren, die das neue Paket enthält: i) eine neue Screening-Verordnung, ii) einen geänderten Vorschlag zur Überarbeitung der Asylverfahrensverordnung und iii) einen geänderten Vorschlag zur Überarbeitung der Eurodac-Verordnung.

3.   Besondere Bemerkungen zur neuen Screening-Verordnung

3.1.

In der neuen Screening-Verordnung wird ein Screening vor der Einreise vorgeschlagen, das im Hoheitsgebiet des Landes der ersten Einreise erfolgt und dem alle Drittstaatsangehörigen zu unterziehen sind, die sich — ohne die Einreisevoraussetzungen zu erfüllen oder nach der Ausschiffung im Anschluss an einen Such- und Rettungseinsatz — an der Außengrenze aufhalten.

3.2.

Die verfügbaren Daten zeigen, dass anstelle der Drittstaatsangehörigen mit eindeutigem Bedürfnis nach internationalem Schutz, die im Zeitraum 2015-2016 in die EU gelangt sind, nun zum Teil unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen eintreffen.

3.3.   Besondere Bemerkungen zu den Zielen und Hauptelementen des Screening-Verfahrens

3.3.1.

Das Screening soll zu dem neuen umfassenden Konzept für Migration und gemischte Migrationsströme beitragen, indem sichergestellt wird, dass die Identität der Personen, aber auch etwaige Gesundheits- und Sicherheitsrisiken rasch festgestellt werden und dass alle Drittstaatsangehörigen, die sich — ohne die Einreisevoraussetzungen zu erfüllen oder nach der Ausschiffung im Anschluss an einen Such- und Rettungseinsatz — an der Außengrenze aufhalten, rasch dem anzuwendenden Verfahren zugeführt werden. Ziel sollte es auch sein, ein nützliches Instrument bereitzustellen, das den übrigen EU-Ländern die Möglichkeit gibt, sich zu beteiligen und die Asylbewerber während des Asylverfahrens ebenfalls einer Beurteilung zu unterziehen.

3.3.2.

Der Vorschlag sieht vor, dass die Grundrechte der betroffenen Personen mithilfe eines von den Mitgliedstaaten einzurichtenden Mechanismus geschützt werden sollen.

3.3.3.

Das Screening sollte insbesondere Folgendes umfassen:

a)

eine medizinische Erstuntersuchung und eine Prüfung der Schutzbedürftigkeit,

b)

eine Identitätsprüfung anhand von Informationen in europäischen Datenbanken,

c)

die Erfassung von biometrischen Daten (d. h. Fingerabdruck- und Gesichtsbilddaten) in den entsprechenden Datenbanken, soweit dies noch nicht geschehen ist, und

d)

eine Sicherheitskontrolle durch Abfrage einschlägiger Datenbanken der Mitgliedstaaten und der Union, insbesondere des Schengener Informationssystems (SIS), um sicherzugehen, dass die betreffende Person keine Gefahr für die innere Sicherheit darstellt.

3.3.4.

Das Screening sollte obligatorisch sein und nicht nur in den Ländern der ersten Einreise, sondern gemäß dem EU-Grundsatz der Solidarität in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen. Wie im neuen Paket beschrieben, wird das Asylverfahren nur im Land der ersten Einreise durchgeführt. Wenn die verbindliche Solidarität nicht die Form einer verbindlichen Übernahme im Rahmen der Asylverfahrensverordnung annimmt oder wenn nicht Verfahren eingerichtet werden, die es Menschen erlauben, in EU-Mitgliedstaaten um Asyl zu ersuchen, ohne dass sie eine EU-Grenze überqueren müssen, dann wird die Verordnung in der Praxis nicht funktionieren. Auch sollten positive und negative Anreize für die Übernahme geschaffen werden, und in jedem Fall sollte das Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten durchgeführt werden und nicht nur im Land der ersten Einreise.

3.3.5.

Das vorgeschlagene Screening wird voraussichtlich einen Mehrwert im Vergleich zu den derzeitigen Verfahren bewirken und sollte — mit Ausnahme der die Gesundheit betreffenden Aspekte —nicht nur in Ländern mit Außengrenzen durchgeführt werden.

3.3.6.

Ein unabhängiger, wirksamer und kontinuierlicher Überwachungsmechanismus sollte insbesondere die Achtung der Grundrechte im Zusammenhang mit dem Screening sowie die Einhaltung der geltenden nationalen Vorschriften im Falle einer Inhaftnahme und die Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung umfassen. Darüber hinaus sollte er gewährleisten, dass Beschwerden zügig und angemessen bearbeitet werden.

3.3.7.

In dem Vorschlag wird, allerdings nicht mit der nötigen Klarheit, die Rolle der EU-Agenturen — Frontex und Asylagentur der Europäischen Union — anerkannt, die die zuständigen Behörden bei all ihren Aufgaben im Zusammenhang mit dem Screening begleiten und unterstützen können. In dem Vorschlag wird außerdem der Agentur für Grundrechte eine wichtige, aber völlig undurchsichtige Rolle bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung unabhängiger Mechanismen zur Überwachung der Achtung der Grundrechte im Zusammenhang mit dem Screening sowie der Einhaltung der geltenden nationalen Vorschriften im Falle einer Inhaftnahme und der Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zugewiesen.

4.   Geänderter Vorschlag für eine Neufassung der Asylverfahrensverordnung

4.1.

Der EWSA hält die Wahl eines neuen, geänderten Legislativvorschlags in Form einer EU-Verordnung anstelle einer Richtlinie, wie dies hier der Fall ist, für angebracht. Für den EWSA stellt sich jedoch die klare Frage, wie diese Verordnung in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt und umgesetzt werden kann, insbesondere in denen, gegen die Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurden. Der EWSA kann diesem Vorschlag nur zustimmen, wenn er die Mitgliedstaaten im Süden nicht in Haft- oder Abschiebezentren verwandelt.

4.2.

Der EWSA begrüßt das mit dem Vorschlag der Kommission angestrebte Ziel, die Koordinierung und die gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes zu verbessern und die Asyl- und Rückkehrentscheidungen weiter zu harmonisieren. Er bedauert jedoch, dass mehr Vorschläge zur Koordinierung der Einrichtung von geschlossenen Haftzentren in Ländern der ersten Einreise als zum gemeinsamen Asylsystem gemacht wurden, wodurch den Ländern der ersten Einreise allein die Verpflichtung auferlegt wird, sich um die Asylsuchenden zu kümmern. Hierdurch entsteht vornehmlich der Eindruck, dass die umzusetzenden Vorschläge an die Länder des Südens gerichtet sind, wobei die Übernahme im Zuge der Anwendung der „Verfahren an der Grenze“ mit keinem Wort erwähnt wird.

4.3.

Außerdem bedauert der EWSA, dass mögliche Probleme bei der Umsetzung der Rückführungsprogramme in dem Vorschlag nicht richtig bestimmt wurden, vor allem im Hinblick auf die tatsächliche Bereitschaft der Drittstaaten, Herkunfts- und Transitländer, mit der EU zusammenzuarbeiten.

4.4.

Der EWSA betont, dass es dringend einer umfassenderen Strategie bedarf, die sich auf ein System ausgewogener und geteilter Verantwortlichkeiten für die Steuerung der Migrationsströme zwischen der EU und Nicht-EU-Ländern stützt.

4.5.

Darüber hinaus hebt der EWSA hervor, dass für einen angemessenen Schutz von Familien mit Kindern gesorgt werden muss, und fordert die Kommission nachdrücklich auf, ein besonderes Augenmerk auf unbegleitete Minderjährige, die allgemeine Wirksamkeit des „Leitfadens zum Asylverfahren: operative Normen und Indikatoren“ und die Zusammenstellung von Beispielen bewährter Verfahren (veröffentlicht vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO)) zu richten. Es ist nicht zu akzeptieren, dass als Kind nur gilt, wer unter 12 Jahren ist, und nicht unter 18, wie es nach dem Völkerrecht der Fall ist. Nach dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 ist jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Kind.

4.6.

Bei jüngst durchgeführten Konsultationen haben Organisationen der Zivilgesellschaft vorgeschlagen, bestimmte Vorschriften über die Bestimmung der Zuständigkeit zu überarbeiten und einen obligatorischen Solidaritätsmechanismus vorzusehen, auch in Bezug auf Personen, die nach Such- und Rettungsaktionen ausgeschifft werden. Die Nichtregierungsorganisationen forderten zudem ein gemeinsames Verständnis der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und sprachen sich dafür aus, dass die überarbeiteten Dublin-Regeln eine dauerhaftere Übernahmeregelung enthalten sollten. (8) Der EWSA möchte wissen, wie im Rahmen des neuen geänderten Vorschlags realistischerweise ein gut funktionierender Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten eingerichtet werden könnte. Die Regeln für die Feststellung, welcher Mitgliedstaat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, die gegenwärtig in der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement niedergelegt sind, gehören in die Asylverfahrensverordnung, womit über Eurodac die Möglichkeit bestünde, dass Anträge auch in anderen Mitgliedstaaten bearbeitet werden können.

5.   Änderung des Vorschlags von 2016 zur Überarbeitung der Eurodac-Verordnung

5.1.

Die Änderung des Vorschlags von 2016 zur Überarbeitung der Eurodac-Verordnung soll eine Verbindung zwischen bestimmten Personen und den Verfahren, denen sie unterzogen werden, herstellen, um die Kontrolle der irregulären Migration und die Aufdeckung unerlaubter Migrationsbewegungen zu verbessern.

5.2.

Der Hauptzweck von Eurodac besteht darin, Asylsuchende zu identifizieren und mithilfe von Fingerabdruck- und Gesichtsbilddaten („Biometrie“) die Bereitstellung von Beweismitteln zu erleichtern, um die Bestimmung des Mitgliedstaats zu unterstützen, der für die Prüfung eines in der EU eingereichten Asylantrags zuständig ist.

5.3.

Der EWSA ist nicht davon überzeugt, dass die Nutzung von Eurodac (9) das geeignete Instrument zur Bekämpfung der irregulären Migration wäre oder die Mitgliedstaaten bei der Überwachung der Gewährung von Unterstützung für die freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung wirksam unterstützen würde (10).

5.4.

Der Vorschlag zur Änderung des Vorschlags von 2016 baut auf der vorläufigen Einigung zwischen den gesetzgebenden Organen auf, ergänzt diese Änderungen und zielt darauf ab, Eurodac in eine gemeinsame europäische Datenbank zur Unterstützung der EU-Politik in den Bereichen Asyl, Neuansiedlung und irreguläre Migration umzuwandeln.

5.5.

Darüber hinaus zielt er darauf ab, genauere und vollständige, als Grundlage für die Politikgestaltung dienende Daten zu erheben und so die Kontrolle der irregulären Migration und die Aufdeckung unerlaubter Migrationsbewegungen besser zu unterstützen, indem neben den Anträgen auch die Antragsteller gezählt werden. Der EWSA ist jedoch der Ansicht, dass dieses komplexe System den Migranten auch die Möglichkeit bieten muss, in einem anderen Mitgliedstaat um Asyl zu ersuchen, ohne auf das Land der ersten Einreise beschränkt zu sein.

5.6.

Eurodac soll zudem die Ermittlung geeigneter Lösungen in diesem Bereich unterstützen, indem es die Erstellung von Statistiken durch Kombination von Daten aus mehreren Datenbanken ermöglicht.

5.7.

Der EWSA stimmt zu, dass die gemeinsamen Vorschriften für die Erfassung von Fingerabdrücken und Gesichtsbildern von Drittstaatsangehörigen für die Zwecke von Eurodac in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt werden müssen.

5.8.

Der EWSA unterstützt die Schaffung eines Wissensinstruments, das der Europäischen Union Informationen darüber bereitstellt, wie viele Drittstaatsangehörige irregulär oder im Anschluss an Such- und Rettungseinsätze in die EU einreisen und internationalen Schutz beantragen. Für eine nachhaltige und faktengestützte Migrations- und Visumpolitik sind diese Informationen unerlässlich.

5.9.

Ein weiterer Zweck von Eurodac besteht darin, den nationalen Behörden, die sich mit Asylbewerbern befassen, deren Antrag bereits in einem anderen Mitgliedstaat abgelehnt wurde, zusätzliche Unterstützung in der Weise zu bieten, dass abgelehnte Anträge gekennzeichnet werden. Die nationalen Behörden müssen allerdings das Recht haben, Anträge, die in einem anderen Mitgliedstaat bearbeitet wurden, erneut zu prüfen.

Brüssel, den 25. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der Begriff der Nichteinreise existiert bereits, sowohl im Zusammenhang mit dem Schengenraum als auch mit den geltenden Asylvorschriften (Artikel 43 der Asylverfahrensrichtlinie).

(2)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15.

(3)  Siehe Seite 58 dieses Amtsblatts.

(4)  Nach der Anerkennungsverordnung sind die Rechte und Leistungen, die mit der Flüchtlingseigenschaft bzw. dem subsidiären Schutzstatus einhergehen, an den Mitgliedstaat geknüpft, der den jeweiligen Status gewährt hat.

(5)  Der Anteil der Migranten, die aus Ländern mit Anerkennungsquoten von weniger als 25 % kommen, ist von 14 % im Jahr 2015 auf 57 % im Jahr 2018 gestiegen.

(6)  Zur Inhaftnahme während des Verfahrens an der Grenze siehe Randnummer 179 des Urteils des Gerichtshofs C-808/18, wonach „die Mitgliedstaaten Personen, die an der Grenze internationalen Schutz beantragen, im Sinne von Artikel 2 Buchstabe h der Richtlinie 2013/33 in Haft nehmen dürfen, bevor sie ihnen unter den in Artikel 43 der Richtlinie 2013/32 genannten Voraussetzungen das Recht auf Einreise in ihr Hoheitsgebiet gewähren, um die Wirksamkeit der in Artikel 43 vorgesehenen Verfahren zu gewährleisten. Aus Artikel 43 Absatz 1 der Richtlinie 2013/32 folgt, heißt es in Randnummer 183, dass der auf der Grundlage dieser Bestimmung angewandte Gewahrsam nur gerechtfertigt ist, damit der betroffene Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, zu prüfen, ob der Antrag zulässig ist oder ob er als unbegründet abzulehnen ist, bevor er der Person, die internationalen Schutz beantragt, die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestattet.“

(7)  Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1).

(8)  CEPS-Projektbericht, Search and rescue, disembarkation and relocation arrangements in the Mediterranean. Sailing Away from Responsibility?, Juni 2019.

(9)  Dies wird die Überwachungskapazitäten der Mitgliedstaaten in diesem Bereich stärken und verhindern, dass es zum Missbrauch der angebotenen Unterstützung für die freiwillige Rückkehr und Reintegration kommt, da die Mitgliedstaaten unmittelbaren Zugang zu diesen Informationen haben und sich eine Person, der Unterstützung in einem Mitgliedstaat gewährt wurde, nicht in einen anderen Mitgliedstaat begeben kann, um dort eine andersgeartete oder größere Unterstützung zu erhalten. Gegenwärtig haben die Mitgliedstaaten keine gemeinsame Datenbank oder Möglichkeit, festzustellen, ob eine Person, die rückzuführen ist, bereits eine Unterstützung für die Rückkehr und Reintegration erhalten hat. Diese Information ist wichtig, um Missbrauch und Fälle zu bekämpfen, in denen Unterstützung doppelt bezogen wird.

(10)  Das Einreise-/Ausreisesystem gestattet es den Mitgliedstaaten, Drittstaatsangehörige zu ermitteln, die zwar legal in die EU eingereist sind, jedoch ihren Aufenthalt unzulässigerweise verlängert haben. Allerdings gibt es kein solches System zur Feststellung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die irregulär an den Außengrenzen einreisen. Das gegenwärtige Eurodac-System ist die ideale Datenbank für die Speicherung dieser Information, da es bereits entsprechende Informationen enthält. Gegenwärtig werden solche Daten nur erfasst, um Unterstützung bei der Feststellung der Mitgliedstaaten zu leisten, die für die Prüfung der Asylanträge zuständig sind. Die Identifizierung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen sowie von Personen, die über die Außengrenzen irregulär in die EU eingereist sind, wird es insbesondere den Mitgliedstaaten erleichtern, Drittstaatsangehörigen für deren Rückführung neue Ausweispapiere auszustellen.


ANHANG

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 43 Abs. 2 der Geschäftsordnung):

Ziffer 2.2

Ändern:

2.2.

Die Mitgliedstaaten im Süden Europas werden unweigerlich zu Gewahrsams- oder haben keine andere Wahl, als geschlossene Abschiebezentren einzurichten, in denen die Lage der Asylsuchenden in Bezug auf die Lebensumstände und ihre Rechte sehr problematisch ist werden.

Begründung

Der derzeitige Wortlaut kann sehr leicht falsch verstanden werden, da die Länder selbst weder zu Gewahrsamseinrichtungen noch zu sonst etwas gemacht werden. Vielmehr werden dort Abschiebezentren eingerichtet.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

96

Nein-Stimmen:

100

Enthaltungen:

47

Die folgenden Ziffern der Stellungnahme der Fachgruppe wurden gemäß dem vom Plenum angenommenen Änderungsantrag geändert, obwohl ihre Beibehaltung in der ursprünglichen Fassung mit mehr als einem Viertel der abgegebenen Stimmen unterstützt wurde (Artikel 43 Absatz 2 der Geschäftsordnung):

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt das neue Migrations- und Asylpaket zur Kenntnis, mit dem ein vielschichtiges und komplexes Problem angegangen werden soll. Er ist der Auffassung, dass die neuen Regelungen einen positiven Beitrag zu mehr Sicherheit an den EU-Grenzen leisten. Es wird ein besseres und sichereres Verfahren zur Kontrolle aller Personen geschaffen, die in die EU einreisen. Allerdings ist eine integrierte gemeinsame EU-Strategie, die tragfähig und zukunftsorientiert ist, dringend erforderlich und bereits seit langem überfällig. Was die Migrations- und Asylthematik insgesamt betrifft, so tischt die Kommission leider wieder die alte Suppe auf, die zwar aufgewärmt, aber den Ländern Südeuropas wie üblich kalt serviert wird. Darüber hinaus werden die vier oder fünf betroffenen Mitgliedstaaten bis zum Abschluss des Verfahrens, also für einen Zeitraum von mindestens sechs oder sieben Monaten, zu „geschlossenen Haftzentren“  (1) für die Migrantinnen und Migranten, was zu Situationen führt, die sehr viel schlimmer sind als vorher.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

105

Nein-Stimmen:

99

Enthaltungen:

43

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass es der Kommission offenbar an gutem Willen mangelt, was seine Vorschläge angeht. In all seinen Stellungnahmen (SOC/649, SOC/669 und SOC/670) kritisiert er die Annahme sowohl der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement als auch der Asylverfahrensverordnung. Der EWSA weist auch darauf hin, dass er es nach Prüfung der neun Verordnungen und seinen Kontakten zur Kommission für unwahrscheinlich hält, dass sich diese neun unterschiedlichen Verordnungen ordnungsgemäß umsetzen lassen. Es ist typisch für die Kommission, dass sie Migration nicht als zusammenhängendes Problem behandelt, sondern stattdessen deutlich macht, dass jegliche Vorschläge oder Empfehlungen im Rahmen einer anderen Verordnung vorgelegt werden. Daraus folgt, dass anstehende Fragen nicht grundlegend miteinander verknüpft werden können, sondern stattdessen im Geltungsbereich der jeweiligen Verordnung losgelöst voneinander angegangen werden. Anders ausgedrückt: Bei jeder Bemerkung werfen wir den Ball ins Feld einer anderen Rechtsvorschrift, d. h. die Kommission wehrt schlichtweg sämtliche Bemerkungen mit dem Argument ab, dass sie Gegenstand anderer Rechtsvorschriften sind.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

101

Nein-Stimmen:

97

Enthaltungen:

41


(1)  Der Begriff der Nichteinreise existiert bereits, sowohl im Zusammenhang mit dem Schengenraum als auch mit den geltenden Asylvorschriften (Artikel 43 der Asylverfahrensrichtlinie).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Renovierungswelle für Europa: umweltfreundlichere Gebäude, mehr Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen“

(COM(2020) 662 final)

(2021/C 155/11)

Berichterstatter:

Pierre Jean COULON

Mitberichterstatter:

Aurel Laurenţiu PLOSCEANU

Befassung

Europäische Kommission, 11.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

11.2.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

212/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine europäische Strategie „Eine Renovierungswelle für Europa: umweltfreundlichere Gebäude, mehr Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen“. Eine solche Strategie ist eine absolute und unabdingbare Notwendigkeit für die Europäische Union und ihre Bürgerinnen und Bürger. Der EWSA wird sie daher unterstützen und sich mit seinen Überlegungen und Vorschlägen aktiv in den Prozess einbringen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine solche von der Europäischen Union vorangetriebene Renovierungswelle Wohn- und Nichtwohngebäuden zugutekommen muss, da auf diese 40 % des Gesamtenergieverbrauchs der Europäischen Union entfallen. Dabei sollte ein umfassender Ansatz für langfristige Investitionen zur Anwendung kommen, der dem Gemeinwohl, der nachhaltigen Entwicklung, dem Gesundheitsschutz, einschließlich der Asbestbeseitigung im Zuge der Renovierungsarbeiten, dem grünen Wandel und der effektiven Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte in Bezug auf nachhaltigen und bezahlbaren Wohnraum Rechnung trägt.

1.3.

Der EWSA befürwortet daher die Strategie der Renovierungswelle, da es sich dabei um einen „Win-win-win-Ansatz“ für die Europäische Union handelt: Dieser wird sich dreifach positiv auswirken — auf das Klima, auf die Konjunkturbelebung dank der vor Ort neu entstehenden Arbeitsplätze und schließlich auf die Bekämpfung der Pandemie und der Energiearmut sowie die Förderung von erschwinglichem Wohnraum für alle, einschließlich schutzbedürftiger Personen.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Strategie, nicht zuletzt aufgrund ihrer besonderen Dimension und ihres Zeithorizonts bis zum Jahr 2050, einen stabilen, verständlichen und geeigneten rechtlichen und finanziellen Rahmen erfordert, der sowohl einen speziellen europäischen Investitionsfonds, mehrjährige Investitionspläne und ein neues „grünes Semester“ als auch einen eigenen und angepassten rechtlichen Rahmen, etwa in Bezug auf staatliche Beihilfen, geltende MwSt-Sätze, öffentliche Aufträge, „grüne“ Hypotheken oder Energieeffizienzvorschriften, einschließen muss.

1.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Anreizinstrumente zur lokalen Schaffung von Industrialisierungsstrukturen für die Entwicklung und flächendeckende Einführung von Verfahren der energetischen Renovierung bereitzustellen sowie ein neues „Erasmus-Programm für thermische Renovierung 2050“ einzuführen, mit dem junge Europäer für diese neuen, zukunftsträchtigen Branchen gewonnen werden können.

1.6.

Der EWSA fordert ebenso, die Mitgliedstaaten dazu zu ermutigen, nach dem Vorbild der ELENA-Fazilität der EIB öffentliche Dienste in den Bereichen Prüfung, technische Hilfe und Beratung, insbesondere für private Haushalte, bereitzustellen, um unlauterer Werbung und betrügerischen Praktiken in Verbindung mit den Förderinstrumenten für energetische Renovierungen vorzubeugen.

1.7.

Der EWSA ist insbesondere der Auffassung, dass die Europäische Union diese Strategie nutzen muss, um die Nähe zu den Unionsbürgerinnen und -bürgern sowie den Regionen zu stärken, indem sie in geeigneter Weise über die vorhandenen Instrumente und die Möglichkeiten ihrer Nutzung informiert.

1.8.

Der EWSA fordert eine echte Synergie zwischen der Beobachtungsstelle für den EU-Gebäudebestand und der Beobachtungsstelle für Energiearmut.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA begrüßt die Verabschiedung der Mitteilung „Eine Renovierungswelle für Europa: umweltfreundlichere Gebäude, mehr Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen“ durch die Europäische Kommission. Eine breit angelegte Welle von Gebäuderenovierungen in der Europäischen Union — von privatem und sozialem Wohnraum sowie von öffentlichen und gewerblich genutzten Gebäuden — ist heute vor dem Hintergrund der strukturell unzureichenden langfristigen Investitionen in diesem Bereich, der klimatischen, ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen sowie der Kosten, die durch Untätigkeit entstünden, eine absolute Notwendigkeit.

2.2.

Der EWSA befürwortet diese von der Kommission vorgeschlagene Strategie, mit der das Ziel verfolgt wird, zur Erreichung der Klimaneutralität beizutragen, die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft umzusetzen, zu den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung beizutragen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken, unser kulturelles Erbe zu schützen und vor allem das Recht aller Menschen auf bezahlbaren, lebenswerten, zugänglichen und gesunden Wohnraum gemäß Grundsatz 19 der europäischen Säule sozialer Rechte zu wahren.

2.3.

Wohn- und Nichtwohngebäude müssen Teil einer Renovierungswelle werden, da auf diese 40 % des Gesamtenergieverbrauchs der Europäischen Union entfallen. Dabei sollte ein umfassender Ansatz für langfristige Investitionen zur Anwendung kommen, der dem Gemeinwohl, der nachhaltigen Entwicklung und dem grünen Wandel Rechnung trägt.

2.4.

Durch die Pandemie wurde darüber hinaus deutlich, dass Wohngebäude eine wichtige Rolle beim gesundheitlichen Krisenmanagement spielen und dass es angesichts der Ausgangsbeschränkungen notwendig ist, neue Denkansätze für die Nutzung und somit auch für die Konzeption dieser Gebäude zu entwickeln.

2.5.

Ebenso hat die Pandemie gezeigt, dass zwischen den Hygienebedingungen von Wohngebäuden, der Energiearmut und der Widerstandsfähigkeit gegenüber der Pandemie ein Zusammenhang besteht, der nicht hinnehmbar ist.

2.6.

Die Strategie der Renovierungswelle stellt daher einen „Win-win-win-Ansatz“ für die Europäische Union dar, denn sie leistet einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz, kann zu umfangreichen langfristigen Investitionen und zahlreichen neuen Arbeitsplätzen vor Ort führen, die sich positiv auf die Konjunkturbelebung auswirken können, und sorgt dank eines Angebots bezahlbaren Wohnraums für die EU-Bürgerinnen und -Bürger für die Bekämpfung der Energiearmut sowie einen größeren sozialen Zusammenhalt und eine stärkere soziale Inklusion.

2.7.

Die Welle der Gebäuderenovierung muss deshalb mittels dauerhafter, gemeinsamer Anstrengungen, sowohl durch die Rechtsvorschriften und Beihilfen der Europäischen Union als auch im Rahmen der mehrjährigen Investitionspläne der Mitgliedstaaten, vorangetrieben werden. Diese Pläne müssen zugleich verständlich und zugänglich sein sowie der Vielfalt der einzelnen Akteure und ihrer jeweiligen Investitionspläne Rechnung tragen. Zu diesen Akteuren gehören europäische Haushalte, die ihr Wohneigentum als Alleineigentümer oder Miteigentümer selbst nutzen, Haushalte, die eine oder mehrere Wohnungen auf dem Markt anbieten, Vermieter von Sozialwohnungen, die besondere Aufgaben von allgemeinem Interesse wahrnehmen und entsprechende gemeinwirtschaftliche Leistungen erbringen, öffentliche Behörden und deren öffentliche Gebäude, geschützte historische Bauten sowie Unternehmen mit ihren Immobilien. Sie alle können von der Renovierungswelle profitieren und müssen davon überzeugt werden, langfristig, also bis zum Jahr 2050, in ihre Wohn- und Nichtwohngebäude zu investieren und dabei die für ihre Gebäude geeigneten Finanzierungsmechanismen zu nutzen: von langfristigen oder „grünen“ Darlehen, über öffentliche Garantien bis hin zu nicht rückzahlbaren Zuschüssen, die insbesondere für die Haushalte unverzichtbar sind.

2.8.

Die Welle der Gebäuderenovierung muss vor allem durch eine europäische Initiative der Industrialisierung und flächendeckenden Einführung der Maßnahmen vor Ort getragen werden, damit die Renovierungskosten und die Ausführungsfristen der Arbeiten für die Haushalte, die die jeweiligen Wohnungen nutzen, reduziert werden können, etwa indem Verfahren ausgelagert und digitalisiert werden. Diese Industrialisierung muss mit neuen baulichen Konzepten einhergehen, die auf geeigneten technischen Verpflichtungen und Baunormen basieren, vor allem jedoch mit einer europäischen Kampagne zur Stärkung der Attraktivität dieser neuen Branche und der potenziellen neuen Arbeitsplätze bei der jungen Generation. In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, ein „Erasmus-Programm für energetische Renovierung 2050“ auf den Weg zu bringen. Besondere Wachsamkeit ist angesichts der Gefahr des Sozialdumpings bei dieser Auslagerung und anderen Formen der Vergabe von Unteraufträgen für Renovierungsarbeiten geboten.

2.9.

Die Kommission muss zugleich die Konvergenz der bestehenden Rechtsvorschriften, der zu überarbeitenden Bestimmungen und der vorzuschlagenden neuen Regelungen, nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten und ihren langfristigen Investitionsstrategien, sondern auch in Bezug auf die Haushalte, Vermieter von Sozialwohnungen, öffentlichen Behörden und Unternehmen, sicherstellen. Denn alle diese Akteure entscheiden letztlich über ihre langfristigen Investitionen und werden bis 2050 mit ihrem individuellen Verhalten Einfluss auf die Welle haben.

2.10.

Diese Konvergenz ist nicht nur bei Überprüfungen vorhandener Vorschriften — wie etwa derjenigen der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden oder für öffentliche Ausschreibungen und staatliche Beihilfen, insbesondere für Sozialwohnungen, spezifische MwSt.-Sätze und „grüne“ Hypothekendarlehen — erforderlich, sondern auch bei Überprüfungen der Vorschriften und Konditionalitäten des europäischen Aufbauinstruments NextGenerationEU und der Kohäsionspolitik 2021-2027, die für die anvisierten europäischen Haushalte verständlich sein müssen. Dieses Instrument muss durch konkrete Vorschläge und Empfehlungen sowie durch die Koordinierung der bestehenden nationalen Beobachtungsstellen eine neue Dynamik erhalten.

2.11.

Der EWSA fordert, dass die Beobachtungsstelle für den EU-Gebäudebestand Hand in Hand mit der Beobachtungsstelle für Energiearmut zusammenarbeitet.

2.12.

Der EWSA fordert, dass in den Mitgliedstaaten öffentliche Dienste zur Förderung der Welle energetischer Renovierungen sowie zur Prüfung, technischen Hilfe und Beratung bei energetischen Renovierungsmaßnahmen, insbesondere für die privaten Haushalte, eingerichtet werden, um zweifelhaften Praktiken einer missbräuchlichen geschäftlichen Ausnutzung der Renovierungsinitiative vorzubeugen.

3.   Bemerkungen — Förderung der Gebäuderenovierung als Beitrag zu Klimaneutralität und wirtschaftlicher Erholung

3.1.

Eine breit angelegte Welle von Gebäuderenovierungen in der Europäischen Union — von privatem und sozialem Wohnraum sowie von öffentlichen und gewerblich genutzten Gebäuden — ist heute vor dem Hintergrund der strukturell unzureichenden langfristigen Investitionen in diesem Bereich sowie der klimatischen, ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen eine absolute Notwendigkeit.

3.2.

Der EWSA teilt die Einschätzung der Kommission, dass bei der Renovierung von Wohn- und Nichtwohngebäuden angesichts des Klimawandels dringender Handlungsbedarf besteht und dass die COVID-19-Krise genutzt werden muss, um diese Gebäude nach einem ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen „Win-win-win-Ansatz“ neu zu konzipieren, umzugestalten und zu modernisieren. Hierbei handelt es sich um eine einmalige Chance für die Klimaneutralität, die Belebung der Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt.

Der EWSA möchte auf die Vielfalt der betroffenen Gebäude hinweisen, vor allem auf die Vielfalt der zu renovierenden Wohngebäude, deren Bandbreite sich von Einfamilienhäusern über große Wohnsiedlungen aus der Sowjetzeit bis hin zu Vorstadtbauten erstreckt. Bei dieser großen Vielfalt kann osteuropäischen Plattenbauten, Altbauten in unterbewerteten Stadtzentren, Vorstadtsiedlungen und Immobilien auf dem Land besondere Priorität eingeräumt werden. Angesichts des veralteten Gebäudebestands, der mit Blick auf eine bessere Lebensqualität und technische Fortschritte erneuert werden muss, müssen die Bürgerinnen und Bürger Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten erhalten, die bislang fehlen, was die Renovierung erheblich erschwert. Auch der Barrierefreiheit muss Rechnung getragen werden. Die Europäische Union muss diese Gelegenheit für breit angelegte Maßnahmen ebenso nutzen, um durch eine geeignete Kommunikation die Nähe zu den Unionsbürgerinnen und -bürgern sowie den Regionen zu stärken.

3.3.

Der EWSA befürwortet das vorgeschlagene Ziel, die jährliche Quote der energetischen Renovierungen von Wohn- und Nichtwohngebäuden bis 2030 zu verdoppeln und umfassende Renovierungen zu fördern, was 35 Millionen Gebäudeeinheiten bis 2030 entspricht, sowie diese Tendenz auch danach aufrechtzuerhalten, damit die EU ihr Ziel erreichen kann, bis 2050 klimaneutral zu werden. Idealerweise sollte über diese Verdopplung hinaus eine Verdreifachung angestrebt werden.

3.4.

Der EWSA betont, wie ehrgeizig dieses Ziel mit einem Zeithorizont von 30 Jahren ist, und verweist auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen Abstimmung des bestehenden einschlägigen Rechts- und Regulierungsrahmens auf die Mechanismen zur finanziellen Unterstützung der betroffenen Haushalte, Vermieter von Sozialwohnungen, öffentlichen Behörden und sonstigen Gebäudeeigentümer — alles potenzielle Investoren, die davon zu überzeugen sind, gemäß ihren eigenen Plänen und Möglichkeiten langfristig zu investieren. Hiervon zeugen auch die derzeitigen Bemühungen der Mitgliedstaaten und ihrer regionalen Verwaltungsbehörden um eine Verknüpfung des Aufbauinstruments NextGenerationEU mit der Kohäsionspolitik 2021-2027.

4.   Bemerkungen — Zentrale Grundsätze für die Gebäuderenovierung bis 2030 und 2050

4.1.

Der EWSA stimmt damit überein, dass eine umfassende und kohärente Strategie notwendig ist, die den betroffenen Akteuren Rechnung trägt und auf sieben Grundsätzen beruht: Energieeffizienz an erster Stelle, Bezahlbarkeit, Dekarbonisierung und Integration erneuerbarer Energien, Lebenszyklus und Kreislaufwirtschaft, Erfüllung anspruchsvoller Gesundheits- und Umweltschutznormen, Herausforderungen des ökologischen und des digitalen Wandels sowie schließlich die Berücksichtigung von Ästhetik und architektonischer Qualität.

4.2.

Besondere Beachtung verdienen gemäß dem Grundsatz 19 der europäischen Säule sozialer Rechte nach Ansicht des EWSA die Bezahlbarkeit der Wohngebäude und die Investitionen, die die betroffenen Haushalte — seien diese nun selbst nutzende Eigentümer, Mieter oder Miteigentümer renovierungsbedürftiger Immobilien — insbesondere zur Beseitigung energetischer Mängel und Bekämpfung der Energiearmut tätigen müssen, aber auch Vermieter von Sozialwohnungen, die aufgrund der von den Mitgliedstaaten auferlegten besonderen öffentlichen Aufgaben gemeinwirtschaftlich verpflichtet sind, bezahlbare Mieten anzubieten.

4.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die effizientesten, einfachsten und kostengünstigsten Maßnahmen zur Reduzierung der CO2-Emissionen die Hohlwanddämmung und die Bodenisolierung sind. Doch selbst diese relativ preiswerten Maßnahmen sind trotz der daraus resultierenden geringeren Energiekosten für viele Wohnraumeigentümer noch zu teuer. Deshalb plädiert der EWSA dafür, dass die nationalen Regierungen diese Maßnahmen subventionieren. In den Niederlanden angestellten Berechnungen zufolge reicht ein Zuschuss von 2 000 EUR pro Wohneinheit aus, um diese Maßnahmen durchzuführen. Neben der deutlichen Reduzierung der CO2-Emissionen bietet ein solches System auch erhebliche Beschäftigungsmöglichkeiten in der schwer von der COVID-19-Pandemie getroffenen Baubranche. Das Gleiche gilt auch für Frankreich, seitdem dort kürzlich allen Haushalten die Prämie „MaPrimeRenov“ für die energetische Renovierung zugänglich gemacht wurde.

4.4.

Darüber hinaus müssen die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der EWSA-Stellungnahme zum Thema Arbeiten mit Asbest bei der energetischen Gebäudesanierung befolgt werden, um die Asbestbeseitigung, sofern erforderlich und möglich, im Zuge der energetischen Renovierung zu fördern (1).

5.   Bemerkungen — Raschere und umfassendere Renovierung zur Verbesserung des Gebäudebestands

5.1.

Der EWSA stimmt der Feststellung der Kommission zu, dass die individuellen Investitionsentscheidungen durch zahlreiche Hindernisse erschwert werden und finanzielle Mittel, insbesondere auf lokaler Ebene, nur schwer zugänglich sind. Letzteres gilt sowohl für die nationalen Instrumente als auch die Strukturfonds, insbesondere in der Projektprüfungsphase, aber auch aufgrund der Fristen für die Auszahlung der Förderbeträge. Um die festgelegten Ziele, auch im Rahmen der Umsetzung der Bestimmungen der Kohäsionspolitik 2021-2027 ab 2021, zu erreichen, müssen diese Schwierigkeiten und Mängel behoben werden.

5.2.

Der EWSA nimmt die von der Kommission im Rahmen der öffentlichen Konsultation ermittelten Hindernisse und die Vorschläge in den folgenden Bereichen zur Kenntnis: Verbesserung der Informationen, der Rechtssicherheit und der Anreize für Investitionen, Gewährleistung einer angemessenen und zielgerichteten Finanzierung, Kapazitäten zur Vorbereitung und Durchführung von Projekten, Förderung umfassender und integrierter Renovierungsmaßnahmen, Befähigung des gesamten Baugewerbes zu nachhaltigen Renovierungen und schließlich Renovierungen als Maßnahme zur Bekämpfung von Energiearmut und zur Förderung bezahlbaren Wohnraums durch eine spezifische europäische Initiative. Diese Vorschläge müssen gemäß den Grundsätzen der Einfachheit, einer im Voraus definierten Kombination sich ergänzender Finanzmittel, die von den öffentlichen Behörden mobilisiert werden können, sowie der Angemessenheit der Kontrollen staatlicher Beihilfen umgesetzt werden.

5.3.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, die Beobachtungsstelle für den EU-Gebäudebestand mit der Verwaltung einer europäischen Datenbank über die Energieeffizienz von Gebäuden zu beauftragen und die Konzeption von diesbezüglichen Anreizen zu unterstützen. Diese Beobachtungsstelle muss mit der EU-Beobachtungsstelle für Energiearmut zusammenarbeiten, die in diesem Zusammenhang zu stärken ist.

5.4.

Der EWSA erkennt die Besonderheit der aktuellen Situation in Bezug auf die potenzielle Mobilisierung europäischer Ressourcen für energetische Renovierungen im Rahmen des Aufbauinstruments NextGenerationEU einerseits und der Kohäsionspolitik 2021-2027 andererseits an. Es gibt nicht weniger als 13 Instrumente, die einen Beitrag zur Kofinanzierung energetischer Renovierungen, entweder durch nicht rückzahlbare Zuschüsse oder durch langfristige Darlehen zu Vorzugszinsen und öffentliche Garantien, leisten können.

5.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Union diese Ausnahmesituation zum Anlass nehmen muss, um nicht nur quantitative Renovierungsziele zu formulieren, sondern ebenso die Mitgliedstaaten und ihre jährlichen Investitionsprogramme für energetische Renovierungen zu stärken sowie eine jährliche Bewertung dieser Programme im Rahmen des Europäischen Semesters zu gewährleisten, indem sie neben der wirtschaftspolitischen Steuerung ein echtes „grünes“ Governance-System einführt oder die offene Methode der Koordinierung anwendet.

5.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Ausnahmesituation ebenso für die Bekämpfung der Energiearmut und deren Beseitigung genutzt werden muss, da diesen Maßnahmen bei der Mobilisierung von Finanzmitteln ein hoher Stellenwert zukommt. Die Beobachtungsstelle für Energiearmut muss in ihren Aufgaben gestärkt und an die Spitze eines europäischen Netzes von Beobachtungsstellen für Energiearmut der Mitgliedstaaten gestellt werden.

5.7.

Der EWSA möchte die Kommission jedoch darauf aufmerksam machen, dass die potenziellen Investoren, insbesondere Haushalte und Vermieter von Sozialwohnungen, Schwierigkeiten haben, diese verschiedenen Finanzierungswege zu kombinieren und dabei die einzelnen Rechtsvorschriften, Bemessungsgrundlagen und Prüfungen zu beachten. In Anbetracht des Zeithorizonts bis zum Jahr 2050 sollten diese Instrumente vereinheitlicht werden, damit sie für die anvisierten Haushalte und öffentlichen Behörden besser verständlich und zugänglich werden.

5.8.

Der EWSA schlägt der Kommission angesichts des Zeitrahmens der betreffenden Investitionen und des Ziels bis 2050 vor, eine Vereinfachung und bessere Nachvollziehbarkeit für die betroffenen europäischen Haushalte zu gewährleisten, indem geprüft wird, ob ein spezifischer durch die Europäische Investitionsbank (EIB) unterstützter Investitionsfonds realisierbar ist, durch den die technische Hilfe, die Kombination der vorhandenen Instrumente und die Aufrechterhaltung der Maßnahmen bis 2050 gewährleistet werden könnten.

5.9.

Der EWSA befürwortet den Ansatz der Kommission, die staatlichen Beihilfen für Investitionen in energetische Renovierungen in diesem Sinne zu überprüfen. Da diese staatlichen Beihilfen für energetische Renovierungen dringend notwendig sind, müssen sie vereinfacht werden, damit sie kein Hindernis mehr für Investitionsentscheidungen darstellen. Der EWSA begrüßt ebenso die Entscheidung der Kommission, den Beschluss 2012/21/EU der Kommission (2) über staatliche Beihilfen, die als Ausgleich für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen gewährt werden, im Jahr 2021 zu bewerten. Denn Beihilfen für die energetische Renovierung von Sozialwohnungen unterliegen dieser Regelung für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen.

5.10.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, eine europäische Initiative für bezahlbaren Wohnraum mit 100 innovativen und partizipativen Leuchtturmprojekten zur umfassenden Renovierung von Sozialwohnungsvierteln einzuleiten, das als Modell für eine breit angelegte Entwicklung in der Europäischen Union fungieren soll. Durch die flächendeckende Einführung der Maßnahmen und die Industrialisierung der Gebäuderenovierung werden mit der Unterstützung der EIB und angesichts der erwartbaren Investitionen der Vermieter von Sozialwohnungen in die Qualität ihrer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht nur örtliche Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch die Renovierungskosten bei anderen Wohngebäuden und öffentlichen Bauten gesenkt, da vor Ort neue Industriezweige entstehen werden.

5.11.

Der EWSA schlägt der Kommission vor, basierend auf den Erfahrungen mit der ELENA-Fazilität die Mitgliedstaaten mit Unterstützung der EIB dazu anzuregen, öffentliche Dienste zur technischen Hilfe bei energetischen Renovierungsmaßnahmen, insbesondere für die betroffenen Haushalte, einzurichten, um den in einigen Mitgliedstaaten bereits beobachteten unlauteren Werbemethoden und betrügerischen Praktiken bei der energetischen Renovierung vorzubeugen.

5.12.

Der EWSA unterstützt voll und ganz die von Präsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union angekündigte Initiative „neues Europäisches Bauhaus“, auf die in der Mitteilung ausführlicher eingegangen wird. Sie wird Fachleute verschiedener Disziplinen mit dem Ziel zusammenbringen, die Gebäude von morgen zu konzipieren und neu zu überdenken, wie nachhaltiges Leben und Wohnen künftig aussehen könnte und sollte. Der EWSA fordert alle Interessenträger auf, sich an der öffentlichen Konsultation der Kommission zu beteiligen.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 15.

(2)  Beschluss 2021/21/EU der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die Anwendung von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind (ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3).


30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr (kodifizierter Text)

(COM(2021) 34 final — 2021/0018 (COD))

(2021/C 155/12)

Befassung

Rat der Europäischen Union, 8.2.2021

Europäisches Parlament, 8.2.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 91 und 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.2.2021

Plenartagung Nr.

558

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

234/0/8

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 558. Plenartagung am 24./25. Februar 2021 (Sitzung vom 24. Februar) mit 234 Stimmen bei 8 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 24. Februar 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


Berichtigungen

30.4.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 155/79


Berichtigung der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm ‚Pericles IV‘)“ (COM(2018) 369 final — 2018/0194(CNS))

( Amtsblatt der Europäischen Union C 440 vom 6. Dezember 2018 )

(2021/C 155/13)

Auf der Titelseite und auf Seite 199 im Titel:

Anstatt:

„Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem ‚Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm ‚Pericles IV‘)‘ (COM(2018) 369 final — 2018/0194(CNS))“,

muss es heißen:

„Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem ‚Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Aktionsprogramms in den Bereichen Austausch, Unterstützung und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung für den Zeitraum 2021-2027 (Programm ‚Pericles IV‘)‘ (COM(2018) 369 final — 2018/0194 (COD))“.