URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

26. Februar 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EG) Nr. 785/2004 — Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber — Versicherungen — Anforderungen — Begriffe ‚Fluggast‘ und ‚Besatzungsmitglied‘ — Hubschrauber — Beförderung eines Sachverständigen für Lawinensprengungen — Während eines Arbeitsflugs eingetretener Schaden — Schadensersatz“

In der Rechtssache C‑6/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Januar 2014, in dem Verfahren

Wucher Helicopter GmbH,

Euro-Aviation Versicherungs AG

gegen

Fridolin Santer

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter S. Rodin (Berichterstatter), A. Borg Barthet, E. Levits und F. Biltgen,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Wucher Helicopter GmbH und der Euro-Aviation Versicherungs AG, vertreten durch Rechtsanwalt J. J. Janezic,

von Herrn Santer, vertreten durch die Rechtsanwälte C. Schlechl und M. Peter,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Colelli, avvocato dello Stato,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls, G. Braun und F. Wilman als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. g der Verordnung (EG) Nr. 785/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber (ABl. L 138, S. 1) und von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 300 Abs. 2 EG unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal).

2

Dieses Ersuchen ergeht in einem Revisionsverfahren zwischen der Wucher Helicopter GmbH (im Folgenden: Wucher), einem österreichischen Luftfahrtunternehmen, und der Euro-Aviation Versicherungs AG (im Folgenden: Euro-Aviation), einem deutschen Versicherungsunternehmen, einerseits und Herrn Santer andererseits wegen des Ersatzes des Schadens, der Herrn Santer durch eine bei einem Luftverkehrsunfall erlittene Verletzung entstanden ist.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Art. 3 Abs. 1, 2 und 5 des Übereinkommens von Montreal bestimmt:

„(1)   Bei der Beförderung von Reisenden ist ein Einzel- oder Sammelbeförderungsschein auszuhändigen; er muss enthalten:

a)

die Angabe des Abgangs- und Bestimmungsorts;

b)

falls Abgangs- und Bestimmungsort im Hoheitsgebiet desselben Vertragsstaats liegen, jedoch eine oder mehrere Zwischenlandungen im Hoheitsgebiet eines anderen Staates vorgesehen sind, die Angabe von zumindest einem dieser Zwischenlandepunkte.

(2)   Jede andere Aufzeichnung, welche die in Absatz 1 genannten Angaben enthält, kann anstelle des in jenem Absatz genannten Beförderungsscheins verwendet werden. Werden derartige andere Aufzeichnungen verwendet, so muss der Luftfrachtführer anbieten, dem Reisenden eine schriftliche Erklärung über die darin enthaltenen Angaben auszuhändigen.

(5)   Die Nichtbeachtung der Absätze 1 bis 4 berührt weder den Bestand noch die Wirksamkeit des Beförderungsvertrags; dieser unterliegt gleichwohl den Vorschriften dieses Übereinkommens einschließlich derjenigen über die Haftungsbeschränkung.“

4

Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal lautet:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“

Unionsrecht

5

Die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. L 285, S. 1) wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. L 140, S. 2) geändert (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97).

6

Der achte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 889/2002 lautet:

„Da im Luftverkehrsbinnenmarkt nicht mehr zwischen inländischer und internationaler Beförderung unterschieden wird, ist es angemessen, Art und Umfang der Haftung bei internationaler und inländischer Beförderung innerhalb der Gemeinschaft anzugleichen.“

7

Art. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 lautet:

„Diese Verordnung setzt die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr um und trifft zusätzliche Bestimmungen. Ferner wird der Geltungsbereich dieser Bestimmungen auf Beförderungen im Luftverkehr innerhalb eines einzelnen Mitgliedstaats ausgeweitet.“

8

Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt:

„Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Übereinkommen von Montreal verwendeten Begriffen.“

9

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 sieht vor:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

10

Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

g)

‚Fluggast‘ jede Person, die sich mit Zustimmung des Luftfahrtunternehmens oder des Luftfahrzeugbetreibers auf einem Flug befindet, mit Ausnahme der Dienst habenden Flug- und Kabinenbesatzungsmitglieder;

…“

11

Abschnitt 1.c des Anhangs IV der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. L 79, S. 1) lautet:

„Vor jedem Flug sind die Aufgaben und Pflichten jedes Besatzungsmitglieds festzulegen. Der Kommandant ist für den Betrieb und die Sicherheit des Luftfahrzeugs sowie für die Sicherheit aller an Bord befindlichen Besatzungsmitglieder, Fluggäste und Frachtstücke verantwortlich.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

Am 9. Februar 2009 wurde Herr Santer als Insasse eines Hubschraubers, dessen Eigentümerin Wucher war, die eine Haftpflichtversicherung bei Euro-Aviation abgeschlossen hatte, bei einem Inlandsflug über das Gletschergebiet von Sölden (Österreich) schwer verletzt.

13

Herr Santer, ein Beschäftigter der Ötztaler Gletscherbahn-GmbH & Co. KG (im Folgenden: Ötztaler), ist als Mitglied der Lawinenkommission für die Lawinensicherheit des Gletschergebiets und der von seiner Dienstgeberin betriebenen Skipisten verantwortlich. Die Aufgabe von Herrn Santer besteht u. a. darin, zu prüfen, wo Lawinensprengungen erforderlich sind. Diese Sprengungen werden von einem Hubschrauber aus durchgeführt.

14

Am Unfalltag erhielt Wucher von Ötztaler den Auftrag, einen „Lawinensprengflug“ durchzuführen. Bei diesem Flug wurde der bei Wucher beschäftigte Pilot von Herrn Santer und zwei weiteren, ebenfalls bei Ötztaler beschäftigten Personen begleitet. Herr Santer dirigierte den Piloten dorthin, wo die Sprengladungen abgeworfen werden sollten. Im Rahmen dieses Auftrags hatte Herr Santer auf das Kommando des Piloten die Tür zu öffnen und offen zu halten, um dem Sprengbefugten den Abwurf der Sprengladung zu ermöglichen. Bei diesem Vorgang erfasste eine Windböe die leicht geöffnete Tür, so dass diese aufschnellte. Da es Herrn Santer nicht möglich war, die Türschlaufe rechtzeitig loszulassen, erlitt er eine schwere Verletzung im Ellenbogengelenk.

15

Herr Santer erhob beim erstinstanzlichen österreichischen Gericht Klage auf Schadensersatz gegen Wucher und Euro-Aviation. Dieses Gericht entschied, dass das Leistungsbegehren von Herrn Santer, den es als Fluggast ansah, dem Grunde nach zu Recht bestehe. Es hielt das Dienstgeberhaftungsprivileg für nicht anwendbar und bejahte die Haftung von Wucher und Euro-Aviation auf der Grundlage des innerstaatlichen österreichischen Rechts.

16

Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts, vertrat jedoch die Ansicht, dass Herr Santer nicht als „Fluggast“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal anzusehen sei, da es nicht darum gegangen sei, ihn von einem Ort zu einem anderen zu befördern. Vielmehr habe das Hauptziel des fraglichen Flugs in der Beteiligung am Absprengen von Lawinen bestanden. Die Verordnung Nr. 2027/97 stehe der Anwendung der österreichischen Luftverkehrsvorschriften nicht entgegen, da das Übereinkommen von Montreal, auf das diese Verordnung verweise, auf Fluggäste und deren Gepäck anwendbar sei.

17

Das Berufungsgericht gelangte zu der Schlussfolgerung, dass Wucher wegen des ihr zuzurechnenden Verschuldens des Piloten sowie wegen eigenen Organisationsverschuldens für den Herrn Santer entstandenen Schaden hafte und dass diesem aus dem Vertragsverhältnis seiner Dienstgeberin mit Wucher ein eigener vertraglicher Ersatzanspruch zustehe. Nach österreichischem Recht bestehe für Wucher eine erhöhte Haftpflicht, so dass die Anwendung des Haftungsprivilegs ausgeschlossen sei.

18

Wucher und Euro-Aviation haben gegen diese Entscheidung beim Obersten Gerichtshof Revision eingelegt und geltend gemacht, das Berufungsgericht habe die Verordnung Nr. 2027/97 falsch ausgelegt und das Eingreifen des Dienstgeberhaftungsprivilegs irrig nicht anerkannt, da Herr Santer kein Fluggast, sondern Besatzungsmitglied gewesen sei, was die Anwendung des österreichischen Rechts der allgemeinen Sozialversicherung ausschließe.

19

Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs ist für die Anwendung der Haftungsregelung des Übereinkommens von Montreal entscheidend, ob Herr Santer als „Fluggast“ anzusehen ist. Dieser Begriff werde weder im Übereinkommen von Montreal noch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert. Überdies werde ein zu einem speziellen Zweck durchgeführter Flug von verschiedenen Gerichten nicht als gewerbsmäßige Beförderung, sondern als „Luftarbeit“ angesehen. Es sei jedoch fraglich, inwieweit es möglich sei, Herrn Santer als „Fluggast“ oder aber als „Besatzungsmitglied“ oder „Dritten“ einzustufen. Zur Wahrung der Rechte der Verbraucher müsse ein angemessener Mindestversicherungsschutz gewährleistet werden, und eine einheitliche Auslegung des Begriffs „Fluggast“ im Unionsrecht und im Übereinkommen von Montreal sei geboten.

20

Der Oberste Gerichtshof hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 dahin auszulegen, dass der Insasse eines von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gehaltenen Hubschraubers,

der zwar auf vertraglicher Grundlage (konkret: Vertrag zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Arbeitgeber des Insassen) befördert wird,

dessen Beförderung jedoch zum Zweck eines bestimmten Arbeitseinsatzes (konkret: der Sprengung von Lawinen) erfolgt und

der an diesem Einsatz dadurch mitwirkt, dass er als „ortskundiger Einweiser“ fungiert und auf Anweisung des Piloten die Tür des Hubschraubers während des Flugs zu öffnen und danach in bestimmter Weise und für bestimmte Dauer offen zu halten hat,

a)

„Fluggast“ ist oder

b)

zu den „Dienst habenden Flug- und Kabinenbesatzungsmitgliedern“ zählt?

2.

Wenn Frage 1a bejaht wird:

Ist Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass vom Begriff des „Reisenden“ jedenfalls auch ein „Fluggast“ im Sinne von Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 umfasst ist?

3.

Wenn Frage 2 verneint wird:

Ist Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass der Insasse eines von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gehaltenen Hubschraubers unter den in Frage 1 genannten Voraussetzungen „Reisender“ ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 dahin auszulegen ist, dass der Insasse eines von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gehaltenen Hubschraubers, der aufgrund eines zwischen seinem Arbeitgeber und diesem Luftfahrtunternehmen geschlossenen Vertrags zum Zweck der Wahrnehmung einer besonderen Aufgabe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befördert wird, „Fluggast“ ist oder zu den „Dienst habenden Flug- und Kabinenbesatzungsmitgliedern“ im Sinne dieser Bestimmung zählt.

22

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Fluggast“ im Sinne von Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 alle Personen umfasst, die sich mit Zustimmung des Luftfahrtunternehmens oder des Luftfahrzeugbetreibers auf einem Flug befinden, mit Ausnahme der Dienst habenden Flug- und Kabinenbesatzungsmitglieder.

23

Daraus folgt, dass die Zuordnung einer Person zur Gruppe der Mitglieder der Flug- oder der Kabinenbesatzung eine Ausnahme von der Regel ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Fluggäste darstellt.

24

Nach ständiger Rechtsprechung sind Ausnahmen eng auszulegen, damit die allgemeinen Regelungen nicht ausgehöhlt werden (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑346/08, EU:C:2010:213, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Demgemäß ist zu prüfen, ob Herr Santer zur Gruppe der „Flugbesatzungsmitglieder“ oder der „Kabinenbesatzungsmitglieder“ gehört.

26

Im Ausgangsverfahren hat Herr Santer, wie sich aus dem vom vorlegenden Gericht geschilderten Sachverhalt ergibt, als Beschäftigter einer Skipisten betreibenden Gesellschaft den Flug in seiner Eigenschaft als „ortskundiger Einweiser“ durchgeführt, und seine Aufgabe bestand darin, während des Flugs auf Anweisung des Piloten die Tür des Hubschraubers zu öffnen und sie in bestimmter Weise und für bestimmte Dauer offen zu halten.

27

Herr Santer hat daher keine das Führen des Luftfahrzeugs betreffenden Aufgaben wahrgenommen und gehört somit nicht zur Gruppe der „Flugbesatzungsmitglieder“.

28

Dass Herr Santer auf Anweisung des Piloten die Tür zu öffnen hatte, genügt entgegen dem Vorbringen von Wucher auch nicht, um ihn als „Kabinenbesatzungsmitglied“ einzustufen. Der Pilot ist nämlich als Kommandant stets berechtigt, allen an Bord eines Luftfahrzeugs befindlichen Personen einschließlich der Fluggäste Anweisungen zu erteilen.

29

Infolgedessen gehört Herr Santer auch nicht zur Gruppe der „Kabinenbesatzungsmitglieder“.

30

Daher ist eine Person wie Herr Santer als „Fluggast“ im Sinne der Verordnung Nr. 785/2004 anzusehen.

31

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 dahin auszulegen, dass der Insasse eines von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gehaltenen Hubschraubers, der aufgrund eines zwischen seinem Arbeitgeber und diesem Luftfahrtunternehmen geschlossenen Vertrags zum Zweck der Wahrnehmung einer besonderen Aufgabe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befördert wird, „Fluggast“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

Zur zweiten und zur dritten Frage

32

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass eine Person, die unter den Begriff „Fluggast“ im Sinne von Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 fällt, auch unter den Begriff „Reisender“ im Sinne von Art. 17 des Übereinkommens fällt.

33

Insoweit steht fest, dass das Übereinkommen von Montreal integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist und dass der Gerichtshof dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (vgl. Urteile IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, Rn. 40, und Walz, C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Das Übereinkommen von Montreal ist aufgrund der Verordnung Nr. 2027/97, die darauf abzielt, für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft Art und Umfang der Haftung bei internationaler und inländischer Beförderung innerhalb der Europäischen Union anzugleichen, auf Flüge innerhalb eines Mitgliedstaats anwendbar geworden.

35

Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, fällt Wucher als „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ unter die Verordnung Nr. 2027/97, da sie ein Luftfahrtunternehmen ist, das über eine gültige, von der Republik Österreich im Einklang mit den Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen (ABl. L 240, S. 1) erteilte Betriebsgenehmigung verfügt.

36

Somit ist zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen für die Anwendung des Übereinkommens von Montreal im Ausgangsverfahren erfüllt sind. Insoweit ist zu klären, ob Herr Santer vom Begriff „Reisender“ im Sinne dieses Übereinkommens erfasst wird, was die Prüfung der Frage erfordert, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flug zur „Beförderung von Reisenden“ im Sinne des Übereinkommens diente.

37

Dazu ist festzustellen, dass zwar nach Art. 3 Abs. 1 und 2 des Übereinkommens von Montreal die Stellung als „Reisender“ im Sinne dieses Übereinkommens an die Aushändigung eines Einzel- oder Sammelbeförderungsscheins, dessen Inhalt in Abs. 1 geregelt ist, oder einer anderen Erklärung dieses Inhalts geknüpft ist.

38

Art. 3 Abs. 5 des Übereinkommens sieht jedoch vor, dass die Nichtbeachtung der Abs. 1 bis 4 dieses Artikels weder den Bestand noch die Wirksamkeit des Beförderungsvertrags berührt und dass dieser gleichwohl den Vorschriften des Übereinkommens einschließlich derjenigen über die Haftungsbeschränkung unterliegt.

39

Liegt also ein Beförderungsvertrag vor und sind alle weiteren Voraussetzungen für die Anwendung des Übereinkommens erfüllt, findet es unabhängig von der Form des Beförderungsvertrags Anwendung.

40

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung führte Herr Santer, der bei Ötztaler beschäftigt ist, den Auftrag der Lawinensprengung in seiner Eigenschaft als das für die Lawinensicherheit des Gletschergebiets und der Skipisten verantwortliche Mitglied der Lawinenkommission als Teil seiner täglichen Arbeit aus. Zudem wurden Herr Santer und die übrigen Beschäftigten von Ötztaler von Wucher auf vertraglicher Grundlage vom Abflugort des Hubschraubers an die Stellen, an denen die Lawinen zu sprengen waren, und anschließend zurück an den Abflugort gebracht.

41

Daraus folgt, dass der Zweck des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flugs darin bestand, Beschäftigte von Ötztaler dorthin zu befördern, wo sie ihre tägliche Arbeit auszuführen hatten.

42

Nach alledem ist Art. 17 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass eine Person, die unter den Begriff „Fluggast“ im Sinne von Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 fällt, auch unter den Begriff „Reisender“ im Sinne von Art. 17 des Übereinkommens fällt, sofern sie aufgrund eines „Beförderungsvertrags“ im Sinne von Art. 3 des Übereinkommens befördert wurde.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 3 Buchst. g der Verordnung (EG) Nr. 785/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber ist dahin auszulegen, dass der Insasse eines von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gehaltenen Hubschraubers, der aufgrund eines zwischen seinem Arbeitgeber und diesem Luftfahrtunternehmen geschlossenen Vertrags zum Zweck der Wahrnehmung einer besonderen Aufgabe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befördert wird, „Fluggast“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

 

2.

Art. 17 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 300 Abs. 2 EG unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass eine Person, die unter den Begriff „Fluggast“ im Sinne von Art. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 785/2004 fällt, auch unter den Begriff „Reisender“ im Sinne von Art. 17 des Übereinkommens fällt, sofern sie aufgrund eines „Beförderungsvertrags“ im Sinne von Art. 3 des Übereinkommens befördert wurde.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Deutsch.