61995C0247

Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola vom 24. Oktober 1996. - Finanzamt Augsburg-Stadt gegen Marktgemeinde Welden. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland. - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Vermietung und Verpachtung von Grundstücken - Öffentliche Gewalt. - Rechtssache C-247/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-00779


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Der Bundesfinanzhof hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 21. März 1995 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Erlaubt Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedstaaten, steuerbefreite Tätigkeiten, für deren Besteuerung aber optiert werden kann, bei Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Tätigkeiten zu behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, obgleich sie sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen und in gleicher Weise ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer?

2. Falls die erste Frage zu verneinen ist: Kann der Umfang des Optionsrechts zur Besteuerung nach Maßgabe des Artikels 13 Teil C Absatz 2 der Richtlinie 77/388/EWG in der Weise eingeschränkt werden, daß Tätigkeiten im Sinne des Artikels 13 Teil C Absatz 1 der Richtlinie 77/388/EWG nur unter bestimmten Voraussetzungen als unternehmerische Tätigkeiten behandelt werden, wenn sie von Einrichtungen des öffentlichen Rechts ausgeuebt werden?

3. Falls auch diese Frage zu verneinen ist: Kann eine Einrichtung des öffentlichen Rechts sich auch dann unmittelbar auf Artikel 4 Absätze 1 und 2 in Verbindung mit Absatz 5 der Richtlinie 77/388/EWG berufen, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, wenn sich die Anwendung dieser Richtlinienregelung zwar mittelbar über den Vorsteuerabzug begünstigend, im übrigen aber belastend auswirkt?

2 Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens kann wie folgt zusammengefasst werden. Die deutsche Marktgemeinde Welden (nachstehend: die Gemeinde) ließ ein Gebäude erbauen und verpachtete die Räumlichkeiten anschließend an eine Person, die darin eine unternehmerische Tätigkeit ausübt.

Die Gemeinde verzichtete gemäß den deutschen Rechtsvorschriften auf die an sich für ihre Verpachtungsumsätze vorgesehene Steuerbefreiung. Dies tat sie wohlgemerkt, um die Umsatzsteuer, die zuvor auf die Kosten für die Errichtung des Neubaus entfallen war, als Vorsteuer geltend machen zu können. Das Finanzamt gab dem betreffenden Antrag jedoch nicht statt. Die Ablehnung wurde damit begründet, daß die Gemeinde bei der Verpachtung eines Grundstücks nicht gewerblich tätig geworden sei und somit nach den deutschen Rechtsvorschriften nicht als Unternehmer anzusehen sei. Die Gemeinde habe deshalb nicht der Umsatzsteuer unterlegen und somit auch nicht auf die für Verpachtungsumsätze vorgesehene Befreiung verzichten können. Das Finanzgericht gab der von der Gemeinde erhobenen Klage statt und sprach ihr aufgrund der Richtlinie 77/388/EWG(1) (nachstehend: Sechste Richtlinie) die Unternehmereigenschaft zu. Das Finanzgericht war der Auffassung, die Unternehmereigenschaft könne nur dann verneint werden, wenn die Einrichtung des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt auftrete. Dies sei hier nicht der Fall, da die Gemeinde wie jeder private Wirtschaftsteilnehmer aufgetreten sei. Sie sei folglich Unternehmerin und könne sich in dieser Eigenschaft auf die Richtlinienbestimmungen berufen.

Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Revision ein. Der Bundesfinanzhof hat demgemäß dem Gerichtshof die oben genannten Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Zur ersten Vorlagefrage

3 Die erste Vorlagefrage geht dahin, ob der betroffene Mitgliedstaat eine Gemeinde, die ein Grundstück verpachtet, im Hinblick auf die Anwendung der Sechsten Richtlinie vom Kreis der Steuerpflichtigen ausnehmen kann. Die Kommission verneint dies und verweist dabei insbesondere auf Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie, der wie folgt laute: "Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben." Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes sei diese Bestimmung dahin auszulegen, daß "es sich bei den Tätigkeiten $im Rahmen der öffentlichen Gewalt` ... um solche Tätigkeiten handelt, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung ausüben; ausgenommen sind die Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer". Die Vorschrift schließe also "eine ... Behandlung [als Nichtsteuerpflichtige] für die Tätigkeiten aus, die diese Einrichtungen nicht als Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts, sondern als Rechtssubjekte des Privatrechts ausüben".(2) Da die Gemeinde im vorliegenden Fall die Verpachtung eines Gebäudes nicht anders als jeder private Wirtschaftsteilnehmer vorgenommen habe, könne sie nicht durch nationale Rechtsvorschriften von der Anwendbarkeit der in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung ausgenommen werden.

4 Dieses Vorbringen überzeugt nicht. Es besteht kein Zweifel, daß eine Einrichtung des öffentlichen Rechts hinsichtlich der von ihr privatrechtlich ausgeuebten Tätigkeiten dem System der Sechsten Richtlinie unterliegen muß. Der Gerichtshof hat diesen Punkt in den von der Kommission angeführten Urteilen schon geklärt, und es muß nicht näher auf ihn eingegangen werden. Das Problem, auf das es hier ankommt, ist jedoch ein anderes. Die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken fällt nämlich unter die nach Artikel 13 der Sechsten Richtlinie befreiten Tätigkeiten. Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 sieht weiter vor, daß "[die] Mitgliedstaaten ... die Tätigkeiten der vorstehend genannten Einrichtungen, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreit sind" - wohlverstanden immer im Hinblick auf die uns hier interessierenden steuerlichen Zwecke - "als Tätigkeiten behandeln [können], die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen". Aufgrund dieser Bestimmung kann der Staat also eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine von der Steuer befreite Tätigkeit, und um eine solche handelt es sich bei der Verpachtung von Grundstücken, ausübt, vom Kreis der Steuerpflichtigen ausnehmen.

5 Die Kommission wendet jedoch ein, Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 sei dahin auszulegen, daß der in dieser Bestimmung aufgestellte Grundsatz der Behandlung als Nichtsteuerpflichtiger nur im Hinblick auf nach Artikel 13 von der Steuer befreite Tätigkeiten Anwendung finden könne, die in engem Zusammenhang mit der Ausübung öffentlicher Gewalt stuenden. Dieses Argument überrascht mich jedoch. Wenn die in Artikel 13 genannten Tätigkeiten ein Ausdruck öffentlicher Gewalt sind, ergibt sich die Behandlung der Einrichtung des öffentlichen Rechts, die sie ausübt, als Nichtsteuerpflichtige aus dem in Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 niedergelegten allgemeinen Grundsatz. In diesem Fall wäre es nicht erforderlich, auf Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 zurückzugreifen. Folgt man der Argumentation der Kommission, so wäre diese Bestimmung völlig überfluessig. Sie hat jedoch einen Sinn, wenn man annimmt, daß den Mitgliedstaaten mit ihr die Möglichkeit eröffnet werden sollte, juristische Personen des öffentlichen Rechts, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreite Tätigkeiten ausüben, als Nichtsteuerpflichtige zu behandeln. Diese Entscheidung, in die die Richtlinie nicht eingreift, bleibt also dem nationalen Gesetzgeber überlassen. Ausserdem ist der Inhalt der Bestimmung klar: Sie unterscheidet in keinerlei Hinsicht zwischen den verschiedenen in Artikel 13 aufgezählten Tätigkeiten(3).

Nach meiner Auffassung ist Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 demgemäß dahin auszulegen, daß er den Mitgliedstaaten hinsichtlich der von der Steuer befreiten Tätigkeiten die Möglichkeit einräumt, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die solche Tätigkeiten ausüben, im Hinblick auf die Sechste Richtlinie als Nichtsteuerpflichtige zu behandeln.

6 Die Fragen 2 und 3 werden für den Fall der Verneinung der ersten Frage gestellt. Angesichts der vorgeschlagenen Antwort sind sie also nicht zu untersuchen.

Antrag

Aufgrund dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof demgemäß vor, die Fragen des Bundesfinanzhofs wie folgt zu beantworten:

Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine nach Artikel 13 dieser Richtlinie von der Steuer befreite Tätigkeit ausübt, als Nichtsteuerpflichtigen im Sinne dieser Richtlinie behandeln kann. Insoweit ist es unerheblich, ob es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausübt wie ein privater Wirtschaftsteilnehmer.

(1) - Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG, ABl. L 145, S. 1).

(2) - Urteile vom 17. Oktober 1989 in den verbundenen Rechtssachen 231/87 und 129/88 (Ufficio distrettuale delle imposte dirette di Fiorenzuola d'Arda u. a./Comune di Carpaneto Piacentino u. a., Slg. 1989, 3233, Randnrn. 15 und 19) und vom 15. Mai 1990 in der Rechtssache C-4/89 (Comune di Carpaneto Piacentino u. a., Slg. 1990, I-1869, Randnr. 10).

(3) - Völlig unerheblich ist meines Erachtens der Umstand, daß der Betroffene bei einigen der nach Artikel 13 von der Steuer befreiten Tätigkeiten für deren Besteuerung optieren kann. Eine solche Möglichkeit beruht nämlich auf der Voraussetzung, daß der Betroffene "Steuerpflichtiger" im Sinne der Sechsten Richtlinie ist und sich somit auf die betreffenden Bestimmungen berufen kann. Wenn der Wirtschaftsteilnehmer jedoch - wie im vorliegenden Fall - nicht zu den Steuerpflichtigen gehört, kann von der Möglichkeit, für die Besteuerung zu optieren, gewiß nicht die Rede sein.