61991C0163

Schlussanträge des Generalanwalts Gulmann vom 1. Oktober 1992. - VAN GINKEL WADDINXVEEN BV, REIS- EN PASSAGEBUREAU VAN GINKEL BV UND ANDERE GEGEN INSPECTEUR DER OMZETBELASTING UTRECHT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: GERECHTSHOF AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - MEHRWERTSTEUER - SECHSTE RICHTLINIE - ARTIKEL 26 DER RICHTLINIE - REISEBUEROS - REISEVERANSTALTER - VERMIETUNG VON FERIENWOHNUNGEN. - RECHTSSACHE C-163/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-05723


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. In der vorliegenden Rechtssache möchte der Gerechtshof Amsterdam die Frage entschieden sehen, ob eine bestimmte steuerpflichtige Tätigkeit unter Artikel 26 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie des Rates(1) fällt, die eine Sonderregelung für Reisebüros vorsieht(2). Er hat zu diesem Zweck dem Gerichtshof zwei Fragen vorgelegt.

2. Die Rechtssache beruht auf einem Streit zwischen den niederländischen Steuerbehörden und einem niederländischen Reiseveranstalter (Kläger). Er betrifft denjenigen Teil der Tätigkeit der Kläger, der in der Veranstaltung von "Autoreisen" besteht. Diese Reiseform ist dadurch gekennzeichnet, daß der Reisende selbst zum Ferienort anreist, an dem ihm die Kläger Ferienwohnungen zur Verfügung stellen. Der Streit ist auf den Fall beschränkt, daß die Ferienwohnung im Eigentum eines Dritten steht und in den Niederlanden liegt. Der Reisende "erwirbt" die Dienstleistung, also einen kurzen Aufenthalt in der Ferienwohnung, direkt bei den Klägern oder durch Vermittlung eines anderen Reisebüros. Die Kläger bezahlen den Wohnungseigentümer und behalten dabei eine Provision in Höhe von 20 % des Mietzinses zurück. Nach Auffassung der Kläger war diese Provision die korrekte Besteuerungsgrundlage; demgemäß haben sie die Mehrwertsteuer berechnet. Die Steuerbehörden haben eine Nacherhebung durchgeführt, weil ihres Erachtens der gesamte Mietzins Besteuerungsgrundlage ist.

3. Die Sonderregelung für Reisebüros gilt nach Artikel 26 der Richtlinie, wenn bestimmte Voraussetzungen erfuellt sind; sie sieht in bestimmter Hinsicht Ausnahmen von den allgemeinen Regeln der Richtlinie über die Berechnung und die Erhebung der Mehrwertsteuer vor.

Nach Artikel 26 Absatz 1 wenden die Mitgliedstaaten die Sonderregelung auf Umsätze der Reisebüros und Reiseveranstalter an; ich werde im folgenden aus Gründen der Kürze nur noch von Reiseveranstaltern sprechen. Artikel 26 findet nur Anwendung, "soweit die Reisebüros gegenüber den Reisenden im eigenen Namen auftreten und für die Durchführung der Reise Lieferungen und Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger in Anspruch nehmen".

Nach Artikel 26 Absatz 2

° gelten die bei Durchführung der Reise vom Reisebüro erbrachten Umsätze als eine einheitliche Dienstleistung des Reisebüros an den Reisenden;

° wird diese in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem das Reisebüro seinen Sitz hat;

° gilt als Besteuerungsgrundlage die Marge des Reisebüros, d. h. die Differenz zwischen dem vom Reisenden dem Reisebüro zu zahlenden Betrag und den Kosten, die dem Reisebüro durch die Inanspruchnahme von Leistungen anderer Steuerpflichtiger entstehen, die dem Reisenden unmittelbar zugute kommen.

Artikel 26 Absatz 3 ist im vorliegenden Fall nicht unmittelbar einschlägig. Nach dieser Bestimmung wird die Besteuerungsgrundlage, also die Marge, gekürzt, wenn die Leistungen dem Reisenden ausserhalb der Gemeinschaft erbracht werden.

Nach Artikel 26 Absatz 4 ist der Vorsteuerabzug für die Steuern ausgeschlossen, die dem Reisebüro von anderen Steuerpflichtigen für Leistungen in Rechnung gestellt werden.

Artikel 26 enthält somit für die Reiseveranstalter praktische Vorschriften für die Mehrwertsteuerberechnung, die ihren Grund zum einen in den Problemen haben, die sich für diese Veranstalter als Erbringer im allgemeinen zusammengesetzter Leistungen zum einen aus ihrer besonderen Situation, zum anderen insbesondere aus dem Umstand ergeben, daß diese Leistungen oft in anderen Ländern als dem Sitzland des Reisebüros erbracht werden. Eines der wesentlichen Ziele der Regelung ist es, die Probleme zu vermeiden, vor denen sich die Reiseveranstalter in ihren Beziehungen mit den Steuerbehörden der anderen Mitgliedstaaten sähen, wenn die allgemeinen Vorschriften über die Berechnung, die Zahlung und die Abziehbarkeit der Mehrwertsteuer angewendet würden. Die im Reisevertrag zwischen dem Reiseveranstalter und dem Kunden vereinbarten Leistungen, etwa Unterkunft, Verpflegung und Beförderung in andere Mitgliedstaaten, werden nach dem Recht dieser Länder besteuert, während für die "Eigenleistungen" des Reisebüros Steuer auf die Marge im Sitzland des Reiseveranstalters erhoben wird. Beruht Artikel 26 somit auch zum guten Teil auf Gründen, die sich typischerweise aus einer grenzueberschreitenden Tätigkeit des Reiseveranstalters ergeben, so ist doch zweifelsfrei, daß Artikel 26 auch auf Tätigkeiten des Reiseveranstalters in ein und demselben Mitgliedstaat Anwendung findet.

Wie namentlich die Kommission zu Recht vorgetragen hat, setzt Artikel 26 voraus, daß der Reiseveranstalter bei der Durchführung der Reise Leistungen anderer Steuerpflichtiger in Anspruch nimmt und daß die Marge des Reiseveranstalters aus der Differenz zwischen dem vom Reisenden dem Reiseveranstalter zu zahlenden Preis und den Kosten besteht, die dem Reiseveranstalter aus dem Erwerb von Dienstleistungen, die dem Reisenden unmittelbar zugute kommen, von anderen Steuerpflichtigen entstehen. Das hat zwei Folgen. Zunächst findet Artikel 26 keine Anwendung, wenn der Reiseveranstalter ausschließlich eigene oder von Nichtsteuerpflichtigen erbrachte Leistungen verwendet; zum anderen umfasst die Marge, auf die der Reiseveranstalter nach Absatz 2 Mehrwertsteuer zahlen muß, sowohl die Eigenleistungen wie die von Nichtsteuerpflichtigen erbrachten Leistungen. Daraus folgt zugleich, daß es für den vom Reisenden zu zahlenden Mehrwertsteuerbetrag in Fällen der vorliegenden Art nicht darauf ankommt, ob die Autoreisen unter Artikel 26 fallen oder nicht.

4. Der Gerechtshof Amsterdam geht in seinem Vorlagebeschluß davon aus, daß die Kläger ein Reiseveranstalter sind, der zugleich Reisebüros betreibt, und daß auf sie somit Artikel 26 Absatz 1 anwendbar ist. Er geht weiter davon aus, daß die Kläger im Sinne des Artikels 26 gegenüber dem Reisenden im eigenen Namen auftreten und nicht als Vermittler tätig werden. Gleichwohl fragt sich der Gerechtshof hinsichtlich eines Punktes, ob der Tatbestand des Artikels 26 im vorliegenden Fall erfuellt ist. Hierzu führt er aus:

Unklar ist, ob der Abschluß eines Vertrages über die kurzzeitige Überlassung einer Ferienwohnung mit einem Reiseveranstalter, der für die Anreise des Reisenden zu der zur Verfügung gestellten Wohnung und für seine Rückreise nicht Sorge trägt, als Durchführung einer Reise im Sinne der Richtlinie oder nur als Vermietung dieser Wohnung anzusehen ist.

Zur Behebung dieses Zweifels hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Können Umsätze eines Steuerpflichtigen aus der Vermietung von Ferienwohnungen, über die er mit Dritten Vereinbarungen geschlossen hat, um über die Wohnungen verfügen zu können, an Interessenten, die selbst für die Hin- und Rückreise sorgen müssen, als Umsätze aus der Durchführung von Reisen im Sinne des Artikels 26 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie bzw. als bei Durchführung der Reise erbrachte Umsätze im Sinne des Absatzes 2 dieses Artikels angesehen werden?

5. Das Königreich der Niederlande macht geltend, vernünftige Gründe sprächen für die Verneinung dieser Frage. Insbesondere stelle die Beförderung einen charakteristischen Bestandteil einer Reise dar. Artikel 26 setze auch zwangsläufig voraus, daß die dem Reisenden verkauften Dienstleistungen sich aus mehreren Leistungen zusammensetzten. In Artikel 26 sei konsequent von der Erbringung von Leistungen die Rede, was voraussetze, daß der Reiseveranstalter mehr als eine Leistung erbringe. Auch heisse es in Absatz 2, daß die vom Reiseveranstalter erbrachten Umsätze als eine "einheitliche Dienstleistung" gälten.

6. Die Kläger, die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich sowie die Kommission stimmen sämtlich darin überein, daß Artikel 26 nicht voraussetzt, daß die vom Reiseveranstalter erbrachten Leistungen die Beförderung einschließen. Ebensowenig setze Artikel 26 voraus, daß die verkaufte Dienstleistung mehrere Leistungen umfasse.

7. Meines Erachtens ist auf die vorgelegte Frage zweifelsfrei zu antworten, daß die Vermietung von Ferienwohnungen, die einem Dritten gehören, durch Reiseveranstalter an Reisende, die selbst für ihre An- und Rückreise sorgen, unter Artikel 26 fällt.

Der Wortlaut der Bestimmung steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Angesichts der Fundstelle des Begriffs der "Durchführung der Reise" in den Absätzen 1 und 2 lässt sich nicht annehmen, daß die Verwendung dieses Begriffs den Anwendungsbereich des Artikels 26 beschränken sollte. Die Verwendung des Begriffs soll wohl nur hervorheben, daß die erbrachte Leistung Teil einer Reise sein muß, nicht aber, daß die Reise, also die Beförderung, zwangsläufig Teil der erbrachten Leistung sein müsse.

Der Zweck des Artikels 26 steht einer engen Auslegung entgegen. Es geht nicht darum, der Frage eine besondere Bedeutung zuzusprechen, ob die erbrachte Dienstleistung die Beförderung einschließt oder ob notwendig mehrere Dienstleistungen erbracht werden müssen. Die praktischen Probleme, die sich für Reiseveranstalter bei der Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten stellen und die die Bestimmung lösen soll, treten auch bei der Erbringung einer oder mehrerer Dienstleistungen auf, die die Beförderung nicht einschließen. Dabei steht fest, daß die Bestimmung nicht nach Maßgabe dessen unterschiedlich ausgelegt werden kann, ob die Dienstleistung oder die Dienstleistungen im Einzelfall in anderen Staaten oder im Sitzland des Reiseveranstalters erbracht werden.

Wie die Kläger und das Vereinigte Königreich vorgetragen haben, würde eine enge Auslegung des Artikels 26 vermutlich auch in einer Reihe von Fällen zu praktischen Schwierigkeiten führen, insbesondere dann, wenn der Reiseveranstalter eine bestimmte Anzahl von Einheiten in einem anderen Mitgliedstaat "erwirbt", ohne zu wissen, ob die später dem Reisenden erbrachte Dienstleistung die Beförderung einschließt.

Für dieses Ergebnis spricht auch, daß der Beratende Ausschuß für Mehrwertsteuer(3) bei einer Sitzung im April 1984 die Auffassung vertreten hat, daß Artikel 26 Anwendung finden müsse, wenn der Reiseveranstalter für die Durchführung der Reise Dienstleistungen zumindest eines anderen Steuerpflichtigen in Anspruch nehme.

8. Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 26 auch dann Anwendung findet, wenn der Kunde selbst für die Anreise zur Ferienwohnung sorgt. Auf die übrigen, im Sitzungsbericht wiedergegebenen Argumente zugunsten dieser Auslegung braucht deshalb nicht mehr eingegangen zu werden.

9. Der Gerechtshof hat weiter folgende Frage vorgelegt:

Fällt die Antwort auf die erste Frage anders aus, wenn der Steuerpflichtige als Reiseveranstalter neben den in dieser Frage beschriebenen Umsätzen Reisen durchführt, bei denen die Anreise zu der Unterkunft und die Rückreise inbegriffen sind?

Zu dieser Frage lässt sich zum einen kurz anmerken, daß die Antwort auf die erste Frage voraussetzt, daß das steuerpflichtige Unternehmen ein Reisebüro oder ein Reiseveranstalter ist, zum anderen, daß nach der auf die erste Frage gegebenen Antwort die Frage, ob die dem Kunden erbrachte Leistung auch die Anreise zur und die Abreise von der Ferienwohnung umschließt, für die Anwendung des Artikels 26 ohne Bedeutung ist.

Die Beantwortung der ersten Frage erübrigt somit eine Beantwortung der zweiten Frage.

Antrag

10. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, auf die Fragen des Gerechtshof Amsterdam wie folgt zu antworten:

Umsätze, die von einem Reisebüro oder einem Reiseveranstalter getätigt werden und die darin bestehen, Reisenden einem dritten Steuerpflichtigen gehörende Ferienwohnungen zu vermieten, fallen auch dann unter Artikel 26, wenn der Reisende selbst für die Anreise zur und die Abreise von der Ferienwohnung sorgt.

(*) Originalsprache: Dänisch.

(1) ° Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

(2) ° In meinen Schlussanträgen vom 15. September 1992 in der Rechtssache C-74/91, Kommission/Deutschland (Urteil vom 27. Oktober 1992, Slg. 1992, I-5383, I-5404), ging es um Artikel 26 Absatz 3 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie. Die vorliegende Rechtssache betrifft insbesondere Artikel 26 Absätze 1 und 2.

(3) ° Dieser Ausschuß ist nach Artikel 29 der Richtlinie geschaffen worden. Er besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission. Seine Stellungnahmen sind nicht bindend.