3.12.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

CE 353/134


Donnerstag, 13. September 2012
Politjustiz in Russland

P7_TA(2012)0352

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2012 zur Politjustiz in Russland (2012/2789(RSP))

2013/C 353 E/17

Das Europäische Parlament,

unter Hinweis auf seine früheren Berichte und Entschließungen zu Russland, insbesondere seine Entschließungen vom 15. März 2012 (1) zum Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Russland, vom 16. Februar 2012 (2) zu de bevorstehenden Präsidentschaftswahl in Russland, vom 14. Dezember 2011 (3) zur Wahl zur Staatsduma und vom 7. Juli 2011 (4) zu den Vorbereitungen auf die Wahlen zur russischen Staatsduma im Dezember 2011,

unter Hinweis auf die laufenden Verhandlungen über ein neues Abkommen, mit dem ein neuer umfassender Rahmen für die Beziehungen zwischen der EU und Russland geschaffen werden soll, sowie auf die 2010 in Gang gesetzte „Partnerschaft für Modernisierung“,

unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der es heißt, dass „[j]edermann […] Anspruch darauf [hat], dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht“,

unter Hinweis auf die Verfassung Russlands, insbesondere auf deren Artikel 118, in dem es heißt, dass Rechtsprechung in der Russischen Föderation nur durch Gerichte ausgeübt wird, und auf deren Artikel 120, in dem es heißt, dass die Richter unabhängig und nur der Verfassung der Russischen Föderation und dem Föderationsgesetz unterworfen sind,

unter Hinweis auf die Erklärung der Hohen Vertreterin der Union Catherine Ashton vom 17. August 2012 zur Verurteilung von Mitgliedern der Punkband „Pussy Riot“ in Russland,

unter Hinweis auf die Forderung des russischen Generalstaatsanwalts, am 12. September 2012 über die vorzeitige Absetzung des Mitglieds der Partei „Gerechtes Russland“, Gennadi Gudkow, abzustimmen,

gestützt auf Artikel 110 Absätze 2 und 4 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass sich die Russische Föderation als Vollmitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu den Grundsätzen der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte bekannt hat; in der Erwägung, dass aufgrund mehrerer schwerwiegender Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Annahme restriktiver Gesetze in den letzten Monaten zunehmend Zweifel daran bestehen, dass Russland seinen internationalen und nationalen Verpflichtungen nachkommt;

B.

in der Erwägung, dass sich die Europäische Union nach wie vor für eine weitere Vertiefung und den Ausbau der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland einsetzt, was sich in der Zusage der EU zeigt, sich nachdrücklich um die Aushandlung eines neuen Rahmenabkommens für den Ausbau der Beziehungen zwischen der EU und Russland zu bemühen, und in der Erwägung, dass die Europäische Union und Russland tiefe und umfassende Beziehungen aufgebaut haben, insbesondere in den Bereichen Energie, Wirtschaft und Unternehmen, und in der Weltwirtschaft nunmehr aufeinander angewiesen sind;

C.

in der Erwägung, dass sich die Menschrechtssituation in Russland in den letzten Monaten drastisch verschlechtert hat und die russischen Behörden in jüngster Zeit eine Reihe von Gesetzen verabschiedet haben, die missverständliche Bestimmungen enthalten und dazu eingesetzt werden könnten, die Opposition und die Akteure der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken und die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit zu behindern; in der Erwägung, dass diese Aspekte insbesondere im Rahmen der bilateralen Treffen und Verhandlungen zwischen der EU und Russland rechtzeitig vorrangig behandelt werden sollten;

D.

in der Erwägung, dass die Todesfälle Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Anastassija Baburowa, Stanislaw Markelow und Sergei Magnitski bisher nicht aufgeklärt wurden;

E.

in der Erwägung, dass Michail Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew am 30. Dezember 2010 aufgrund von Veruntreuung vom Moskauer Bezirksgerichts Chamowniki schuldig gesprochen wurden; in der Erwägung, dass die Strafverfolgung, der Prozess und das Urteil international als politisch motiviert galten;

F.

in der Erwägung, dass der Fall Sergei Magnitski nur einer von mehreren Fällen von Machtmissbrauch durch die russischen Strafverfolgungsbehörden ist, die in erheblichem Maße gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoßen, wobei die Verantwortlichen für den Tod von Magnitski nach wie vor Straffreiheit genießen; in der Erwägung, dass auch in zahlreichen anderen Gerichtsverfahren politisch konstruierte Gründe vorgeschoben werden, um politische Konkurrenten auszuschalten und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern;

G.

in der Erwägung, dass die Verurteilung der Mitglieder der russischen Punkband „Pussy Riot“ zu zwei Jahren Haft infolge einer Protestaktion gegen Präsident Wladimir Putin in einer orthodoxen Kathedrale in Moskau unverhältnismäßig ist;

H.

in der Erwägung, dass die Duma am 12. September 2012 – ohne sich dabei an die vorgeschriebenen demokratischen Verfahren zu halten – darüber abstimmen wird, ob Gennadi Gudkow aufgrund von Geschäftstätigkeiten während seines Mandats seines Amtes enthoben wird; in der Erwägung, dass im Interesse der Rechtsstaatlichkeit die parlamentarischen Regeln für alle Mitglieder der Duma gleich und unparteiisch gelten sollten; in der Erwägung, dass gegen andere Mitglieder der Fraktion „Gerechtes Russland“ wie Dmitri Gudkow und Ilja Ponomarjow ähnliche Anklagen erhoben wurden;

I.

in der Erwägung, dass das neue Gesetz über nichtstaatliche Organisationen und das Gesetz über das Recht auf Versammlungsfreiheit dazu missbraucht werden könnten, die Zivilgesellschaft und oppositionelle politische Meinungen zu unterdrücken sowie nichtstaatliche Organisationen, die demokratische Opposition und die Medien zu schikanieren; in der Erwägung, dass das russische Parlament im Juli 2012 ein Gesetz angenommen hat, das russischen Organisationen ohne Erwerbszweck, die sich politisch engagieren und aus dem Ausland finanziert werden, den Status „ausländischer Agenten“ verleiht;

J.

in der Erwägung, dass entgegen den Erklärungen und Beteuerungen von Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew die politischen Freiheiten der russischen Bürger einem immer größeren Druck ausgesetzt sind; in der Erwägung, dass Präsident Putin erklärt hat, dass es dringend erforderlich sei, die enorme Korruption in Russland zu überwinden, dass er sich öffentlich dazu verpflichtet hat, die Rechtsstaatlichkeit in Russland zu stärken, und dass er Fragen zur Unabhängigkeit des russischen Justiz- und Rechtswesens aufgeworfen hat;

1.

stellt fest, dass echte konstruktive Beziehungen zwischen der EU und Russland von den Bemühungen um die Stärkung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Grundrechte abhängen; betont, dass die mittel- und langfristige politische und wirtschaftliche Stabilität und Entwicklung Russlands davon abhängen, ob sich die Rechtsstaatlichkeit durchsetzt und echte demokratische Wahlmöglichkeiten entstehen;

2.

ist der Auffassung, dass Russland als Mitglied des Europarates und der Organisation für Frieden und Zusammenarbeit in Europa den Verpflichtungen, die es eingegangen ist, nachkommen sollte; weist darauf hin, dass die jüngsten Entwicklungen in eine Richtung gehen, die den notwendigen Reformen zur Verbesserung der demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz in Russland entgegengesetzt ist;

3.

begrüßt die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 25. Juli 2012, sowohl den Fall Chodorkowski als auch den Fall Lebedew gemäß der Empfehlung des Rates beim Präsidenten für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte vom Dezember 2011 zu überprüfen; nimmt die Verkürzung der Strafe von Herrn Lebedew um drei Jahre zur Kenntnis; fordert, dass die umfassende Überprüfung der beiden Fälle auf der Grundlage der internationalen Verpflichtungen Russlands zu fairen und transparenten Gerichtsverfahren fortgesetzt wird und dass die Erkenntnisse und Empfehlungen des Rates beim Präsidenten für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte in Bezug auf den Fall Chodorkowski umfassend geachtet und umgesetzt werden;

4.

fordert die russischen Regierungsstellen auf, die Verantwortlichen in den Mordfällen Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa vor Gericht zu bringen, und fordert sie auf, eine glaubwürdige und unabhängige Untersuchung des Falls Magnitski und weiterer Fälle durchzuführen und mit der allgegenwärtigen Straffreiheit und Korruption in Russland aufzuräumen;

5.

ist zutiefst besorgt über weitere politisch motivierte Gerichtsverfahren, insbesondere über die Strafverfolgung von Wissenschaftlern, die aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit ausländischen wissenschaftlichen Einrichtungen der Spionage beschuldigt werden, über die Verurteilung der Oppositionsaktivistin Taissija Ossipowa zu acht Jahren Strafkolonie in einem als politisch motiviert geltenden Prozess, bei dem fragwürdige und möglicherweise gefälschte Beweise verwendet und die für ein faires Gerichtsverfahren geltenden Normen nicht eingehalten wurden, über die Festnahme und die politisch motivierten Anklagen gegen mehr als ein Dutzend Teilnehmer der Demonstration vom 6. Mai 2012 in Moskau, die zu Unrecht beschuldigt werden, sich an den angeblichen „Massenkrawallen“ beteiligt zu haben, und über die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Oppositionsaktivisten wie Alexei Nawalny, Boris Nemzow und Sergei Udalzow;

6.

verleiht seiner großen Enttäuschung über das Urteil und die unverhältnismäßige Strafe Ausdruck, die das Bezirksgericht Chamowniki gegen die Mitglieder der Punkband „Pussy Riot“ Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch verhängt hat; stellt mit Besorgnis fest, dass dieser Fall Ausdruck der jüngsten Zunahme politisch motivierter Einschüchterung und Verfolgung von Oppositionsaktivisten in der Russischen Föderation ist, und dass diese Tendenz in der Europäischen Union mit wachsender Sorge verfolgt wird; bekräftigt seine Überzeugung, dass dieses Urteil im Einklang mit den von Russland eingegangenen internationalen Verpflichtungen überprüft und aufgehoben wird;

7.

nimmt den Antrag des Generalstaatsanwalts zur Kenntnis, über die vorzeitige Beendigung des Abgeordnetenstatus von Gennadi Gudkow aufgrund von Geschäftstätigkeiten während seines parlamentarischen Mandats unter Verstoß gegen Artikel 289 des russischen Strafgesetzes abzustimmen; betont, dass die Einleitung des parlamentarischen politischen Verfahrens zur Amtsenthebung von Gennadi Gudkow, Mitglied der Oppositionspartei „Gerechtes Russland“, allgemein als Einschüchterungsversuch gesehen wird, der sich gegen die rechtmäßige politische Aktivität einer Oppositionspartei richtet, die die Forderungen der Protestbewegung unterstützt; fordert Russland auf, Gesetze nicht willkürlich anzuwenden, um gegen Mitglieder der Opposition vorzugehen;

8.

verleiht jedoch seiner Besorgnis über das verschlechterte Klima für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland Ausdruck, insbesondere im Hinblick auf die jüngste Annahme einer Reihe von Gesetzen über Demonstrationen, nichtstaatliche Organisationen, Verleumdung und das Internet, die missverständliche Bestimmungen enthalten und zu einer willkürlichen Durchsetzung führen könnten; erinnert die russischen Regierungsstellen daran, dass eine moderne und wohlhabende Gesellschaft die individuellen und kollektiven Rechte aller ihrer Bürger anerkennen und schützen muss; fordert die zuständigen russischen Stellen in diesem Zusammenhang auf, die neuen Gesetze über nichtstaatliche Organisationen abzuändern, um Bürgervereinigungen, die finanzielle Unterstützung aus angesehenen ausländischen Fonds erhalten, vor politischer Verfolgung zu schützen;

9.

verleiht auch seiner Besorgnis darüber Ausdruck, dass das Gesetz über Extremismus einen großen Ermessensspielraum bei der Interpretation der grundlegenden Begriffe „extremistische Taten“ und „extremistische Organisationen“ vorsieht, was der Venedig-Kommission des Europarates zufolge Willkür sowie Einschränkungen der Vereinigungs-, Meinungs- und Glaubensfreiheit zur Folge haben könnte; fordert die russischen Regierungsstellen auf, diesen Bedenken durch eine Änderung des Gesetzes Rechnung zu tragen;

10.

weist darauf hin, dass der frühere Präsident Medwedew eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die die Reform des Wahlsystems und die verbesserte Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Russland prüfen soll; weist darauf hin, dass das Europäische Parlament die russische Regierung aufgefordert hat, diese Reformen durchzuführen, und stets die Unterstützung durch die EU angeboten hat, auch im Rahmen der Partnerschaft für Modernisierung;

11.

verurteilt die vor kurzem erfolgte Annahme von Rechtsvorschriften, die die öffentliche Information über die sexuelle Ausrichtung und die Geschlechtsidentität in mehreren russischen Regionen unter Strafe stellt, sowie ähnliche Vorhaben auf föderaler Ebene; weist die russischen Regierungsstellen auf ihre Verpflichtung hin, die Meinungsfreiheit und die Rechte der Angehörigen der LGBT-Minderheit zu schützen;

12.

fordert die HR/VP und die Kommission zu beständiger und umfassender Unterstützung der Aktivisten der Zivilgesellschaft und der Vertreter der neuen gesellschaftlichen Bürgerbewegung auf; fordert die EU auf, kontinuierlich Druck auf die russischen Regierungsstellen auszuüben, damit sie die OSZE-Standards in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz einhalten;

13.

betont, wie wichtig der ständige Meinungsaustausch über die Menschenrechte mit Russland im Rahmen der Konsultationen EU-Russland über Menschenrechtsthemen als Möglichkeit zur Konsolidierung der Interoperabilität in allen Bereichen der Zusammenarbeit ist, und fordert eine Verbesserung der Ausgestaltung dieser Treffen, um ihre Wirksamkeit sicherzustellen, wobei besonderes Augenmerk auf das gemeinsame Vorgehen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu richten ist, sowie die Öffnung dieses Prozesses für den wirksamen Beitrag des Europäischen Parlaments, der Staatsduma und der im Bereich der Menschenrechte tätigen nichtstaatlichen Organisationen und erwartet, dass dieser Dialog abwechselnd in Russland und in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union stattfindet;

14.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation, dem Europarat und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu übermitteln.


(1)  Angenommene Texte, P7_TA(2012)0088.

(2)  Angenommene Texte, P7_TA(2012)0054.

(3)  Angenommene Texte, P7_TA(2011)0575.

(4)  Angenommene Texte, P7_TA(2011)0335.