26.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 201/60


EMPFEHLUNG DER KOMMISSION

vom 11. Juni 2013

Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten

(2013/396/EU)

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Die Europäische Union hat sich den Erhalt und die Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — unter anderem durch einen erleichterten Zugang zur Justiz — und ein hohes Verbraucherschutzniveau zum Ziel gesetzt.

(2)

In der modernen Wirtschaft kommt es bisweilen zu Ereignissen, bei denen eine Vielzahl von Personen durch dieselbe rechtswidrige Verhaltensweise, bei der durch Unionsrecht garantierte Rechte von einem oder mehreren Handelsunternehmen oder sonstigen Personen verletzt werden, geschädigt werden kann („Massenschadensereignis“). Die Betroffenen könnten sich dadurch veranlasst sehen, die Unterlassung solcher Verhaltensweisen oder Schadensersatz zu fordern.

(3)

Die Kommission nahm 2005 ein Grünbuch (1) und 2008 ein Weißbuch (2) über Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts mit Vorschlägen zur kollektiven Rechtsverfolgung im Kartellrecht an. 2008 veröffentlichte sie zudem ein Grünbuch (3) über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher. 2011 führte die Kommission eine öffentliche Konsultation mit dem Titel „Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz“ durch. (4)

(4)

Das Europäische Parlament nahm am 2. Februar 2012 die Entschließung „Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz“ an, in der es einen Vorschlag im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes in Form eines allgemeinen Rahmens mit gemeinsamen Grundsätzen forderte, die in der Europäischen Union einheitlichen Zugang zu den Gerichten im Wege des kollektiven Rechtsschutzes gewährleisten und insbesondere, aber nicht ausschließlich, Verletzungen der Verbraucherrechte betreffen. Das Parlament betonte des Weiteren die Notwendigkeit, den Rechtstraditionen und den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten gebührend Rechnung zu tragen und die Koordinierung bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. (5)

(5)

Die Kommission legte am 11. Juni 2013 eine Mitteilung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz“ (6) vor, in der sie über die bisher durchgeführten Maßnahmen und die Stellungnahmen der Interessengruppen sowie des Europäischen Parlaments berichtete und ihren Standpunkt zu einigen zentralen Fragen des kollektiven Rechtsschutzes darlegte.

(6)

Es gehört zu den Kernaufgaben der öffentlichen Rechtsverfolgung, die Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten zu verhüten und zu ahnden. Ergänzt wird die öffentliche Rechtsverfolgung durch die Möglichkeit der privaten Verfolgung von Ansprüchen aufgrund solcher Rechtsverletzungen. Wird in dieser Empfehlung auf die Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten Bezug genommen, so fallen darunter alle Sachverhalte, bei denen natürliche und juristische Personen durch eine Verletzung von auf Unionsebene begründeten Rechten geschädigt wurden oder geschädigt zu werden drohen.

(7)

Die Bereiche, in denen eine ergänzende private Verfolgung von durch Unionsrecht garantierten Rechten im Wege des kollektiven Rechtsschutzes sinnvoll ist, sind unter anderem Verbraucherschutz, Wettbewerb, Umweltschutz, Schutz personenbezogener Daten, Finanzdienstleistungen und Anlegerschutz. Die Grundsätze dieser Empfehlung sollten allgemein in diesen, aber auch in anderen Bereichen, in denen kollektive Unterlassungsklagen oder Schadensersatzklagen bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten von Interesse sein können, einheitlich angewandt werden.

(8)

Um den Eintritt eines Schadens zu verhindern oder Schadensersatzansprüche geltend zu machen, beispielsweise bei geringfügigen Forderungen in Verbrauchersachen, werden in der Regel Individualprozesse angestrengt.

(9)

Alle Mitgliedstaaten haben zusätzlich zum Individualrechtsschutz verschiedene Formen des kollektiven Rechtsschutzes eingeführt, um auf diesem Weg unerlaubte Praktiken zu verhindern und zu unterbinden und bei Massenschadensereignissen zu gewährleisten, dass Schadensersatzansprüche durchgesetzt werden können. Die Möglichkeit, Ansprüche zu bündeln und kollektiv zu verfolgen, kann insbesondere dann ein geeigneteres Mittel sein, um Rechtsschutz zu erhalten, wenn bei Individualklagen die Verfahrenskosten die Geschädigten davon abhalten, vor Gericht zu gehen.

(10)

Mit dieser Empfehlung soll der Zugang zur Justiz bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten erleichtert und zu diesem Zweck allen Mitgliedstaaten die Einführung eines innerstaatlichen kollektiven Rechtsschutzsystems angetragen werden, das auf unionsweit einheitlichen Grundsätzen beruht, aber den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten Rechnung trägt und gleichzeitig vor Missbrauch schützt.

(11)

Zur Regelung von Unterlassungsverfahren haben das Europäische Parlament und der Rat bereits die Richtlinie 2009/22/EG (7) über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen erlassen. Das durch die Richtlinie eingeführte Unterlassungsverfahren ermöglicht es den durch rechtswidrige Verhaltensweisen Geschädigten jedoch nicht, Schadensersatz zu erhalten.

(12)

Zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen haben manche Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Umfang Kollektivverfahren eingeführt. Die in den Mitgliedstaaten bestehenden Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes sind allerdings sehr uneinheitlich.

(13)

Diese Empfehlung enthält verschiedene Grundsätze sowohl für gerichtliche als auch für außergerichtliche kollektive Rechtsschutzverfahren, die in der gesamten Union bei gleichzeitiger Achtung der verschiedenen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten befolgt werden sollten. Diese Grundsätze sollten die Wahrung der grundlegenden Verfahrensrechte der Parteien sicherstellen und durch geeignete Garantien Missbrauch verhindern.

(14)

Diese Empfehlung gilt sowohl für kollektive Schadensersatzverfahren als auch, soweit angemessen und für die jeweiligen Grundsätze relevant, für kollektive Unterlassungsverfahren. Unterlassungsverfahren, die im Unionsrecht für bestimmte Bereiche bereits vorgesehen sind, bleiben davon unberührt.

(15)

Für kollektive Rechtsschutzverfahren sollten die für die Parteien eines Zivilverfahrens bestehenden Verfahrens- und sonstigen Garantien gelten. Um einer missbräuchlichen Rechtsverfolgung bei Massenschadensereignissen vorzubeugen, sollten die einzelstaatlichen kollektiven Rechtsschutzinstrumente die grundlegenden Garantien enthalten, die in dieser Empfehlung aufgeführt sind. Generell sollten Elemente wie Strafschadensersatz, die ausforschende vorprozessuale Beweissammlung und die Beteiligung von Geschworenen an der Urteilsfindung, die die Rechtstraditionen der meisten Mitgliedstaaten nicht kennen, vermieden werden.

(16)

Alternative Streitbeilegungsverfahren können bei Massenschadensereignissen wirksam Rechtsschutz bieten. Sie sollten stets parallel oder als freiwilliges Element des gerichtlichen kollektiven Rechtsschutzes zur Verfügung stehen.

(17)

Die Befugnis zur Erhebung einer Kollektivklage in einem Mitgliedstaat hängt davon ab, um welche Art kollektiver Rechtsverfolgung es sich konkret handelt. Bei bestimmten Klagearten wie Gruppenklagen, wo die Klage gemeinsam von denjenigen erhoben wird, die behaupten, einen Schaden erlitten zu haben, ist die Feststellung der Klagebefugnis einfacher als bei Klagen, die in Vertretung erhoben werden und bei denen die Klagebefugnis geklärt werden muss.

(18)

Bei einer in Vertretung erhobenen Klage sollte die Klagebefugnis auf ad hoc zugelassene Einrichtungen, anerkannte Vertreterorganisationen, die bestimmte gesetzlich vorgeschriebene Kriterien erfüllen, und auf Behörden beschränkt werden. Vertreterorganisationen sollten ihre administrativen und finanziellen Kapazitäten zur angemessenen Vertretung der Interessen der von ihnen vertretenen Personen nachweisen müssen.

(19)

Die Finanzierung kollektiver Rechtsschutzverfahren sollte so geregelt werden, dass ein Systemmissbrauch und Interessenkonflikte ausgeschlossen sind.

(20)

Weiter sollten zur Missbrauchsverhinderung und im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege Kollektivklagen vor einem Gericht nur zugelassen werden, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind.

(21)

Den Gerichten sollte beim Schutz der Rechte und Interessen aller Parteien eines kollektiven Rechtsschutzverfahrens sowie bei der wirksamen Durchführung solcher Verfahren eine zentrale Rolle zukommen.

(22)

In Rechtsbereichen, in denen eine Behörde ermächtigt ist, die Verletzung von Unionsrecht im Wege einer Entscheidung festzustellen, muss gewährleistet sein, dass die endgültige Entscheidung über diese Rechtsverletzung und das Ergebnis des kollektiven Rechtsschutzverfahrens miteinander vereinbar sind. Bei Kollektivklagen, die im Anschluss an eine behördliche Entscheidung erhoben werden (Folgeklagen), kann davon ausgegangen werden, dass die Behörde bei der Feststellung der Verletzung von Unionsrecht bereits das öffentliche Interesse und die Notwendigkeit der Missbrauchsvermeidung berücksichtigt hat.

(23)

Im Hinblick auf das Umweltrecht trägt diese Empfehlung Artikel 9 Absätze 3, 4 und 5 des UNECE-Übereinkommens über Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten („Aarhus-Übereinkommen“) Rechnung, die einen weiten Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten unterstützen, Kriterien festlegen, denen die Verfahren genügen sollten, darunter zügiger Ablauf des Verfahrens und nicht übermäßige Verfahrenskosten, die Bereitstellung von Informationen an die Öffentlichkeit vorsehen sowie die Prüfung angemessener Unterstützungsmechanismen.

(24)

Die Mitgliedstaaten sollten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die in dieser Empfehlung festgelegten Grundsätze spätestens zwei Jahre nach ihrer Veröffentlichung umzusetzen.

(25)

Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission über die Umsetzung der Empfehlung berichten. Auf der Grundlage dieser Berichte sollte die Kommission die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen kontrollieren und bewerten.

(26)

Spätestens vier Jahre nach Veröffentlichung dieser Empfehlung sollte die Kommission prüfen, ob weitere Maßnahmen, auch legislativer Art, nötig sind, um sicherzustellen, dass die Ziele der Empfehlung vollständig erreicht werden. Die Kommission sollte insbesondere die Umsetzung der Empfehlung und ihre Auswirkungen auf den Zugang zur Justiz, das Recht auf Schadensersatz, die Vermeidung missbräuchlicher Rechtsverfolgung sowie auf das Funktionieren des Binnenmarkts, die Wirtschaft der Europäischen Union und das Vertrauen der Verbraucher bewerten —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

I.   ZWECK UND GEGENSTAND

1.

Zweck dieser Empfehlung ist es, den Zugang zur Justiz zu erleichtern, rechtswidrige Verhaltensweisen zu unterbinden und bei einem Massenschadensereignis, das auf eine Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten zurückzuführen ist, den Geschädigten Schadensersatz zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch dafür zu sorgen, dass angemessene Verfahrensgarantien vorhanden sind, um eine missbräuchliche Rechtsverfolgung zu verhindern.

2.

Alle Mitgliedstaaten sollten über innerstaatliche kollektive Rechtsschutzverfahren für Unterlassungs- und für Schadensersatzklagen verfügen, die auf den in dieser Empfehlung aufgeführten Grundsätzen beruhen. Diese Grundsätze sollten unionsweit einheitlich gelten, gleichzeitig aber den unterschiedlichen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer sind.

II.   BEGRIFFSBESTIMMUNGEN UND ANWENDUNGSBEREICH

3.

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck

a)

„Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes“ i) ein rechtliches Verfahren, mit dem zwei oder mehr als zwei natürliche oder juristische Personen gemeinsam oder eine zur Erhebung einer Vertretungsklage befugte Einrichtung die Einstellung einer rechtswidrigen Verhaltensweise verlangen können (kollektives Unterlassungsverfahren), oder ii) ein rechtliches Verfahren, mit dem zwei oder mehr als zwei natürliche oder juristische Personen, die geltend machen, bei einem Massenschadensereignis geschädigt worden zu sein, gemeinsam oder eine zur Erhebung einer Vertretungsklage befugte Einrichtung Schadensersatz verlangen können (kollektives Schadensersatzverfahren);

b)

„Massenschadensereignis“ ein Ereignis, bei dem zwei oder mehr als zwei natürliche oder juristische Personen geltend machen, durch dasselbe rechtswidrige Verhalten oder durch ähnliche rechtswidrige Verhaltensweisen einer oder mehrerer natürlicher oder juristischer Personen geschädigt worden zu sein;

c)

„Schadensersatzklage“ eine Klage, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem einzelstaatlichen Gericht geltend gemacht wird;

d)

„Vertretungsklage“ eine Klage, die von einer Vertreterorganisation, einer ad hoc zugelassenen Einrichtung oder einer Behörde im Namen und für Rechnung von zwei oder von mehr als zwei natürlichen oder juristischen Personen erhoben wird, die geltend machen, bei einem Massenschadensereignis geschädigt worden zu sein oder der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt gewesen zu sein, wobei diese Personen nicht Partei des Verfahrens sind;

e)

„kollektive Folgeklage“ ein Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes, das eingeleitet wird, nachdem eine Behörde im Wege einer bestandkräftigen Entscheidung festgestellt hat, dass Unionsrecht verletzt wurde.

Diese Empfehlung enthält allgemeine Grundsätze für den kollektiven Rechtsschutz sowie besondere Grundsätze für Unterlassungsverfahren und für Schadensersatzverfahren.

III.   ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE FÜR KOLLEKTIVE UNTERLASSUNGSKLAGEN UND SCHADENSERSATZKLAGEN

Klagebefugnis für Vertretungsklagen

4.

Die Mitgliedstaaten sollten auf der Grundlage genau definierter Zulassungsvoraussetzungen Vertreterorganisationen anerkennen, die befugt sind, Vertretungsklagen zu erheben. Die Mindestanforderungen sind:

a)

Gemeinnützigkeit,

b)

direkter Zusammenhang zwischen den wichtigsten Zielen der Organisation und den durch Unionsrecht garantierten Rechten, deren Verletzung geltend gemacht wird und die Gegenstand der Klage sind, und

c)

ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen sowie erforderlicher juristischer Sachverstand, um mehrere Personen vertreten und deren Interesse wahrnehmen zu können.

5.

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass eine anerkannte Einrichtung, die eine oder mehrere der Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, ihre Klagebefugnis verliert.

6.

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass nur Einrichtungen, die zuvor offiziell als Vertreterorganisation im Sinne von Randnummer 4 anerkannt wurden, oder Einrichtungen, die von den Behörden oder Gerichten eines Mitgliedstaats ad hoc für eine bestimmte Vertretungsklage zugelassen wurden, eine solche Klage erheben können.

7.

Zusätzlich oder als Alternative können die Mitgliedstaaten auch Behörden die Klagebefugnis für Vertretungsklagen übertragen.

Zulässigkeit

8.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass möglichst früh im Verfahren geprüft wird, ob der Fall nicht offensichtlich unbegründet ist und die Voraussetzungen für ein Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes erfüllt sind; andernfalls sollte das Verfahren eingestellt werden.

9.

Zu diesem Zweck sollten die Gerichte von Amts wegen eine entsprechende Prüfung durchführen.

Information über kollektive Rechtsschutzverfahren

10.

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Vertreterorganisation oder die Klägergruppe die Möglichkeit hat, über die geltend gemachte Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten und ihre Absicht, die Unterlassung des betreffenden Verhaltens zu erwirken, sowie über ein Massenschadensereignis und ihre Absicht zu informieren, im Wege des kollektiven Rechtsschutzes Schadensersatzklage zu erheben. Der Vertreterorganisation, der ad hoc zugelassenen Einrichtung, der Behörde beziehungsweise der Klägergruppe sollten entsprechende Informationsmöglichkeiten über laufende Schadensersatzklagen zustehen.

11.

Bevor das Gericht in einem endgültigen Urteil die Verantwortung für eine Rechtsverletzung oder einen Schaden festgestellt hat, sollten bei der Wahl der Methode zur Verbreitung der Informationen die besonderen Umstände des betreffenden Massenschadensereignisses, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Auskunftsrecht und das Recht auf Schutz des guten Rufes oder des Unternehmenswerts des Beklagten berücksichtigt werden.

12.

Die Informationsmethoden lassen die Bestimmungen der Union über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation unberührt.

Erstattung der Rechtskosten der obsiegenden Partei

13.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Partei, die in einem Verfahren des kollektiven Rechtschutzes unterliegt, gemäß dem maßgebenden einzelstaatlichen Recht die notwendigen Rechtskosten der obsiegenden Partei trägt.

Finanzierung

14.

Die Klagepartei sollte dem Gericht am Anfang des Verfahrens die Herkunft der Mittel offenlegen müssen, mit denen die Klage finanziert wird.

15.

Das Gericht sollte das Verfahren aussetzen können, wenn bei der Verwendung von Mitteln Dritter

a)

ein Interessenkonflikt zwischen dem Dritten, der Klagepartei und ihren Mitgliedern besteht;

b)

der Dritte nicht über ausreichende Mittel verfügt, um seinen Verpflichtungen gegenüber der Klagepartei, die das Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes eingeleitet hat, nachzukommen;

c)

die Klagepartei nicht über ausreichende Mittel verfügt, um bei einer Niederlage vor Gericht die Kosten der Gegenseite tragen zu können.

16.

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass im Fall der Finanzierung eines kollektiven Rechtsschutzverfahrens durch private Dritte diesen Dritten Folgendes untersagt ist:

a)

die Einflussnahme auf die Verfahrensentscheidungen der Klagepartei, darunter auf Einigungsentscheidungen;

b)

die Bereitstellung von Mitteln für die Kollektivklage gegen einen Beklagten, der Wettbewerber des Geldgebers ist oder auf dessen Mittel der Geldgeber angewiesen ist;

c)

überhöhte Zinsen auf die bereitgestellten Mittel.

Grenzüberschreitende Rechtssachen

17.

Wenn natürliche oder juristische Personen aus mehreren Mitgliedstaaten von einer Streitsache betroffen sind, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass eine Kollektivklage an einem Gerichtsstand nicht durch innerstaatliche Vorschriften über die Zulässigkeit oder über die Klagebefugnis ausländischer Klägergruppen oder von Vertreterorganisationen aus anderen Rechtsordnungen verhindert wird.

18.

Vertreterorganisationen, die ein Mitgliedstaat im Voraus anerkannt und denen dieser die Klagebefugnis für Vertretungsklagen übertragen hat, sollte es gestattet sein, in dem Mitgliedstaat, der für die gerichtliche Beurteilung des Massenschadensereignisses zuständig ist, vor Gericht zu gehen.

IV.   BESONDERE GRUNDSÄTZE FÜR KOLLEKTIVE UNTERLASSUNGSVERFAHREN

Zügiger Verfahrensablauf bei Anträgen auf Unterlassungsanordnung

19.

Die Gerichte und zuständigen Behörden sollten Anträge auf Unterlassungsanordnung, die die Einstellung oder Unterbindung einer Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten zum Ziel hat, mit aller gebotenen Eile, gegebenenfalls in einem Schnellverfahren, behandeln, um einen Schaden oder weitere Schäden durch eine solche Rechtsverletzung zu verhindern.

Wirksame Durchsetzung von Unterlassungsanordnungen

20.

Die Mitgliedstaaten sollten für den unterlegenen Beklagten geeignete Sanktionen vorsehen, um sicherzustellen, dass er der Unterlassungsanordnung Folge leistet, darunter einen bestimmten Betrag für jeden Tag der Nichtbeachtung oder einen sonstigen in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrag.

V.   BESONDERE GRUNDSÄTZE FÜR KOLLEKTIVE SCHADENSERSATZVERFAHREN

Bildung der Klagepartei nach dem „Opt-in“-Prinzip

21.

Die Klagepartei sollte auf der Grundlage der ausdrücklichen Zustimmung der natürlichen oder juristischen Personen gebildet werden, die einen Schaden geltend machen („Opt-in“-Prinzip). Jede per Gesetz oder durch gerichtliche Entscheidung verfügte Ausnahme sollte mit Gründen der ordnungsgemäßen Rechtspflege gerechtfertigt werden müssen.

22.

Mitglieder der Klagepartei sollten vor der Verkündung des endgültigen Urteils oder der anderweitigen rechtsverbindlichen Beilegung der Streitsache jederzeit unter denselben Bedingungen, die für die Rücknahme einer Individualklage gelten, aus der Klagepartei ausscheiden können, ohne auf die Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Ansprüche auf anderem Wege verzichten zu müssen, sofern die ordnungsgemäße Rechtspflege dies zulässt.

23.

Natürliche oder juristische Personen, die geltend machen, bei demselben Massenschadensereignis geschädigt worden zu sein, sollten sich vor der Verkündung des Urteils oder der anderweitigen rechtsverbindlichen Beilegung der Streitsache jederzeit der Klagepartei anschließen können, sofern die ordnungsgemäße Rechtspflege dies zulässt.

24.

Der Beklagte sollte von der Zusammensetzung der Klagepartei und etwaiger Änderungen daran in Kenntnis gesetzt werden.

Alternative kollektive Streitbeilegungsverfahren und Vergleiche

25.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Parteien einer Streitsache, die ein Massenschadensereignis zum Gegenstand hat, sowohl in der vorgerichtlichen Phase als auch während des Zivilprozesses dazu angehalten werden, den Streit über einen Schadensersatzanspruch einvernehmlich oder in einem außergerichtlichen Verfahren beizulegen, wobei die Anforderungen der Richtlinie 2008/52/EG (8) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen zu beachten sind.

26.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass den Parteien vor und während eines Verfahrens neben gerichtlichen kollektiven Rechtsschutzverfahren geeignete alternative kollektive Streitbeilegungsverfahren zur Verfügung stehen. Solche Instrumente sollten nur mit Zustimmung der Beteiligten zur Anwendung kommen.

27.

Ab dem Zeitpunkt, zu dem die Parteien vereinbaren, den Streit im Wege eines alternativen Streitbeilegungsverfahrens beilegen zu wollen, bis mindestens zu dem Zeitpunkt, zu dem sich eine Partei oder beide Parteien ausdrücklich aus dem alternativen Streitbeilegungsverfahren zurückzieht beziehungsweise zurückziehen, sollte die für die Ansprüche geltende Verjährungsfrist gehemmt sein.

28.

Die Rechtmäßigkeit des verbindlichen Ergebnisses einer kollektiven Streitbeilegung sollte unter Berücksichtigung des Schutzes der Interessen und Rechte aller Beteiligten gerichtlich überprüft werden.

Rechtliche Vertretung und Anwaltshonorare

29.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Anwaltshonorare und die Methode zu deren Berechnung keinen Anreiz für Streitverfahren schaffen, die aus Sicht der Interessen der Parteien unnötig sind.

30.

Die Mitgliedstaaten sollten Erfolgshonorare, die einen solchen Anreiz schaffen könnten, nicht zulassen. Mitgliedstaaten, die ausnahmsweise Erfolgshonorare zulassen, sollten eine geeignete einzelstaatliche Gebührenregelung für Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes vorsehen und dabei insbesondere dem Recht der Mitglieder der Klagepartei auf vollständige Entschädigung Rechnung tragen.

Verbot des Strafschadensersatzes

31.

Der Schadensersatz, der bei einem Massenschadensereignis geschädigten natürlichen oder juristischen Personen zuerkannt wird, sollte den Betrag nicht übersteigen, der im Wege einer Individualklage hätte erwirkt werden können. Insbesondere sollte ein Strafschadensersatz verboten werden, der einen überhöhten Ausgleich des von der Klagepartei erlittenen Schadens zur Folge hätte.

Finanzierung kollektiver Schadensersatzverfahren

32.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass bei einer Finanzierung kollektiver Schadensersatzverfahren durch private Dritte nicht nur die allgemeinen Finanzierungsgrundsätze gelten, sondern auch verboten wird, die Vergütung, die der Geldgeber erhält, oder die von ihm verlangten Zinsen von der Höhe der Einigung oder dem zugesprochenen Schadensersatz abhängig zu machen, es sei denn, die Finanzierungsvereinbarung wird von einer Behörde kontrolliert, um die Interessen der Parteien zu wahren.

Kollektive Folgeklagen

33.

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass in Rechtsbereichen, in denen eine Behörde ermächtigt ist, die Verletzung von Unionsrecht im Wege einer Entscheidung festzustellen, kollektive Rechtsschutzverfahren prinzipiell erst dann eingeleitet werden sollten, wenn das vor Erhebung der Privatklage begonnene behördliche Verfahren endgültig abgeschlossen ist. Wird das behördliche Verfahren nach Erhebung des kollektiven Rechtsschutzverfahrens eingeleitet, sollte das Gericht davon absehen, eine Entscheidung zu fällen, die im Widerspruch zu der von der Behörde in Erwägung gezogenen Entscheidung stehen würde. Hierzu kann das Gericht das kollektive Rechtsschutzverfahren aussetzen, bis das behördliche Verfahren abgeschlossen ist.

34.

Die Mitgliedstaaten sollten bei Folgeklagen sicherstellen, dass die Personen, die einen Schaden geltend machen, nicht dadurch an der Verfolgung ihrer Schadensersatzansprüche gehindert werden, dass die Verjährungs- oder Ausschlussfristen vor dem endgültigen Abschluss des behördlichen Verfahrens abgelaufen sind.

VI.   ALLGEMEINE INFORMATIONEN

Register der Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes

35.

Die Mitgliedstaaten sollten ein einzelstaatliches Register der Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes einrichten.

36.

Alle interessierten Personen sollten elektronisch oder auf anderem Wege gebührenfrei auf das einzelstaatliche Register zugreifen können. Über die Webseiten, auf denen die Register veröffentlicht werden, sollte der Zugriff auf umfassende, objektive Informationen über die vorhandenen Schadensersatzinstrumente, darunter über außergerichtliche Verfahren, möglich sein.

37.

Die Mitgliedstaaten sollten sich mit Unterstützung der Kommission um die Kohärenz der in den Registern gespeicherten Informationen und um die Interoperabilität der Register bemühen.

VII.   KONTROLLE UND BERICHTERSTATTUNG

38.

Die Mitgliedstaaten sollten die in dieser Empfehlung enthaltenen Grundsätze spätestens am 26. Juli 2015 in ihre innerstaatlichen Systeme des kollektiven Rechtsschutzes integrieren.

39.

Die Mitgliedstaaten sollten die jährliche Anzahl der außergerichtlichen und gerichtlichen kollektiven Rechtsschutzverfahren zuverlässig erheben und Informationen über die Parteien, den Gegenstand und das Ergebnis der Verfahren erfassen.

40.

Die Mitgliedstaaten sollten die gemäß Randnummer 39 erhobenen Informationen jährlich der Kommission übermitteln, erstmals spätestens am 26. Juli 2016.

41.

Die Kommission sollte die Umsetzung der Empfehlung auf der Grundlage praktischer Erfahrungen spätestens am 26. Juli 2017 bewerten. In diesem Zusammenhang sollte die Kommission insbesondere die Auswirkungen der Empfehlung auf den Zugang zur Justiz, das Recht auf Schadensersatz, die Vermeidung missbräuchlicher Rechtsverfolgung sowie auf das Funktionieren des Binnenmarkts, auf KMU, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Europäischen Union und das Vertrauen der Verbraucher bewerten. Die Kommission sollte zudem bewerten, ob weitere Maßnahmen zur Konsolidierung und Stärkung der allgemeinen Ausrichtung der Empfehlung vorgeschlagen werden sollten.

Schlussbestimmungen

42.

Die Empfehlung sollte im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden.

Brüssel, den 11. Juni 2013

Für die Kommission

Der Präsident

José Manuel BARROSO


(1)  KOM(2005) 672 vom 19.12.2005.

(2)  KOM(2008) 165 vom 2.4.2008.

(3)  KOM(2008) 794 vom 27.11.2008.

(4)  KOM(2010) 135 endg. vom 31.3.2010.

(5)  2011/2089(INI).

(6)  COM(2013) 401 final.

(7)  ABl. L 110 vom 1.5.2009, S. 30.

(8)  ABl. L 136 vom 24.5.2008, S. 3.