14.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 315/57


RICHTLINIE 2012/29/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES

vom 25. Oktober 2012

über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (1),

nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen (2),

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (3),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Die Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln; Eckpfeiler dieses Raums ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen.

(2)

Die Union misst dem Schutz von Opfern von Straftaten und der Einführung von Mindeststandards diesbezüglich große Bedeutung bei, und zu diesem Zweck hat der Rat den Rahmenbeschluss 2001/220/JI vom 15. März 2001 über die Stellung von Opfern im Strafverfahren (4) erlassen. Im Stockholmer Programm — Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger (5), das der Europäische Rat auf seiner Tagung vom 10. und 11. Dezember 2009 angenommen hat, wurden die Kommission und die Mitgliedstaaten aufgefordert zu prüfen, wie die Rechtsvorschriften und die praktischen Unterstützungsmaßnahmen für den Opferschutz verbessert werden können vorrangig durch besondere Betreuung, Unterstützung und Anerkennung aller Opfer, einschließlich der Opfer des Terrorismus.

(3)

Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor, insbesondere in Bezug auf die Rechte der Opfer von Straftaten.

(4)

In seiner Entschließung vom 10. Juni 2011 über einen Fahrplan zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere in Strafverfahren (6) (Budapest-Fahrplan), stellte der Rat fest, dass auf Unionsebene Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Rechte, die Unterstützung und den Schutz der Opfer von Straftaten zu stärken. Zu diesem Zweck und entsprechend dieser Entschließung sollen mit dieser Richtlinie die in dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI dargelegten Grundsätze überarbeitet und ergänzt werden, und wesentliche Schritte hin zu einem höheren Niveau des Opferschutzes in der gesamten Union, insbesondere im Rahmen von Strafverfahren, ergriffen werden.

(5)

In seiner Entschließung vom 26. November 2009 zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (7) forderte das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, ihre einzelstaatlichen Gesetze und Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen zu verbessern und Schritte gegen die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu ergreifen, nicht zuletzt mittels vorbeugender Maßnahmen; die Union wurde aufgefordert, das Recht auf Beistand und Unterstützung für alle Opfer von Gewalt zu gewährleisten.

(6)

In seiner Entschließung vom 5. April 2011 zu den Prioritäten und Grundzügen einer neuen EU-Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (8) hat das Europäische Parlament eine Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen als Grundlage zukünftiger strafrechtlicher Instrumente gegen geschlechtsbezogene Gewalt vorgeschlagen, die einen Rahmen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen (Politik, Vorbeugung, Schutz, Strafverfolgung, Vorsorge und Partnerschaft) umfasst, der mit einem Aktionsplan der Union verfolgt werden soll. Zu den internationalen Rechtsvorschriften in diesem Bereich zählen das am 18. Dezember 1979 angenommene Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), die Empfehlungen und Beschlüsse des CEDAW-Ausschusses und das am 7. April 2011 angenommene Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

(7)

Mit der Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Europäische Schutzanordnung (9) wird ein Mechanismus zur gegenseitigen Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Strafsachen durch die Mitgliedstaaten eingeführt. Mit der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie (10) und der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (11) wird unter anderem auf die spezifischen Bedürfnisse dieser besonderen Kategorien von Opfern des Menschenhandels sowie des sexuellen Missbrauchs und der sexueller Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie eingegangen.

(8)

Im Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (12) wird anerkannt, dass der Terrorismus einen der schwersten Verstöße gegen die Grundsätze darstellt, auf denen die Union beruht, einschließlich des Grundsatzes der Demokratie, und es wird unterstrichen, dass er unter anderem eine Bedrohung für die freie Ausübung der Menschenrechte darstellt.

(9)

Eine Straftat stellt ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers dar. Die Opfer von Straftaten sollten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden, ohne irgendeine Diskriminierung etwa aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters, des Geschlechts, des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Ausrichtung, des Aufenthaltsstatus oder der Gesundheit. Bei allen Kontakten mit zuständigen Behörden, die im Rahmen des Strafverfahrens tätig werden, und mit Diensten, die in Kontakt mit Opfern von Straftaten kommen, wie Opferhilfsdiensten oder Wiedergutmachungsdiensten, sollte der persönlichen Situation und den unmittelbaren Bedürfnissen, dem Alter, dem Geschlecht, einer möglichen Behinderung und der Reife der Opfer von Straftaten Rechnung getragen und seine körperliche, geistige und moralische Integrität geachtet werden. Die Opfer von Straftaten sollten vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung geschützt werden, die nötige Unterstützung zur Bewältigung der Tatfolgen und ausreichenden Zugang zum Recht erhalten.

(10)

Diese Richtlinie hat nicht die Bedingungen für den Aufenthalt von Opfern von Straftaten im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zum Gegenstand. Die Mitgliedstaaten sollten die notwendigen Maßnahmen ergreifen um sicherzustellen, dass die Rechte gemäß dieser Richtlinie nicht vom Aufenthaltsstatus des Opfers in ihrem Hoheitsgebiet oder von der Staatsbürgerschaft oder der Nationalität des Opfers abhängig gemacht werden. Die Anzeige einer Straftat und das Auftreten in Strafprozessen verleihen keine Rechte in Bezug auf den Aufenthaltsstatus des Opfers.

(11)

Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um ein höheres Maß an Schutz vorzusehen.

(12)

Die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte berühren nicht die Rechte des Straftäters. Der Begriff „Straftäter“ bezieht sich auf eine Person, die wegen einer Straftat verurteilt wurde. Für die Zwecke dieser Richtlinie bezieht er sich jedoch auch auf eine verdächtige oder angeklagte Person, bevor ein Schuldeingeständnis oder eine Verurteilung erfolgt ist, und berührt nicht die Unschuldsvermutung.

(13)

Diese Richtlinie findet auf Straftaten, die in der Union begangen wurden, und auf Strafverfahren, die in der Union geführt werden, Anwendung. Für die Opfer von in Drittländern begangenen Straftaten begründet sie Rechte im Zusammenhang mit den Strafverfahren, die in der Union geführt werden. Anzeigen, die bei zuständigen Behörden außerhalb der Union, wie etwa Botschaften, erstattet wurden, führen nicht zu einer Anwendung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen.

(14)

Bei der Anwendung dieser Richtlinie muss das Wohl des Kindes entsprechend der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem am 20. November 1989 angenommenen Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Opfer im Kindesalter sollten alle in dieser Richtlinie festgelegten Rechte genießen und sollten als die vollen Inhaber dieser Rechte behandelt werden; sie sollten diese Rechte in einer Weise wahrnehmen dürfen, die ihrer Fähigkeit, sich selbst eine Meinung zu bilden, Rechnung trägt.

(15)

Bei der Anwendung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Opfer mit Behinderungen in gleicher Weise wie andere in den Genuss aller in dieser Richtlinie festgelegten Rechte kommen können; dazu zählt auch, dass die Zugänglichkeit von Gebäuden, in denen Strafverfahren verhandelt werden, und der Zugang zu Informationen erleichtert wird.

(16)

Opfer von Terrorismus sind das Ziel von Angriffen gewesen, die letztendlich der Gesellschaft schaden sollten. Aufgrund der besonderen Art der Straftat, die gegen sie begangen wurde, bedürfen sie deshalb möglicherweise besonderer Betreuung, Unterstützung und Schutz. Opfer von Terrorismus stehen mitunter deutlich im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und bedürfen oft der gesellschaftlichen Anerkennung und der respektvollen Behandlung durch die Gesellschaft. Die Mitgliedstaaten sollten daher den Bedürfnissen von Opfern von Terrorismus besonders Rechnung tragen und ihre Würde und Sicherheit zu schützen suchen.

(17)

Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Ausdrucks der Geschlechtlichkeit richtet, oder die Personen eines bestimmten Geschlechts überproportional stark betrifft, gilt als geschlechtsbezogene Gewalt. Sie kann zu physischen, sexuellen, seelischen oder psychischen Schäden oder zu wirtschaftlichen Verlusten des Opfers führen. Geschlechtsbezogene Gewalt gilt als eine Form der Diskriminierung und als eine Verletzung der Grundrechte des Opfers und schließt Gewalt in engen Beziehungen, sexuelle Gewalt (einschließlich Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung), Menschenhandel, Sklaverei und andere schädliche Praktiken wie Zwangsehen, Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane und sogenannte „Ehrenverbrechen“ ein. Weibliche Opfer geschlechtsbezogener Gewalt und ihre Kinder brauchen oft besondere Unterstützung und besonderen Schutz wegen des bei dieser Art der Gewalt bestehenden hohen Risikos von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung.

(18)

Wenn Gewalt in einer engen Beziehung ausgeübt wird, so geht diese Gewalt von einer Person aus, die der gegenwärtige oder ehemalige Ehepartner oder Lebenspartner oder ein anderes Familienmitglied des Opfers ist, ungeachtet des Umstands, ob der Täter mit dem Opfer in einer häuslichen Gemeinschaft gelebt hat oder nicht. Solche Gewalt kann physischer, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Art sein und zu körperlichen, mentalen oder seelischen Schäden oder zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Gewalt in engen Beziehungen ist ein ernstes und häufig verborgenes soziales Problem, das ein systematisches psychologisches und physisches Trauma mit ernsthaften Folgen verursachen kann, weil der Täter eine Person ist, der das Opfer trauen können sollte. Opfer von Gewalt in engen Beziehungen bedürfen daher möglicherweise besonderer Schutzmaßnahmen. Frauen sind überproportional von dieser Art von Gewalt betroffen, und die Situation kann noch schlimmer sein, wenn die Frau wirtschaftlich, sozial oder in Bezug auf ihr Aufenthaltsrecht von dem Täter abhängig ist.

(19)

Eine Person sollte unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde und unabhängig davon, ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Täter und der betroffenen Person besteht, als Opfer betrachtet werden. Auch die Familienangehörigen der Opfer können durch die Straftat einen Schaden erleiden. Insbesondere können Familienangehörige einer Person, deren Tod direkte Folge einer Straftat ist, durch die Straftat einen Schaden erleiden. Daher sollten die Schutzmaßnahmen dieser Richtlinie auch diesen Familienangehörigen, die indirekte Opfer der Straftat sind, zugute kommen. Allerdings sollten die Mitgliedstaaten Verfahren einrichten können, um die Zahl der Familienangehörigen, denen die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zugute kommen können, zu begrenzen. Bei Kindern sollte das Kind oder der Träger des elterlichen Sorgerechts — es sei denn, letzteres dient nicht dem Wohle des Kindes — die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte im Namen des Kindes wahrnehmen dürfen. Diese Richtlinie lässt einzelstaatliche Verwaltungsverfahren, die zur Bestätigung der Opfereigenschaft einer Person erforderlich sind, unberührt.

(20)

Die Stellung von Opfern in der Strafrechtsordnung und die Frage, ob sie aktiv am Strafverfahren teilnehmen können, sind im Einklang mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich und richten sich nach einem oder mehreren der folgenden Kriterien: ob in der nationalen Rechtsordnung die Rechtsstellung als Partei im Strafverfahren vorgesehen ist; danach, ob das Opfer gesetzlich zur aktiven Teilnahme am Strafverfahren — z. B. als Zeuge — verpflichtet ist oder dazu aufgefordert wird; und/oder danach, ob das Opfer nach einzelstaatlichem Recht einen Rechtsanspruch auf aktive Teilnahme am Strafverfahren hat und diesen Anspruch auch wahrnehmen will, wenn in der nationalen Rechtsordnung eine Rechtsstellung des Opfers als Partei im Strafverfahren nicht vorgesehen ist. Die Mitgliedstaaten sollten festlegen, welche dieser Kriterien einschlägig sind, um den Anwendungsbereich der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zu bestimmen, wenn Bezugnahmen auf die Stellung des Opfers in der einschlägigen Strafrechtsordnung vorhanden sind.

(21)

Die zuständigen Behörden, Opferhilfsdienste und Wiedergutmachungsdienste sollten Informationen und Ratschläge so weit wie möglich auf verschiedenen Kommunikationswegen und auf eine Weise erteilen, die das Opfer verstehen kann. Diese Informationen und Ratschläge sollten in einfacher und verständlicher Sprache erteilt werden. Ebenso sollte sichergestellt werden, dass sich das Opfer im Verfahren verständlich machen kann. Dabei sind die Kenntnisse des Opfers der Sprache, in der Informationen erteilt werden, sein Alter, seine Reife, seine intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, seine Lese- und Schreibfähigkeit und eine etwaige geistige oder körperliche Behinderung zu berücksichtigen. Besonders berücksichtigt werden sollten Verständnis- oder Verständigungsprobleme, die aus einer Behinderung resultieren können, beispielsweise Hör- oder Sprachprobleme. Darüber hinaus sollte auf Kommunikationsschwierigkeiten des Opfers in Strafverfahren Rücksicht genommen werden.

(22)

Für die Zwecke dieser Richtlinie sollte davon ausgegangen werden, dass die Erstattung einer Anzeige in den Rahmen des Strafverfahrens fällt. Dies sollte auch für Situationen gelten, in denen Behörden infolge einer von einem Opfer erlittenen Straftat von Amts wegen ein Strafverfahren einleiten.

(23)

Informationen über die Erstattung von Ausgaben sollten ab der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde beispielsweise in einer Broschüre, in der die grundlegenden Voraussetzungen für die Erstattung von Ausgaben aufgeführt sind, erteilt werden. Die Mitgliedstaaten sollten in dieser frühen Phase des Strafverfahrens nicht entscheiden müssen, ob das betreffende Opfer die Voraussetzungen für eine Ausgabenerstattung erfüllt.

(24)

Opfer sollten von der Polizei eine schriftliche Bestätigung ihrer Anzeige mit den grundlegenden Angaben zu der Straftat wie der Art der Straftat, der Tatzeit und dem Tatort und den durch die Straftat verursachten Schaden erhalten, wenn sie eine Straftat anzeigen. Diese Bestätigung sollte ein Aktenzeichen und den Zeitpunkt und den Ort der Anzeigeerstattung enthalten, damit sie als Nachweis der Anzeigeerstattung beispielsweise in Bezug auf einen Versicherungsanspruch dienen kann.

(25)

Unbeschadet der Vorschriften über die Verjährungsfristen sollte eine Verzögerung bei der Anzeige einer Straftat wegen der Angst vor Vergeltung, Erniedrigung oder Stigmatisierung nicht dazu führen, dass die Anzeige des Opfers nicht entgegengenommen wird.

(26)

Die Opfer sollten so genau informiert werden, dass sichergestellt ist, dass sie eine respektvolle Behandlung erfahren und in Kenntnis der Sachlage über ihre Beteiligung am Verfahren entscheiden können. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterrichtung des Opfers über den Stand des Verfahrens. Dies gilt auch für Informationen, die es dem Opfer ermöglichen zu entscheiden, ob es die Überprüfung der Entscheidung, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, beantragen soll. Sofern nicht anders bestimmt, sollte es möglich sein, die Informationen dem Opfer mündlich oder schriftlich — auch auf elektronischem Weg — zu erteilen.

(27)

Informationen für das Opfer sollten an die letzte bekannte Postanschrift oder anhand der elektronischen Kontaktangaben, die das Opfer der zuständigen Behörde mitgeteilt hat, übermittelt werden. In Ausnahmefällen, beispielsweise aufgrund der hohen Zahl der Opfer in einem Fall, sollte es möglich sein, die Informationen über die Presse, eine offizielle Website der zuständigen Behörde oder einen vergleichbaren Kommunikationsweg bereitzustellen.

(28)

Die Mitgliedstaaten sollten nicht verpflichtet sein, Informationen in Fällen bereitzustellen, in denen eine Offenlegung dieser Informationen die ordnungsgemäße Behandlung eines Falls beeinträchtigen oder einem bestimmten Fall oder einer bestimmten Person schaden könnte, oder wenn sie der Ansicht sind, dass dies ihren wesentlichen Sicherheitsinteressen widersprechen würde.

(29)

Die zuständigen Behörden sollten sicherstellen, dass die Opfer aktualisierte Kontaktangaben für die ihren Fall betreffenden Mitteilungen erhalten, es sei denn, dass das Opfer den Wunsch geäußert hat, derartige Informationen nicht zu erhalten.

(30)

Die Bezugnahme auf eine „Entscheidung“ im Zusammenhang mit dem Recht auf Information und auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sollte lediglich als eine Bezugnahme auf den Schuldspruch oder eine anderweitige Beendigung des Strafverfahrens gelten. Die Gründe für diese Entscheidung sollten dem Opfer entweder durch eine Ausfertigung des Schriftstücks, in dem die Entscheidung wiedergegeben ist, oder durch eine kurze Zusammenfassung der Gründe mitgeteilt werden.

(31)

Das Recht auf Mitteilung des Zeitpunkts und des Orts der Verhandlung, die aufgrund der Anzeige einer Straftat, die das Opfer erlitten hat, stattfindet, sollte auch für die Mitteilung des Zeitpunkts und des Orts einer Sitzung im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf gegen das in dem Fall ergangene Urteil gelten.

(32)

Die Opfer sollten zumindest in den Fällen, in denen für sie eine Gefahr oder ein festgestelltes Risiko einer Schädigung bestehen kann, auf Antrag über die Freilassung oder die Flucht des Täters in Kenntnis gesetzt werden, es sei denn, dass festgestellt wird, dass die Inkenntnissetzung das Risiko einer Schädigung des Straftäters birgt. Wird festgestellt, dass die Inkenntnissetzung das Risiko einer Schädigung des Straftäters birgt, so sollte die zuständige Behörde allen anderen Risiken Rechnung tragen, wenn sie über geeignete Maßnahmen entscheidet. Bei der Bezugnahme auf ein „festgestelltes Risiko einer Schädigung der Opfer“ sollten Faktoren wie die Art und die Schwere der Straftat und das Risiko der Vergeltung zugrunde gelegt werden. Sie sollte daher nicht in Situationen zum Tragen kommen, in denen geringfügige Straftaten begangen wurden und daher nur ein geringes Risiko besteht, dass das Opfer eine Schädigung erfährt.

(33)

Opfer sollten über ein etwaiges Recht, gegen eine Entscheidung über die Freilassung des Täters Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden, wenn nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ein solches Recht besteht.

(34)

Dem Recht kann nur dann Geltung verschafft werden, wenn Opfer die Umstände der Tat genau erklären und eine Aussage machen können, die die zuständigen Behörden verstehen können. Gleichermaßen wichtig ist es zu gewährleisten, dass die Opfer respektvoll behandelt werden und ihre Rechte wahrnehmen können. Daher sollten während der Vernehmung des Opfers und um ihm die aktive Teilnahme am Gerichtsverfahren entsprechend der Stellung des Opfers in der jeweiligen Strafrechtsordnung zu ermöglichen, stets kostenlose Dolmetschdienste zur Verfügung stehen. In anderen Stadien des Strafverfahrens kann der Bedarf einer Dolmetschleistung und Übersetzung von spezifischen Aspekten, der Stellung des Opfers in der jeweiligen Strafrechtsordnung und seiner Verfahrensbeteiligung sowie von besonderen Rechten des Opfers abhängen. Daher muss in diesen Fällen für eine Dolmetschleistung und Übersetzung nur soweit gesorgt werden, wie das Opfer für die Wahrnehmung seiner Rechte darauf angewiesen ist.

(35)

Das Opfer sollte das Recht haben, eine Entscheidung, mit der die Dolmetschleistung oder Übersetzung für unnötig befunden wird, gemäß den in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren anzufechten. Durch dieses Recht werden die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, einen gesonderten Mechanismus oder ein gesondertes Beschwerdeverfahren einzurichten, mit dem solche Entscheidungen angefochten werden können, und sollten die Strafverfahren nicht ungebührlich verlängert werden. Eine interne Überprüfung der Entscheidung gemäß den bestehenden einzelstaatlichen Verfahren würde ausreichen.

(36)

Der Umstand, dass ein Opfer eine weniger stark verbreitete Sprache spricht, sollte an sich keine Begründung für eine Entscheidung sein, dass eine Dolmetschleistung oder Übersetzung das Strafverfahren ungebührlich verlängern würde.

(37)

Von dem Zeitpunkt an, zu dem die zuständigen Behörden Kenntnis von dem Opfer haben, während des Strafverfahrens wie auch für einen angemessenen Zeitraum nach dem Verfahren sollte dem Opfer im Einklang mit seinen Bedürfnissen und den in dieser Richtlinie festgelegten Rechten Unterstützung gewährt werden. Die Unterstützung sollte auf verschiedene Art und Weise ohne unnötige Formalitäten geleistet werden und in hinreichender geografischer Verteilung im ganzen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen, so dass alle Opfer darauf zurückgreifen können. Opfer, die aufgrund der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben, könnten spezialisierte Unterstützungsdienste benötigen.

(38)

Personen, die besonders schutzbedürftig sind oder die sich in Situationen befinden, in denen sie einem besonders hohen Risiko einer Schädigung ausgesetzt sind, wie beispielsweise Personen, die wiederholter Gewalt in engen Beziehungen ausgesetzt sind, Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt oder Personen, die Opfer anderer Arten von Straftaten in einem Mitgliedstaat werden, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen oder in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben, sollte spezialisierte Unterstützung und rechtlicher Schutz gewährt werden. Spezialisierte Unterstützungsdienste sollten auf einem integrierten und gezielten Ansatz beruhen, bei dem insbesondere den besonderen Bedürfnissen der Opfer, der Schwere der aufgrund der Straftat erlittenen Schädigung sowie dem Verhältnis zwischen Opfern, Tätern, Kindern und ihrem weiteren sozialen Umfeld Rechnung getragen wird. Eine Hauptaufgabe dieser Dienste und ihres Personals, die eine wichtige Rolle dabei spielen, das Opfer bei der Erholung und der Überwindung von einer etwaigen Schädigung oder einem etwaigen Trauma infolge der Straftat zu unterstützen, sollte darin bestehen, Opfer über die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zu informieren, damit Opfer in einer verständnisvollen Umgebung, in der sie würdevoll, respektvoll und einfühlsam behandelt werden, Entscheidungen treffen können. Zu der Unterstützung, die solche spezialisierten Unterstützungsdienste bieten sollten, könnten unter anderem Obdach und sichere Unterbringung, sofortige medizinische Hilfe, die Veranlassung einer ärztlichen und gerichtsmedizinischen Untersuchung im Hinblick auf die Beweiserhebung in Fällen der Vergewaltigung oder sexueller Übergriffe, kurz- und langfristige psychologische Betreuung, Traumabehandlung, Rechtsberatung, anwaltliche Unterstützung und spezifische Dienste für Kinder, die direkt oder indirekt Opfer sind, gehören.

(39)

Opferunterstützungsdienste sind nicht verpflichtet, selbst umfassende spezialisierte Fachkompetenz zur Verfügung zu stellen. Opferunterstützungsdienste sollten erforderlichenfalls Opfern dabei helfen, vorhandene professionelle Hilfe beispielsweise durch Psychologen in Anspruch zu nehmen.

(40)

Zwar sollte die Leistung der Unterstützung nicht davon abhängig sein, ob das Opfer die Straftat bei einer zuständigen Behörde, wie der Polizei, angezeigt hat, doch sind diese Behörden oft am besten in der Lage, die Opfer über die Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren. Die Mitgliedstaaten sollten daher angemessene Voraussetzungen dafür schaffen, dass Opfer an Opferunterstützungsdienste vermittelt werden können, unter anderem durch die Gewährleistung, dass die datenschutzrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden können und auch tatsächlich eingehalten werden. Wiederholte Vermittlungen sollten vermieden werden.

(41)

Das Recht des Opfers auf rechtliches Gehör sollte als gewahrt gelten, wenn das Opfer schriftliche Erklärungen oder Erläuterungen abgeben darf.

(42)

Das Recht von Opfern im Kindesalter, in Strafverfahren gehört zu werden, sollte nicht allein deshalb ausgeschlossen werden, weil das Opfer ein Kind ist, und auch nicht aufgrund des Alters des Opfers.

(43)

Das Recht, eine Entscheidung über den Verzicht auf eine Strafverfolgung überprüfen zu lassen, sollte dahingehend verstanden werden, dass dies Entscheidungen betrifft, die von Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern oder von Strafverfolgungsbehörden wie Polizeibediensteten erlassen wurden, nicht aber gerichtliche Entscheidungen. Die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf eine Strafverfolgung sollte von einer anderen Person oder Behörde vorgenommen werden als derjenigen, die die Entscheidung getroffen hatte, es sei denn, dass die ursprüngliche Entscheidung, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, von der obersten Strafverfolgungsbehörde getroffen wurde, deren Entscheidung keiner Überprüfung unterzogen werden darf; in diesem Fall kann die Überprüfung von derselben Behörde vorgenommen werden. Das Recht, eine Entscheidung über den Verzicht auf eine Strafverfolgung überprüfen zu lassen, betrifft nicht Sonderverfahren wie Verfahren gegen Parlaments- oder Regierungsmitglieder im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Amtes.

(44)

Eine Entscheidung über die Beendigung eines Strafverfahrens sollte auch die Fälle abdecken, in denen ein Staatsanwalt entscheidet, die Anklage zurückzuziehen oder das Verfahren einzustellen.

(45)

Eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die zu einer außergerichtlichen Regelung und damit zu einer Beendigung des Strafverfahrens führt, schließt ein Opfer nur dann von dem Recht auf Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, aus, wenn mit der Regelung eine Verwarnung oder eine Verpflichtung einhergeht.

(46)

Wiedergutmachungsdienste, darunter die Mediation zwischen Straftäter und Opfer, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise, können für das Opfer sehr hilfreich sein, doch bedarf es Schutzmaßnahmen zur Vermeidung einer sekundären oder wiederholten Viktimisierung, Einschüchterung oder Vergeltung. Bei solchen Verfahren sollten daher die Interessen und Bedürfnisse des Opfers in den Mittelpunkt gestellt, eine Schädigung des Opfers wiedergutgemacht und eine weitere Schädigung vermieden werden. Faktoren wie die Art und Schwere der Straftat, der Grad der verursachten Traumatisierung, die wiederholte Verletzung der körperlichen, sexuellen oder psychischen Unversehrtheit des Opfers, ungleiches Kräfteverhältnis sowie Alter, Reife oder geistige Fähigkeiten des Opfers, die seine Fähigkeit zu einer Entscheidung in Kenntnis der Sachlage begrenzen oder vermindern oder ein für das Opfer positives Ergebnis verhindern könnten, sollten bei der Wahl des Wiedergutmachungsdienstes und bei der Durchführung eines Wiedergutmachungsverfahrens in Betracht gezogen werden. Wiedergutmachungsverfahren sollten grundsätzlich vertraulich sein, soweit von den Betroffenen nicht anders vereinbart und soweit nicht nach einzelstaatlichem Recht wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses anders erforderlich. Es kann als im öffentlichen Interesse erforderlich angesehen werden, bestimmte Umstände wie Drohungen oder sonstige Formen der Gewalt, zu denen es während des Verfahrens kommt, bekanntzumachen.

(47)

Opfern sollten durch die Teilnahme am Strafverfahren keine Kosten entstehen. Die Mitgliedstaaten sollten nur die notwendigen Kosten der Opfer erstatten müssen, die durch deren Teilnahme am Strafverfahren entstehen, nicht aber die Rechtsanwaltskosten der Opfer. Die Mitgliedstaaten sollten im einzelstaatlichen Recht Bedingungen für die Kostenerstattung vorschreiben können, wie etwa Fristen für die Beantragung der Erstattung, Standardsätze für Aufenthalts- und Reisekosten und tägliche Höchstbeträge für den Ersatz des Verdienstausfalls. Der Anspruch auf Kostenerstattung in einem Strafverfahren sollte nicht in einem Fall entstehen, in denen ein Opfer eine Aussage zu einer Straftat macht. Eine Pflicht zur Kostenerstattung sollte nur insoweit bestehen, als das Opfer verpflichtet ist oder von den zuständigen Behörden aufgefordert wird, anwesend zu sein und aktiv an dem Strafverfahren teilzunehmen.

(48)

Im Rahmen von Strafverfahren beschlagnahmte Vermögenswerte, die für eine Rückgabe in Frage kommen, sollten dem Opfer der Straftat so schnell wie möglich zurückgegeben werden, vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände wie im Rahmen einer Streitigkeit hinsichtlich des Eigentums oder wenn der Besitz oder der Vermögenswert an sich nicht rechtmäßig ist. Das Recht auf Rückgabe der Vermögenswerte sollte ihre rechtmäßige Einbehaltung für die Zwecke eines anderen Gerichtsverfahrens unberührt lassen.

(49)

Das Recht auf eine Entscheidung über Entschädigung durch den Straftäter und das einschlägige anwendbare Verfahren sollten auch für Opfer gelten, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Straftat begangen wurde, ansässig sind.

(50)

Die in dieser Richtlinie festgelegte Verpflichtung zur Übermittlung von Anzeigen sollte die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Verfahrenseinleitung nicht beeinträchtigen und lässt die im Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (13) festgelegten Vorschriften zu Konflikten bei der Wahrnehmung der Gerichtszuständigkeit unberührt.

(51)

Hat das Opfer das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem die Straftat begangen wurde, verlassen, so sollte dieser Mitgliedstaat nicht mehr verpflichtet sein, ihm Hilfe, Unterstützung und Schutz zu gewähren, es sei denn, dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Strafverfahren, die der Mitgliedstaat aufgrund der betreffenden Straftat durchführt, wie es bei besonderen Schutzmaßnahmen während des Gerichtsverfahrens der Fall wäre. Der Mitgliedstaat, in dem das Opfer seinen Wohnsitz hat, sollte in einem Umfang Hilfe, Unterstützung und Schutz gewähren, der der Erholungsbedürftigkeit des Opfers gerecht wird.

(52)

Es sollten Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit und Würde der Opfer und ihrer Familienangehörigen vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung, wie einstweilige Verfügungen oder Schutz- und Verbotsanordnungen, zur Verfügung stehen.

(53)

Das Risiko einer sekundären und wiederholten Viktimisierung, der Einschüchterung und der Vergeltung entweder durch den Straftäter oder infolge der Teilnahme am Strafverfahren sollte begrenzt werden, indem Verfahren auf koordinierte und respektvolle Weise so durchgeführt werden, dass die Opfer Vertrauen in die Behörden fassen können. Die Interaktion mit den zuständigen Behörden sollte dem Opfer so leicht wie möglich gemacht und unnötige Interaktion sollte vermieden werden, beispielsweise indem Vernehmungen auf Video aufgezeichnet werden und die Verwendung dieser Aufzeichnungen im Gerichtsverfahren zugelassen wird. Den Angehörigen der Rechtsberufe sollte ein möglichst breites Spektrum an Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden, um dem Opfer seelische Belastungen im Gerichtsverfahren insbesondere infolge von Sichtkontakt mit dem Täter, seiner Familie, Personen seines Umfelds oder dem Publikum zu ersparen. Hierzu sollten die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, insbesondere hinsichtlich Gerichtsgebäuden und Polizeistationen realisierbare und praktische Maßnahmen einzuführen, durch denen den Einrichtungen ermöglicht wird, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, wie getrennte Eingänge und Wartezonen, für Opfer. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten nach Möglichkeit Strafverfahren so planen, dass Kontakte zwischen Opfern und ihren Familienangehörigen und Tätern vermieden werden, indem beispielsweise Opfer und Täter zu unterschiedlichen Zeiten zu Vernehmungen einbestellt werden.

(54)

Der Schutz der Privatsphäre des Opfers kann ein wichtiges Mittel zur Vermeidung von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung sein und durch eine Vielfalt von Maßnahmen erreicht werden, unter anderem durch die Nichtbekanntgabe oder die nur begrenzte Bekanntgabe von Informationen zur Identität und zum Aufenthalt des Opfers. Ein solcher Schutz ist bei Opfern im Kindesalter besonders wichtig und schließt die Geheimhaltung des Namens des Kindes ein. Es kann jedoch auch Fälle geben, in denen es ausnahmsweise zum Nutzen des Kindes wäre, wenn Informationen bekanntgegeben oder sogar einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, zum Beispiel im Falle einer Kindesentführung. Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre und des Rechts der Opfer und ihrer Familienangehörigen am eigenen Bild sollten stets mit dem Recht auf ein faires Verfahren und der Freiheit zur Meinungsäußerung im Einklang stehen, wie sie in den Artikeln 6 und 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt sind.

(55)

Bestimmte Opfer sind während des Strafverfahrens in besonderem Maße in Gefahr einer sekundären und wiederholten Viktimisierung, einer Einschüchterung und Vergeltung durch den Täter ausgesetzt zu sein. Eine solche Gefährdung ergibt sich möglicherweise aus den persönlichen Merkmalen des Opfers sowie dem Wesen oder der Art oder den Umständen der Straftat. Eine solche Gefährdung kann nur anhand individueller Begutachtungen, die möglichst frühzeitig vorgenommen werden sollte, wirksam festgestellt werden. Solche Begutachtungen sollten bei allen Opfern vorgenommen werden, um festzustellen, ob eine Gefährdung hinsichtlich einer sekundären und wiederholten Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung vorliegt und welche besonderen Schutzmaßnahmen erforderlich sind.

(56)

Individuelle Begutachtungen sollten die persönlichen Merkmale des Opfers berücksichtigen, wie Alter, Geschlecht, Geschlechtsidentität, Ausdruck der Geschlechtlichkeit, ethnische Zugehörigkeit, Rasse, Religion, sexuelle Ausrichtung, Gesundheitszustand, Behinderungen, Aufenthaltsstatus, Kommunikationsschwierigkeiten, Beziehung zu dem oder Abhängigkeit vom Täter und vorherige Konfrontation mit einer Straftat. Sie sollten auch das Wesen oder die Art und die Umstände der Straftat berücksichtigen, etwa ob es sich um Hassverbrechen, in diskriminierender Absicht begangene Verbrechen, sexuelle Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen handelt, ob der Täter die Kontrolle hatte, ob der Wohnort des Opfers in einer von hoher Kriminalität gekennzeichneten oder von Banden dominierten Gegend liegt oder ob das Herkunftsland des Opfers nicht der Mitgliedstaat ist, in dem die Straftat begangen wurde.

(57)

Opfer von Menschenhandel, Terrorismus, organisierter Kriminalität, Gewalt in engen Beziehungen, sexueller Gewalt oder Ausbeutung, geschlechtsbezogener Gewalt oder Hassverbrechen und Opfer mit Behinderungen und Opfer im Kindesalter sind in hohem Maße einer sekundären und wiederholten Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung ausgesetzt. Die Frage, ob bei solchen Opfern die Gefahr einer solchen Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung besteht, sollte besonders sorgfältig begutachtet werden, und es sollte die hohe Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden, dass solche Opfer besonderer Schutzmaßnahmen bedürfen.

(58)

Opfer, deren besonderer Bedarf an Schutz vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung festgestellt wurde, sollten während des Strafverfahrens durch angemessene Maßnahmen geschützt werden. Die genaue Art solcher Maßnahmen sollte durch die individuelle Begutachtung und unter Berücksichtigung der Wünsche des Opfers festgelegt werden. Der Umfang solcher Maßnahmen sollte unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit den Regelungen über den gerichtlichen Ermessensspielraum festgelegt werden. Die Bedenken und Befürchtungen des Opfers, was das Verfahren anbelangt, sollten bei der Feststellung, ob besondere Maßnahmen für das Opfer erforderlich sind, von zentraler Bedeutung sein.

(59)

Aufgrund unmittelbarer operativer Erfordernisse und Zwänge kann es unter Umständen nicht möglich sein, dass die Vernehmungen des Opfers durchgängig von demselben Polizeibediensteten durchgeführt werden; solche operativen Zwänge sind zum Beispiel Krankheit, Mutterschutz oder Elternurlaub. Zudem kann es zum Beispiel aufgrund von Renovierungsarbeiten möglich sein, dass keine Räumlichkeiten vorhanden sind, die speziell für die Vernehmung von Opfern ausgelegt wären. Liegen solche operativen oder praktischen Zwänge vor, kann es in Einzelfällen unmöglich sein, die aufgrund einer individuellen Begutachtung für nötig befundene besondere Maßnahme anzubieten.

(60)

Muss nach dieser Richtlinie ein Vormund oder Vertreter für ein Kind bestellt werden, so kann eine natürliche oder eine juristische Person, eine Einrichtung oder eine Behörde diese Funktion(en) übernehmen.

(61)

An Strafverfahren beteiligte Amtsträger, die voraussichtlich mit den Opfern in persönlichen Kontakt kommen, sollten Zugang zu angemessenen einführenden Schulungen und Weiterbildungen in einem ihrem Kontakt zu Opfern angemessenen Umfang erhalten und daran teilnehmen können, damit sie in der Lage sind, die Opfer und ihre Bedürfnisse zu erkennen und auf respektvolle, einfühlsam, professionelle und diskriminierungsfreie Weise mit ihnen umzugehen. Personen, die voraussichtlich an der individuellen Begutachtung beteiligt sind, um die besonderen Schutzbedürfnisse von Opfern zu ermitteln und ihren Bedarf an besonderen Schutzmaßnahmen festzulegen, sollten besonders darin ausgebildet werden, wie eine solche Begutachtung vorzunehmen ist. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass solche Schulungsmaßnahmen für Polizeidienste und Gerichtsbedienstete verfügbar sind. Auch für Anwälte, Staatsanwälte und Richter sowie für Angehörige der Rechtsberufe, die Opferunterstützung oder Wiedergutmachungsdienste leisten, sollten Schulungen gefördert werden. Dies sollte auch Schulungen zu besonderen Opferunterstützungsdiensten umfassen, auf die Opfer hingewiesen werden sollten, sowie eine Fachausbildung, wenn ihre Tätigkeit sich auf Opfer mit besonderen Bedürfnissen erstreckt, sowie gegebenenfalls eine geeignete spezielle psychologische Schulung. Gegebenenfalls sollten die Schulungsmaßnahmen geschlechtersensibel sein. Die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Schulungen ergreifen, sollten im Einklang mit dem Budapest-Fahrplan durch Leitlinien, Empfehlungen und den Austausch bewährter Praktiken ergänzt werden.

(62)

Die Mitgliedstaaten sollten Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter anerkannte und aktive nichtstaatliche Organisationen, die sich Verbrechensopfern annehmen, fördern und insbesondere bei der Konzipierung strategischer Initiativen, Informations- und Sensibilisierungskampagnen, Forschungs- und Bildungsprogrammen und Schulungsmaßnahmen sowie bei der Überwachung und Bewertung der Folgen von Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Verbrechensopfern eng mit ihnen zusammenarbeiten. Damit Opfer von Straftaten in ausreichender Weise Hilfe, Unterstützung und Schutz erhalten, sollten die öffentlichen Dienste koordiniert arbeiten und auf allen Verwaltungsebenen — auf Unionsebene wie auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene — einbezogen werden. Opfer sollten dabei unterstützt werden, die zuständigen Behörden zu finden und mit ihnen Kontakt aufzunehmen, um wiederholte Verweisungen zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten sollten die Einrichtung „zentraler Anlaufstellen“ prüfen, die auf die zahlreichen Bedürfnisse der an einem Strafverfahren beteiligten Opfer eingehen, zu denen auch das Bedürfnis nach Information, Hilfe, Unterstützung, Schutz und Entschädigung zählt.

(63)

Um die Opfer zur Anzeige von Straftaten zu ermutigen, die Anzeige zu erleichtern und den Opfern die Möglichkeit zu geben, den Kreislauf wiederholter Viktimisierung zu unterbrechen, ist es unbedingt notwendig, dass den Opfern verlässliche Unterstützungsdienste zur Verfügung stehen und dass die zuständigen Behörden in der Lage sind, auf die Anzeigen der Opfer in einer respektvollen, einfühlsamen, professionellen und diskriminierungsfreien Art und Weise zu reagieren. Hierdurch könnte das Vertrauen von Opfern in die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten erhöht und die Zahl der nicht angezeigten Straftaten verringert werden. Angehörige der Rechtsberufe, bei denen Opfer voraussichtlich Straftaten anzeigen, sollten angemessen geschult werden, damit die Anzeige von Straftaten erleichtert wird; ferner sollten Maßnahmen ergriffen werden, durch die Dritte in die Lage versetzt werden, Anzeige zu erstatten, was auch unter Mitwirkung von Organisationen der Zivilgesellschaft erfolgen kann. Es sollte die Möglichkeit bestehen, Kommunikationstechnologien wie E-Mail, Videoaufzeichnungen oder elektronische Formulare für die Anzeigeerstattung zu nutzen.

(64)

Eine systematische und angemessene statistische Datenerhebung wird als wesentlicher Bestandteil einer wirksamen Politikgestaltung auf dem Gebiet der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte anerkannt. Um die Bewertung der Anwendung dieser Richtlinie zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten der Kommission relevante statistische Daten über die Anwendung einzelstaatlicher Verfahren in Bezug auf Opfer von Straftaten übermitteln, wozu zumindest die Zahl und die Art der angezeigten Straftaten und, soweit diese Daten bekannt und verfügbar sind, die Zahl, das Alter und das Geschlecht der Opfer gehören sollten. Relevante statistische Daten können Daten sein, die von den Justiz- und Strafverfolgungsbehörden erfasst werden, und soweit möglich administrative Daten, die von Gesundheits- und Sozialfürsorgediensten, von öffentlichen sowie nichtstaatlichen Opferunterstützungsdiensten oder Wiedergutmachungsdiensten sowie von anderen Organisationen, die sich Opfern von Straftaten annehmen, zusammengestellt werden. Justizielle Daten können Informationen über angezeigte Straftaten, die Zahl der Fälle, in denen ermittelt wird, sowie die Zahl der strafrechtlich verfolgten und abgeurteilten Personen umfassen. Administrative Daten zu den bereitgestellten Diensten können soweit möglich Daten umfassen, aus denen hervorgeht, wie die Opfer die von staatlichen Stellen und von öffentlichen und privaten Unterstützungsorganisationen angebotenen Dienste nutzen, wie etwa die Zahl der durch die Polizei erfolgten Vermittlungen an Opferunterstützungsdienste und die Zahl der Opfer, die Unterstützung oder Wiedergutmachung beantragen und erhalten bzw. nicht erhalten.

(65)

Diese Richtlinie soll die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI ändern und ausweiten. Da es sich um sehr zahlreiche und wesentliche Änderungen handelt, sollte dieser Rahmenbeschluss aus Gründen der Klarheit für diejenigen Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, vollständig ersetzt werden.

(66)

Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie soll insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Eigentumsrecht, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Rechte des Kindes, älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung und das Recht auf ein faires Verfahren stärken.

(67)

Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Festlegung von Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher wegen seiner Bedeutung und der möglichen Auswirkungen besser auf Unionsebene zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.

(68)

Die bei der Durchführung dieser Richtlinie zu verarbeitenden personenbezogenen Daten sollten gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/977/JI des Rates vom 27. November 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden (14), und gemäß den Grundsätzen des Übereinkommens des Europarates vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten, das alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben, geschützt werden.

(69)

Diese Richtlinie lässt die weiterreichenden Bestimmungen in anderen Rechtsakten der Union unberührt, die gezielter die Bedürfnisse besonderer Gruppen von Opfern, wie den Opfern des Menschenhandels und den Opfern des sexuellen Kindesmissbrauchs, der sexuellen Ausbeutung und von Kinderpornografie, behandeln.

(70)

Gemäß Artikel 3 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben diese Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie beteiligen möchten.

(71)

Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie und ist daher weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.

(72)

Der Europäische Datenschutzbeauftragte hat am 17. Oktober 2011 eine Stellungnahme (15) gestützt auf Artikel 41 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (16) abgegeben —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

KAPITEL 1

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

Artikel 1

Ziele

(1)   Ziel dieser Richtlinie ist es sicherzustellen, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer anerkannt werden und bei allen Kontakten mit Opferunterstützungs- und Wiedergutmachungsdiensten oder zuständigen Behörden, die im Rahmen des Strafverfahrens tätig werden, eine respektvolle, einfühlsame, individuelle, professionelle und diskriminierungsfreie Behandlung erfahren. Die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte gelten für die Opfer ohne Diskriminierung, auch in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus.

(2)   Handelt es sich bei dem Opfer um ein Kind, so stellen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung dieser Richtlinie sicher, dass das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt gestellt und individuell geprüft wird. Es muss eine kindgerechte Vorgehensweise befolgt werden, wobei dem Alter des Kindes, seiner Reife sowie seinen Ansichten, Bedürfnissen und Sorgen gebührend Rechnung zu tragen ist. Das Kind und gegebenenfalls der Träger des elterlichen Sorgerechts oder der andere rechtliche Vertreter müssen über alle Maßnahmen oder Rechte informiert werden, die besonders auf das Kind ausgerichtet sind.

Artikel 2

Begriffsbestimmungen

1.   Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

„Opfer“

i)

eine natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat;

ii)

Familienangehörige einer Person, deren Tod eine direkte Folge einer Straftat ist, und die durch den Tod dieser Person eine Schädigung erlitten haben;

b)

„Familienangehörige“ den Ehepartner des Opfers, die Person, die mit dem Opfer stabil und dauerhaft in einer festen intimen Lebensgemeinschaft zusammenlebt und mit ihm einen gemeinsamen Haushalt führt, sowie die Angehörigen in direkter Linie, die Geschwister und die Unterhaltsberechtigten des Opfers;

c)

„Kind“ eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat;

d)

„Wiedergutmachung“ ein Verfahren, das Opfer und Täter, falls sie sich aus freien Stücken dafür entscheiden, in die Lage versetzt, sich mit Hilfe eines unparteiischen Dritten aktiv an einer Regelung der Folgen einer Straftat zu beteiligen.

2.   Die Mitgliedstaaten können Verfahren einführen,

a)

um die Zahl der Familienangehörigen, denen die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zugute kommen können, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu begrenzen, und

b)

um im Zusammenhang mit Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii zu bestimmen, welche Familienangehörigen in Bezug auf die Ausübung der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte Vorrang haben.

KAPITEL 2

INFORMATION UND UNTERSTÜTZUNG

Artikel 3

Recht, zu verstehen und verstanden zu werden

(1)   Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Opfer dahin gehend zu unterstützen, dass diese von der ersten Kontaktaufnahme an und bei allen notwendigen weiteren Kontakten mit einer zuständigen Behörde im Zusammenhang mit einem Strafverfahren verstehen und auch selbst verstanden werden, einschließlich was die von dieser Behörde erteilten Informationen anbelangt.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die mündliche und schriftliche Kommunikation mit Opfern in einfacher und verständlicher Sprache geführt wird. Bei dieser Kommunikation wird den persönlichen Merkmalen des Opfers — einschließlich Behinderungen, die seine Fähigkeit, zu verstehen oder verstanden zu werden, beeinträchtigen können — Rechnung getragen.

(3)   Sofern dies nicht den Interessen des Opfers zuwiderläuft oder den Lauf des Verfahrens beeinträchtigt, gestatten die Mitgliedstaaten, dass das Opfer sich bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde von einer Person seiner Wahl begleiten lässt, wenn das Opfer aufgrund der Auswirkungen der Straftat Hilfe benötigt, um zu verstehen oder verstanden zu werden.

Artikel 4

Recht auf Information bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfern ab der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde unverzüglich die nachstehend aufgeführten Informationen zur Verfügung gestellt werden, damit sie die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte wahrnehmen können:

a)

die Art der Unterstützung, die das Opfer erhalten kann, und von wem es diese erhalten kann, einschließlich gegebenenfalls grundlegende Informationen über den Zugang zu medizinischer Unterstützung, zu spezialisierter Unterstützung, einschließlich psychologische Betreuung, und zu einer alternativen Unterbringung;

b)

die Verfahren zur Erstattung von Anzeigen hinsichtlich einer Straftat und die Stellung des Opfers in diesen Verfahren;

c)

Informationen darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen das Opfer Schutz erhalten kann, einschließlich Schutzmaßnahmen;

d)

Informationen darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen das Opfer Rechtsbeistand, Prozesskostenhilfe oder sonstigen Beistand erhalten kann;

e)

Informationen darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen das Opfer eine Entschädigung erhalten kann;

f)

Informationen darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen das Opfer Anspruch auf Dolmetschleistung und Übersetzung hat;

g)

falls das Opfer in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Straftat begangen wurde, wohnhaft ist, besondere Maßnahmen, Verfahren oder Vorkehrungen, die zum Schutz der Interessen des Opfers in dem Mitgliedstaat, in dem die erste Kontaktaufnahme mit der zuständigen Behörde erfolgt, getroffen werden können;

h)

verfügbare Beschwerdeverfahren für den Fall, dass die zuständige Behörde, die im Rahmen des Strafverfahrens tätig wird, die Rechte des Opfers verletzt;

i)

Kontaktangaben für den Fall betreffende Mitteilungen;

j)

verfügbare Wiedergutmachungsdienste;

k)

Informationen darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen dem Opfer Ausgaben, die ihm infolge der Teilnahme am Strafverfahren entstehen, erstattet werden können.

(2)   Die in Absatz 1 genannten Informationen können entsprechend den konkreten Bedürfnissen und den persönlichen Umständen des Opfers und je nach Wesen oder Art der Straftat unterschiedlich umfangreich bzw. detailliert ausfallen. Weitere Einzelheiten können entsprechend den Bedürfnissen des Opfers und je nachdem, wie relevant diese Einzelheiten für das jeweilige Stadium des Strafverfahrens sind, auch in späteren Stadien zur Verfügung gestellt werden.

Artikel 5

Rechte der Opfer bei der Anzeige einer Straftat

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer eine schriftliche Bestätigung ihrer förmlichen Anzeige bei der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats mit Angabe der grundlegenden Elemente bezüglich der betreffenden Straftat erhalten.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer, die eine Straftat anzeigen wollen und die die Sprache der zuständigen Behörde nicht verstehen oder sprechen, in die Lage versetzt werden, die Anzeige in einer Sprache zu machen, die sie verstehen, oder dabei die erforderliche Hilfe bei der Verständigung erhalten.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer, die die Sprache der zuständigen Behörde nicht verstehen oder sprechen, auf Antrag kostenlos eine Übersetzung der in Absatz 1 genannten schriftlichen Bestätigung ihrer Anzeige in eine Sprache, die sie verstehen, erhalten.

Artikel 6

Recht der Opfer auf Informationen zu ihrem Fall

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer unverzüglich über ihr Recht aufgeklärt werden, folgende Informationen über das Strafverfahren zu erhalten, das auf die Anzeige einer von ihnen erlittenen Straftat hin eingeleitet wurde, und dass sie diese Informationen auf Antrag erhalten:

a)

Informationen über jedwede Entscheidung, auf Ermittlungen zu verzichten oder diese einzustellen oder den Täter nicht strafrechtlich zu verfolgen;

b)

Informationen über den Zeitpunkt und den Ort der Hauptverhandlung sowie der Art der gegen den Täter erhobenen Beschuldigungen.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung unverzüglich über ihr Recht aufgeklärt werden, folgende Informationen über das Strafverfahren zu erhalten, das auf die Anzeige einer von ihnen erlittenen Straftat hin eingeleitet wurde, und dass sie diese Informationen auf Antrag erhalten:

a)

Informationen über jedwede rechtskräftige Entscheidung in einem Prozess;

b)

Informationen, die es dem Opfer ermöglichen, sich über den Fortgang des Strafverfahrens zu informieren, außer in Ausnahmefällen, wenn die Mitteilung der ordentlichen Verhandlung der Sache schaden könnte.

(3)   Die gemäß Absatz 1 Buchstabe a und Absatz 2 Buchstabe a erteilten Informationen müssen die Begründung oder eine kurze Zusammenfassung der Begründung für die betreffende Entscheidung umfassen, außer im Falle einer von Geschworenen getroffenen Entscheidung oder im Falle einer Entscheidung, deren Begründung vertraulich ist, für die nach einzelstaatlichem Recht keine Begründung gegeben wird.

(4)   Der Wunsch des Opfers, Informationen zu erhalten bzw. nicht zu erhalten, ist für die zuständige Behörde verbindlich, es sei denn, dass die Informationen wegen des Rechts des Opfers auf aktive Teilnahme am Strafverfahren erteilt werden müssen. Die Mitgliedstaaten gestatten dem Opfer, seinen Wunsch jederzeit zu ändern, und sie berücksichtigen eine solche Änderung.

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer die Möglichkeit erhalten, sich unverzüglich von der Freilassung oder Flucht der Person, die wegen Straftaten gegen sie in Untersuchungshaft genommen wurde, strafrechtlich verfolgt wird oder verurteilt wurde, in Kenntnis setzen zu lassen. Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Opfer über alle einschlägigen Maßnahmen informiert werden, die im Fall einer Freilassung oder Flucht des Täters zum Schutz des Opfers getroffen werden.

(6)   Opfer erhalten auf Antrag die Informationen gemäß Absatz 5 zumindest in den Fällen, in denen für sie eine Gefahr besteht das Risiko einer Schädigung festgestellt wurde, es sei denn, dass festgestellt wird, dass die Mitteilung das Risiko einer Schädigung des Straftäters birgt.

Artikel 7

Recht auf Dolmetschleistung und Übersetzung

(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen oder sprechen, im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung auf Antrag kostenlos eine Dolmetschleistung in Anspruch nehmen können, zumindest bei Vernehmungen oder Befragungen des Opfers durch Ermittlungs- und gerichtliche Behörden, einschließlich polizeilicher Vernehmungen, im Rahmen des Strafverfahrens, sowie für ihre aktive Teilnahme an allen Gerichtsverhandlungen und notwendigen Zwischenverhandlungen.

(2)   Unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum können Kommunikationstechnologien wie Videokonferenzen, Telefon oder Internet verwendet werden, es sei denn, ein Dolmetscher wird vor Ort benötigt, damit das Opfer seine Rechte umfassend wahrnehmen oder das Verfahren verstehen kann.

(3)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht verstehen oder sprechen, im Einklang mit ihrer Stellung im Strafverfahren in der betreffenden Strafrechtsordnung auf Antrag kostenlos Übersetzungen der für die Ausübung ihrer Rechte im Rahmen des Strafverfahrens wesentlichen Informationen in eine Sprache, die sie verstehen, erhalten, soweit diese Informationen den Opfern zur Verfügung gestellt werden. Zu den Übersetzungen dieser Informationen gehören mindestens jedwede Entscheidung, mit der ein Strafverfahren beendet wird, das aufgrund einer von dem Opfer erlittenen Straftat eingeleitet wurde, und auf Antrag des Opfers die Begründung oder eine kurze Zusammenfassung der Begründung dieser Entscheidung, außer im Falle einer von Geschworenen getroffenen Entscheidung oder einer Entscheidung, deren Begründung vertraulich ist, für die nach einzelstaatlichem Recht keine Begründung gegeben wird.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer, die gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b Anspruch auf Informationen über den Zeitpunkt und den Ort der Hauptverhandlung haben und die die Sprache der zuständigen Behörde nicht verstehen, auf Antrag eine Übersetzung der Informationen erhalten, auf die sie Anspruch haben.

(5)   Das Opfer kann unter Angabe von Gründen beantragen, dass ein Dokument als wesentlich betrachtet wird. Es ist nicht erforderlich, Passagen wesentlicher Dokumente zu übersetzen, die nicht dafür maßgeblich sind, dass das Opfer aktiv am Strafverfahren teilnehmen kann.

(6)   Ungeachtet der Absätze 1 und 3 kann eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Dokumente anstelle einer schriftlichen Übersetzung unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht.

(7)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständige Behörde begutachtet, ob das Opfer Dolmetschleistung oder Übersetzung gemäß den Absätzen 1 und 3 benötigt. Das Opfer kann die Entscheidung, keine Dolmetschleistung oder Übersetzung bereitzustellen, anfechten. Die Verfahrensvorschriften für eine solche Anfechtung richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

(8)   Die Dolmetschleistung und Übersetzung sowie die Prüfung der Anfechtung einer Entscheidung, keine Dolmetschleistung oder Übersetzung nach diesem Artikel bereitzustellen, dürfen das Strafverfahren nicht ungebührlich verlängern.

Artikel 8

Recht auf Zugang zu Opferunterstützung

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer ihrem Bedarf entsprechend vor, während sowie für einen angemessenen Zeitraum nach Abschluss des Strafverfahrens kostenlos Zugang zu Opferunterstützungsdiensten erhalten, die im Interesse der Opfer handeln und dem Grundsatz der Vertraulichkeit verpflichtet sind. Familienangehörige erhalten Zugang zu Opferunterstützungsdiensten entsprechend ihrem Bedarf und dem Ausmaß der Schädigung, die sie infolge der gegen das Opfer begangenen Straftat erlitten haben.

(2)   Die Mitgliedstaaten erleichtern die Vermittlung der Opfer an Opferunterstützungsdienste durch die zuständige Behörde, bei der eine Straftat angezeigt wurde, und durch andere einschlägige Einrichtungen.

(3)   Die Mitgliedstaaten ergreifen Maßnahmen, um neben den allgemeinen Opferunterstützungsdiensten oder als zu diesen gehörig kostenlose vertrauliche spezialisierte Unterstützungsdienste einzurichten, oder sie ermöglichen es, dass Organisationen zur Opferunterstützung auf bestehende spezialisierte Einrichtungen zurückgreifen können, die eine solche spezialisierte Unterstützung anbieten. Die Opfer erhalten Zugang zu solchen Diensten entsprechend ihrem spezifischen Bedarf; Familienangehörige erhalten Zugang entsprechend ihrem spezifischen Bedarf und dem Ausmaß der Schädigung, die sie infolge der gegen das Opfer begangenen Straftat erlitten haben.

(4)   Opferunterstützungsdienste und spezialisierte Unterstützungsdienste können als öffentliche oder nichtstaatliche Organisationen auf haupt- oder ehrenamtlicher Grundlage eingerichtet werden.

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Zugang zu Opferunterstützungsdiensten nicht davon abhängig ist, ob ein Opfer eine Straftat einer zuständigen Behörde förmlich angezeigt hat.

Artikel 9

Unterstützung durch Opferunterstützungsdienste

(1)   Opferunterstützungsdienste gemäß Artikel 8 Absatz 1 müssen mindestens folgende Dienste zur Verfügung stellen:

a)

Information über sowie Beratung und Unterstützung hinsichtlich der Rechte von Opfern, unter anderem über den Zugang zu nationalen Entschädigungsprogrammen für durch Straftaten verursachte Schädigungen, sowie über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, einschließlich der Vorbereitung auf Teilnahme am Prozess;

b)

Information über bestehende einschlägige spezialisierte Unterstützungsdienste oder direkte Vermittlung an solche Dienste;

c)

emotionale und — sofern verfügbar — psychologische Unterstützung;

d)

Beratung zu finanziellen und praktischen Fragen im Zusammenhang mit einer Straftat;

e)

sofern nicht bereits durch sonstige öffentliche oder private Dienste abgedeckt, Beratung zum Risiko sowie zur Verhütung von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, von Einschüchterung und von Vergeltung.

(2)   Die Mitgliedstaaten fordern die Opferunterstützungsdienste auf, den Schwerpunkt besonders auf den spezifischen Bedarf von Opfern zu legen, die infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben.

(3)   Sofern nicht von sonstigen öffentlichen oder privaten Diensten abgedeckt, müssen die spezialisierten Unterstützungsdienste gemäß Artikel 8 Absatz 3 mindestens folgende Dienste aufbauen und zur Verfügung stellen:

a)

Unterkunft oder eine sonstige geeignete vorläufige Unterbringung für Opfer, die aufgrund des unmittelbaren Risikos von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung einen sicheren Aufenthaltsort benötigen;

b)

gezielte und integrierte Unterstützung von Opfern mit besonderen Bedürfnissen, wie Opfern von sexueller Gewalt, Opfern von geschlechtsbezogener Gewalt und Opfern von Gewalt in engen Beziehungen, einschließlich Unterstützung bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und Beratungsdienste.

KAPITEL 3

TEILNAHME AM STRAFVERFAHREN

Artikel 10

Anspruch auf rechtliches Gehör

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer im Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können. Soll ein Opfer im Kindesalter gehört werden, so ist seinem Alter und seiner Reife Rechnung zu tragen.

(2)   Die Verfahrensvorschriften, nach denen die Opfer in den Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können, richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Artikel 11

Rechte bei Verzicht auf Strafverfolgung

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung das Recht auf Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung haben. Die Verfahrensvorschriften für diese Überprüfung richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

(2)   Wird die Stellung des Opfers in der betreffenden Strafrechtsordnung im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht erst bestimmt, nachdem eine Entscheidung über die Strafverfolgung des Täters ergangen ist, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass zumindest die Opfer schwerer Straftaten Anspruch auf die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung haben. Die Verfahrensvorschriften für diese Überprüfung richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer unverzüglich über ihr Recht in Kenntnis gesetzt werden, die nötigen Informationen zu erhalten, und dass sie diese Informationen auf Antrag erhalten, um entscheiden zu können, ob sie die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung beantragen sollen.

(4)   Wird die Entscheidung, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, von der obersten Strafverfolgungsbehörde getroffen, deren Entscheidung nach einzelstaatlichem Recht keiner Überprüfung unterzogen werden darf, so kann die Überprüfung von derselben Behörde vorgenommen werden.

(5)   Die Absätze 1, 3 und 4 finden keine Anwendung auf eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft über den Verzicht auf Strafverfolgung, wenn diese Entscheidung einen außergerichtlichen Vergleich zur Folge hat, soweit das einzelstaatliche Recht eine solche Möglichkeit vorsieht.

Artikel 12

Recht auf Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Wiedergutmachungsdiensten

(1)   Die Mitgliedstaaten ergreifen Maßnahmen zum Schutz der Opfer vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung, die anzuwenden sind, wenn Wiedergutmachungsdienste zur Verfügung gestellt werden. Mit diesen Maßnahmen wird sichergestellt, dass die Opfer, die sich für die Teilnahme an einem Wiedergutmachungsverfahren entscheiden, Zugang zu sicheren und fachgerechten Wiedergutmachungsdiensten haben; dieser Zugang unterliegt folgenden Bedingungen:

a)

Wiedergutmachungsdienste kommen nur zur Anwendung, wenn dies im Interesse des Opfers ist, vorbehaltlich etwaiger Sicherheitsbedenken und auf der Grundlage der freien und in Kenntnis der Sachlage erteilten Einwilligung des Opfers; die jederzeit widerrufen werden kann;

b)

vor Erklärung seiner Bereitschaft zur Teilnahme an dem Wiedergutmachungsverfahren wird das Opfer umfassend und unparteiisch über das Ausgleichsverfahren und dessen möglichen Ausgang sowie über die Verfahren zur Überwachung der Einhaltung einer Vereinbarung informiert;

c)

der Straftäter hat den zugrunde liegenden Sachverhalt im Wesentlichen zugegeben;

d)

eine Vereinbarung ist freiwillig und kann in weiteren Strafverfahren berücksichtigt werden;

e)

nicht öffentlich geführte Gespräche im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens sind vertraulich und dürfen auch später nicht bekanntgegeben werden, es sei denn, die Betroffenen stimmen der Bekanntgabe zu oder diese ist wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses nach einzelstaatlichem Recht erforderlich.

(2)   Die Mitgliedstaaten unterstützen die Vermittlung an Wiedergutmachungsdienste, wenn dies sachdienlich ist, indem sie unter anderem Verfahren oder Leitlinien betreffend die Voraussetzungen für die Vermittlung an solche Dienste festlegen.

Artikel 13

Anspruch auf Prozesskostenhilfe

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer Prozesskostenhilfe erhalten, wenn sie als Parteien im Strafverfahren auftreten. Die Bedingungen oder Verfahrensvorschriften, nach denen Opfer Prozesskostenhilfe erhalten, richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Artikel 14

Anspruch auf Kostenerstattung

Die Mitgliedstaaten bieten Opfern, die am Strafverfahren teilnehmen, die Möglichkeit, sich Ausgaben, die ihnen aufgrund ihrer aktiven Teilnahme am Strafverfahren entstanden sind, im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung erstatten zu lassen. Die Bedingungen oder Verfahrensvorschriften, nach denen die Opfer gegebenenfalls eine Erstattung erhalten können, richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Artikel 15

Recht auf Rückgabe von Vermögenswerten

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die im Rahmen des Strafverfahrens beschlagnahmten Vermögenswerte, die für eine Rückgabe in Frage kommen, den Opfern aufgrund einer entsprechenden Entscheidung einer zuständigen Behörde unverzüglich zurückgegeben werden, es sei denn, die Vermögenswerte werden zum Zwecke des Strafverfahrens benötigt. Die Bedingungen oder Verfahrensvorschriften, nach denen die betreffenden Vermögenswerte den Opfern zurückgegeben werden, richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Artikel 16

Recht auf Entscheidung über Entschädigung durch den Straftäter im Rahmen des Strafverfahrens

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer einer Straftat das Recht haben, im Rahmen des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Straftäter zu erwirken, es sei denn, dass diese Entscheidung nach einzelstaatlichem Recht im Rahmen eines anderen gerichtlichen Verfahrens ergehen muss.

(2)   Die Mitgliedstaaten unterstützen Maßnahmen, um die angemessene Entschädigung der Opfer durch die Straftäter zu fördern.

Artikel 17

Rechte der Opfer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ihre zuständigen Behörden imstande sind, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, damit so wenig Schwierigkeiten wie möglich auftreten, wenn das Opfer seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat hat, in dem die Straftat begangen wurde, insbesondere in Bezug auf den Ablauf des Verfahrens. Dazu müssen die Behörden des Mitgliedstaats, in dem die Straftat begangen wurde, insbesondere in der Lage sein,

a)

die Aussage des Opfers unmittelbar nach der Anzeige der Straftat bei der zuständigen Behörde aufzunehmen;

b)

bei der Vernehmung von Opfern mit Wohnsitz im Ausland möglichst umfassend von den Bestimmungen über Video- und Telefonkonferenzen, die in dem Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen (17) festgelegt sind, Gebrauch zu machen.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes Opfer einer Straftat wurden, Anzeige bei den Behörden ihres Wohnsitzmitgliedstaats erstatten können, wenn sie in dem Mitgliedstaat, in dem die Straftat verübt wurde, dazu nicht in der Lage sind, oder wenn sie die Anzeige im Falle einer nach dem einzelstaatlichen Recht jenes Mitgliedstaats als schwer eingestuften Straftat nicht dort erstatten möchten.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständige Behörde, bei der das Opfer die Anzeige erstattet, diese unverzüglich der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem die Straftat verübt wurde, übermittelt, wenn der Mitgliedstaat, in dem die Anzeige erstattet wurde, seine Zuständigkeit, das Verfahren einzuleiten, noch nicht ausgeübt hat.

KAPITEL 4

SCHUTZ DER OPFER UND ANERKENNUNG VON OPFERN MIT BESONDEREN SCHUTZBEDÜRFNISSEN

Artikel 18

Schutzanspruch

Unbeschadet der Verteidigungsrechte stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Maßnahmen zum Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung, insbesondere vor der Gefahr einer emotionalen oder psychologischen Schädigung, und zum Schutz der Würde der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen zur Verfügung stehen. Erforderlichenfalls umfassen die Maßnahmen auch Verfahren, die im einzelstaatlichen Recht im Hinblick auf den physischen Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vorgesehen sind.

Artikel 19

Recht des Opfers auf Vermeidung des Zusammentreffens mit dem Straftäter

(1)   Die Mitgliedstaaten schaffen die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass in Gebäuden, in denen das Strafverfahren verhandelt wird, das Zusammentreffen der Opfer und erforderlichenfalls ihrer Familienangehörigen mit dem Täter vermieden werden kann, es sei denn, dass das Strafverfahren ein solches Zusammentreffen erfordert.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass neue Gerichtsräumlichkeiten über gesonderte Wartebereiche für Opfer verfügen.

Artikel 20

Recht auf Schutz der Opfer während der strafrechtlichen Ermittlungen

Unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass während der strafrechtlichen Ermittlungen

a)

Opfer unverzüglich nach Anzeige der Straftat bei der zuständigen Behörde vernommen werden;

b)

sich die Anzahl der Vernehmungen der Opfer auf ein Mindestmaß beschränken und Vernehmungen nur dann erfolgen, wenn sie für die Zwecke der strafrechtlichen Ermittlungen unbedingt erforderlich sind;

c)

Opfer von ihrem rechtlichen Vertreter und einer Person ihrer Wahl begleitet werden können, es sei denn, dass eine begründete gegenteilige Entscheidung getroffen wurde;

d)

medizinische Untersuchungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden und nur durchgeführt werden, wenn sie für die Zwecke der strafrechtlichen Ermittlungen unbedingt erforderlich sind.

Artikel 21

Recht auf Schutz der Privatsphäre

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden während des Strafverfahrens geeignete Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre — einschließlich der bei der individuellen Begutachtung des Opfers gemäß Artikel 22 berücksichtigten persönlichen Merkmale — und des Rechts der Opfer und ihrer Familienangehörigen am eigenen Bild treffen können. Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die zuständigen Behörden sämtliche rechtlich zulässigen Maßnahmen zur Verhinderung der öffentlichen Verbreitung aller Informationen, die zur Identifizierung eines Opfers im Kindesalter führen könnte, treffen können.

(2)   Zum Schutz der Privatsphäre, der persönlichen Integrität und der personenbezogenen Daten der Opfer fördern die Mitgliedstaaten unter Achtung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit sowie der Freiheit der Medien und ihrer Pluralität, dass die Medien Selbstkontrollmaßnahmen treffen.

Artikel 22

Individuelle Begutachtung der Opfer zur Ermittlung besonderer Schutzbedürfnisse

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer nach Maßgabe der einzelstaatlichen Verfahren frühzeitig einer individuellen Begutachtung unterzogen werden, damit besondere Schutzbedürfnisse ermittelt werden und festgestellt wird, ob und inwieweit ihnen Sondermaßnahmen im Rahmen des Strafverfahrens gemäß Artikel 23 und Artikel 24 infolge ihrer besonderen Gefährdung hinsichtlich sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung zugute kommen würden.

(2)   Bei der individuellen Begutachtung wird insbesondere Folgendes berücksichtigt:

a)

die persönlichen Merkmale des Opfers;

b)

die Art oder das Wesen der Straftat sowie

c)

die Umstände der Straftat.

(3)   Im Rahmen der individuellen Begutachtung erhalten folgende Opfer besondere Aufmerksamkeit: Opfer, die infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben; Opfer, die Hasskriminalität und von in diskriminierender Absicht begangenen Straftaten erlitten haben, die insbesondere im Zusammenhang mit ihren persönlichen Merkmalen stehen könnten; Opfer, die aufgrund ihrer Beziehung zum und Abhängigkeit vom Täter besonders gefährdet sind. Dabei sind Opfer von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel, geschlechtsbezogener Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen, sexueller Gewalt oder Ausbeutung oder Hassverbrechen sowie Opfer mit Behinderungen gebührend zu berücksichtigen.

(4)   Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten Opfer im Kindesalter als Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen, da bei ihnen die Gefahr der sekundären und wiederholten Viktimisierung, der Einschüchterung und der Vergeltung besteht. Um festzustellen, ob und inwieweit ihnen Sondermaßnahmen gemäß den Artikeln 23 und 24 zugute kommen würden, werden Opfer im Kindesalter einer individuellen Begutachtung gemäß Absatz 1 des vorliegenden Artikels unterzogen.

(5)   Die individuelle Begutachtung kann je nach Schwere der Tat und Ausmaß der erkennbaren Schädigung des Opfers mehr oder weniger umfassend sein.

(6)   Die Opfer werden eng in die individuelle Begutachtung einbezogen; dabei werden ihre Wünsche berücksichtigt, unter anderem auch der Wunsch, nicht in den Genuss von Sondermaßnahmen gemäß den Artikeln 23 und 24 zu kommen.

(7)   Tritt eine wesentliche Änderung bei den Elementen ein, die der individuellen Begutachtung zugrunde liegen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die individuellen Begutachtung im Zuge des Strafverfahrens aktualisiert wird.

Artikel 23

Schutzanspruch der Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen während des Strafverfahrens

(1)   Unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen, zu deren Gunsten Sondermaßnahmen infolge einer individuellen Begutachtung gemäß Artikel 22 Absatz 1 ergriffen werden, in den Genuss der in den Absätzen 2 und 3 des vorliegenden Artikels vorgesehenen Maßnahmen kommen können. Von der Durchführung einer infolge der individuellen Begutachtung vorgesehenen Sondermaßnahme wird abgesehen, wenn operative oder praktische Zwänge die Durchführung unmöglich machen oder wenn die dringende Notwendigkeit einer Vernehmung des Opfers besteht und ein anderes Vorgehen das Opfer oder eine andere Person schädigen bzw. den Gang des Verfahrens beeinträchtigen könnte.

(2)   Opfern, deren besondere Schutzbedürfnisse gemäß Artikel 22 Absatz 1 ermittelt wurden, stehen während der strafrechtlichen Ermittlungen folgende Maßnahmen zur Verfügung:

a)

Das Opfer wird in Räumlichkeiten vernommen, die für diesen Zweck ausgelegt sind oder diesem Zweck angepasst wurden;

b)

die Vernehmung des Opfers wird von für diesen Zweck ausgebildeten Fachkräften oder unter deren Mitwirkung durchgeführt;

c)

sämtliche Vernehmungen des Opfers werden von denselben Personen durchgeführt, es sei denn, dies ist nicht im Sinne einer geordneten Rechtspflege;

d)

Opfer sexueller Gewalt, geschlechtsbezogener Gewalt oder von Gewalt in engen Beziehungen werden von einer Person des gleichen Geschlechts wie das Opfer vernommen, wenn das Opfer dies wünscht und der Gang des Strafverfahrens dadurch nicht beeinträchtigt wird, es sei denn, die Vernehmung erfolgt durch einen Staatsanwalt oder einen Richter.

(3)   Opfern, deren besondere Schutzbedürfnisse gemäß Artikel 22 Absatz 1 ermittelt wurden, stehen während der Gerichtsverhandlung folgende Maßnahmen zur Verfügung:

a)

Maßnahmen zur Verhinderung des Blickkontakts zwischen Opfern und Tätern — auch während der Aussage der Opfer — mit Hilfe geeigneter Mittel, unter anderem durch die Verwendung von Kommunikationstechnologie;

b)

Maßnahmen zur Gewährleistung, dass das Opfer insbesondere mit Hilfe geeigneter Kommunikationstechnologie vernommen werden kann, ohne im Gerichtssaal anwesend zu sein;

c)

Maßnahmen zur Vermeidung einer unnötigen Befragung zum Privatleben des Opfers, wenn dies nicht im Zusammenhang mit der Straftat steht, und

d)

Maßnahmen zur Ermöglichung des Ausschlusses der Öffentlichkeit während der Verhandlung.

Artikel 24

Schutzanspruch von Opfern im Kindesalter während des Strafverfahrens

(1)   Ist das Opfer ein Kind, so stellen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den in Artikel 23 vorgesehenen Maßnahmen sicher, dass

a)

sämtliche Vernehmungen des Opfers im Kindesalter in strafrechtlichen Ermittlungen audiovisuell aufgezeichnet werden können und die Aufzeichnung als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden kann;

b)

die zuständigen Behörden bei strafrechtlichen Ermittlungen und Verfahren im Einklang mit der Stellung des Opfers in der betreffenden Strafrechtsordnung für Opfer im Kindesalter einen besonderen Vertreter bestellen, wenn die Träger des elterlichen Sorgerechts nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts das Opfer im Kindesalter aufgrund eines Interessenkonflikts zwischen ihnen und dem Opfer im Kindesalter nicht vertreten dürfen oder wenn es sich um ein unbegleitetes oder von seiner Familie getrenntes Opfer im Kindesalter handelt;

c)

das Opfer im Kindesalter — wenn es das Recht auf einen Rechtsanwalt hat — in Verfahren, in denen es einen Interessenkonflikt zwischen dem Opfer im Kindesalter und den Trägern des elterlichen Sorgerechts gibt oder geben könnte, das Recht auf rechtlichen Rat und rechtliche Vertretung in seinem eigenen Namen hat.

Die Verfahrensvorschriften für die audiovisuellen Aufzeichnungen gemäß Unterabsatz 1 Buchstabe a und für deren Verwendung richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

(2)   Konnte das Alter eines Opfers nicht festgestellt werden und gibt es Grund zu der Annahme, dass es sich bei dem Opfer um ein Kind handelt, so gilt das Opfer für die Zwecke dieser Richtlinie als Kind.

KAPITEL 5

SONSTIGE BESTIMMUNGEN

Artikel 25

Schulung der betroffenen Berufsgruppen

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Amtsträger die voraussichtlich mit Opfern in Kontakt kommen, wie Polizeibedienstete und Gerichtsbedienstete, eine für ihren Kontakt mit den Opfern angemessene allgemeine wie auch spezielle Schulung erhalten, um bei ihnen das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Opfer zu erhöhen und sie in die Lage zu versetzen, einen unvoreingenommenen, respektvollen und professionellen Umgang mit den Opfern zu pflegen.

(2)   Unbeschadet der Unabhängigkeit der Justiz und der Unterschiede in der Organisation der Justiz innerhalb der Union verlangen die Mitgliedstaaten, dass diejenigen, die für die Weiterbildung von an Strafverfahren beteiligten Richtern und Staatsanwälten zuständig sind, allgemeine wie auch spezielle Weiterbildungsmaßnahmen zur Verfügung stellen, um bei Richtern und Staatsanwälten das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Opfer zu verbessern.

(3)   Unter gebührender Achtung der Unabhängigkeit der Rechtsberufe empfehlen die Mitgliedstaaten, dass diejenigen, die für die Weiterbildung von Rechtsanwälten zuständig sind, allgemeine wie auch spezielle Weiterbildungsmaßnahmen zur Verfügung stellen, um das Bewusstsein der Rechtsanwälte für die Bedürfnisse der Opfer zu verbessern.

(4)   Die Mitgliedstaaten fördern über ihre öffentlichen Stellen oder durch die Finanzierung von Organisationen zur Opferunterstützung Initiativen, die ermöglichen, dass diejenigen, die Opferunterstützung leisten oder Wiedergutmachungsdienste zur Verfügung stellen, eine ihrem Kontakt mit den Opfern angemessene Schulung erhalten und die beruflichen Verhaltensregeln beachten, mit denen sichergestellt wird, dass sie ihre Tätigkeit, unvoreingenommen, respektvoll, einfühlsam und professionell ausführen.

(5)   Entsprechend den jeweiligen Aufgaben, der Art und Intensität des Kontakts mit den Opfern muss die Schulung darauf abzielen, die Angehörigen der Rechtsberufe in die Lage zu versetzen, die Opfer respektvoll, professionell und diskriminierungsfrei anzuerkennen und zu behandeln.

Artikel 26

Zusammenarbeit und Koordinierung von Diensten

(1)   Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen zur Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten mit dem Ziel, die Wahrnehmung der in dieser Richtlinie und im einzelstaatlichen Recht festgelegten Rechte der Opfer durch diese Opfer zu verbessern. Mit dieser Zusammenarbeit werden mindestens die folgenden Ziele verfolgt:

a)

der Austausch bewährter Verfahren;

b)

eine einzelfallbezogene Konsultation sowie

c)

die Unterstützung europäischer Netze, die sich mit Fragen befassen, die für die Rechte der Opfer unmittelbar von Belang sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, auch über das Internet, die darauf abzielen, die in dieser Richtlinie dargelegten Rechte bekannt zu machen, das Risiko der Viktimisierung zu verringern und die negativen Auswirkungen von Straftaten und das Risiko der sekundären und wiederholten Viktimisierung, der Einschüchterung und der Vergeltung zu minimieren, insbesondere durch die Ausrichtung der Maßnahmen auf gefährdete Gruppen wie Kinder und Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt und von Gewalt in engen Beziehungen. Zu diesen Maßnahmen können Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen sowie Forschungs- und Bildungsprogramme gehören, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft und anderen Akteuren.

KAPITEL 6

SCHLUSSBESTIMMUNGEN

Artikel 27

Umsetzung

(1)   Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis 16. November 2015 nachzukommen.

(2)   Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme.

Artikel 28

Bereitstellung von Daten und Statistiken

Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission spätestens bis zum 16. November 2017 und danach alle drei Jahre die verfügbaren Daten, aus denen hervorgeht, wie und in welchem Umfang die Opfer ihre in dieser Richtlinie festgelegten Rechte wahrgenommen haben.

Artikel 29

Bericht

Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum 16. November 2017 einen Bericht, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen getroffen haben, um dieser Richtlinie nachzukommen, wobei sie auch die nach den Artikeln 8, 9 und 23 ergriffenen Maßnahmen beschreibt, und unterbreitet erforderlichenfalls Gesetzgebungsvorschläge.

Artikel 30

Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI

Der Rahmenbeschluss 2001/220/JI wird in Bezug auf die Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, unbeschadet der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung in einzelstaatliches Recht durch diese Richtlinie ersetzt.

In Bezug auf die Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, gelten Verweise auf jenen Rahmenbeschluss als Verweise auf diese Richtlinie.

Artikel 31

Inkrafttreten

Diese Richtlinie tritt am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Artikel 32

Adressaten

Diese Richtlinie ist gemäß den Verträgen an die Mitgliedstaaten gerichtet.

Geschehen zu Straßburg am 25. Oktober 2012.

Im Namen des Europäischen Parlaments

Der Präsident

M. SCHULZ

Im Namen des Rates

Der Präsident

A. D. MAVROYIANNIS


(1)  ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 39.

(2)  ABl. C 113 vom 18.4.2012, S. 56.

(3)  Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 12. September 2012 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 4. Oktober 2012.

(4)  ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 1.

(5)  ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

(6)  ABl. C 187 vom 28.6.2011, S. 1.

(7)  ABl. C 285E vom 21.10.2010, S. 53

(8)  ABl. C 296E vom 2.10.2012, S. 26.

(9)  ABl. L 338 vom 21.12.2011, S. 2.

(10)  ABl. L 335 vom 17.12.2011, S. 1.

(11)  ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1.

(12)  ABl. L 164 vom 22.6.2002, S. 3.

(13)  ABl. L 328 vom 15.12.2009, S. 42.

(14)  ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 60.

(15)  ABl. C 35 vom 9.2.2012, S. 10.

(16)  ABl. L 8 vom 12.1.2001, S. 1.

(17)  ABl. C 197 vom 12.7.2000, S. 3.