URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

21. Dezember 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 15 Abs. 2 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt wird – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 Abs. 2 und 3 – Berücksichtigung des Kindeswohls – Anspruch jedes Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen – Mutter mit Kleinkindern, die mit ihr zusammenleben“

In der Rechtssache C‑261/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 19. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 2022, in dem Strafverfahren gegen

GN,

Beteiligter:

Procuratore generale presso la Corte d’appello di Bologna,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und N. Piçarra sowie des Richters P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von GN, vertreten durch R. Ghini, Avvocato,

des Procuratore generale presso la Corte d’appello di Bologna, vertreten durch A. Scandellari, sostituto procuratore della Repubblica,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, Avvocato dello Stato,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman, J. M. Hoogveld und P. P. Huurnink als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch K. Pleśniak und A. Ştefănuc als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und A. Spina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Juli 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und 3 sowie der Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) und zum anderen die Gültigkeit dieser Bestimmungen im Hinblick auf die Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Italien, der von den belgischen Justizbehörden gegen GN zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in Belgien ausgestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen (United Nations Treaties Series, Bd. 1577, S. 3)

4

Art. 3 Abs. 1 dieses Übereinkommens lautet:

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Unionsrecht

5

Im sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

6

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

7

In Art. 3 dieses Rahmenbeschlusses werden die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, und in den Art. 4 und 4a die Gründe aufgeführt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann.

8

Art. 7 („Beteiligung der zentralen Behörde“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen kann.

9

In Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

10

In Art. 17 dieses Rahmenbeschlusses werden die Fristen und Modalitäten, unter denen die Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls getroffen werden muss, genannt.

11

In Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)   Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.

(2)   Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.

(4)   Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

…“

Italienisches Recht

12

Art. 2 der Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten) vom 22. April 2005 (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005, S. 6, im Folgenden: Gesetz Nr. 69/2005) in der sich aus dem Decreto legislativo n. 10 (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 10) vom 2. Februar 2021 (GURI Nr. 30 vom 5. Februar 2021, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 10 von 2021) ergebenden und auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf unter keinen Umständen zu einer Verletzung der obersten Grundsätze der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates oder der von der Verfassung anerkannten unveräußerlichen Rechte der Person, der in Art. 6 [EUV] verankerten Grundrechte und Verfassungsgrundsätze oder der von der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten [Europäischen] Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleisteten Grundrechte führen [(im Folgenden: EMRK)]…“

13

In Art. 18 dieses Gesetzes heißt es:

„Das Berufungsgericht lehnt die Übergabe in folgenden Fällen ab:

a)

wenn die im Europäischen Haftbefehl zur Last gelegte Straftat nach italienischem Recht durch Amnestie erloschen ist und die Zuständigkeit des italienischen Staats für die Verfolgung der Tat gegeben ist;

b)

wenn sich herausstellt, dass gegen die gesuchte Person in Italien wegen derselben Tat ein rechtskräftiges Strafurteil oder ein rechtskräftiger Strafbefehl oder eine unanfechtbare Entscheidung, das Verfahren einzustellen, oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist, sofern im Fall einer Verurteilung die Strafe bereits vollstreckt wurde oder gerade vollstreckt wird oder gemäß den Gesetzen des Staates, in dem die Verurteilung ergangen ist, nicht mehr vollstreckt werden kann;

c)

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat jünger als 14 Jahre war.“

14

In seiner Fassung vor dem Inkrafttreten des Decreto legislativo Nr. 10 von 2021 sah Art. 18 des Gesetzes Nr. 69/2005 vor:

„Das Berufungsgericht lehnt die Übergabe ab:

p)

wenn es sich bei der Person, um deren Übergabe ersucht wurde, um eine Schwangere oder eine Mutter von Kindern unter drei Jahren, die mit ihr zusammenleben, handelt, es sei denn, bei einem im Lauf des Verfahrens ausgestellten Europäischen Haftbefehl sind die Schutzbedürfnisse, die der restriktiven Maßnahme der ausstellenden Justizbehörde zugrunde liegen, von außerordentlicher Bedeutung;

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15

Am 26. Juni 2020 erließen die belgischen Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl gegen GN zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, die von der Rechtbank van eerste aanleg Antwerpen, afdeling Antwerpen (Gericht Erster Instanz Antwerpen, Abteilung Antwerpen, Belgien) wegen der in Belgien zwischen dem 18. September 2016 und dem 5. August 2017 begangenen Straftaten des Menschenhandels und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung in Abwesenheit von GN verhängt worden war.

16

Am 2. September 2021 wurde GN in Bologna (Italien) verhaftet. Bei ihrer Verhaftung war sie in Begleitung ihres am 10. November 2018 in Ferrara (Italien) geborenen Sohnes, mit dem sie zusammenlebte. Außerdem war sie mit einem zweiten Kind schwanger, das am 10. Mai 2022 geboren wurde.

17

Bei ihrer Vernehmung am 3. September 2021 stimmte GN ihrer Übergabe an die belgischen Justizbehörden nicht zu. Nach einer mündlichen Verhandlung am 17. September 2021 bat die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) in ihrer Eigenschaft als vollstreckende Justizbehörde die belgischen Justizbehörden erstens um Informationen darüber, wie Strafen in Belgien gegen Mütter, die mit minderjährigen Kindern zusammenleben, vollstreckt werden, zweitens darüber, wie GN im Fall ihrer Übergabe im Gefängnis behandelt würde, drittens darüber, welche Maßnahmen in Bezug auf ihr minderjähriges Kind ergriffen würden, sowie viertens über die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens, das durch eine Verurteilung in Abwesenheit beendet worden war.

18

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2021 informierte die Staatsanwaltschaft Antwerpen (Belgien) die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) darüber, dass die Antworten auf die gestellten Fragen in die Zuständigkeit des Föderalen Öffentlichen Dienstes Justiz (Belgien) fielen.

19

Mit Urteil vom 15. Oktober 2021 lehnte die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) die Übergabe von GN an die belgischen Justizbehörden ab und ordnete ihre sofortige Freilassung an. In Ermangelung von Antworten der belgischen Justizbehörden auf ihre Fragen bestehe nämlich keine Gewissheit, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats eine Haftregelung vorsehe, die mit der des Vollstreckungsmitgliedstaats vergleichbar sei und das Recht der Mutter darauf, dass ihr nicht ihre Beziehung zu ihren Kindern genommen werde, und das Recht, sich um sie zu kümmern, schütze sowie den Kindern die notwendige mütterliche und familiäre Fürsorge sicherstelle, wie sie in der italienischen Verfassung, in Art. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes und in Art. 24 der Charta gewährleistet werde.

20

Bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, legten der Procuratore generale presso la Corte d’appello di Bologna (Generalstaatsanwalt beim Berufungsgericht Bologna, Italien) und GN ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein.

21

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Bestimmung des Gesetzes Nr. 69/2005, die ausdrücklich als Grund, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen sei, den Fall vorsehe, dass die mit diesem Haftbefehl gesuchte Person eine Schwangere oder Mutter von Kindern unter drei Jahren sei, die mit ihr zusammenlebten, mit dem Decreto legislativo Nr. 10 von 2021 aufgehoben worden sei, um die italienischen Rechtsvorschriften an den Rahmenbeschluss 2002/584 anzupassen, in dem dieser Fall bei den Gründen, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen sei oder abgelehnt werden könne, nicht genannt werde.

22

Es ist jedoch der Ansicht, dass die Übergabe der Mutter, wenn die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats zum Schutz des Rechts der Kinder darauf, dass ihnen ihre Mutter nicht entzogen werde, keine Maßnahmen vorsehe, die mit den vom italienischen Recht vorgesehenen vergleichbar wären, zu einem Verstoß gegen die Grundrechte führen würde, die von der italienischen Verfassung und der EMRK geschützt würden.

23

Allerdings sei das Sachgebiet, zu dem der Europäische Haftbefehl gehöre, vollständig harmonisiert worden. Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 der vollstreckenden Justizbehörde untersage, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, der sich gegen eine Mutter von Kleinkindern richte, wenn die Übergabe der Mutter mit ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, aber auch mit dem Wohl ihrer Kinder kollidieren würde. Sollte dies bejaht werden, wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob dieser Rahmenbeschluss mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 3 der Charta vereinbar sei, wenn man zu deren Auslegung namentlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK heranziehe.

24

Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 1 Abs. 2 und 3 sowie die Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass sie es der vollstreckenden Justizbehörde nicht erlauben, die Übergabe einer Mutter von minderjährigen Kindern, die mit ihr zusammenleben, abzulehnen oder jedenfalls aufzuschieben?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Sind Art. 1 Abs. 2 und 3 sowie die Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 3 der Charta, und zwar auch im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK sowie der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, vereinbar, soweit sie verlangen, dass die Mutter übergeben wird und dabei die Bindungen an die mit ihr zusammenlebenden minderjährigen Kinder ohne Berücksichtigung des Kindeswohls durchtrennt werden?

Verfahren vor dem Gerichtshof

25

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

26

Das Ausgangsverfahren betreffe die Grundrechte einer Schwangeren und ihres Kleinkinds, das mit ihr zusammenlebe. Die Anwendung des beschleunigten Verfahrens sei erforderlich, um die weiterhin bestehende Unsicherheit zu beseitigen, wer zukünftig für dieses Kind sorge. Die vorgelegten Fragen würfen auch Probleme auf, die eine große Zahl von bei den Gerichten der Mitgliedstaaten anhängigen Rechtssachen gleichermaßen beträfen und mit großer Dringlichkeit behandelt werden sollten.

27

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

28

Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Der Präsident des Gerichtshofs hat im vorliegenden Fall am 11. Mai 2022 nach Anhörung der Berichterstatterin und der Generalanwältin entschieden, den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Antrag zurückzuweisen.

30

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich hervor, dass GN in Durchführung des Urteils der Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) vom 15. Oktober 2021 unverzüglich freigelassen wurde. Außerdem lassen die vom vorlegenden Gericht dem Gerichtshof vorgelegten Informationen nicht erkennen, dass während der Behandlung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ein Risiko für die Betreuung der Kinder von GN besteht. Eine etwaige Unsicherheit hinsichtlich der Folgen der Entscheidung, mit der das Ausgangsverfahren beendet wird, für die Betreuung der Kinder oder die Tatsache, dass möglicherweise eine beträchtliche Anzahl von Personen oder Rechtsverhältnissen von den Vorlagefragen betroffen sind, kann als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der jedoch erforderlich ist, um die Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:709, Rn. 34, sowie vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Begriff ernsthafter Schaden], C‑125/22, EU:C:2023:843, Rn. 30).

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

31

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die vollstreckende Justizbehörde daran hindert, die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass sie Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben.

32

In Anbetracht der Angaben dieses Gerichts ist die erste Frage so zu verstehen, dass sie auf der Annahme beruht, dass im Ausgangsverfahren die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, Mutter von zwei Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben und deren Interesse darin besteht, weiterhin regelmäßig persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu ihrer Mutter zu haben. In diesem Kontext fragt sich das vorlegende Gericht, ob es auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta die Vollstreckung dieses Haftbefehls mit der Begründung ablehnen kann, dass die Übergabe dieser Person ihr diese Beziehungen und Kontakte zu ihren Kindern nehmen könnte.

33

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteile vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 40, und vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93).

34

Bei der Durchführung des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten somit verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete verlangen können noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Europäische Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 94).

35

In diesem Zusammenhang zielt der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der nach dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt, kommt in Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage dieses Grundsatzes und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Zum einen können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls demnach nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind. Zum anderen stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Krankheit als Ablehnungsgrund], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Der Rahmenbeschluss sieht indes nicht vor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein deshalb ablehnen könnte, weil die Person, gegen die der Haftbefehl ergangen ist, Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben. In Anbetracht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, der dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zugrunde liegt, besteht nämlich eine Vermutung dafür, dass die Haftbedingungen einer Mutter solcher Kinder und die Organisation ihrer Betreuung im Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Situation angepasst sind, sei es im Gefängnis oder im Rahmen alternativer Modalitäten, die ermöglichen, dass die Mutter den Justizbehörden dieses Mitgliedstaats weiterhin zur Verfügung steht oder die Kinder außerhalb des Gefängnisses untergebracht werden.

39

Allerdings geht aus Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass dieser nicht die Pflicht berührt, die von der Charta gewährleisteten Grundrechte zu achten.

40

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zum einen in Art. 7 der Charta das Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens niedergelegt ist und zum anderen Art. 24 Abs. 2 der Charta vorsieht, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

41

Wie aus Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes hervorgeht, auf den die Erläuterungen zu Art. 24 der Charta ausdrücklich Bezug nehmen, gilt Abs. 2 dieses letztgenannten Artikels auch für Entscheidungen, die – wie ein gegen die Mutter von Kleinkindern erlassener Europäischer Haftbefehl – nicht an diese Kinder gerichtet sind, aber weitreichende Folgen für sie haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 36 und 37).

42

Die Möglichkeit für einen Elternteil und sein Kind, zusammen zu sein, ist ein wesentliches Element des Familienlebens (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayonPancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 61). Nach Art. 24 Abs. 3 der Charta hat nämlich jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Wie der Procuratore generale presso la Corte d’appello di Bologna (Generalstaatsanwalt beim Berufungsgericht Bologna), der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission vorgetragen haben, ist die Ermittlung des Kindeswohls Teil einer Beurteilung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden müssen (vgl. entsprechend Urteile vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 73, vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 46 und 60, sowie vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 27).

43

Um die volle Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten, auf denen die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, hat zwar in erster Linie jeder Mitgliedstaat unter der abschließenden Kontrolle durch den Gerichtshof sicherzustellen, dass die den in Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta gewährleisteten Grundrechten innewohnenden Anforderungen gewahrt bleiben, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die diese Unabhängigkeit untergraben könnten. Besteht jedoch eine echte Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, und/oder ihre Kinder im Fall der Übergabe dieser Person an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung dieser Grundrechte erleiden, kann es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein, ausnahmsweise auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46, sowie vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72 und 96).

44

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Beurteilung der in der vorstehenden Randnummer genannten Gefahr von der vollstreckenden Justizbehörde im Licht des vom Unionsrecht gewährleisteten Grundrechtsschutzstandards vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88). Infolgedessen lässt sich daraus, dass diese Behörde Zweifel daran hegt, ob im Ausstellungsmitgliedstaat Bedingungen herrschen, die mit denen im Vollstreckungsmitgliedstaat, was die Inhaftierung von Müttern von Kleinkindern und deren Betreuung betrifft, vergleichbar sind, nicht folgern, dass ein Nachweis für eine solche Gefahr erbracht ist.

45

Wenn hingegen die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person entscheiden muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, über Anhaltspunkte verfügt, die nahelegen, dass eine solche Gefahr entweder aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen von Müttern von Kleinkindern oder die Betreuung dieser Kinder im Ausstellungsmitgliedstaat vorliegt oder aufgrund von Mängeln besteht, die diese Bedingungen und im Speziellen eine objektiv identifizierbare Personengruppe wie z. B. Kinder mit Behinderungen betreffen, so muss diese Behörde konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betreffenden Personen aufgrund solcher Bedingungen dieser Gefahr ausgesetzt sein werden.

46

Die vollstreckende Justizbehörde muss somit im Rahmen einer zweistufigen Prüfung – die eine Analyse auf der Grundlage verschiedener Kriterien beinhaltet, weshalb sich diese Schritte nicht überschneiden dürfen und nacheinander vorzunehmen sind – beurteilen, ob die Gefahr einer Verletzung der in Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta gewährleisteten Grundrechte tatsächlich vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 101, 109 und 110).

47

Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen eines ersten Schrittes ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund von Mängeln wie den in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten eine echte Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte gegeben ist. Diese Anhaltspunkte können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte, aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen oder aus Informationen ergeben, die in der Datenbank der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) über die Strafvollzugsbedingungen in der Union (Criminal Detention Database) verzeichnet sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89, sowie vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 102).

48

Im Rahmen eines zweiten Schritts muss die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Schritt der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Prüfung festgestellten Mängel auf die Haftbedingungen der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, oder die Betreuungsbedingungen ihrer Kinder auswirken können und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person oder ihre Kinder einer echten Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte ausgesetzt sein werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 94, sowie vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 106).

49

Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Ansicht ist, nicht über alle Informationen zu verfügen, die für den Erlass einer Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person erforderlich sind, gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die ausstellende Justizbehörde um die unverzügliche Übermittlung aller zusätzlichen, von ihr für erforderlich gehaltenen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert und ihre Kinder betreut werden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 95).

50

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Informationen, die die vollstreckende Justizbehörde verlangen kann, sowohl den ersten als auch den zweiten Schritt der Prüfung betreffen können, die diese Behörde gemäß Rn. 46 des vorliegenden Urteils vornehmen muss. Allerdings kann diese Behörde von der ausstellenden Justizbehörde keine Informationen verlangen, die nur den zweiten Schritt dieser Prüfung betreffen, wenn sie der Ansicht ist, dass das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel oder von Mängeln wie den in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person oder ihre Kinder angehören, nicht erwiesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 135).

51

Nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die vollstreckende Justizbehörde eine Frist für den Erhalt der von der ausstellenden Justizbehörde erbetenen zusätzlichen Informationen festsetzen. Diese Frist muss an den Einzelfall angepasst sein, damit der ausstellenden Justizbehörde, die dabei erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersuchen kann, die für die Sammlung der Informationen nötige Zeit zur Verfügung steht. Nach Art. 15 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses ist dabei allerdings die Frist nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses zu beachten (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 97).

52

Die ausstellende Justizbehörde ist ihrerseits verpflichtet, der vollstreckenden Justizbehörde die erbetenen zusätzlichen Informationen zu erteilen, da sie andernfalls gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 97, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64).

53

Um insbesondere eine Lähmung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls zu vermeiden, muss nämlich die in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerte Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit den Dialog zwischen den vollstreckenden und den ausstellenden Justizbehörden leiten (Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 104, und vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 131).

54

Falls die ausstellende Justizbehörde das Ersuchen der vollstreckenden Justizbehörde auf zusätzliche Informationen nicht zufriedenstellend beantwortet, muss die vollstreckende Justizbehörde eine Gesamtbeurteilung aller ihr zur Verfügung stehenden Informationen im Rahmen jeder einzelnen der beiden in den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils genannten Schritte vornehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 114).

55

Nur wenn die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht sämtlicher ihr vorliegender Informationen einschließlich eventuell fehlender Garantien seitens der ausstellenden Justizbehörde der Ansicht ist, dass zum einen im Ausstellungsmitgliedstaat Mängel wie die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten bestehen und dass es zum anderen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betreffende Person und/oder ihre Kinder in Anbetracht ihrer persönlichen Situation einer echten Gefahr der Verletzung ihrer in Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta gewährleisteten Grundrechte ausgesetzt sein werden, muss sie auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl, der gegen diese Person ergangen ist, Folge zu leisten. Andernfalls muss sie gemäß der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgeschriebenen Verpflichtung diesen Haftbefehl vollstrecken.

56

Schließlich ist in Bezug auf die vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage angesprochene Möglichkeit, die Übergabe aufzuschieben, darauf hinzuweisen, dass es auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar möglich ist, die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auszusetzen, dies jedoch nur vorübergehend, ausnahmsweise und aus schwerwiegenden humanitären Gründen. In Anbetracht des Wortlauts dieser Bestimmung sowie der allgemeinen Systematik von Art. 23 dieses Rahmenbeschlusses kommt eine solche Aussetzung zudem nicht für einen längeren Zeitraum in Betracht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 51).

57

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die vollstreckende Justizbehörde daran hindert, die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass sie Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben, es sei denn, dass erstens dieser Behörde Anhaltspunkte vorliegen, die aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen von Müttern von Kleinkindern und in Bezug auf die Bedingungen der Betreuung dieser Kinder im Ausstellungsmitgliedstaat das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr der Verletzung des in Art. 7 der Charta gewährleisteten Grundrechts dieser Person auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Verletzung des Wohls ihrer Kinder, wie es in Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta geschützt wird, belegen, und dass zweitens ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betreffenden Personen in Anbetracht ihrer persönlichen Situation aufgrund solcher Bedingungen einer solchen Gefahr ausgesetzt sein werden.

Zur zweiten Frage

58

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten Frage.

Kosten

59

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

dahin auszulegen, dass

 

er die vollstreckende Justizbehörde daran hindert, die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass sie Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben, es sei denn, dass erstens dieser Behörde Anhaltspunkte vorliegen, die aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen von Müttern von Kleinkindern und in Bezug auf die Bedingungen der Betreuung dieser Kinder im Ausstellungsmitgliedstaat das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr der Verletzung des in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechts dieser Person auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Verletzung des Wohls ihrer Kinder, wie es in Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta geschützt wird, belegen, und dass zweitens ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betreffenden Personen in Anbetracht ihrer persönlichen Situation aufgrund solcher Bedingungen einer solchen Gefahr ausgesetzt sein werden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.