SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

VERICA TRSTENJAK

vom 18. April 2012 ( 1 )

Rechtssache C-562/10

Europäische Kommission

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Art. 56 AEUV — Freier Dienstleistungsverkehr — Eigenständiges System der sozialen Sicherheit zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit — Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit — Vorübergehender Aufenthalt des Pflegebedürftigen in einem anderen Mitgliedstaat — Nationale Pflegeversicherungsregelung, die für die im Aufenthaltsmitgliedstaat erbrachten Pflegesachleistungen eine Kostenerstattung nicht in der Höhe der im Versicherungsstaat gewährten Pflegesachleistungen vorsieht“

I – Einleitung

1.

Nach den Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Molenaar ( 2 ) und Chamier-Glisczinski ( 3 ) steht nunmehr erneut die Soziale Pflegeversicherung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand des Unionsrechts. Zum 1. Januar 1995 durch das „Elfte Buch Sozialgesetzbuch“ (im Folgenden: SGB XI) ( 4 ) als Pflichtversicherung eingeführt, dient sie zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Unionsrechtlich wird die Soziale Pflegeversicherung, die ihren Versicherten Geld- und Sachleistungen gewährt, in der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Leistungen bei Krankheit ( 5 ) zugeordnet.

2.

Streitgegenständlich ist wiederum § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI, wonach Pflegesachleistungsansprüche aus der Pflegeversicherung, von bestimmen engen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich ruhen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält.

3.

Die praktische Relevanz dieser Einschränkung ist beträchtlich, weil sich deutsche Versicherte nicht selten im Ausland aufhalten, mit der möglichen Konsequenz, dort von bestimmten Leistungen der deutschen Pflegeversicherung abgeschnitten zu werden.

4.

Dies ist zum einen von Bedeutung im Hinblick auf die neuerdings festzustellende Tendenz gerade Schwerstpflegebedürftiger, im Hinblick auf womöglich bessere oder kostengünstigere Versorgungsmöglichkeiten einen dauerhaften Aufenthalt außerhalb des Bundesgebiets zu begründen ( 6 ).

5.

Zum anderen stellt sich die Frage der „Exportfähigkeit“ ( 7 ) der Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung ins Ausland aber auch dann, wenn sich deutsche Pflegebedürftige aus Urlaubs- oder Berufsgründen nur vorübergehend im Ausland aufhalten.

6.

Der Gerichtshof hatte bereits mehrfach Gelegenheit, die Regelungen der Sozialen Pflegeversicherung unionsrechtlich zu überprüfen.

7.

In der Rechtssache Molenaar ( 8 ) hat er – vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Verordnung Nr. 1408/71 – entschieden, dass es sich beim deutschen Pflegegeld um eine Geldleistung handelt, die der Versicherte zeitlich unbefristet auch außerhalb Deutschlands in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nehmen können muss ( 9 ). Diesem Urteil hat der deutsche Gesetzgeber mittlerweile Rechnung getragen und damit die Exportfähigkeit des Pflegegeldes ins EU-Ausland anerkannt.

8.

Anders stellt sich aus unionsrechtlicher Sicht die Lage in Bezug auf Pflegesachleistungen dar. Diese Thematik war Gegenstand der Rechtssache Chamier-Glisczinski ( 10 ), die den Fall einer vollstationären Pflege in Österreich betraf. Die Frage, ob im Licht von Art. 18 EG (jetzt Art. 21 AEUV) vom deutschen Versicherten im EU-Ausland in gleicher Weise wie in Deutschland Pflegesachleistungen beansprucht werden können, hat der Gerichtshof verneint und zur Begründung angeführt, dass sich der Sachleistungsbezug nach dem Recht des Aufenthaltsmitgliedstaats richte ( 11 ) und eine etwaige Schlechterstellung der Versicherten im Vergleich zur Rechtslage im Versicherungsstaat hinzunehmen sei, weil das Sozialversicherungsrecht nicht unionsweit harmonisiert sei ( 12 ).

9.

Im vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren geht es im Gegensatz zur Rechtssache Chamier-Glisczinski nicht um vollstationäre Pflege, sondern um die Inanspruchnahme von Pflegedienstleistungen und Pflegehilfsmitteln bei häuslicher Pflege eines Versicherten, der sich zeitweilig, etwa aus Urlaubsgründen, in einem anderen Mitgliedstaat aufhält.

10.

Da insoweit § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI einer Inanspruchnahme der Sozialen Pflegeversicherung entgegensteht, rügt die Europäische Kommission einen Verstoß gegen Art. 56 AEUV.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

1. Verordnung (EWG) Nr. 1408/71

11.

Art. 22 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern ( 13 ), bestimmt für den Fall des Aufenthalts außerhalb des zuständigen Staates:

„Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen … erfüllt und

a)

bei dessen Zustand sich Sachleistungen während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unter Berücksichtigung der Art der Leistungen und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer als medizinisch notwendig erweisen, …

hat Anspruch auf:

i)

Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; …

ii)

Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.

…“

12.

Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71 enthält eine vergleichbare Vorschrift für den „Aufenthalt von Rentnern und/oder ihren Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie wohnen“.

13.

Art. 36 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Aufwendungen für Sachleistungen, die aufgrund dieses Kapitels vom Träger eines Mitgliedstaats für Rechnung des Trägers eines anderen Mitgliedstaats gewährt worden sind, sind in voller Höhe zu erstatten.“

2. Verordnung (EG) Nr. 883/2004

14.

Nach Maßgabe ihres Art. 90 ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit ( 14 ) mit Wirkung zum 1. Mai 2010 ( 15 ) an die Stelle der Verordnung Nr. 1408/71 getreten.

15.

Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht für den Fall des Aufenthalts außerhalb des zuständigen Mitgliedstaats vor:

„Sofern in Absatz 2 nichts anderes bestimmt ist, haben ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhalten, Anspruch auf die Sachleistungen, die sich während ihres Aufenthalts als medizinisch notwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind. Diese Leistungen werden vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht, als ob die betreffenden Personen nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären.“

16.

Die Art. 27 und 35 der Verordnung Nr. 883/2004 entsprechen im Wesentlichen den Art. 31 und 36 der Verordnung Nr. 1408/71.

B – Nationales Recht

17.

§ 34 SGB XI lautet in seiner nunmehr geltenden, um den Abs. 1a ( 16 ) erweiterten Fassung:

„(1)   Der Anspruch auf Leistungen ruht:

1.

solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr ist das Pflegegeld nach § 37 oder anteiliges Pflegegeld nach § 38 weiter zu gewähren. Für die Pflegesachleistung gilt dies nur, soweit die Pflegekraft, die ansonsten die Pflegesachleistung erbringt, den Pflegebedürftigen während des Auslandsaufenthaltes begleitet,

(1a)   Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 oder anteiliges Pflegegeld nach § 38 ruht nicht bei pflegebedürftigen Versicherten, die sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz aufhalten.

…“

18.

Zur „Pflegesachleistung“ sieht § 36 Abs. 1 SGB XI vor:

„Pflegebedürftige haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe). … Häusliche Pflegehilfe wird durch geeignete Pflegekräfte erbracht, die entweder von der Pflegekasse oder bei ambulanten Pflegeeinrichtungen, mit denen die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, angestellt sind. Auch durch Einzelpersonen, mit denen die Pflegekasse einen Vertrag … abgeschlossen hat, kann häusliche Pflegehilfe als Sachleistung erbracht werden. …“

19.

§ 37 SGB XI regelt das „Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen“ und sieht vor:

„(1)   Pflegebedürftige können anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt. …“

20.

Nach Maßgabe von § 38 SGB XI ist wahlweise eine Kombination von Geldleistung und Sachleistung (Kombinationsleistung) möglich. An die Entscheidung, in welchem Verhältnis er Geld- und Sachleistung in Anspruch nehmen will, ist der Pflegebedürftige grundsätzlich für die Dauer von sechs Monaten gebunden. Bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse ist aber eine Anpassung der Entscheidung an die neue, veränderte Pflegesituation nach § 48 Abs. 1 SGB X ( 17 ) möglich, etwa dann, wenn sich der tatsächliche Bedarf oder die Verfügbarkeit der Pflegepersonen verändern.

21.

§ 40 SGB XI regelt die Bereitstellung von Pflegehilfsmitteln und sieht vor:

„(1)   Pflegebedürftige haben Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind. Die Pflegekasse überprüft die Notwendigkeit der Versorgung mit den beantragten Pflegehilfsmitteln unter Beteiligung einer Pflegefachkraft oder des Medizinischen Dienstes. …

(2) …

(3)   Die Pflegekassen sollen technische Pflegehilfsmittel in allen geeigneten Fällen vorrangig leihweise überlassen. Sie können die Bewilligung davon abhängig machen, dass die Pflegebedürftigen sich das Pflegehilfsmittel anpassen oder sich selbst oder die Pflegeperson in seinem Gebrauch ausbilden lassen. …“

III – Vorprozessuales Verfahren

22.

Anlass für das Vertragsverletzungsverfahren war der Fall eines Deutschen, der sich mit seiner pflegebedürftigen Frau für die Dauer von jeweils zwei Monaten im Jahr im EU-Ausland in einem Kurhotel aufhielt. Bei der Pflege seiner Frau im Ausland wurde er von einem ausländischen ambulanten Pflegedienst unterstützt, ferner musste dort ein Pflegebett gemietet werden. Von der Sozialen Pflegeversicherung wurde jedoch nur Pflegegeld in Höhe eines Betrags gewährt, der deutlich hinter dem Wert der Pflegesachleistungen zurückblieb, die bei einem Aufenthalt in Deutschland hätten beansprucht werden können. Kosten für die Miete des Pflegebetts wurden nicht erstattet.

23.

Nachdem die Kommission hiervon Kenntnis erhalten hatte, bat sie die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 19. September 2007 um ergänzende Informationen zu den einschlägigen gesetzlichen Regelungen, die durch Schreiben vom 7. Januar 2008 auch zur Verfügung gestellt wurden. Durch weiteres Schreiben vom 17. Oktober 2008 wies die Kommission sodann u. a. auf eine mögliche Unvereinbarkeit der Regelungen der Sozialen Pflegeversicherung im Hinblick auf die Erstattung von im EU-Ausland für ambulante Pflege angefallenen Kosten mit der Dienstleistungsfreiheit hin und setzte eine zweimonatige Frist zur Stellungnahme. Diese Stellungnahme erfolgte am 17. Dezember 2008, wobei die Bundesrepublik Deutschland der Rechtsauffassung der Kommission entgegentrat und durch weitere Schreiben vom 16. Juli 2009 und 18. September 2009 weitere Ausführungen machte. Mit Schreiben vom 23. November 2009 übermittelte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen versehene Stellungnahme.

24.

In Beantwortung dieser Stellungnahme kündigte die Bundesrepublik Deutschland eine Gesetzesänderung zur Fortzahlung des Pflegegeldes bei einem Aufenthalt im EU-Ausland an und hielt im Übrigen an ihrer Rechtsauffassung fest.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

25.

Die Kommission hat mit ihrer am 30. November 2010 beim Gerichtshof eingegangenen Klageschrift vom 29. November 2010 zunächst beantragt, Folgendes festzustellen:

Die Bundesrepublik Deutschland verstößt gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 AEUV, indem sie

1.

einen Anspruch auf Pflegegeld nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen im EU-Ausland nur für maximal sechs Wochen gewährt;

2.

für Pflegedienstleistungen, die bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen im EU-Ausland in Anspruch genommen und die von einem im EU-Ausland niedergelassenen Dienstleister erbracht wurden, eine Kostenerstattung in der Höhe der innerhalb Deutschlands gewährten Pflegesachleistungen nicht vorsieht bzw. durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt;

3.

die Kosten der Miete von Pflegehilfsmitteln bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen im EU-Ausland nicht ersetzt bzw. eine Kostenerstattung durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt, auch wenn diese in Deutschland erstattet oder Pflegehilfsmittel bereitgestellt würden und die Erstattung keine Verdoppelung oder sonstige Erhöhung der in Deutschland gewährten Leistungen zur Folge hätte.

Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.

26.

Die Bundesrepublik Deutschland hat beantragt, die Klage abzuweisen und die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen.

27.

Nachdem die Bundesrepublik Deutschland § 34 SGB XI geändert hat, um künftig zeitlich unbefristet den Bezug von Pflegegeld im EU-Ausland zu ermöglichen, hat die Kommission mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2011 ihre Klage hinsichtlich des Antrags zu 1 unter Aufrechterhaltung der Klage im Übrigen zurückgenommen.

28.

Die Bundesrepublik Deutschland begrüßt die Klagerücknahme, hält aber hinsichtlich der aufrechterhaltenen Klageanträge an ihrem Klageabweisungs- und Kostenantrag fest.

V – Wesentliches Vorbringen der Parteien

29.

Die Kommission ist der Ansicht, dass die für temporäre Aufenthalte im EU-Ausland anwendbaren Regelungen zu Pflegesachleistungen im Sinne des § 36 SGB XI und Pflegehilfsmitteln im Sinne des § 40 SGB XI, die deutlich geringere Leistungen als bei einer Pflege innerhalb Deutschlands vorsähen, mit der durch Art. 56 AEUV garantierten Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar seien. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung der Befugnis zur Gestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit das Unionsrecht zu beachten. Art. 56 AEUV verlange die Aufhebungen aller Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit auch dann, wenn sie unterschiedslos für einheimische wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gälten, sofern sie geeignet seien, die Tätigkeit ähnlicher Diensteanbieter im Ausland zu behindern. Durch die deutsche Regelung werde die Inanspruchnahme ausländischer Pflegedienstleister gegenüber vergleichbaren Diensteanbietern im Inland erschwert. Auch im Hinblick auf die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln liege eine Beschränkung darin, dass Mietkosten für solche Pflegehilfsmittel im Ausland selbst dann nicht übernommen würden, wenn sie im Inland erstattungsfähig seien.

30.

Ebenso wenig seien Rechtfertigungsgründe für die vorgenannten Beschränkungen ersichtlich. Die beschränkenden Regelungen gingen über das hinaus, was zum Schutz der Qualität der in Rede stehenden Dienstleistungen oder des Gesundheitsschutzes erforderlich sei, weil sie eine Erstattung von im EU-Ausland entstandenen Kosten unabhängig von jeder Qualitätsprüfung ausschlössen. Es sei auch nicht erkennbar, dass die vorgenannten Regelungen zum Schutz des finanziellen Gleichgewichts der Pflegeversicherung erforderlich seien, weil in Deutschland ohne Weiteres höhere Beträge erstattet würden und auch kein Grund erkennbar sei, warum Pflegebedürftige, die etwa im Inland nur Pflegegeld bezögen, im Ausland zu der kostenintensiveren Pflegesachleistung wechseln sollten.

31.

Die Grundsätze des Urteils Chamier-Glisczinski seien auf das vorliegende Verfahren nicht übertragbar, weil dieses Urteil zum einen nicht Art. 56 AEUV zum Gegenstand habe und zum anderen den Fall eines dauerhaften Wohnsitzwechsels betreffe.

32.

Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, hinsichtlich der Kostenerstattung für ambulante Pflegeleistungen nach § 36 SGB XI liege eine Beschränkung bereits deshalb nicht vor, weil auch im Inland kein Anspruch auf Kostenerstattung bei Heranziehung von Personen bestehe, die nicht Vertragspartner der Pflegekasse seien. Zwar entbinde die Beachtung von sekundärrechtlichen Vorgaben einen Mitgliedstaat nicht von der Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit, jedoch dürften gleichwohl sich aus dem Sekundärrecht ergebende Ansprüche des Sozialversicherten bei einer Gesamtbetrachtung nicht völlig außer Betracht bleiben. Daher rechtfertige es die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten, bestimmte Leistungen im Ausland nicht zu erbringen, selbst wenn möglicherweise das Leistungsniveau des Aufenthaltsstaats hinter dem des Versicherungsstaats zurückbleibe.

33.

Jedenfalls aber sei eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, sollte sie überhaupt vorliegen, gerechtfertigt. Bereits der Schutz der öffentlichen Gesundheit erfordere Regelungen wie die hier in Rede stehenden, weil es deren Ziel sei, die pflegerische Versorgung auf hohem Niveau sicherzustellen. Die Qualitätssicherung erfordere eine strenge Überprüfung der Pflegeeinrichtungen, und es würden Verträge nur mit solchen Personen oder Einrichtungen geschlossen, durch die dies gewährleistet sei. Versorgungsverträge mit ausländischen Leistungserbringern seien nach der geltenden Rechtslage deshalb nicht vorgesehen, weil neben der medizinisch-pflegerischen Leistung wesentliches Merkmal auch die persönliche Zuwendung sei und hierbei die Sprache und der kulturelle Hintergrund der zu pflegenden Person eine wesentliche Rolle spielten. Qualitätssicherungsmaßnahmen könnten im Ausland nicht gewährleistet werden.

34.

Überdies sei es unmöglich, ein ausreichend leistungsfähiges Pflegesystem aufrechtzuerhalten und organisatorisch zu strukturieren, wenn sich Patienten zu bestimmten Reisezeiten in hoher Zahl im Ausland versorgen ließen und gleichzeitig einheimische Pflegekräfte unausgelastet seien. Gerade diesem Aspekt trage auch Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 Rechnung.

35.

Schließlich sei auch das finanzielle Gleichgewicht der Pflegeversicherung bei einem möglichen Export von Pflegesachleistungen gefährdet.

36.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Fall Kohll ( 18 ) zu im EU-Ausland angefallenen Behandlungskosten lasse sich auf die Soziale Pflegeversicherung schon wegen der nicht bestehenden Gefahr einer Versorgungslücke nicht übertragen, insoweit stelle die Pflegeversicherung einen Sonderfall gegenüber der Krankenversicherung dar. Dies werde bestätigt durch die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Chamier-Glisczinski, in dem der mitgliedstaatliche Kompetenzvorbehalt für das Gesundheitswesen nochmals betont werde. Demgemäß bestehe keine Verpflichtung des Versicherungsstaats zur Bereitstellung von Leistungen, die es selbst im Wohnstaat des Versicherten nicht gebe. Mit der Aufgabe des Wohnsitzes bzw. mit der Entscheidung eines längeren Aufenthaltswechsels entscheide sich der Pflegebedürftige dafür, sich den Regeln des Aufenthaltsstaats zu unterwerfen.

37.

Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit liege schließlich auch nicht in der Regelung zur Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, vielmehr gelte hier für die Leistungsbereitstellung im Ausland die Regelung von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004.

VI – Rechtliche Würdigung

38.

Nach einer einführenden Erörterung der Systematik der Sozialen Pflegeversicherung werden im Folgenden zunächst der Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens und sodann der anzulegende Prüfungsmaßstab präzisiert. Im Anschluss daran ist zu untersuchen, ob in casu ein Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 56 AEUV zu bejahen ist. Abschließend ist der Kostenantrag der Kommission zu erörtern.

A – Grundzüge der Sozialen Pflegeversicherung

39.

Die Grundzüge der Sozialen Pflegeversicherung bei nichtstationärer Pflege, soweit sie für das vorliegende Verfahren relevant sind und einen vorübergehenden Auslandsaufenthalt betreffen, lassen sich wie folgt zusammenfassen.

40.

Die Soziale Pflegeversicherung der Bundesrepublik Deutschland sieht verschiedene Leistungen zugunsten pflegebedürftiger Personen vor. Sie umfasst in ihrem Leistungskatalog auf dem Gebiet der nichtstationären Pflege wahlweise ein pauschales „Pflegegeld“ ( 19 ), dessen Höhe vom Grad der Pflegebedürftigkeit abhängt, oder konkrete Pflegesachleistungen als „häusliche Pflegehilfe“ ( 20 ). Darüber hinaus können auch Pflegehilfsmittel unter bestimmen Voraussetzungen bereitgestellt werden ( 21 ).

1. Pflegesachleistungen

41.

Im Rahmen der häuslichen Pflege haben Pflegebedürftige gemäß § 36 SGB XI Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung, wobei die häusliche Pflegehilfe durch geeignete Pflegekräfte der Pflegekasse oder von bestimmten Pflegediensten, mit denen die Pflegekasse einen Vertrag abgeschlossen hat, erbracht werden muss. Abhängig von der Pflegestufe des Pflegebedürftigen werden derzeit monatlich Pflegesätze von 450 bis 1 550 Euro gezahlt. Im Januar 2010, dem maßgeblichen Zeitpunkt der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist, lagen die Sätze zwischen 440 und 1 510 Euro. Im Verhältnis zwischen Pflegekasse und Pflegebedürftigem werden hierbei Naturalleistungen erbracht, welche die Pflegekasse unmittelbar mit den Leistungserbringern abrechnet.

42.

Ansprüche aus § 36 SGB XI auf Sachleistungsbezug ruhen nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI grundsätzlich für die Dauer eines Auslandsaufenthalts des Pflegebedürftigen: Lediglich für einen Zeitraum von sechs Wochen im Kalenderjahr kann die Pflegesachleistung auch im Ausland weiter bezogen werden, wenn eine Pflegeperson, die die Sachleistung erbringt, den Pflegebedürftigen ins Ausland begleitet. Dabei muss die den Pflegebedürftigen ins Ausland begleitende Pflegeperson eine zur Leistung berechtigte Pflegekraft im Sinne von § 36 SGB XI sein.

2. Pflegegeld

43.

Alternativ besteht nach § 37 SGB XI die Möglichkeit, anstelle der Pflegesachleistung ein Pflegegeld zu beantragen, um hiermit die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherzustellen. Dieses pauschale Pflegegeld beträgt, wiederum abhängig von der Pflegestufe des Pflegebedürftigen, derzeit zwischen 235 und 700 Euro und liegt damit deutlich unterhalb der Sätze für die Pflegesachleistungen. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mit Gründen versehenen Stellungnahme lagen die Sätze zwischen 225 und 685 Euro. Nach § 38 SGB XI können Sachleistung und Pflegegeld auch kombiniert werden, indem beides nur teilweise in Anspruch genommen wird, wobei der Betroffene an diese Entscheidung im Prinzip jeweils für die Dauer von sechs Monaten gebunden ist.

44.

Das Pflegegeld nach § 37 SGB XI wird, ebenso wie das nur anteilige Pflegegeld nach § 38 SGB XI, als pauschalierter Kostenersatz im Nachgang des Urteils Molenaar und nunmehr ausdrücklich gemäß § 34 Abs. 1a SGB XI auch dann weiter gezahlt, wenn der Pflegebedürftige sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz aufhält.

3. Pflegehilfsmittel

45.

Schließlich hat der Pflegebedürftige daneben nach § 40 SGB XI Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen, vorausgesetzt, diese Hilfsmittel sind nicht von anderen Leistungsträgern zu stellen.

46.

Auch dieser Anspruch ruht im Falle eines Auslandsaufenthalts des Pflegebedürftigen.

B – Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens

47.

Nach der teilweisen Klagerücknahme der Kommission richten sich deren Rügen zum einen gegen die deutschen Regelungen zur Kostenerstattung bei Pflegedienstleistungen, die bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen in einem anderen Mitgliedstaat von einem „im EU-Ausland niedergelassenen Dienstleister erbracht werden“, und zum anderen gegen die entsprechenden Vorschriften zur Kostenerstattung für die Miete von Pflegehilfsmitteln.

48.

Die Klage bezieht sich also lediglich auf die Inanspruchnahme von Leistungen bei vorübergehendem Aufenthalt des Versicherten in einem anderen Mitgliedstaat. Nicht gerügt wird, dass ausländische Diensteanbieter schon deswegen, weil sie mit der Pflegekasse keine Versorgungsverträge abgeschlossen haben, generell vom Sachleistungssystem der Sozialen Pflegeversicherung ausgeschlossen sind. Auch im deutschen Hoheitsgebiet könnten sie daher ihre Dienste nicht über die Pflegekasse vermarkten, sondern nur unmittelbar den Pflegebedürftigen selbst anbieten, die zur Kostendeckung dann auf ihre eigenen finanziellen Mittel und gegebenenfalls das Pflegegeld zurückgreifen müssen.

49.

Die Kommission problematisiert die deutschen Rechtsvorschriften ferner nur unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistungsfreiheit, ohne auf andere möglicherweise betroffene Aspekte wie beispielsweise die Unionsbürgerschaft und die Freizügigkeit einzugehen. Auf diese Problematik ist, da der Streitgegenstand nach Art. 38 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch die Klageschrift vorgegeben wird und der Gerichtshof nicht ultra petita zu entscheiden hat ( 22 ), mithin auch nicht weiter einzugehen.

50.

Ausgehend von diesen Vorgaben ist im Folgenden zu erörtern, ob und nach welcher Maßgabe die Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf Regelungen der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten relevant werden kann.

C – Anzulegender Prüfungsmaßstab der Dienstleistungsfreiheit

51.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ( 23 ) ist das Recht auf Inanspruchnahme von Leistungen der Gesundheitsversorgung im EU-Ausland nicht nur an der Verordnung Nr. 1408/71 (bzw. nunmehr der Verordnung Nr. 883/2004) zu messen ( 24 ), sondern sind darüber hinaus auch die Grundfreiheiten und insbesondere die Dienstleistungsfreiheit zu beachten.

52.

Es ist somit denkbar, dass den Unionsbürgern aufgrund der Grundfreiheiten auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung Leistungen über den Rahmen dessen hinaus gewährt werden müssen, den das Sekundärrecht auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, konkret die Verordnung Nr. 1408/71 und ihre Nachfolgeverordnung, vorsieht ( 25 ).

53.

Im Schrifttum ist dieser Ansatz auf Kritik gestoßen. Im Wesentlichen wird argumentiert, dass ein direkter Rückgriff auf die Grundfreiheiten durch die sekundärrechtlichen Regelungen gesperrt sei, die vorrangiger Prüfungsmaßstab für die Ansprüche der Versicherten sein müssten, weil andernfalls das austarierte System der Koordinierung der Sozialversicherungssysteme aus seinem Gleichgewicht gebracht werde und ein Konflikt zur Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten entstehe. Nur bei Unwirksamkeit einer Norm des Sekundärrechts könne auf das Primärrecht rekurriert werden ( 26 ).

54.

Diese Kritik des Schrifttums hat den Gerichtshof jedoch zu keinem Paradigmenwechsel veranlasst. Die verzweigten Kompetenzen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens – und das daraus resultierende Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlicher Gestaltungshoheit für die Organisation des Gesundheitswesens ( 27 ) zum einen und den Grundfreiheiten zum anderen – sind ihm aber durchaus bewusst, und er betont in ständiger Rechtsprechung, dass das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt. In Ermangelung einer Harmonisierung auf der Ebene der Europäischen Union bestimmt also weiterhin das Recht jedes Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis und generell bei der Organisation des Gesundheitswesens das Unionsrecht beachten, insbesondere die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr ( 28 ), den freien Warenverkehr ( 29 ) und die Niederlassungsfreiheit ( 30 ).

55.

Konkret bedeutet das, dass auf dem Gebiet des Gesundheitswesens die Grundfreiheiten zu beachten sind, sie aber die Zuständigkeit des Mitgliedstaats ungeschmälert lassen, selbst zu beurteilen, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden soll ( 31 ). Die Dienstleistungsfreiheit vermittelt somit keinen grundsätzlichen ( 32 ) Anspruch auf eine bestimmte Ausgestaltung des nationalen Gesundheitssystems und auf die Bereitstellung eines bestimmten Leistungskatalogs.

56.

Nachdem vorstehend der spezifische Prüfungsmaßstab der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge bestimmt wurde, ist im Folgenden zu prüfen, ob die deutschen Regelungen, nach denen ein Sachleistungsexport für Versicherungsleistungen der Pflegeversicherung nur eingeschränkt möglich ist, gegen Art. 56 AEUV verstoßen.

D – Verstoß gegen Art. 56 AEUV durch den eingeschränkten Sachleistungsexport der Sozialen Pflegeversicherung?

1. Grenzüberschreitender Sachverhalt beim eingeschränkten Sachleistungsexport der Sozialen Pflegeversicherung

57.

Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist im vorliegenden Fall eröffnet. Die vorliegende Rechtssache unterscheidet sich insoweit vom Urteil Chamier-Glisczinski ( 33 ), in dem hinsichtlich der fraglichen Leistungen ein innerösterreichischer Sachverhalt vorlag, weil die Betreffende einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich begründet hatte und dortige Leistungen in Anspruch nahm.

58.

Im vorliegenden Fall geht es hingegen um einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungsempfängers im EU-Ausland, also um eine Konstellation, in der Erbringer und Empfänger der Dienstleistung in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind. Die Dienstleistungsfreiheit umfasst nicht nur den Fall der grenzüberschreitenden Dienstleistung ohne Ortswechsel, sondern schützt auch den Empfänger, der sich, wie im vorliegenden Fall, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um sich dort eine bestimmte Dienstleistung erbringen zu lassen, mithin also insbesondere auch die Freiheit eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherten, sich etwa als Tourist in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort durch einen Leistungserbringer mit Sitz in diesem Staat Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge zu erhalten, wenn sein Gesundheitszustand dies erforderlich macht ( 34 ).

59.

Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung entziehen sich im Übrigen auch nicht schon deshalb dem Schutzbereich des Art. 56 AEUV, weil der Leistungsempfänger, nachdem er den ausländischen Dienstleistungserbringer für die erhaltene Leistung bezahlt hat, später die Übernahme der Kosten dieser Behandlung durch einen nationalen Gesundheitsdienst beantragt ( 35 ).

2. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch den eingeschränkten Sachleistungsexport der Sozialen Pflegeversicherung?

60.

Nach gefestigter Rechtsprechung steht Art. 56 AEUV der Anwendung jeder nationalen Regelung entgegen, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert ( 36 ).

a) Pflegedienstleistungen bei häuslicher Pflege im Licht von Art. 56 AEUV

61.

Zu prüfen ist als Erstes, ob eine derartige Erschwerung darin zu sehen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland für Pflegedienstleistungen, die bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen im EU-Ausland in Anspruch genommen und die von einem im EU-Ausland niedergelassenen Dienstleister erbracht werden, eine Kostenerstattung in der Höhe der innerhalb Deutschlands gewährten Pflegesachleistungen nicht vorsieht bzw. durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt. Sollte dies der Fall sein, stellte sich als Zweites die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung einer solchen Beschränkung.

i) Vorliegen einer Beschränkung?

62.

Aus der Sicht des deutschen Pflegeversicherten als Nachfrager von Pflegedienstleistungen stellt sich seine rechtliche Position nach dem SGB XI in Bezug auf eine Leistungsgewährung im EU-Ausland wie folgt dar.

63.

Für einen sechswöchigen Zeitraum kann er erstens nach Maßgabe von § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI weiterhin die Pflegedienstleistungen einer geeigneten, ihn begleitenden Pflegekraft in Anspruch nehmen. Hierbei muss es sich um eine Person handeln, die die nach § 36 SGB XI vorgesehenen Qualifikationen aufweist, mithin in der Regel um eine Pflegefachkraft eines deutschen Pflegedienstes ( 37 ). Ein Rückgriff auf ausländische Anbieter kommt insoweit nicht in Betracht.

64.

Für Pflegedienstleistungen, die der Versicherte im EU-Ausland von dortigen Dienstleistern in Anspruch nimmt, kann er indessen keine „Kostenerstattung in der Höhe der innerhalb Deutschlands gewährten Pflegesachleistungen“ nach dem SGB XI erlangen. Es bleibt ihm zwar unbenommen, ausländische Dienste in Anspruch zu nehmen, doch werden ihm die deutschen Sachleistungssätze hierfür nicht zugebilligt, weil sich der ausländische Dienstleister nicht durch einen Versorgungsvertrag dem deutschen Pflegeversicherungssystem eingegliedert hat. Zur Kostendeckung kann der Pflegeversicherte allerdings auf das (im Vergleich zu den Sachleistungssätzen niedrigere) Pflegegeld zurückgreifen, sofern er für dessen Bezug optiert hat.

65.

Dieser Umstand spricht auf den ersten Blick dafür, eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf Pflegedienstleistungen im EU-Ausland zu bejahen. Betrachtet man nämlich allein die Vorschriften des SGB XI, spricht zunächst alles dafür, dass sich der deutsche Pflegebedürftige im EU-Ausland bei der Nachfrage von Pflegedienstleistungen finanziell schlechter ausgestattet sieht, als dies in Deutschland der Fall ist, wo er auf das Sachleistungssystem der Pflegeversicherung mit dessen im Vergleich zum Pflegegeld höheren Sätzen zurückgreifen kann. Ein Dienstleistungsbezug im EU-Ausland erscheint demnach erschwert und die Schwelle einer Dienstleistungsbeschränkung erreicht.

66.

Die Sach- und Rechtslage ist aber komplizierter, als es bei einer separaten Betrachtung der Regelungen des SGB XI zunächst den Anschein hat. Es muss nämlich berücksichtigt werden, worauf die Bundesregierung mehrfach hinweist, dass im EU-Ausland dem Pflegebedürftigen womöglich auch Sachleistungen aus dem Sozialversicherungssystem des Aufenthaltsmitgliedstaats zur Verfügung stehen. Auf sie bestand bzw. besteht ein Anspruch nach Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 bzw. Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004, und zwar „für Rechnung des zuständigen Trägers“ des Versicherungsstaats des Pflegebedürftigen. Soweit das Recht des Aufenthaltsstaats dies zulässt, kann der Pflegebedürftige in diesem Rahmen also auch auf die dortigen Dienstleister zurückgreifen.

67.

Eine Übernahme der Kosten einer Pflegeleistung, etwa einer häuslichen Hilfe durch eine Pflegekraft, in gleicher Höhe, wie dies in Deutschland nach den Pflegesachleistungssätzen des SGB XI der Fall wäre, ist nach alledem für den deutschen Pflegebedürftigen im EU-Ausland nicht garantiert, aber auch nicht ausgeschlossen. Drei Konstellationen sind, je nach Ausgestaltung des Leistungskatalogs des ausländischen Sozialversicherungssystems, denkbar. Zum einen könnte der Pflegebedürftige im Ausland bei Nachfrage dortiger Pflegedienstleistungen finanziell schlechter gestellt sein als in Deutschland, wenn er im EU-Ausland allein auf das Pflegegeld angewiesen ist und ihm das ausländische Sozialversicherungsnetz für häusliche Pflege keinerlei Leistungen gewährt. Es ist zum anderen aber auch vorstellbar, dass der Pflegebedürftige sich gerade in Ansehung einer womöglich großzügigeren Ausgestaltung der Sozialversicherungsleistungen im Ausland finanziell bei der Inanspruchnahme der Pflegedienstleistungen in einer besseren Lage befindet als in Deutschland. Die dritte Konstellation ist die, dass das Zusammenspiel der bestehenden Leistungsansprüche dazu führt, dass sich der Pflegebedürftige im Ausland in der exakt gleichen finanziellen Lage befindet wie in Deutschland.

68.

Letztlich hängt es also vom Zusammenspiel der deutschen und der ausländischen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften ab, ob sich der deutsche Pflegebedürftige im EU-Ausland einer Erschwerung der Inanspruchnahme der dortigen Dienstleistungen gegenübersieht, die diese für ihn weniger attraktiv machen ( 38 ) als die auf dem deutschen Markt für Pflegedienstleistungen angebotenen. Die Frage nach dem Vorliegen einer Beschränkung lässt sich somit nicht mit Absolutheit beantworten. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an.

69.

Somit lässt sich zunächst feststellen, dass die Kommission in diesem Punkt unsubstantiiert vorgetragen hat und insbesondere nicht schlüssig und im Einzelnen auf das Zusammenspiel der verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Regelungen des SGB XI eingegangen ist.

70.

Es ist allerdings nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission, die behauptete Vertragsverletzung auch tatsächlich nachzuweisen. Die Kommission muss dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, anhand deren er das Vorliegen dieser Vertragsverletzung prüfen kann. Dabei kann sich die Kommission nicht auf Vermutungen stützen ( 39 ). Vor diesem Hintergrund obliegt es der Kommission, hinreichende Tatsachen vorzutragen, die einen Verstoß erkennen lassen. Wenn dies erfolgt ist, ist es Sache des Mitgliedstaats, sich substantiiert und ausführlich gegenüber den vorgelegten Daten und den sich daraus ergebenden Folgerungen zu verteidigen ( 40 ).

71.

Dieser Darlegungslast hat die Kommission vorliegend nicht genügt, weswegen der Antrag zu 2 schon allein aus diesem Grund keinen Erfolg haben kann.

ii) Hilfsweise: Mögliche Rechtfertigungsgründe

72.

Soweit der Gerichtshof abweichend von meiner vorstehenden Analyse eine Beschränkung bejahen sollte, stellte sich sodann in einem zweiten Schritt die Frage nach ihrer Rechtfertigung, worauf im Folgenden vorsorglich in gebotener Kürze einzugehen ist.

73.

Eine möglicherweise vorliegende Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf Pflegesachleistungen, für deren Erlangung im EU-Ausland vom SGB XI nur das Pflegegeld bereitgestellt wird, ließe sich womöglich im Hinblick auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit ( 41 ) bzw. zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen, der zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zählt, die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Beschränkungen der Grundfreiheiten rechtfertigen können ( 42 ).

74.

Nachdem auf den Wertungsspielraum des jeweiligen Mitgliedstaats bei der Ausgestaltung des Systems seiner Gesundheitsvorsorge bereits hingewiesen worden ist, ist im Folgenden zu prüfen, wie sich das System der deutschen Pflegeversicherung in Bezug auf den Schutz der Gesundheit seiner Versicherten darstellt. Sodann ist zu prüfen, ob sich die Entscheidung des Gesetzgebers, für Pflegedienstleistungen unterschiedliche Maßstäbe anzulegen, je nachdem, ob sie durch Vertragspartner der Pflegekasse oder durch freie Anbieter erbracht werden, als verhältnismäßig erweist.

– Territoriales Konzept zur Sicherung des hohen Qualitätsstandards der Pflegekasse

75.

Pflegedienste, die mit der Pflegekasse einen Versorgungsvertrag zur Erbringung häuslicher Pflege geschlossen haben und Pflegesachleistungen erbringen könnten, stehen dem Versicherten nach dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland ( 43 ) im Ausland derzeit nicht zur Verfügung, so dass er von Pflegesachleistungen der Pflegekasse ( 44 ) im Ausland abgeschnitten ist.

76.

Diese Ausrichtung des deutschen Systems ist hinzunehmen, zumal es jedem Mitgliedstaat nach Art. 168 Abs. 7 AEUV freisteht, in eigener Verantwortung für die Organisation seines Gesundheitswesens Sorge zu tragen. Ob, wo und in welcher Größenordnung er Ansprüche gewährt, ist grundsätzlich seine eigene Entscheidung. Es besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung eines Mitgliedstaats, in jedem anderen Mitgliedstaat ein autonomes Sachleistungssystem für seine Pflegeversicherten bereitzuhalten: Dass die Systeme der sozialen Sicherheit nicht unionsweit harmonisiert, sondern nur koordiniert sind und dass insbesondere ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen nicht „neutral“ sein muss, sondern für den Versicherten „Vor- und Nachteile“ haben kann, hat der Gerichtshof im Urteil Chamier-Glisczinski ( 45 ) ausdrücklich unterstrichen.

– Verhältnismäßigkeit dieses Konzepts vor dem Hintergrund der Alternativität von Pflegegeld und Sachleistungsbezug

77.

Das vom deutschen Gesetzgeber zugrunde gelegte Territorialprinzip der Sachleistungen bei der Pflegeversicherung erklärt sich u. a. damit, dass die hohen Qualitätsstandards seiner Pflegedienste, die eine dauernde Kontrolle bedingen, unionsweit aufgrund der Komplexität der Kontrollvorgänge und in Anbetracht dessen, dass die Berufe der Pflegedienstleistungen nicht europaweit harmonisiert sind, nicht mit vertretbarem Aufwand erreichbar sind ( 46 ).

78.

Da die Soziale Pflegeversicherung in ihrem Leistungskatalog zum einen Pflegesachleistungen vorsieht, die grundsätzlich nicht ins Ausland exportierbar sind, und zum anderen ein Pflegegeld, das der Versicherte grundsätzlich im In- und Ausland in Anspruch nehmen kann, erweist sich die Regelung der Sozialen Pflegeversicherung aber zum einen als geeignet und erforderlich, um den angestrebten hohen Qualitätsstandard im Inland zu halten, und führt zum anderen auch zu keiner unverhältnismäßigen Benachteiligung derjenigen Versicherten, die, aus welchen Gründen auch immer, ihre Pflege außerhalb des Systems der Sozialen Pflegeversicherung mit Hilfe des Pflegegeldes selbst organisieren.

79.

Die Vorenthaltung von Sachleistungsbezug im EU-Ausland ist systemimmanent und führt zu keiner unangemessenen Benachteiligung bei Auslandsaufenthalten im EU-Ausland.

80.

Auch in Deutschland kann der Versicherte nämlich nicht für die Einschaltung eines von ihm selbst ausgewählten, vertraglich nicht an die Pflegekasse gebundenen Pflegedienstes „eine Kostenerstattung in der Höhe der innerhalb Deutschlands gewährten Pflegesachleistungen“ beanspruchen. Bewegt er sich außerhalb der Grenzen des Sachleistungssystems, das die Pflegeversicherung derzeit nur in Deutschland für ihn vorhält, so geschieht dies, in Deutschland wie im Ausland, auf eigenes Risiko, und es verbleibt ihm zur Abdeckung seines Pflegebedarfs allein das Pflegegeld. Letztlich maßgebend ist mithin die eigene Entscheidung des Pflegebedürftigen, ob er seine häusliche Pflege dem System der Pflegeversicherung überantwortet, das straff organisiert und strengen Qualitäts- und Kontrollstandards unterworfen ist ( 47 ), oder außerhalb dieses Systems unter Einsatz des ihm gewährten Pflegegeldes seine Pflege weitgehend ( 48 ) eigenverantwortlich organisiert. Entscheidet er sich für Letzteres, muss er sich in Deutschland wie im Ausland mit dem (geringeren) Pflegegeld begnügen.

81.

Der dualistische Aufbau des Leistungssystems der Sozialen Pflegeversicherung, das zum einen nur im Inland systeminterne Sachleistungen bereitstellt und zum anderen ein pauschales Pflegegeld gewährt, ist auch im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zu beanstanden.

82.

Dem Urteil Vanbraekel wird sich vor diesem Hintergrund kein unionsrechtliches Gebot entnehmen lassen, bei temporären Auslandsaufenthalten ausländische Dienstleister nach den Sachleistungssätzen der Sozialen Pflegeversicherung zu vergüten. Zwar wertet dieses Urteil den „Umstand, dass ein Sozialversicherter eine weniger günstige Erstattung erhält, wenn er sich einer Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat unterzieht, als wenn er die gleiche Behandlung im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit in Anspruch nimmt“ ( 49 ), als Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs, doch genügt bereits der Hinweis, dass das Urteil Vanbraekel von der Prämisse einer „gleichen Behandlung“, also einer identischen Leistung in den beiden Staaten, ausgeht. Von Letzterem kann in Bezug auf das Sachleistungssystem der Sozialen Pflegeversicherung im Vergleich mit ihm nicht angegliederten Leistungen freier Anbieter nicht ohne Weiteres die Rede sein, weil freie Dienstleistungsanbieter nicht dem stringenten Qualitäts- und Kontrollstandard unterworfen sind, der die Soziale Pflegeversicherung auszeichnet, die die Bundesregierung unwidersprochen als „europaweit einzigartiges System“ ( 50 ) bezeichnet hat.

83.

Auch im Licht von Ziff. 2 des Tenors des Urteils Chamier-Glisczinski ist es unionsrechtlich unbedenklich, dass insoweit das deutsche Recht keinen Sachleistungsexport vorsieht. Es wäre darüber hinaus schwer nachvollziehbar, wenn Schwerstpflegebedürftigen mit Wohnsitz im EU-Ausland ein solcher Sachleistungsexport verwehrt wäre, der über den Umweg der Dienstleistungsfreiheit aber bei vorübergehenden Aufenthalten dann zuzubilligen wäre. Entscheidet sich daher ein Unionsbürger, seinen Aufenthaltsort zeitweise oder auch dauerhaft in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, so hat er ebenso wie die damit verbundenen Vorteile auch die entsprechenden Nachteile bei der Leistungsgewährung hinzunehmen, wie sie sich aus dem Zusammenspiel der koordinierten, wiewohl nicht harmonisierten Sozialversicherungssysteme ergeben.

84.

Nach alledem ist die deutsche Regelung, die auf einen qualitativ hohen Standard der Pflegedienstleistungen unter ständiger Kontrolle und dem Einsatz besonders qualifizierter Fachkräfte abzielt, jedenfalls aus Gründen des Schutzes der Gesundheit gerechtfertigt. Sie ist geeignet, das Ziel einer hochwertigen Versorgung der Pflegebedürftigen sicherzustellen, indem die höheren Leistungssätze solchen Dienstleistern vorbehalten bleiben, die sich vollständig dem Qualitätssicherungsprogramm der Pflegekasse unterwerfen. Auch im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit ist die Regelung nicht zu beanstanden, zumal auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich des anzustrebenden Qualitätsniveaus ein weiter Wertungsspielraum einzuräumen ist. Mutatis mutandis ist in diesem Zusammenhang auf die oben in den Fn. 29 und 30 erwähnten Apothekenurteile zu verweisen. Die Regelung erscheint schließlich auch angemessen, weil sie etwa gegenüber einem zwingenden Sachleistungssystem der Pflegekasse eine größere Flexibilität der Pflegebedürftigen ermöglicht, denen es unbenommen bleibt, außerhalb des Sachleistungssystems Leistungen frei nachzufragen und hierfür auf das Pflegegeld zurückzugreifen.

85.

In Anbetracht dessen ist keine unerlaubte Beschränkung und somit kein Verstoß gegen Art. 56 AEUV ersichtlich, und dem Antrag zu 2 der Kommission ist folglich kein Erfolg beschieden.

86.

Im Folgenden ist auf den Antrag zu 3 einzugehen.

b) Miete von Pflegehilfsmitteln bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt im Licht von Art. 56 AEUV

87.

Zu prüfen ist als Erstes, ob eine Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs darin zu sehen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland die Kosten der Miete von Pflegehilfsmitteln bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen im EU-Ausland nicht ersetzt bzw. eine Kostenerstattung durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt, auch wenn diese in Deutschland erstattet oder Pflegehilfsmittel bereitgestellt würden und die Erstattung keine Verdoppelung oder sonstige Erhöhung der in Deutschland gewährten Leistungen zur Folge hätte. Als Zweites stellt sich die Frage einer etwaigen Rechtfertigung.

i) Vorliegen einer Beschränkung

88.

Die Bereitstellung von Pflegehilfsmitteln ist ebenfalls als Sachleistung zu qualifizieren und mithin nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen, die vorstehend zu den Pflegedienstleistungen erörtert wurden.

89.

Die Grundentscheidung des deutschen Gesetzgebers bei der Sozialen Pflegeversicherung ist klar und deutlich: Im EU-Ausland soll sie über das Pflegegeld wirken, im Inland sollen wahlweise Pflegegeld und Sachleistungen, Letztere auch bei den Pflegehilfsmitteln unter strikter Qualitätskontrolle ( 51 ), die der Sachleistungsgewährung in Deutschland ein spezifisches Gepräge verleiht, zur Verfügung stehen. Dies gilt auch bei den Pflegehilfsmitteln unterschiedslos für deutsche und ausländische Anbieter. Darüber hinaus steht den Versicherten im EU-Ausland, wie oben dargestellt, die Möglichkeit offen, Sachleistungen, sofern das Recht des Aufenthaltsstaats sie vorsieht, gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 bzw. der Verordnung Nr. 883/2004 nach dessen Recht und für Rechnung des zuständigen Trägers in Anspruch zu nehmen.

90.

Damit stellt sich die Frage, ob überhaupt eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit für die Miete von Pflegehilfsmitteln im EU-Ausland vorliegt, unter den gleichen Vorzeichen wie bei der Inanspruchnahme von Pflegedienstleistungen: Ob sich der mit deutschem Pflegegeld versehene Pflegebedürftige im EU-Ausland in einer im Vergleich zur Lage in Deutschland besseren oder schlechteren Position bei der Miete von Pflegehilfsmitteln befindet, lässt sich auch hier nicht pauschal beantworten, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Gleiches gilt für die Frage des Vorliegens einer Beschränkung, und auch hier ist der Kommission vorzuwerfen, dass ihr Vortrag an Genauigkeit zu wünschen übrig lässt, weil er nicht sämtliche denkbaren Konstellationen einer präzisen Würdigung unterzieht.

91.

Eine Beschränkung wäre wohl dann anzunehmen, wenn § 40 SGB XI ausländische Anbieter von Pflegehilfsmitteln gänzlich ausschlösse und etwa nur Produkte eingesetzt werden dürften, die von inländischen Anbietern bereitgestellt würden. Dies hat aber weder die Kommission vorgetragen, noch ist dies Gegenstand der vorliegenden Klage, noch ergeben sich hierfür Anhaltspunkte aus § 40 SGB XI.

92.

Da die Kommission folglich ihrer Darlegungslast nicht genügt hat, ist der Antrag zu 3 schon allein deswegen zurückzuweisen.

ii) Hilfsweise: Mögliche Rechtfertigungsgründe

93.

Soweit der Gerichtshof abweichend von meiner vorstehenden Analyse eine Beschränkung bejahen sollte, stellte sich sodann in einem zweiten Schritt die Frage nach ihrer Rechtfertigung, worauf im Folgenden vorsorglich in gebotener Kürze einzugehen ist.

94.

Auch für die Pflegehilfsmittel ist auf das Urteil Chamier-Glisczinski zu verweisen, das einen Anspruch auf den Export von Sachleistungen der Sozialen Pflegeversicherung letztlich unter Hinweis auf eine fehlende Harmonisierung des Sozialversicherungsrechts verneint hat, und darauf hinzuweisen, dass die deutsche Regelung zu den Pflegehilfsmitteln, sollte sie überhaupt als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit zu werten sein, entsprechend den vorstehend skizzierten Erwägungen gerechtfertigt wäre.

95.

Demgemäß hat auch der Antrag zu 3, nachdem kein Verstoß gegen Art. 56 AEUV festzustellen ist, letztlich keinen Erfolg.

E – Zusammenfassung und Kostentragung

96.

Nachdem keinem der Anträge der Kommission stattzugeben ist, ist die Klage abzuweisen.

97.

Der Kommission antragsgemäß sämtliche Kosten aufzuerlegen, erscheint allerdings nicht angemessen. Denn hätte die Kommission ihren Klageantrag zu 1 aufrechterhalten, wäre ihm stattzugeben gewesen, da zum maßgebenden Zeitpunkt der mit Gründen versehenen Stellungnahme § 34 SGB XI hinsichtlich des Pflegegeldes noch nicht im Einklang mit dem Urteil Molenaar stand und insoweit auch ein Verstoß gegen Art. 56 AEUV bei Vorenthaltung des Pflegegeldes im EU-Ausland zu bejahen gewesen wäre.

98.

Demnach erscheint es nach Art. 69 § 5 der Verfahrensordnung angemessen, der Kommission zwei Drittel und der Bundesrepublik Deutschland ein Drittel der Kosten aufzuerlegen.

VII – Ergebnis

99.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.

Die Klage wird abgewiesen.

2.

Die Europäische Kommission trägt zwei Drittel der Kosten der Bundesrepublik Deutschland und zwei Drittel ihrer eigenen Kosten. Die Bundesrepublik Deutschland trägt ein Drittel der Kosten der Kommission und ein Drittel ihrer eigenen Kosten.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Urteil des Gerichtshofs vom 5. März 1998, Molenaar (C-160/96, Slg. 1998, I-843).

( 3 ) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2009, von Chamier-Glisczinski (C-208/07, Slg. 2009, I-6095).

( 4 ) Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung (Art. 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014), das zuletzt durch Art. 4 des Gesetzes vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2983) geändert worden ist.

( 5 ) Vgl. etwa Urteil des Gerichtshofs vom 30. Juni 2011, da Silva Martins (C-388/09, Slg. 2011, I-5737, Randnrn. 38 und 42). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Soziale Pflegeversicherung prinzipiell nicht in den Anwendungsbereich der bis 25. Oktober 2013 umzusetzenden Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. L 88, S. 45) fällt. Die genannte Richtlinie gilt nämlich nach ihrem 14. Erwägungsgrund und ihrem Art. 1 Abs. 3 Buchst. a nicht für „Dienstleistungen im Bereich der Langzeitpflege, deren Ziel darin besteht, Personen zu unterstützen, die auf Hilfe bei routinemäßigen, alltäglichen Verrichtungen angewiesen sind“. Zudem ist die genannte Richtlinie auch ratione temporis im vorliegenden Verfahren nicht einschlägig. Aufgrund der zweimonatigen Frist, die in der der Beklagten am 23. November 2009 zugegangenen mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden ist, ist nämlich die Rechtslage vom 23. Januar 2010 als maßgebend zugrunde zu legen und muss mithin die erst 2011 in Kraft getretene Richtlinie hier außer Betracht bleiben.

( 6 ) Über sogenannte Demenz-Zentren in Thailand berichtete unlängst SPIEGEL online unter http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,773044-3,00.html.

( 7 ) Zum plastischen Begriff des Exports der Leistungen vgl. „Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen zu Leistungen der Pflegeversicherung bei Auslandsaufenthalt“ vom 13. September 2006, Nr. 1.2, im Internet verfügbar unter http://www.sindbad-mds.de/infomed/sindbad.nsf/002568A2003D5BAE/B6FAF6382466683E00256C72005C0D2C?OpenDocument, sowie Bassen, A., „Export von Sachleistungen der Pflegeversicherung nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache von Chamier-Glisczinski“, NZS 2010, S. 479 ff.

( 8 ) Urteil Molenaar, Randnrn. 36 bis 39.

( 9 ) Vgl. zudem weiterführend zu der Frage der Tragung der Rentenversicherungsbeiträge des Dritten, von dem sich ein Pflegebedürftiger Leistungen der häuslichen Pflege erbringen lässt, Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juli 2004, Gaumain-Cerri und Barth (C-502/01 und C-31/02, Slg. 2004, I-6483, Randnr. 36).

( 10 ) Urteil Chamier-Glisczinski, Randnrn. 24 bis 28, 63 bis 65, 83 bis 88 sowie Ziff. 2 des Tenors.

( 11 ) Urteil Chamier-Glisczinski, Randnr. 65.

( 12 ) Urteil Chamier-Glisczinski, Randnrn. 84 und 85.

( 13 ) ABl. L 149, S. 2, zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1).

( 14 ) ABl. L 166, S. 1, zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35).

( 15 ) Vgl. Art. 91 der genannten Verordnung.

( 16 ) Eingeführt durch Art. 7 des Gesetzes vom 22. Juni 2011 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze (BGBl. I S. 1202). Zur Begründung der Gesetzesänderung verwies der Deutsche Bundestag in der Drucksache 17/4978 ausdrücklich auf das Urteil Molenaar und darauf, dass nunmehr „der Wortlaut des § 34 SGB XI mit den Anforderungen des EG-Rechts im Einklang steht“.

( 17 ) Diese Vorschrift regelt die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse.

( 18 ) Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 1998, Kohll (C-158/96, Slg. 1998, I-1931).

( 19 ) § 37 SGB XI.

( 20 ) § 36 SGB XI.

( 21 ) § 40 SGB XI.

( 22 ) Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juni 2010, Kommission/Spanien (C-211/08, Slg. 2010, I-5267, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 23 ) Vgl. etwa die Urteile des Gerichtshofs vom 31. Januar 1984, Luisi und Carbone (286/82 und 26/83, Slg. 1984, 377, Randnr. 16), vom 28. April 1998, Decker (C-120/95, Slg. 1998, I-1831, Randnr. 27), Kohll, Randnr. 20, und Kommission/Spanien, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 24 ) Zur Möglichkeit der Gewährung eines weiter gehenden sozialen Schutzes durch die Mitgliedstaaten vgl. Urteil Chamier-Glisczinski, Randnr. 56.

( 25 ) Vgl. etwa Urteil des Gerichtshofs vom 12. Juli 2001, Vanbraekel u. a. (C-368/98, Slg. 2001, I-5363, Randnrn. 42, 45, 51 bis 53). Dort hat der Gerichtshof bei der Frage, in welchem Umfang dem Versicherten für eine Krankenhausbehandlung im EU-Ausland Kosten erstattet werden müssen, schon den „Umstand, dass ein Sozialversicherter eine weniger günstige Erstattung erhält, wenn er sich einer Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat unterzieht, als wenn er die gleiche Behandlung im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit in Anspruch nimmt“, als Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs gewertet.

( 26 ) Ein kurzer Überblick über den Diskussionsstand des Schrifttums findet sich bei Bassen, S. 480, dort insbesondere Fn. 12 und 13.

( 27 ) Vgl. Art. 168 Abs. 7 AEUV.

( 28 ) Vgl. etwa die Urteile des Gerichtshofs vom 16. Mai 2006, Watts (C-372/04, Slg. 2006, I-4325, Randnr. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung), und Kommission/Spanien, Randnr. 53.

( 29 ) Vgl. hierzu im Zusammenhang mit der Arzneimittelversorgung Urteil des Gerichtshofs vom 11. September 2008, Kommission/Deutschland (C-141/07, Slg. 2008, I-6935, Randnrn. 22 bis 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 30 ) Vgl. hierzu Urteil des Gerichtshofs vom 19. Mai 2009, Apothekerkammer des Saarlandes u. a. (C-171/07 und C-172/07, Slg. 2009, I-4171, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 31 ) Urteil Apothekerkammer des Saarlandes, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 32 ) Indessen kann die Dienstleistungsfreiheit im Einzelfall gebieten, dass die Kosten einer Auslandsbehandlung auch dann zu übernehmen sind, wenn das Sozialversicherungssystem des Heimatstaats eine Erstattung der Kosten bestimmter Auslandsbehandlungen ausdrücklich verneint. Vgl. hierzu Urteil des Gerichtshofs vom 19. April 2007, Stamatelaki (C-444/05, Slg. 2007, I-3185).

( 33 ) Vgl. dort Randnrn. 75 bis 77.

( 34 ) Vgl. hierzu Urteil Kommission/Spanien, Randnrn. 47 bis 52 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 35 ) Vgl. hierzu Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 36 ) Urteile Kohll, Randnr. 33, vom 12. Juli 2001, Smits und Peerbooms (C-157/99, Slg. 2001, I-5473, Randnr. 61), und Stamatelaki, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 37 ) In der Praxis dürfte diese Variante in Anbetracht der hohen Kosten, die eine solche begleitende Pflegekraft verursacht und die nicht zur Gänze, sondern nur im Rahmen der jeweiligen Sätze von der Pflegekasse getragen werden dürften, selten vorkommen.

( 38 ) Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 30. November 1995, Gebhard (C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 37).

( 39 ) Urteile vom 29. Oktober 2009, Kommission/Finnland (C-246/08, Slg. 2009, I-10605, Randnr. 52), vom 6. Oktober 2009, Kommission/Schweden (C-438/07, Slg. 2009, I-9517, Randnr. 49), und vom 6. Dezember 2007, Kommission/Deutschland (C-401/06, Slg. 2007, I-10609, Randnr. 27).

( 40 ) Vgl. nur Urteil vom 22. September 1988, Kommission/Griechenland (272/86, Slg. 1988, 4875, Randnr. 21).

( 41 ) Vgl. hierzu Art. 62 AEUV in Verbindung mit Art. 52 AEUV und Urteil Kohll, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 42 ) Vgl. hierzu Urteil Apothekerkammer des Saarlandes, Randnrn. 25 bis 28 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 43 ) So Randnr. 45 der Klagebeantwortung.

( 44 ) Abgesehen von der praktisch wohl kaum ins Gewicht fallenden Konstellation der Begleitung durch seine Pflegeperson, vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI.

( 45 ) Vgl. dort Randnrn. 84 und 85.

( 46 ) Vgl. hierzu S. 15 bis 17 der Klagebeantwortung der Bundesrepublik Deutschland.

( 47 ) Vgl. zu Einzelheiten etwa die der Klage als Anlage 4 beigefügte Mitteilung der Bundesregierung vom 17. Dezember 2008, S. 3 bis 7. Die Qualitätsstandards der Pflegeeinrichtungen, die für den Abschluss eines Versorgungsvertrags in Frage kommen, lassen sich den §§ 71 und 72 SGB XI entnehmen.

( 48 ) Auch Pflegegeldbezieher unterliegen indessen gemäß § 37 Abs. 3 SGB XI einer regelmäßigen Beratung und Qualitätskontrolle durch eine zugelassene Pflegeeinrichtung.

( 49 ) Urteil Vanbraekel, Randnr. 45; Hervorhebung nur hier.

( 50 ) So die in Fn. 47 bereits erwähnte Mitteilung der Bundesregierung vom 17. Dezember 2008, S. 3.

( 51 ) Ein förmliches Verfahren unter Einschaltung der Pflegekasse ist nach § 40 Abs. 1 SGB XI vorgesehen.