SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SIR GORDON SLYNN

VOM 18. NOVEMBER 1981 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Diese Rechtssache geht auf ein Vorabentscheidungsersuchen zurück, das vom Finanzgericht Münster, Bundesrepublik Deutschland, am 27. November 1980 in dem Verfahren über eine Klage der selbständigen Kreditvermittlerin Ursula Becker gegen das Finanzamt Münster-Innenstadt („das Finanzamt“) formuliert worden ist. In diesem Verfahren verlangt Frau Becker, für die Monate März bis Juni 1979 aufgrund des Artikels 13 B Buchstabe d Nr. 1 der Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 (ABl. L 145 vom 13. 6. 1977, S. 1) von der Mehrwertsteuer befreit zu werden.

Artikel 1 der Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten passen ihre gegenwärtige Mehrwertsteuerregelung den Bestimmungen der folgenden Artikel an. Sie erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, damit die Anpassungsvorschriften so bald wie möglich, spätestens am 1. Januar 1978, in Kraft treten.“ Nach Artikel 28 Absatz 4 wurde eine Übergangszeit auf „zunächst“ fünf Jahre, beginnend mit dem 1. Januar 1978, festgelegt, um zeitlich eine schrittweise Anpassung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in den in Artikel 28 Absatz 3 aufgeführten Bereichen zu ermöglichen, von denen allerdings keiner auf den vorliegenden Fall zutrifft.

Artikel 13 B der Richtlinie 77/388 lautet, soweit hier von Interesse, wie folgt: „Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der anstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer: ... d) die folgenden Umsätze: 1. die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber ...“

Die Bundesrepublik Deuschland war wie mehrere andere Mitgliedstaaten nicht in der Lage, die Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Zeit durchzuführen. Daraufhin erließ der Rat die Richtlinie 78/583 vom 26. Juni 1978 (ABl. L 194 vom 19. 7. 1978, S. 16), durch die der Stichtag für die Durchführung der Richtlinie 77/388 auf den 1. Januar 1979 hinausgeschoben wurde. Trotz dieser Verlängerung konnte Deutschland der Richtlinie immer noch nicht rechtzeitig nachkommen; die Kommission erhob deshalb am 13. August 1979 vor dem Gerichtshof Klage nach Artikel 169 EWG-Vertrag (Rechtssache 132/79). Zwei Monate später, am 26. November 1979, wurde schließlich ein Gesetz zur Durchführung der Richtlinie mit Wirkung vom 1. Januar 1980 erlassen, und die Kommission nahm ihre Klage zurück.

In der vorliegenden Rechtssache geht es somit um den Zeitraum, in dem die Bundesrepublik Deutschland entgegen den Bestimmungen in Artikel 1 der Richtlinie 77/388 diese nicht durchgeführt hatte.

Frau Becker trug in ihre Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Monate März bis Juni 1979 (d. h. die Zeit, nachdem die Verlängerungsfrist für die Durchführung der Richtlinie abgelaufen und bevor die deutsche Regierung tätig geworden war) die von ihr in diesen Monaten getätigten „Umsätze aus der Kreditvermittlung“ als von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze ein. Infolgedessen machte sie keinen Vorsteuerabzug geltend. Das Finanzamt wies ihre Behauptung, ihre Umsätze aus der Kreditvermittlung seien steuerfrei, zurück und setzte gemäß den. damals geltenden deutschen Rechtsvorschriften eine Steuerschuld fest. Frau Becker nahm das nicht hin und wandte sich mit dem Antrag an das Finanzgericht, die Mehrwertsteuer für den fraglichen Zeitraum auf 0 DM festzusetzen. Dabei stützte sie sich offenbar ausschließlich auf Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 der Richtlinie. Das Finanzamt, brachte dagegen vor, Frau Becker könne sich auf die Richtlinie nicht berufen, weil gemäß einem Erlaß des Finanzministers von Nordrhein-Westfaleri Artikel 13 B den Mitgliedstaaten einen bestimmten Ermessensspielraum lasse, und deshalb kein unmittelbar geltendes Recht darstelle. Zum Jahresende gab Frau Becker ihre Umsatzsteuer-Jahreserklärung ab, in der sie einen Vorsteuerabzug geltend machte; Grundlage dafür war jedoch anscheinend nur der Standpunkt des Finanzamts, sie könne keine Steuerbefreiung in Anspruch nehmen. Die Frage, ob sich Frau Becker damit, wie behauptet worden ist, inkonsequent verhalten hat, ist meines Erachtens für die Beantwortung der dem Gerichtshof vorgelegten Frage nicht erheblich.

Den von der Bundesregierung eingereichten Erklärungen zufolge tritt dieses Problem nur bei der Kreditvermitdung auf, weil das deutsche Recht in bezug auf die Kreditgewährung und -Verwaltung durch den Kreditgeber der Richtlinie bereits entsprach. In der dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage des Finanzgerichts geht es lediglich darum, ob Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 ab 1. Januar 1979 in Deutschland als unmittelbar geltendes Recht auf Umsätze aus der Kreditvermittlung anzuwenden ist. Die französische Regierung und die Bundesregierung sowie das Finanzamt haben schriftliche und mündliche Erklärungen abgegeben, die alle auf den Vorschlag hinauslaufen, die Frage zu verneinen, während die Kommission in ihren Erklärungen die gegenteilige Auffassung vertritt. Frau Becker selbst hat keine Erklärungen eingereicht.

Der Vertreter der Bundesregierung hat die Frage aufgeworfen, ob die Formulierung „unmittelbar geltendes Recht“ in dem Vorlagebeschluß des Finanzgerichts den in zahlreichen Entscheidungen des Gerichtshofes niedergelegten Grundsatz angemessen zum Ausdruck bringe, wonach in Artikel 189 EWG-Vertrag zwar nur Verordnungen unmittelbare Geltung zuerkannt werde, andere Rechtsakte, insbesondere Richtlinien, jedoch ähnliche Wirkungen entfalten könnten.

Aufgrund früherer Entscheidungen des Gerichtshofes dürfte meines Erachtens klar sein, daß die richtige Frage nicht lautet, ob eine Richtlinie in dem strengen Sinne „unmittelbar gilt“, in dem diese Formulierung in Artikel 189 EWG-Vertrag verwandt wird.

In der Rechtssache 41/74 (Van Duynl Home Office, Slg. 1974, 1337) hat der Gerichtshof folgendes klargestellt: „Zwar gelten nach Artikel 189 Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, daß andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten ... Es ist daher in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob die Bestimmung, um die es geht, nach Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaten und den einzelnen zu begründen.“ In den Urteilen in den Rechtssachen 51/76 (Nederlandse Ondernemingen/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Sig. 1977, 113) 148/78 (Ratti, Sig. 1979, 1629) und 102/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980, 1473) hat der Gerichtshof entschieden, daß ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einer an ihn gerichteten Richtlinie Wirkung zu verleihen, auch wenn ihm die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung der Richtlinienziele überlassen bleibt. Führt der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht durch, so kann sich ein einzelner auf ihre Bestimmungen gegenüber dem Mitgliedstaat berufen, wenn diese unbedingt und hinreichend genau sind. Der Staat kann keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen, daß er nicht rechtzeitig tätig geworden ist,-und nicht geltend machen, die Richtlinie sei noch nicht in Kraft.

Die Frage ist also nicht die, ob die Richtlinie „unmittelbar gilt“, sondern ob ihre Bestimmungen dergestalt sind, daß sich der einzelne darauf gegenüber dem Mitgliedstaat berufen kann, der es pflichtwidrig unterlassen hat, sie durchzuführen.

Die deutschen Behörden und die französische Regierung haben zahlreiche Argumente vorgebracht, um darzulegen, weshalb sich Frau Becker nicht auf die Richtlinie 77/388 berufen könne.

In erster Linie hat die Bundesregierung ausgeführt, bei den Ratserörterungen des Richtlinienentwurfs habe der Kommissionsvertreter erklärt, der jetzige Artikel 13 erhalte eine Fassung, mit der die Entstehung eines Anspruchs der Steuerpflichtigen auf Steuerbefreiung vermieden werde. Meines Erachtens sollte der Gerichtshof bei der Beantwortung der Frage diese Äußerung nicht berücksichtigen. Ob sich einzelne auf eine Richtlinienvorschrift berufen können, sollte aufgrund der Bestimmungen der Richtlinie selbst beantwortet werden; dagegen sollte nicht auf eine unveröffentlichte Erklärung abgestellt werden, mit der ein Vertreter eines der an dem Rechtsetzungsverfahren beteiligten Organe seine Ansicht über die Intentionen dieses Organs geäußert hat.

Sodann ist von der französischen Regierung behauptet worden, der Rat habe zwangsläufig die Möglichkeit einer unmittelbaren Geltung der Richtlinie ausgeschlossen, als er die Richtlinie 78/583 erlassen habe, durch die der Stichtag für die Durchführung der Richtlinie 77/388 hinausgeschoben worden sei. Der Vertreter der Kommission wollte sich auf eine zur Zeit des Erlasses der Richtlinie 78/583 abgegebene unveröffentlichte Protokollerklärung des Rates stützen, um aufzuzeigen, daß der Rat nicht beabsichtigt habe, in Rechte einzugreifen, die aufgrund der Richtlinie 77/388 möglicherweise erworben worden seien. Auch diese Erkärung würde ich beiseite lassen, da ihre Berücksichtigung nicht sachdienlich wäre.

Auf jeden Fall akzeptiere ich nicht das Argument der französischen Regierung. Die Richtlinie 78/583 hat mit der Rechtsnatur, dem Inhalt und der Systematik der in der Richtlinie 77/388 enthaltenen Bestimmungen nichts zu tun, sondern setzt nur ein neues Datum für die Durchführung der Bestimmungen dieser Richtlinie fest. Welche Rechtslage zwischen dem ursprünglich festgesetzten und dem späteren Stichtag, bis zu dem die Durchführungsfrist verlängert worden ist, auch immer bestehen mag, jedenfalls dürfte nach Ablauf der neuen Frist die Frage in bezug auf den darauffolgenden Zeitraum darin bestehen, ob sich einzelne auf die ursprüngliche, im übrigen nicht geänderte Richtlinie berufen können. Der Umstand, daß die Durchführungsfrist verlängert wurde, ist nach meiner Ansicht weder ausdrücklich noch stillschweigend ein Beweis dafür, daß der einzelne später nicht in der Lage sein soll, sich gegenüber dem in Verzug befindlichen Mitgliedstaat auf die Richtlinienbestimmungen zu berufen.

Die Bundesregierung hat vorgetragen, der einzelne könne sich auf eine Richtlinienbestimmung nur dann berufen, wenn diese seinem Interesse diene. Im vorliegenden Fall könne Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 aber vorteilhaft und nachteilig sein oder zu Ergebnissen führen, die je nachdem den einzelnen begünstigten und belasten. Daher könne er sich auf die Vorschrift nicht berufen. Mir scheint keine Entscheidung des Gerichtshofes angeführt worden zu sein, und ich kenne auch keine, die diese Forderung stützt. Wenn auch Artikel 189, wie ich es für richtig halte, so zu lesen ist, daß eine Richtlinie als solche einem einzelnen keine Verpflichtungen auferlegen kann, da sie nicht an ihn gerichtet ist, so folgt daraus nicht, daß es dem einzelnen verwehrt ist, sich auf die Richtlinie zu berufen, auch wenn sie ihm möglicherweise zum Nachteil gereicht. Das vorgebrachte Argument scheint Vorteile und Nachteile mit gesetzlichen Rechten und Verpflichtungen zu verwechseln. Die Beispiele, die der Vertreter der Bundesregierung für die wechselnden Auswirkungen des Artikels 13 B Buchstabe d Nr. 1 in unterschiedlichen Sachverhalten angeführt hat, zeigen lediglich, daß dessen Anwendung rein tatsächlich vorteilhaft sein kann oder auch nicht. Wenn sich ein einzelner gegenüber einem untätigen Mitgliedstaat auf Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 berufen kann, so deshalb, weil die Bestimmung die Mitgliedstaaten verpflichtet, einzelnen das Recht auf Steuerbefreiung bestimmter Umsätze zu gewähren. Es ist zu erwarten, daß sich ein einzelner wahrscheinlich nur dann auf eine Richtlinie berufen wird, wenn das für ihn günstig ist; der Umstand, daß dies für ihn auch nachhaltig sein kann, verändert jedoch seine Rechtsposition im Hinblick auf die Richtlinie nicht.

Ich lasse jetzt diese gegen Frau Beckers Klageanspruch vorab erhobenen Einwände beiseite und wende mich der Kernfrage zu, die in meinen Augen wie folgt lautet: War die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 durchzuführen, und ist diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau, so daß sich ein einzelner auch dann darauf berufen kann, wenn der Mitgliedstaat sie nicht durchgeführt hat?

Zunächst ist behauptet worden, wegen des Einleitungssatzes zu Artikel 13 B bestehe keine unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung, die genannten Tätigkeiten und Umsätze von der Steuer zu befreien. Den Mitgliedstaaten sei nämlich die Befugnis eingeräumt, Bedingungen „zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen“ festzusetzen.

Die Kommission hat vorgetragen, bei den Bedingungen, denen die Steuerbefreiung nach Artikel 13 B unterliege, handele es sich um flankierende Maßnahmen, die an dem unbedingten und zwingenden Charakter der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung nichts änderten. Die Mitgliedstaaten hätten nur einen Gestaltungsspielraum, um die korrekte Anwendung der vorgesehenen Steuerbefreiung sowie die Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuchen zu gewährleisten.

Aus Artikel 189 EWG-Vertrag selbst wird deutlich, daß die Wahl der Form und der Mittel den innerstaatlichen Stellen überlassen bleibt. Ein solcher Gestaltungsspielraum ist kein Hindernis dafür, daß eine Richtlinie hinsichtlich des zu erreichenden Ziels unbedingt und hinreichend genau ist. Daß den innerstaatlichen Stellen ein Ermessungsspielraum eingeräumt werden kann, ohne daß die Richtlinie aus der Kategorie derjenigen herausfällt, auf die sich einzelne berufen können, ergibt sich auch aus den Urteilen des Gerichtshofes in der Rechtssache Nederlandse Ondernemingen und in der Rechtssache 131/79 (Regina/Secretary of State for Home Affairs, Sig. 1980, 1585). Wenn es dagegen ins Ermessen des Mitgliedstaates gestellt ist, die Bestimmung überhaupt durchzuführen, dann ist die Rechtslage eine andere.

Ich halte das Vorbringen der Kommission in diesem Punkt für eindeutig richtig. Die Bedingungen, die festgesetzt werden können, beschränken sich auf Maßnahmen, durch die a) die Steuerbefreiungen korrekt und einfach angewandt werden können, um gerechtfertigte Befreiungen zu gewähren und ungerechtfertigte Ansprüche zurückzuweisen, sowie b) Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuche der Befreiungsvorschriften verhindert werden können. Wo spezifische steuerfreie Umsätze definiert sind, steht es dem Mitgliedstaat nicht frei, diese Umsatzdefinition zu ändern. Der Umstand, daß der Mitgliedstaat durch Ausnahmeregelung den Umfang der Steuerbefreiung gemäß Artikel 13 B Buchstabe b beschränken kann, macht die Bestimmung der steuerfreien Umsätze nach Teil B Buchstabe d nicht hinfällig und deren Anwendung auch nicht von Bedingungen abhängig. Die Befugnis, die in dem Eingangssatz zu Artikel 13 B genannten Bedingungen festzusetzen, entbindet meines Erachtens. nicht von der eindeutigen Verpflichtung, „die Vermittlung von Krediten“ von der Steuer zu befreien. Die Verpflichtung, dieses Ziel zu erreichen, ist genau und unbedingt.

Weiterhin ist argumentiert worden, Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 sei Bestandteil des durch die Richtlinien geschaffenen Gesamtsystems und den Mitgliedstaaten sei in vielfacher Hinsicht eindeutig keine unbedingte Verpflichtung auferlegt. Beispielhaft ist der den Mitgliedstaaten in den Artikeln 5 Absätze 3 und 5, 6 Absatz 3, 9 Absatz 3 und 28 Absatz 3 eingeräumte Ermessensspielraum angeführt worden. Ich meine jedoch nicht, daß sämtliche Bestimmungen einer Richtlinie unbedingt sein müssen, bevor sich ein einzelner auf diejenigen, die unbedingt sind, berufen kann. Die Entscheidung in der Rechtssache Nederlandse Ondernemingen dürfte vielmehr die gegenteilige Auffassung stützen. Hingen die als unbedingt erscheinenden Bestimmungen von denjenigen ab, die einer Bedingung unterliegen oder einen Ermessensspielraum gewähren, so könnten die unbedingten Bestimmungen ihrerseits von einem einzelnen nicht herangezogen werden. Im vorliegenden Fall wird die Steuerbefreiung für die Vermittlung von Krediten in keiner Weise von den Befugnissen beeinflußt, die den Mitgliedstaaten durch andere Artikel zuerkannt werden und die eine Ermessensausübung oder die Festsetzung von Bedingungen gestatten.

Außerdem ist argumentiert worden, jedes Recht auf Steuerbefreiung hänge davon ab, daß die Mitgliedstaaten von ihrer Ermächtigung nach Artikel 13 C der Richtlinie Gebrauch machten und den Steuerpflichtigen gestatteten, für eine Besteuerung zu optieren. Diese Vorschrift lautet:

„Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren:

a)

bei der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken;

b)

bei den Umsätzen nach Teil B Buchstaben d, g und h.

Die Mitgliedstaaten können den Umfang des Optionsrechts einschränken; sie bestimmen die Modalitäten seiner Ausübung.“

Es ist behauptet worden, die unmittelbare Geltung von Artikel 13 B verhindere oder schließe aus, daß ein Mitgliedstaat sein Ermessen nach Artikel 13 C ausübe. Meines Erachtens ergibt sich das nicht aus dem Wortlaut der Richtlinie. In der Sitzung hat der Vertreter der Bundesregierung eingeräumt, die Wirksamkeit von Artikel 13 B hänge nicht davon ab, daß ein Mitgliedstaat von seinem Ermessen nach Artikel 13 C Gebrauch mache. Das ist gewiß richtig. Artikel 13 C gestattet den Mitgliedstaaten lediglich, daß sie, wenn sie wollen, ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren. Das kann nur bedeuten, daß die Anwendung der Steuerbefreiungsvorschriften von Artikel 13 C unabhängig ist. In der Tat scheint vorausgesetzt zu werden, daß man sich auf Artikel 13 B (die Steuerbefreiung) berufen kann, es sei denn, der Mitgliedstaat räumt durch einen unabhängigen Ermessensakt das Recht ein, für eine Besteuerung zu optieren. Daß ein Mitgliedstaat berechtigt ist, den Umfang des Optionsrechts einzuschränken und die Modalitäten seiner Ausübung zu bestimmen, berührt die Ausübung des Optionsrechts, nicht aber den Bestand des Rechts auf Steuerbefreiung. Die Befugnis, ein Op- ^ tionsrecht auf Besteuerung einzuräumen, läuft auch nicht auf ein Ermessen der Mitgliedstaaten hinaus, die Kreditvermittlung von der Steuerbefreiung insgesamt auszuschließen.

Der Vertreter der französischen Regierung wollte einen Vergleich zwischen diesen Bestimmungen und den Steuerabzugsregelungen der Richtlinie 67/228 vom 11. April 1967 (ABl. S. 1303) ziehen, denen der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Nederlandse Ondernemingen unmittelbare Geltung abgesprochen habe. Zwar sind die Randnummern 26 und 27 der Entscheidungsgründe des Urteils erwähnt worden, den folgenden Randnummern 28 und 29 ist jedoch eine zu geringe Bedeutung beigemessen worden. Aus diesen ergibt sich, daß der Gerichtshof der Auffassung war, der Grundsatz des sofortigen Vorsteuerabzugs gelte unmittelbar, außer wenn den Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum zur Abweichung oder Ausnahme von dem Grundsatz eingeräumt sei oder „wenn für die betreffende Streitfrage eine der Bestimmungen maßgebend ist, die entweder ausdrücklich oder wegen der Unbestimmtheit der in ihr verwendeten Begriffe den Rechtsetzungs- oder Verwaltungsorganen der Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum in bezug auf den materiellen Inhalt der zugelassenen Ausnahmen oder Abweichungen einräumen“.

Es ist auch behauptet worden, daß Schwierigkeiten im Hinblick auf die Artikel 21 Nr. 1 Buchstabe c und 22 Absatz 3 der Richtlinie entstünden oder entstehen könnten, wenn es möglich sei, die Steuerbefreiung zu verlangen, weil dann nach diesen Bestimmungen ein in einer Rechnung ausgewiesener Mehrwertsteuerbetrag gezahlt werden müsse, ohne daß gemäß Artikel 17 Absatz 2 ein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe. Wenn dieses Ergebnis, wie behauptet, tatsächlich eintritt, so dürfte es sich nach meinem Dafürhalten aus dem errichteten System ergeben und keinen Widerspruch zwischen verschiedenen Bestimmungen dieses Systems darstellen, der zu dem Schluß führen müßte, daß einzelne sich nicht auf Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 berufen können. Darüber hinaus ist vorgebracht worden, wenn Frau Becker Steuerbefreiung verlangen könne, würden ihre Kunden und andere an einer Kette von Umsätzen beteiligte Steuerpflichtige (sowie andere Personen in der gleichen Lage wie Frau Becker) steuerlich benachteiligt. Eine Entscheidung des Gerichtshofes zugunsten von Frau Becker würde zu Rechtsunsicherheit und Schwierigkeiten bei der erneuten Veranlagung bereits erledigter Umsätze führen. Ob die von dem Vertreter des Finanzamtes und der Bundesregierung angeführten verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten tatsächlich auftreten würden, ist reine Spekulation. Dem Gerichtshof ist nicht bekannt, ob andere Personen eine Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Veranlagungen begehren würden oder dazu nach deutschem Recht befugt wären. Es kann durchaus in ihrem Interesse liegen, dies nicht zu beantragen. Selbst wenn Anträge auf Nachveranlagung zu verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten führen, so scheinen mir diese im wesentlichen davon herzurühren, daß die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie nicht durchgeführt hat. Sie können nicht geltend gemacht werden, um einen einzelnen daran zu hindern, sich auf die Richtlinienbestimmungen zu berufen, wenn er dazu ansonsten berechtigt ist.

Die Frage, die das Finanzgericht dem Gerichtshof vorgelegt hat, sollte nach meiner Ansicht somit dahin beantwortet werden, daß einzelne sich in bezug auf ihre Steuerpflicht für das Jahr 1979 gegenüber dem Finanzamt auf Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 berufen können.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.