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Document 62010CJ0211

Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 1. Juli 2010.
Doris Povse gegen Mauro Alpago.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberster Gerichtshof - Österreich.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Widerrechtliches Verbringen des Kindes - Vorläufige Regelung in Bezug auf die ‚elterliche Entscheidungsgewalt‘ - Sorgerecht - Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird - Vollstreckung - Zuständigkeit - Eilvorlageverfahren.
Rechtssache C-211/10 PPU.

European Court Reports 2010 I-06673

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:400

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

1. Juli 2010(*)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Widerrechtliches Verbringen des Kindes – Vorläufige Regelung in Bezug auf die ‚elterliche Entscheidungsgewalt‘ – Sorgerecht – Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird – Vollstreckung – Zuständigkeit – Eilvorlageverfahren“

In der Rechtssache C‑211/10 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 20. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Mai 2010, in dem Verfahren

Doris Povse

gegen

Mauro Alpago

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), J. Malenovský und D. Šváby,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund des Beschlusses der Dritten Kammer vom 11. Mai 2010, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer und A. Hable als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch D. Hadroušek als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch K. Drevina und E. Drobiševska als Bevollmächtigte,

–        der slowenischen Regierung, vertreten durch A. Vran und V. Klemenc als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch F. Penlington als Bevollmächtigte im Beistand von K. Smith, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen Frau Povse und Herrn Alpago wegen der Rückführung ihrer Tochter Sofia, die sich zusammen mit ihrer Mutter in Österreich befindet, nach Italien und des Sorgerechts für dieses Kind.

 Rechtlicher Rahmen

 Das Haager Übereinkommen von 1980

3        Art. 3 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) bestimmt:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

4        Art. 12 des Übereinkommens sieht vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.

Hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates Grund zu der Annahme, dass das Kind in einen anderen Staat verbracht worden ist, so kann das Verfahren ausgesetzt oder der Antrag auf Rückgabe des Kindes abgelehnt werden.“

5        Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.“

 Unionsrecht

6        Im 17. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das [Haager Übereinkommen von 1980], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.“

7        Der 21. Erwägungsgrund der Verordnung lautet:

„Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.“

8        Der 23. Erwägungsgrund der Verordnung ist wie folgt gefasst:

„Der Europäische Rat von Tampere hat in seinen Schlussfolgerungen (Nummer 34) die Ansicht vertreten, dass Entscheidungen in familienrechtlichen Verfahren ‚automatisch unionsweit anerkannt‘ werden sollten, ‚ohne dass es irgendwelche Zwischenverfahren oder Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung geben‘ sollte. Deshalb sollten Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die Rückgabe des Kindes, für die im Ursprungsmitgliedstaat nach Maßgabe dieser Verordnung eine Bescheinigung ausgestellt wurde, in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden, ohne dass es eines weiteren Verfahrens bedarf. Die Modalitäten der Vollstreckung dieser Entscheidungen unterliegen weiterhin dem nationalen Recht.“

9        Der 24. Erwägungsgrund der Verordnung lautet:

„Gegen die Bescheinigung, die ausgestellt wird, um die Vollstreckung der Entscheidung zu erleichtern, sollte kein Rechtsbehelf möglich sein. Sie sollte nur Gegenstand einer Klage auf Berichtigung sein, wenn ein materieller Fehler vorliegt, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist.“

10      Art. 2 der Verordnung enthält in Nr. 11 eine Definition des Begriffs „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“, die im Wesentlichen der Definition in Art. 3 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 entspricht.

11      Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) von Kapitel II der Verordnung besteht aus den Art. 8 bis 15. Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung lautet:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

12      Art. 10 der Verordnung enthält folgende Sonderregeln für die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

13      Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)      Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(4)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 Buchstabe b) des Haager Übereinkommens von 1980 nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.

(5)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes nicht verweigern, wenn der Person, die die Rückgabe des Kindes beantragt hat, nicht die Gelegenheit gegeben wurde, gehört zu werden.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

14      Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)      die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)      ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(5)      Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)      Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“

15      Art. 40 der Verordnung gehört zu Abschnitt 4 („Vollstreckbarkeit bestimmter Entscheidungen über das Umgangsrecht und bestimmter Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“) von Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“). In diesem Artikel heißt es unter der Überschrift „Anwendungsbereich“:

„(1)      Dieser Abschnitt gilt für

b)      die Rückgabe eines Kindes infolge einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung gemäß Artikel 11 Absatz 8.

(2)      Der Träger der elterlichen Verantwortung kann ungeachtet der Bestimmungen dieses Abschnitts die Anerkennung und Vollstreckung nach Maßgabe der Abschnitte 1 und 2 dieses Kapitels beantragen.“

16      Art. 42 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung lautet:

„(1)      Eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung über die Rückgabe des Kindes im Sinne des Artikels 40 Absatz 1 Buchstabe b), für die eine Bescheinigung nach Absatz 2 im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt wurde, wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

Auch wenn das nationale Recht nicht vorsieht, dass eine in Artikel 11 Absatz 8 genannte Entscheidung über die Rückgabe des Kindes ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs von Rechts wegen vollstreckbar ist, kann das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Entscheidung für vollstreckbar erklären.

(2)      Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats, der die Entscheidung nach Artikel 40 Absatz 1 Buchstabe b) erlassen hat, stellt die Bescheinigung nach Absatz 1 nur aus, wenn

a)      das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien,

b)      die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden, und

c)      das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung zugrunde liegen.

Ergreift das Gericht oder eine andere Behörde Maßnahmen, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen, so sind diese Maßnahmen in der Bescheinigung anzugeben.

Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats stellt die Bescheinigung von Amts wegen unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV (Bescheinigung über die Rückgabe des Kindes) aus.

Das Formblatt wird in der Sprache ausgefüllt, in der die Entscheidung abgefasst ist.“

17      Art. 43 („Klage auf Berichtigung“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Für Berichtigungen der Bescheinigung ist das Recht des Ursprungsmitgliedstaats maßgebend.

(2)      Gegen die Ausstellung einer Bescheinigung gemäß Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 sind keine Rechtsbehelfe möglich.“

18      Art. 44 („Wirksamkeit der Bescheinigung“) der Verordnung lautet:

„Die Bescheinigung ist nur im Rahmen der Vollstreckbarkeit des Urteils wirksam.“

19      Art. 47 („Vollstreckungsverfahren“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      Für das Vollstreckungsverfahren ist das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend.

(2)      Die Vollstreckung einer von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassenen Entscheidung, die gemäß Abschnitt 2 für vollstreckbar erklärt wurde oder für die eine Bescheinigung nach Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, erfolgt im Vollstreckungsmitgliedstaat unter denselben Bedingungen, die für in diesem Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen gelten.

Insbesondere darf eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, nicht vollstreckt werden, wenn sie mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar ist.“

20      Nach Art. 60 („Verhältnis zu bestimmten multilateralen Übereinkommen“) der Verordnung hat sie im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang u. a. vor dem Haager Übereinkommen von 1980.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

21      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass Frau Povse und Herr Alpago, die nicht miteinander verheiratet waren, bis Ende Jänner 2008 zusammen mit ihrer am 6. Dezember 2006 geborenen Tochter Sofia in Vittorio Veneto (Italien) wohnten. Nach Art. 317bis des italienischen Zivilgesetzbuchs stand das Sorgerecht für das Kind beiden Eltern gemeinsam zu. Ende Jänner 2008 trennten sich die Eltern, und Frau Povse verließ zusammen mit ihrer Tochter die gemeinsame Wohnung. Obwohl das Tribunale per i Minorenni di Venezia (Jugendgericht Venedig) (Italien) der Mutter auf Antrag des Vaters mit vorläufiger Eilentscheidung vom 8. Februar 2008 untersagt hatte, mit dem Kind aus Italien auszureisen, begab sie sich im Februar 2008 mit ihrer Tochter nach Österreich, wo beide seitdem leben.

22      Am 16. April 2008 wandte sich Herr Alpago an das Bezirksgericht Leoben (Österreich), um auf der Grundlage von Art. 12 des Haager Übereinkommens von 1980 die Rückführung seines Kindes nach Italien zu erreichen.

23      Am 23. Mai 2008 erließ das Tribunale per i Minorenni di Venezia eine Entscheidung, mit der es das Verbot für die Mutter, das italienische Hoheitsgebiet mit dem Kind zu verlassen, aufhob und das Sorgerecht für das Kind vorläufig beiden Elternteilen übertrug, mit der Maßgabe, dass bis zur Erlassung seiner endgültigen Entscheidung das Kind in Österreich bei seiner Mutter wohnen dürfe, der es die Befugnis für „Entscheidungen in laufenden Angelegenheiten“ übertrug. Ferner bestimmte das italienische Gericht in dieser vorläufigen Entscheidung, dass sich der Vater an den Lebenshaltungskosten des Kindes zu beteiligen habe, legte die Modalitäten und Zeiten für Besuche des Vaters fest und ordnete die Erstellung eines Gutachtens durch einen Sozialhelfer an, durch das die Beziehungen zwischen dem Kind und beiden Elternteilen ermittelt werden sollten.

24      Aus einem Bericht des mit der Sache betrauten Sozialhelfers vom 15. Mai 2009 geht hervor, dass die Mutter ungeachtet dieser Entscheidung Besuche des Vaters nur in geringem, für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Vater und Tochter, insbesondere unter dem Aspekt seiner Fähigkeiten als Elternteil, nicht ausreichendem Umfang zuließ; aus diesem Grund sah sich der Sozialhelfer außerstande, seine Aufgabe in vollem Umfang und zum Wohl des Kindes zu erfüllen.

25      Am 3. Juli 2008 wies das Bezirksgericht Leoben den Antrag von Herrn Alpago vom 16. April 2008 ab; diese Entscheidung wurde jedoch vom Landesgericht Leoben (Österreich) am 1. September 2008 aufgehoben, weil Herr Alpago nicht gemäß Art. 11 Abs. 5 der Verordnung angehört worden war.

26      Am 21. November 2008 wies das Bezirksgericht Leoben, gestützt auf die Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 23. Mai 2008, wonach das Kind vorläufig bei seiner Mutter bleiben dürfe, den Antrag von Herrn Alpago erneut ab.

27      Am 7. Jänner 2009 bestätigte das Landesgericht Leoben die den Antrag von Herrn Alpago abweisende Entscheidung und begründete dies mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für das Kind im Sinne von Art. 13 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980.

28      Frau Povse beantragte beim örtlich zuständigen Bezirksgericht Judenburg (Österreich), ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen. Am 26. Mai 2009 erklärte sich dieses Gericht, ohne Herrn Alpago in Einklang mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens Gelegenheit zur Äußerung gegeben zu haben, nach Art. 15 Abs. 5 der Verordnung für zuständig und ersuchte das Tribunale per i Minorenni di Venezia, sich für unzuständig zu erklären.

29      Herr Alpago hatte sich jedoch bereits am 9. April 2009 im Rahmen des beim Tribunale per i Minorenni di Venezia anhängigen Sorgerechtsverfahrens an dieses Gericht gewandt und beantragt, nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung die Rückführung seines Kindes nach Italien anzuordnen. In einer von diesem Gericht am 19. Mai 2009 durchgeführten mündlichen Verhandlung erklärte sich Frau Povse bereit, das vom Sozialhelfer erstellte Besuchsprogramm zwischen Vater und Tochter zu befolgen. Ihren Antrag beim Bezirksgericht Judenburg, aufgrund dessen der oben angeführte Beschluss vom 26. Mai 2009 erging, erwähnte sie nicht.

30      Mit Entscheidung vom 10. Juli 2009 bejahte das Tribunale per i Minorenni di Venezia seine eigene Zuständigkeit, da die Voraussetzungen für einen Übergang der Zuständigkeit nach Art. 10 der Verordnung nicht erfüllt seien, und stellte fest, dass das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten des Sozialhelfers nicht habe fertiggestellt werden können, da die Mutter den vom Sozialhelfer erstellten Umgangsplan nicht eingehalten habe.

31      Mit dieser Entscheidung vom 10. Juli 2009 ordnete das Tribunale per i Minorenni di Venezia ferner die sofortige Rückführung des Kindes nach Italien an und beauftragte den Sozialdienst der Gemeinde Vittorio Veneto, für den Fall, dass die Mutter mit dem Kind zurückkehren sollte, ihnen eine Wohnung zur Verfügung zu stellen und einen Plan für Kontakte zum Vater zu erstellen. Das Gericht wollte damit die Kontakte zwischen dem Kind und seinem Vater wiederherstellen, die infolge des Verhaltens der Mutter unterbrochen worden waren. Zu diesem Zweck stellte das Tribunale per i Minorenni di Venezia eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung aus.

32      Am 25. August 2009 erließ das Bezirksgericht Judenburg eine einstweilige Verfügung, mit der es die Obsorge für das Kind vorläufig der Mutter übertrug. Eine Ausfertigung dieser Entscheidung stellte es im Postweg Herrn Alpago in Italien zu, ohne ihn über sein Recht zur Annahmeverweigerung zu belehren und ohne eine Übersetzung beizufügen. Diese Entscheidung wurde am 23. September 2009 nach österreichischem Recht rechtskräftig und vollstreckbar.

33      Am 22. September 2009 beantragte Herr Alpago beim Bezirksgericht Leoben die Vollstreckung der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009, mit der die Rückführung seines Kindes nach Italien angeordnet worden war. Das Bezirksgericht Leoben wies diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Vollstreckung der Entscheidung des italienischen Gerichts mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre. Herr Alpago erhob gegen diese Entscheidung Rekurs an das Landesgericht Leoben, das, gestützt auf das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I‑5271), die Entscheidung des Bezirksgerichts aufhob und die Rückführung des Kindes anordnete.

34      Frau Povse rief den Obersten Gerichtshof mit einem gegen die Entscheidung des Landesgerichts Leoben erhobenen Revisionsrekurs an, mit dem sie die Abweisung des Vollstreckungsantrags anstrebt. Da der Oberste Gerichtshof Zweifel an der Auslegung der Verordnung hat, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist unter einer „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung auch eine vorläufige Regelung zu verstehen, mit der die „elterliche Entscheidungsgewalt“, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, bis zur endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht dem entführenden Elternteil übertragen wird?

2.      Fällt eine Rückgabeanordnung nur dann in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, wenn das Gericht die Rückgabe aufgrund einer von ihm getroffenen Sorgerechtsentscheidung anordnet?

3.      Wenn Frage 1 oder Frage 2 bejaht wird:

a)      Kann die Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts (Frage 1) oder die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung (Frage 2) im Zweitstaat gegen die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, eingewendet werden?

b)      Oder muss der Antragsgegner in einem solchen Fall im Ursprungsstaat die Aufhebung der Bescheinigung beantragen, wobei die Vollstreckung im Zweitstaat bis zur Entscheidung des Ursprungsstaats ausgesetzt werden kann?

4.      Wenn die Fragen 1 und 2 oder die Frage 3a verneint werden:

Steht eine von einem Gericht des Zweitstaats erlassene und nach dessen Recht als vollstreckbar anzusehende Entscheidung, mit der die einstweilige Obsorge dem entführenden Elternteil übertragen wurde, nach Art. 47 Abs. 2 der Verordnung der Vollstreckung einer zuvor nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erlassenen Rückgabeanordnung des Erststaats auch dann entgegen, wenn sie die Vollstreckung einer nach dem Haager Übereinkommen von 1980 erlassenen Rückgabeanordnung des Zweitstaats nicht hinderte?

5.      Wenn auch die Frage 4 verneint wird:

a)      Kann die Vollstreckung einer Entscheidung, die vom Ursprungsgericht mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung versehen wurde, im Zweitstaat verweigert werden, wenn sich die Umstände seit ihrer Erlassung in einer Weise geändert haben, dass die Vollstreckung das Wohl des Kindes nun schwerwiegend gefährdete?

b)      Oder muss der Antragsgegner diese geänderten Umstände im Ursprungsstaat geltend machen, wobei die Vollstreckung im Zweitstaat bis zur Entscheidung des Ursprungsstaats ausgesetzt werden kann?

 Zum Eilverfahren

35      Das vorlegende Gericht hat seinen Antrag, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren nach Art. 104b der Verfahrensordnung zu unterwerfen, damit begründet, dass die Kontakte zwischen dem Kind und seinem Vater unterbrochen seien. Eine Verzögerung bei der Entscheidung über die Vollstreckung der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 10. Juli 2009, die Rückführung des Kindes nach Italien anzuordnen, würde daher das Verhältnis zwischen Vater und Kind weiter verschlechtern und damit die Gefahr eines seelischen Schadens im Fall der Rückführung des Kindes nach Italien erhöhen.

36      Auf Bericht des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs am 11. Mai 2010 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

37      Es ist unstreitig, dass es sich im Ausgangsverfahren um ein widerrechtliches Verbringen eines Kindes im Sinne von Art. 3 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 und von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung handelt.

38      Ferner ist unstreitig, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der Entführung das Tribunale per i Minorenni di Venezia als das Gericht des Ortes, an dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, das nach Art. 10 der Verordnung zuständige Gericht war.

 Zur ersten Frage

39      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob in einem Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine vorläufige Regelung als „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist.

40      Es ist hervorzuheben, dass das durch die Verordnung geschaffene System auf der zentralen Rolle des nach ihren Bestimmungen zuständigen Gerichts beruht und dass nach dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein sollten.

41      In Fällen des widerrechtlichen Verbringens von Kindern sind nach Art. 10 der Verordnung im Allgemeinen die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diese Zuständigkeit bleibt grundsätzlich erhalten und wird nur dann übertragen, wenn das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und überdies eine der drei in Art. 10 alternativ aufgeführten Voraussetzungen erfüllt ist.

42      Die Frage des vorlegenden Gerichts zielt speziell darauf ab, ob das zuständige Gericht durch die Erlassung einer vorläufigen Regelung seine Zuständigkeit im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung auf die Gerichte des Mitgliedstaats übertragen hat, in den das entführte Kind verbracht wurde.

43      Hierzu ist festzustellen, dass die Verordnung darauf hinwirken soll, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen und, wenn es zu einer Entführung kommt, die Rückgabe des Kindes unverzüglich erwirkt wird (Urteil Rinau, Randnr. 52).

44      Daraus folgt, dass das widerrechtliche Verbringen eines Kindes grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, zur Folge haben sollte, selbst wenn das Kind nach der Entführung im letztgenannten Mitgliedstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt haben sollte.

45      Daher ist die in Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung aufgestellte Voraussetzung eng auszulegen.

46      Angesichts der zentralen Rolle, die dem zuständigen Gericht nach der Verordnung zukommt, und dem Grundsatz des Fortbestands seiner Zuständigkeit ist somit davon auszugehen, dass eine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ eine endgültige, auf der Grundlage einer umfassenden Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte getroffene Entscheidung ist, mit der sich das zuständige Gericht zur Frage der nicht mehr von anderen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen abhängenden Regelung der Sorge für das Kind äußert. Dass nach dieser Regelung in regelmäßigen Abständen, binnen einer bestimmten Frist oder in Abhängigkeit von bestimmten Umständen die Frage der Sorge für das Kind neu zu beurteilen oder zu überprüfen ist, nimmt der Entscheidung nicht ihren endgültigen Charakter.

47      Dies ergibt sich aus der Systematik der Verordnung und dient auch dem Wohl des Kindes. Würde nämlich eine vorläufige Entscheidung zum Verlust der Zuständigkeit für die Frage der Sorge für das Kind führen, könnte dies das zuständige Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes von der Erlassung einer solchen vorläufigen Entscheidung abhalten, obwohl das Kindeswohl sie erfordern würde.

48      Mit seiner Entscheidung vom 23. Mai 2008 hat das Tribunale per i Minorenni di Venezia, das nach den Bestimmungen der Verordnung zuständige Gericht, unter Berücksichtigung der durch die Entführung des Kindes entstandenen Sachlage und von dessen Wohl das Verbot, das italienische Hoheitsgebiet zu verlassen, aufgehoben, das Sorgerecht vorläufig beiden Elternteilen übertragen, dem Vater ein Umgangsrecht eingeräumt und – gerade im Hinblick auf die Erlassung seiner endgültigen Sorgerechtsentscheidung – die Erstellung eines Gutachtens durch einen Sozialhelfer zu den Beziehungen zwischen dem Kind und beiden Elternteilen angeordnet. Außerdem hat es der Mutter die Befugnis eingeräumt, in Bezug auf das Kind die Entscheidungen „in laufenden Angelegenheiten“ („decisioni … concernenti l’ordinaria amministrazione“) zu treffen, d. h. die elterlichen Entscheidungen über die praktischen Aspekte seines täglichen Lebens.

49      Daraus folgt, dass es sich bei dieser sowohl vom Tribunale per i Minorenni di Venezia als auch vom vorlegenden Gericht als vorläufig eingestuften Entscheidung nicht um eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht handelt.

50      Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine vorläufige Regelung keine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und nicht zu einer Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats führen kann, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde.

 Zur zweiten Frage

51      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 8 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, nur dann in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, wenn sie auf einer von diesem Gericht getroffenen endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind beruht.

52      Eine solche Auslegung, nach der die Vollstreckung einer Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, davon abhängen würde, dass es eine von diesem Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht gibt, findet im Wortlaut von Art. 11 der Verordnung und insbesondere in dessen Abs. 8 keine Grundlage. Art. 11 Abs. 8 der Verordnung erfasst vielmehr jede „spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“.

53      Zwar heißt es in Art. 11 Abs. 7, dass das Gericht oder die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts die Parteien vom Erhalt einer Mitteilung über eine im Verbringungsmitgliedstaat getroffene Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, unterrichten und sie einladen muss, Anträge einzureichen, „damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann“. In dieser Bestimmung kommt jedoch nur das Endziel der behördlichen und gerichtlichen Verfahren zum Ausdruck, das darin besteht, die Situation des Kindes zu regeln. Aus ihr kann nicht abgeleitet werden, dass eine Sorgerechtsentscheidung Vorbedingung für die Erlassung einer Entscheidung ist, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird. Die letztgenannte Zwischenentscheidung dient nämlich ebenfalls zur Verwirklichung des Endziels, insbesondere zur Regelung der Frage des Sorgerechts für das Kind.

54      Auch in den Art. 40 und 42 bis 47 der Verordnung wird die Vollstreckung einer nach Art. 11 Abs. 8 ergangenen und mit der Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 1 der Verordnung versehenen Entscheidung nicht an die vorherige Erlassung einer Sorgerechtsentscheidung geknüpft.

55      Diese Auslegung von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt.

56      Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung, mit der im Anschluss an eine Entscheidung, die Rückgabe eines Kindes zu verweigern, dessen Rückgabe angeordnet wird, obwohl sie der Sache nach mit anderen durch die Verordnung geregelten Materien, insbesondere dem Sorgerecht, zusammenhängt, verfahrensrechtliche Selbständigkeit genießt, um die Rückgabe eines widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbrachten Kindes nicht zu verzögern. Er hat ferner diese Selbständigkeit der Bestimmungen in den Art. 11 Abs. 8, 40 und 42 der Verordnung und die vorrangige Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats im Rahmen von Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung bekräftigt (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, Randnrn. 63 und 64).

57      Hinzuzufügen ist, dass diese Auslegung mit Sinn und Zweck des durch die Art. 11 Abs. 8, 40 und 42 der Verordnung geschaffenen Systems in Einklang steht.

58      Nach diesem System wird, wenn ein Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, entschieden hat, die Rückgabe des Kindes gemäß Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, durch die Verordnung, die nach ihrem Art. 60 im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor diesem Übereinkommen hat, dem nach der Verordnung zuständigen Gericht die Entscheidung über die etwaige Rückgabe des Kindes vorbehalten. Daher bestimmt Art. 11 Abs. 8, dass eine solche Entscheidung des zuständigen Gerichts im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung vollstreckbar ist, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.

59      Das zuständige Gericht muss, bevor es diese Entscheidung erlässt, die Gründe und Beweismittel berücksichtigen, die der Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, zugrunde liegen. Ihre Berücksichtigung trägt dazu bei, die Vollstreckbarkeit einer solchen Entscheidung, nachdem sie ergangen ist, im Einklang mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu rechtfertigen, auf dem die Verordnung beruht.

60      Darüber hinaus sieht dieses System eine zweifache Prüfung der Frage der Rückgabe des Kindes vor und gewährleistet damit eine bessere Grundlage der Entscheidung und einen erhöhten Schutz des Kindeswohls.

61      Außerdem muss, wie die Kommission zutreffend ausführt, das Gericht, das letztlich über das Sorgerecht zu entscheiden hat, die Möglichkeit haben, alle Modalitäten und vorübergehenden Maßnahmen einschließlich der Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes festzulegen, was unter Umständen dessen Rückgabe erforderlich machen könnte.

62      Das mit den Bestimmungen der Art. 11 Abs. 8, 40 und 42 der Verordnung verfolgte Ziel der Verfahrensbeschleunigung und die vorrangige Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats wären schwer mit einer Auslegung vereinbar, nach der einer Entscheidung über die Rückgabe eine endgültige Sorgerechtsentscheidung vorausgegangen sein muss. Eine solche Auslegung würde das zuständige Gericht unter Umständen zwingen, eine Sorgerechtsentscheidung zu treffen, obwohl es nicht über alle hierfür relevanten Informationen und Gesichtspunkte und über die für ihre objektive und ausgewogene Würdigung erforderliche Zeit verfügt.

63      Zu dem Argument, eine solche Auslegung könnte zu unnötigen Ortswechseln des Kindes führen, falls das zuständige Gericht das Sorgerecht letztlich dem im Verbringungsmitgliedstaat wohnhaften Elternteil übertragen sollte, ist hervorzuheben, dass das Interesse daran, dass eine gerechte und gut fundierte gerichtliche Entscheidung über das endgültige Sorgerecht für das Kind ergeht, das Erfordernis, von Kindesentführungen abzuschrecken, sowie das Recht des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen Vorrang vor den durch solche Ortswechsel möglicherweise verursachten Unannehmlichkeiten haben.

64      Eines der Grundrechte des Kindes ist nämlich sein in Art. 24 Abs. 3 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) niedergelegter Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, dessen Wahrung unbestreitbar dem Wohl jedes Kindes entspricht (vgl. Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 54). Ein widerrechtliches Verbringen des Kindes im Anschluss an eine einseitige Entscheidung eines Elternteils nimmt aber dem Kind meist die Möglichkeit, regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu dem anderen Elternteil zu pflegen (Urteil Detiček, Randnr. 56).

65      Dass diese Betrachtungsweise richtig ist, ergibt sich auch aus der Prüfung der Sachlage im Ausgangsverfahren.

66      Der Beschluss vom 10. Juli 2009, mit dem das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnete, wird nämlich damit begründet, dass die Beziehungen zwischen dem Kind und dessen Vater unterbrochen seien. Das Wohl des Kindes wird daher dadurch am besten gewahrt, dass diese Beziehungen wiederhergestellt werden und zugleich, soweit möglich, für die Anwesenheit der Mutter in Italien gesorgt wird, damit die Beziehungen des Kindes zu beiden Elternteilen sowie deren Fähigkeiten als Eltern und ihre persönlichen Eigenschaften von den zuständigen italienischen Stellen eingehend geprüft werden können, bevor eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht und die elterliche Verantwortung ergeht.

67      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 8 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, auch dann in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, wenn ihr keine von diesem Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind vorausgegangen ist.

 Zur dritten Frage

68      Angesichts der Antwort auf die ersten beiden Vorlagefragen ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Zur vierten Frage

69      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, entgegensteht, weil sie mit der letztgenannten Entscheidung unvereinbar ist.

70      Nach dem 24. Erwägungsgrund und den Art. 42 Abs. 1 und 43 Abs. 2 der Verordnung sind gegen die Ausstellung einer Bescheinigung keine Rechtsbehelfe möglich, und eine mit einer solchen Bescheinigung versehene Entscheidung ist ohne Weiteres vollstreckbar, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf.

71      Überdies ist nach Art. 43 Abs. 1 der Verordnung das Recht des Ursprungsmitgliedstaats für Berichtigungen der Bescheinigung maßgebend, wobei eine Berichtigung nach dem 24. Erwägungsgrund nur bei materiellen Fehlern möglich ist, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist. Zudem ist nach Art. 44 der Verordnung die Bescheinigung nur im Rahmen der Vollstreckbarkeit des Urteils wirksam, und nach Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung darf eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, nicht vollstreckt werden, wenn sie mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar ist.

72      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 23. Erwägungsgrund der Verordnung die Modalitäten der Vollstreckung solcher Entscheidungen weiterhin dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats unterliegen.

73      Aus den vorstehenden Bestimmungen, die eine klare Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsehen und auf die rasche Rückführung des Kindes abzielen, ergibt sich, dass gegen eine gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellte Bescheinigung, die der Entscheidung, für die sie ausgestellt wurde, eine spezifische Vollstreckbarkeit verleiht, keine Rechtsbehelfe möglich sind. Das ersuchte Gericht kann lediglich die Vollstreckbarkeit einer solchen Entscheidung feststellen, wobei gegen die Bescheinigung nur mit einer Klage auf Berichtigung oder der Geltendmachung von Zweifeln an ihrer Echtheit nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats vorgegangen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, Randnrn. 85, 88 und 89). Vom Recht des ersuchten Mitgliedstaats sind allein die Regeln über Verfahrensfragen anwendbar.

74      Dagegen sind Fragen, die die Begründetheit der Entscheidung als solche betreffen, und insbesondere die Frage, ob die Voraussetzungen vorliegen, die es dem zuständigen Gericht ermöglichen, diese Entscheidung zu erlassen, einschließlich etwaiger die Zuständigkeit betreffender Rügen vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats nach dessen Recht geltend zu machen. Desgleichen kann ein Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, nur vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nach dessen Recht gestellt werden.

75      Somit kann vor den Gerichten des Verbringungsmitgliedstaats nicht gegen die Vollstreckung einer solchen Entscheidung vorgegangen werden; das Recht dieses Staates regelt allein die Verfahrensfragen im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Verordnung, d. h. die Modalitäten der Vollstreckung der Entscheidung. Ein Verfahren, wie es Gegenstand der hier zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage ist, betrifft aber weder Formerfordernisse noch Verfahrensfragen, sondern Sachfragen.

76      Folglich ist die Frage, ob eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar im Sinne von Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung ist, nur in Bezug auf etwaige spätere Entscheidungen der zuständigen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zu prüfen.

77      Eine solche Unvereinbarkeit liegt nicht nur dann vor, wenn die Entscheidung infolge einer Klage vor einem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats aufgehoben oder geändert wird. Wie in der mündlichen Verhandlung dargelegt worden ist, kann das zuständige Gericht nämlich aus eigener Initiative oder gegebenenfalls auf Antrag der Sozialdienste seinen eigenen Standpunkt ändern, wenn das Wohl des Kindes es erfordert, und eine neue vollstreckbare Entscheidung erlassen, ohne die vorherige Entscheidung, die damit hinfällig wird, ausdrücklich aufzuheben.

78      Könnte eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats der Vollstreckung einer früheren, mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, entgegenstehen, so würde dies eine Umgehung des durch Abschnitt 4 von Kapitel III der Verordnung geschaffenen Systems darstellen. Eine solche Ausnahme von der Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats würde Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, der dem zuständigen Gericht die Letztentscheidungsbefugnis einräumt und der nach Art. 60 der Verordnung Vorrang vor dem Haager Übereinkommen von 1980 hat, die praktische Wirksamkeit nehmen und den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Sachzuständigkeit verschaffen.

79      Folglich ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Rückgabe des Kindes anordnet, nicht entgegengehalten werden kann.

 Zur fünften Frage

80      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat deshalb verweigert werden kann, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Entscheidung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte, oder ob eine solche Änderung vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats geltend gemacht werden muss, wobei die Vollstreckung der Entscheidung im ersuchten Mitgliedstaat bis zum Abschluss des Verfahrens im Ursprungsmitgliedstaat auszusetzen ist.

81      Eine erhebliche Änderung der das Wohl des Kindes betreffenden Umstände stellt eine Sachfrage dar, die gegebenenfalls zur Änderung der Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Rückgabe des Kindes führen kann. Nach der in diesem Urteil mehrfach erwähnten Zuständigkeitsverteilung hat über eine solche Frage das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu entscheiden. Dieses Gericht ist darüber hinaus nach dem durch die Verordnung geschaffenen System auch für die Beurteilung des Kindeswohls zuständig, und bei ihm ist ein etwaiger Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Entscheidung zu stellen.

82      An diesem Ergebnis ändert es nichts, dass nach Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung unter „denselben Bedingungen“ erfolgt, wie sie für eine im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung gelten würden. Dieses Erfordernis ist eng auszulegen. Es kann nur die Modalitäten des bei der Rückführung des Kindes anzuwendenden Verfahrens betreffen und keinesfalls einen inhaltlichen Grund dafür liefern, sich der Entscheidung des zuständigen Gerichts zu widersetzen.

83      Auf die fünfte Frage ist daher zu antworten, dass die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht deshalb verweigert werden kann, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Entscheidung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte. Eine solche Änderung muss vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats geltend gemacht werden, bei dem auch ein etwaiger Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Entscheidung zu stellen ist.

 Kosten

84      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine vorläufige Regelung keine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und nicht zu einer Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats führen kann, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde.

2.      Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, auch dann in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, wenn ihr keine von diesem Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind vorausgegangen ist.

3.      Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Rückgabe des Kindes anordnet, nicht entgegengehalten werden kann.

4.      Die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung kann im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht deshalb verweigert werden, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Entscheidung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte. Eine solche Änderung muss vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats geltend gemacht werden, bei dem auch ein etwaiger Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Entscheidung zu stellen ist.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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