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Document 61987CC0122

Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Vilaça vom 15. März 1988.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Befreiung der Leistungen der Tierärzte von der Mehrwertsteuer.
Rechtssache 122/87.

European Court Reports 1988 -02685

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1988:153

61987C0122

Schlussanträge des Generalanwalts Vilaça vom 15. März 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG - BEFREIUNG VON DER MEHRWERTSTEUER FUER TIERAERZTLICHE LEISTUNGEN. - RECHTSSACHE 122/87.

Sammlung der Rechtsprechung 1988 Seite 02685


Schlußanträge des Generalanwalts


++++

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1 . Die vorliegende Klage wegen Vertragsverletzung richtet sich gegen diejenigen Vorschriften des italienischen Rechts - Artikel 10 des Dekrets Nr . 633 des Präsidenten der Republik vom 26 . Oktober 1972 in der Fassung des Dekrets Nr . 24 des Präsidenten der Republik vom 29 . Januar 1979, in Verbindung mit Artikel 99 des Königlichen Dekrets Nr . 1265 vom 27 . Juli 1934 -, die die von den Tierärzten in Ausübung ihres Berufes erbrachten Leistungen von der Mehrwertsteuer befreien .

2 . Der Kommission zufolge verstösst diese Befreiung gegen die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie des Rates vom 17 . Mai 1977 ( 77/388/EWG ) ( 1 ), insbesondere gegen deren Artikel 2 .

3 . Der Rechtsstreit betrifft im wesentlichen die Auslegung von Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten von der Steuer befreien : "die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden" ( italienische Fassung : "le prestazioni mediche effettuate nell' esercizio delle professioni mediche e paramediche quali sono definite dagli Stati membri interessati ").

4 . Im Vorverfahren und auch in der mündlichen Verhandlung hat die Regierung der Italienischen Republik dargelegt, weshalb sie sich für berechtigt gehalten hat, gestützt auf die genannte Vorschrift die Leistungen der Tierärzte von der Mehrwertsteuer zu befreien .

5 . Die Kommission ist demgegenüber der Auffassung, die umstrittene Befreiung betreffe lediglich die ärztliche Behandlung von Menschen . Sie hat deshalb das in Artikel 169 EWG-Vertrag vorgesehene Verfahren eingeleitet, wobei sie sich auf vier - im Sitzungsbericht zusammengefasste - Argumentationsreihen stützt .

6 . Die Ansicht der Kommission ist begründet .

7 . Artikel 2 der Sechsten Richtlinie unterwirft der Mehrwertsteuer ganz allgemein die "Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt ".

8 . Artikel 4 Absatz 1 seinerseits bestimmt : "Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis ." Hierzu gehören die "Tätigkeiten eines Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten ... der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe ".

9 . Diese Bestimmungen bringen den den Aufbau des Mehrwertsteuerrechts der Gemeinschaft beherrschenden allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck, der in den Begründungserwägungen der Ersten und der Sechsten Richtlinie niedergelegt ist .

10 . Nach der fünften Begründungserwägung der Ersten Richtlinie ( 2 ) wird "die grösste Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems ... erreicht, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions - und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasst ".

11 . Eine generalisierte, einheitliche Anwendung der Mehrwertsteuer auf die steuerbaren Umsätze ist deshalb für die Erreichung der Ziele der Steuer unerläßlich; sie sichert die steuerlich neutrale Behandlung der inländischen wie der internationalen Transaktionen, gewährleistet eine einfache und finanziell wirksame Anwendung der Steuer und ermöglicht es schließlich, daß diese als einheitliche Grundlage für die Berechnung der eigenen Mittel der Gemeinschaft dienen kann ( 3 ).

12 . Dem trägt die vierte Begründungserwägung der Zweiten Richtlinie ( 4 ) Rechnung, wo es heisst : "Damit das System einfach und neutral angewandt und der normale Steuersatz in vernünftigen Grenzen gehalten werden kann, müssen Sonderregelungen und Ausnahmemaßnahmen beschränkt werden ."

13 . In diesem Sinne hat die Sechste Richtlinie die Besteuerungsgrundlage der Mehrwertsteuer für alle Mitgliedstaaten vereinheitlicht und für eine möglichst umfassende allgemeine Erhebung der Steuer Sorge getragen .

14 . Insbesondere hat die Sechste Richtlinie die Liste der Steuerbefreiungen "im Hinblick auf eine gleichmässige Erhebung der eigenen Mittel in allen Mitgliedstaaten" vereinheitlicht ( elfte Begründungserwägung ).

15 . Die Rechtsprechung des Gerichtshofes belegt, daß es dieser seinerseits abgelehnt hat, die in der Richtlinie vorgesehenen Befreiungen ausdehnend auszulegen, wenn keine Gründe für eine Auslegung nachgewiesen sind, die es gebieten, über den Wortlaut der die Befreiung vorsehenden Bestimmungen, insbesondere von Artikel 13, hinauszugehen ( 5 ).

16 . Was die in Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c ausgesprochene Befreiung betrifft, die den Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits bildet, so muß man den vom Richtliniengeber der Gemeinschaft verwendeten Ausdrücken, durch die die Ermessensübung der Mitgliedstaaten begrenzt wird, notwendigerweise einen einheitlichen Sinn zuerkennen, obwohl die Bestimmung auf die von den Mitgliedstaaten festgelegten Definitionen verweist; andernfalls würden wir uns von dem Ziel "der einheitlichen und nach Gemeinschaftsvorschriften erfolgenden Bestimmung einer steuerpflichtigen Bemessungsgrundlage" ( 6 ) entfernen .

17 . Da die Richtlinie nirgends näher bestimmt, was unter "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der ... ärztlichen ... Berufe erbracht werden" zu verstehen ist, muß man sich an die Bedeutung dieser Wendung im allgemeinen Sprachgebrauch halten . Danach umfassen aber der ärztliche Beruf und die Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin nicht die tierärztliche Tätigkeit, sondern lediglich die Heilbehandlung von Personen durch Ärzte; der Begriff des ärztlichen Berufes oder der ärztlichen Tätigkeit darf nicht mit der Gesamtheit der "Tätigkeiten auf dem Gebiete des Gesundheitswesens" verwechselt werden, die durchaus die Arbeit der Tierärzte einschließen könnten .

18 . Zu dieser Auslegung müsste in jedem Fall die italienische Fassung der Sechsten Richtlinie führen - die von "prestazioni mediche" und "professioni mediche" spricht -, es sei denn, daß sachliche Gründe eine abweichende Auslegung gebieten .

19 . Nun bestehen aber nicht nur keine derartigen Gründe, sondern alle in Betracht kommenden Auslegungsmittel sprechen darüber hinaus für die Auffassung der Kommission .

20 . Das zeigt sich zum Beispiel, wenn man die italienische Fassung mit der dänischen, deutschen, französischen und niederländischen Fassung vergleicht, die sich nur auf die Behandlung von Personen beziehen und damit ausdrücklich bekräftigen, daß die Verfasser der Vorschrift nicht über den Sinn hinausgehen wollten, der den genannten Ausdrücken üblicherweise zukommt .

21 . Die Stellung des Buchstabens, unter dem die streitige Befreiung ausgesprochen wird - zwischen dem Buchstaben, der sich mit der Krankenhausbehandlung und der Heilbehandlung durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, Krankenanstalten und Zentren für ärztliche Heilbehandlung befasst, und dem, der die Lieferungen von menschlichen Organen, menschlichem Blut und Frauenmilch betrifft - dürfte bestätigen ( wie dies auch die Kommission betont hat ), daß es hier um den Inbegriff von Tätigkeiten mit besonderer sozialer und humaner Dimension geht, die im Zusammenhang mit der menschlichen Gesundheit stehen ( 7 ).

22 . Dieselbe Auslegung ergibt sich im Wege des Umkehrschlusses aus den von der Kommission angeführten Bestimmungen von Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F Absatz 9 . Artikel 28 enthält nämlich eine Übergangsregelung, wonach die Mitgliedstaaten während eines bestimmten, grundsätzlich beschränkten Zeitraums bestimmte Umsätze weiterhin befreien können, wenn diese Befreiungen bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bestanden . ( Die Parteien haben übereinstimmend erklärt, daß dies für die Tätigkeit der Tierärzte in Italien nicht zutraf .) Im Falle von Artikel 13 Teil A haben wir es dagegen mit einer gewöhnlichen Liste von Befreiungen für bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten zu tun, die - ohne zeitliche Begrenzung - für die Mitgliedstaaten verbindlich ist .

23 . Da die Tätigkeiten der Tierärzte ausdrücklich in die Übergangsregelung des Artikels 28 einbezogen wurden, können sie nicht gleichzeitig unter die allgemeine Befreiungsregelung des Artikels 13 fallen .

24 . Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c ist deshalb dahin auszulegen, daß er nur die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der medizinischen Berufe erbracht werden, und nicht die Behandlung von Tieren durch Tierärzte erfasst .

25 . Im übrigen hat die Italienische Republik schließlich anerkannt, daß ihre Haltung auf einer unzutreffenden Auslegung der Richtlinie beruhte; sie hat deswegen ihren Widerspruch gegen den Vorwurf der Kommission aufgegeben und in der Klagebeantwortung ihre Absicht bekundet, die beanstandeten Vorschriften zu ändern und die von den Tierärzten erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer zu unterwerfen .

26 . Da diese Änderung jedoch nicht rechtzeitig erfolgt ist, muß der Gerichtshof der Klage der Kommission stattgeben und somit feststellen, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen verstossen hat, sowie ihr die Kosten des Verfahrens auferlegen .

(*) Aus dem Portugiesischen übersetzt .

( 1 ) ABl . L 145 vom 13 . 6 . 1977, S . 1 .

( 2 ) Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11 . April 1967 ( ABl . Nr . 71 vom 14 . 4 . 1967, S . 1301 ).

( 3 ) Wegen einer ausführlicheren Darstellung des Mehrwertsteuersystems siehe meine - in der mündlichen Verhandlung vom 27 . Januar 1988 vorgetragenen - Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen 138 und 139/86, Direct Cosmetics .

( 4 ) Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11 . April 1967 ( ABl . Nr . 71 vom 14 . 4 . 1967, S . 1303 ).

( 5 ) Siehe das Urteil vom 11 . Juli 1985 in der Rechtssache 107/84, Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg . 1985, 2655, Randnr . 20 .

( 6 ) Urteil vom 14 . Mai 1985 in der Rechtssache 139/84, Van Dijk' s Bökhuis, Slg . 1985, 1405, 1418, Randnr . 19 .

( 7 ) Diese Auffassung liegt den Entscheidungsgründen des kürzlich ergangenen Urteils vom 23 . Februar 1988 in der Rechtssache 353/85 zugrunde, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg . 1988, 817, Randnrn . 32 und 33 .

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