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Document 52016AE2508

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer umfassende Qualifikationen voraussetzenden Beschäftigung“ (COM(2016) 378 final — 2016/0176 (COD))

OJ C 75, 10.3.2017, p. 75–80 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer umfassende Qualifikationen voraussetzenden Beschäftigung“

(COM(2016) 378 final — 2016/0176 (COD))

(2017/C 075/14)

Berichterstatter:

Peter CLEVER

Befassung

Europäisches Parlament, 4.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Befassung

Rat der Europäischen Union, 20.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

22.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

195/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die EU auch auf eine Zuwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte angewiesen, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Die Aktivierung nationaler Arbeitsmarktpotenziale — so unzweifelhaft wichtig genau diese in der nationalen Politik ist — reicht hierzu nicht aus; vielmehr ist eine gemeinsame europäische Fachkräftegewinnungsstrategie notwendig, da sich im globalen Wettbewerb um Fachkräfte Europa als Ganzes besser positionieren kann als die einzelnen Mitgliedstaaten.

1.2.

Eine gemeinsame Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten sollte ganzheitlich angelegt sein und von der ersten Ansprache zuwanderungsinteressierter Fachkräfte bis hin zum Umgang mit Rentenansprüchen alle relevanten Bereiche abdecken. Dabei sollten auch Zuwanderer in den Blick genommen werden, die zunächst einen Teil ihres Hochschulstudiums im Land absolvieren. Auch müssen die Auswirkungen der Fachkräftezuwanderung in den Herkunftsländern in den Blick genommen werden und diese bei der Weiterentwicklung ihrer Bildungssysteme unterstützt werden.

1.3.

Wichtig ist zudem, einen möglichst breiten Konsens zu erzielen, der es ermöglicht, dass sich die Mitgliedsländer zu dieser Strategie auch bekennen und die auf EU-Ebene beschlossenen Maßnahmen konsequent umsetzen. Dabei ist auf eine enge Einbindung der nationalen und europäischen Sozialpartner zu achten. Bei der Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen sind Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung sicherzustellen.

1.4.

Ein zentrales Aktionsfeld einer kohärenten Arbeitsimmigrationspolitik ist die Zulassungspolitik. Dabei können gemeinsame Regelungen Drittstaatenangehörigen den Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten erleichtern, stellen gleichzeitig aber auch immer einen Eingriff in die nationale Souveränität dar. Daher muss an dieser Stelle grundsätzlich zwischen den Vor- und Nachteilen einer weitergehenden Harmonisierung abgewogen werden. Eine vollständige Harmonisierung der Zulassungspolitik erscheint nach derzeitigem Stand nicht sinnvoll und notwendig.

1.5.

Der von der EU-Kommission vorgelegte Entwurf zur Neuregelung der Blauen Karte geht nach derzeitigem Stand an dieser Stelle zu weit, da er den Mitgliedsländern die Möglichkeit nimmt, eigene, auf ihre spezifischen Bedarfe abgestimmte Zugangswege für Hochqualifizierte zu unterhalten. Dennoch ist es richtig darauf hinzuwirken, dass in Zukunft die Blaue Karte bei der Zulassung von hoch qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten in den EU-Ländern verstärkt zum Einsatz kommt. Ähnlich der amerikanischen Greencard könnte sie dann eine Marke bilden, die die EU als Zielregion für hoch qualifizierte Zuwanderung attraktiv macht.

1.6.

Insgesamt ist der Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Blauen Karte positiv zu bewerten, da er die Blaue Karte als Zugangsweg in die EU attraktiver macht und insbesondere die Mobilität der Inhaber der Blauen Karte innerhalb der EU deutlich erleichtert. In diesem Kontext ist sehr zu begrüßen, dass bessere Möglichkeiten für Geschäftsaufenthalte in anderen EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden.

1.7.

Auch die Erleichterungen bei der Vergabe sind richtig. Allerdings muss das Absenken der Gehaltsgrenzen kritisch hinterfragt werden. Ein Wert unterhalb des Durchschnittseinkommens wird für Hochqualifizierte abgelehnt.

1.8.

Ähnliches gilt für die fakultative Möglichkeit, einen Hochschulabschluss durch entsprechende Berufserfahrung zu ersetzen. Hier sollte die Reduzierung der erforderlichen vergleichbaren Berufserfahrung von fünf auf drei Jahre überdacht werden und zumindest Hinweise, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgen soll, wären sinnvoll.

2.   Kontext — Bedeutung der Arbeitsmigration Hochqualifizierter für die Europäische Union und Notwendigkeit einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

2.1.

Migrationspolitik hat verschiedene Ziele. Eines ist die Stabilisierung der Arbeitskräftebasis in stark vom demografischen Wandel betroffenen Ländern. Ein weiteres die Übernahme sozialer Verantwortung in der Welt etwa in Form der Aufnahme von Flüchtlingen. Im Bewusstsein der Vielschichtigkeit der Thematik, konzentriert sich diese Stellungnahme auf die Arbeitskräftezuwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten.

2.2.

Ohne Zuwanderung aus Drittstaaten wird der demografische Wandel in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der EU führen. Gleichzeitig wird die Zahl älterer Menschen deutlich zunehmen. Eine derartige Entwicklung bringt große Herausforderungen für die Gestaltung der öffentlichen Haushalte mit sich, da weniger (Netto-)Beitragszahlern mehr (Netto-)Empfänger staatlicher Leistungen gegenüberstehen. Zudem drohen Engpässe am Arbeitsmarkt.

2.3.

Um diese negativen Folgen des demografischen Wandels beherrschbar zu machen, müssen zunächst die in den EU-Mitgliedstaaten bestehenden Arbeitskräftepotenziale gehoben werden. Dabei müssen starke Anstrengungen unternommen werden, insbesondere bei sozial benachteiligten Zielgruppen, um sie für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Auch kann die Mobilität innerhalb der Europäischen Union mittelfristig einen Beitrag zur Stabilisierung der Arbeitskräftebasis in den besonders von dem demografischen Wandel betroffenen Ländern leisten. Diese innereuropäische Mobilität wird noch nicht in dem Maße genutzt, wie es rechtlich und faktisch möglich wäre. Beides zusammen wird allerdings nicht ausreichen. Hinzukommen muss eine gezielte langfristige Strategie zur Förderung der legalen Einwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten.

2.4.

Derzeit stellt sich die Lage am Arbeitsmarkt in den EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich dar. Während in einigen Ländern Fachkräfteengpässe bestehen, sind andere von einer hohen Arbeitslosigkeit geprägt. Das hat zur Folge, dass sich auch die Nachfrage nach zugewanderten Arbeitskräften und die Integrationschancen für Zuwanderer aus Drittstaaten fundamental unterscheiden. Daher müssen auch die Zuwanderungsstrategien der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet werden.

2.5.

Gleichzeitig ist eine stärkere Zusammenarbeit bei der Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte für die europäischen Arbeitsmärkte notwendig. Anders als Niedrigqualifizierte haben diese Personen nämlich auch die Möglichkeit in andere Länder, insbesondere in den angelsächsischen Raum, zu wandern, und werden von diesen umworben, sodass sich Europa hier in einem Wettbewerb befindet. So entscheiden sich nur 31 % der hoch qualifizierten Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten in der OECD für einen EU-Mitgliedstaat. Ein zentrales Hemmnis für die Zuwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte in die EU sind mangelnde Kenntnisse der jeweiligen Landessprachen. Ein weiteres ist, dass insbesondere die kleineren Mitgliedsländer außerhalb Europas häufig kaum bekannt sind und deshalb fälschlicherweise als weniger attraktiv wahrgenommen werden.

2.6.

Vor diesem Hintergrund kommt der EU eine wichtige Rolle zu, um die Aktivitäten der Mitgliedstaaten zur Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten zu bündeln und somit effektiver zu machen. Zudem bringt es im Wettbewerb um international mobile Fachkräfte große Vorteile, wenn sich die Mitgliedstaaten gemeinsam als Europa präsentieren. Um die Attraktivität der EU als Zielregion für hoch qualifizierte Migranten aus Drittstaaten zu erhöhen, ist eine gezielte europäische Fachkräftegewinnungsstrategie notwendig, da nur so die EU ihren Stand im globalen Wettbewerb um hoch qualifizierte Arbeitskräfte aufrechterhalten und verbessern kann.

2.7.

Der Erfolg einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie hängt allerdings maßgeblich davon ab, inwieweit diese den nationalen Gegebenheiten Rechnung trägt und sich die EU-Mitgliedstaaten zu ihr bekennen. Daher muss bei entsprechenden Maßnahmen grundsätzlich ein möglichst breiter Konsens auch bzgl. eines dafür notwendigen Rechtsrahmens für die Fachkräftemigration angestrebt werden.

3.   Bestandteile einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

3.1.

Im Rahmen einer gemeinsamen Strategie zur Förderung der legalen Zuwanderung von Hochqualifizierten sollten Maßnahmen zur Ansprache und Vermittlung von Fachkräften aus Drittstaaten auf europäischer Ebene gestaltet werden. Eine Europäische Talentdatenbank, in der sich ähnlich wie in EURES zuwanderungsinteressierte Fachkräfte aus Drittstaaten mit ihren Qualifikationen registrieren können und über die sie Arbeitgeber direkt ansprechen können, erscheint hierbei sehr vielversprechend. Weitere Bestandteile einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie sollten die Bereitstellung von Informationsangeboten über die Europäische Union, die jeweiligen Zuwanderungsbestimmungen und die Arbeitsmarktsituation in den Mitgliedstaaten sein. Hinzukommen sollte ein geeigneter Rahmen für die Mobilität von Fachkräften aus Drittstaaten innerhalb der EU, ein abgestimmtes Vorgehen bei der Anerkennung von Qualifikationen aus Drittstaaten und die Etablierung einer europäischen Willkommenskultur, die Ressentiments der einheimischen Bevölkerung gegenüber Zuwanderern entgegenwirkt. Dieser Rahmen sollte unter Einbindung der nationalen und europäischen Sozialpartner entwickelt werden.

3.2.

Dabei sollte eine Strategie zur Förderung der legalen Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Drittstaaten nicht nur Personen in den Blick nehmen, die bereits vollständig ausgebildet in die EU-Mitgliedsländer kommen, sondern auch Personen, die hier zunächst ihr Studium oder einen Teil davon absolvieren. In diesem Kontext sind die mit der neuen EU-Richtlinie zu Studien- und Forschungsaufenthalten (Richtlinie (EU) 2016/801) beschlossenen Erleichterungen bei Nebenerwerbstätigkeiten von Studierenden und die Möglichkeit, nach Abschluss des Studiums mindestens neun Monaten zur Arbeitsplatzsuche im Land zu bleiben, sehr zu begrüßen. Hinzukommen müssen gezielte Informations- und Beratungsangebote an den Universitäten, die Studierende aus Drittstaaten über ihre Arbeitsmarktperspektiven in der EU informieren.

3.3.

Rechtmäßig in der EU zugelassene Drittstaatsangehörige dürfen nicht diskriminiert werden. Sie müssen vor allem wie Einheimische ortsüblich entlohnt und in ihren Arbeitsbedingungen gleichbehandelt werden.

3.4.

Bei der Ansprache fertig ausgebildeter Fachkräfte muss sehr behutsam vorgegangen werden, da in vielen potenziellen Entsendeländern selbst auch Engpässe an gut qualifizierten Fachkräften bestehen. Braindrain muss dort vermieden werden. Allerdings kann eine vorübergehende Zuwanderung von Fachkräften im Rahmen einer Brain Circulation einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern leisten. In diesem Fall muss sichergestellt werden, dass eine zeitlich befristete Rückkehr ins Heimatland nicht automatische zum Erlöschen der vorhandenen Beschäftigungserlaubnis im EU-Mitgliedstaat führt. In jedem Fall sollte eine gezielte Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus weniger entwickelten Ländern von entwicklungspolitischen Maßnahmen begleitet werden, die die Herkunftsländer u. a. dabei unterstützen, ihre Bildungssysteme weiterzuentwickeln. Diese Entwicklungspolitik ist an den Interessen der Herkunftsländer zu orientieren und darf nicht darauf abzielen, das Potenzial für eine weitere Anwerbung qualifizierter Fachkräfte aus diesen Ländern zu erhöhen.

3.5.

Um die illegale Zuwanderung einzudämmen, plant die EU, weitere gezielte Migrationspartnerschaften mit wichtigen Herkunfts- und Transitländern zu schließen. Solche Partnerschaften sollten auch zur Förderung der legalen Migration genutzt werden. Bisher wird hiervon im Rahmen der Migrationspartnerschaften kaum Gebrauch gemacht. Dabei können gezielte Maßnahmen zur Fachkräfteentwicklung in den Partnerländern und zur (ggf. kontingentierten) erleichterten Zuwanderung nach Europa vereinbart werden. Damit kann auch der illegalen Migration entgegengewirkt werden, da auf diese Weise für viele Wanderungsinteressierte eine legale Alternative geschaffen wird, die in der Regel eine weitere Investition in die Ausbildung voraussetzt, was sich auch auf das Bildungsniveau in den Herkunftsländern positiv auswirken kann.

4.   Bedarf und Grenzen einer einheitlichen Zulassungspolitik

4.1.

Die Zulassungspolitik ist ein wichtiger Teil einer Fachkräftegewinnungsstrategie. Sie regelt nicht nur den Zugang für Drittstaatenangehörige zum Arbeitsmarkt des jeweiligen Mitgliedstaats, sondern auch inwieweit sie innerhalb der EU mobil werden und Familienangehörige mitbringen oder nachholen können. Auch diese Themenbereiche sind für die Attraktivität der EU für Fachkräfte aus Drittstaaten von großer Bedeutung.

4.2.

Die Festlegung EU-weit gültiger einheitlicher Regelungen für die Vergabe von Aufenthaltstiteln stellt immer einen starken Eingriff in die nationale Souveränität dar. Dabei gilt, dass der Eingriff umso schwerwiegender ist, je stärker der nationale aufenthaltsrechtliche Rahmen harmonisiert wird und je weniger Gestaltungsspielraum damit bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Daher muss der Entscheidung über einheitliche Zulassungskriterien grundsätzlich eine gründliche Abwägung zwischen den Vorteilen EU-weiter Regelungen und der Unterschiedlichkeit nationaler Bedarfe und Interessen vorangehen.

4.3.

Die Bedarfe an Arbeitskräften aus Drittstaaten unterscheiden sich sehr stark zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Artikel 79 AEUV ermöglicht es daher zu Recht der EU-Ebene, eine gemeinsame Zuwanderungspolitik zu entwickeln, setzt gleichwohl nicht das Recht der Mitgliedstaaten zur Festzulegung einer nationalen Zulassungspolitik außer Kraft. Denn nationale Zulassungskriterien für die Erwerbsmigration aus Drittstaaten werden den Besonderheiten der nationalen Arbeitsmärkte in der Regel besser gerecht. Auch Arbeitsmarktprüfungen können für die Steuerung der Erwerbszuwanderung von Bedeutung sein und sollten im Ermessen der Mitgliedstaaten bleiben.

4.4.

Allerdings ist ein gemeinsamer Rahmen zwingend notwendig, da die Ökonomien der EU-Mitgliedstaaten im Zuge des Europäischen Binnenmarktes sehr eng miteinander verflochten sind. So verfügen viele Unternehmen über Produktionsstandorte in mehreren EU-Ländern und vertreiben EU-weit ihre Waren und Dienstleistungen. Damit einhergehend müssen die Unternehmen häufig auch Mitarbeiter aus Drittstaaten mit besonderen Qualifikationen kurzfristig in verschiedenen EU-Ländern einsetzen. Wenn diese nicht unter den Anwendungsbereich der Richtlinie über konzerninterne Entsendung (sog. ICT-Richtlinie) fallen und der entsprechende Aufenthaltstitel nicht zu einer Beschäftigung in einem anderen EU-Land berechtigt, macht dies den Einsatz von Drittstaatsangehörigen schwierig. Ähnliche Probleme stellen sich auch für Zuwanderer, die sich in einem EU-Land selbstständig machen und mit ihrem Unternehmen in mehreren EU-Ländern agieren wollen oder müssen. Diesem Mobilitätsbedarf für hoch qualifizierte Drittstaatsangehörige muss unbedingt Rechnung getragen werden.

5.   Erfahrungen mit der Blauen Karte EU und Reformbedarf

5.1.

Zusammen mit anderen Instrumenten ist die Blaue Karte EU ein wichtiger Baustein einer gemeinsamen Fachkräftegewinnungsstrategie für Hochqualifizierte. Sie bietet sehr große Potenziale für die Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten, da sie ähnlich der amerikanischen Greencard ein Marketinginstrument für die Bewerbung der EU als Zuwanderungsregion darstellen kann. Zudem macht sie es für zuwanderungsinteressierte Hochqualifizierte leichter, ihre Chancen auf einen Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten abzuschätzen, da in allen EU-Mitgliedstaaten zumindest der Struktur nach dieselben Kriterien gelten. Damit kann sie auch die Zuwanderung in die EU fördern.

5.2.

Allerdings ist die Blaue Karte in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich erfolgreich. Während sie in einem Land, wie z. B. Deutschland, ein wichtiger Baustein der Fachkräftegewinnungsstrategie ist, nutzen andere diese kaum oder gar nicht und setzen nach wie vor im Wesentlichen auf nationale Aufenthaltstitel. Im Jahr 2015 wurden rund 14 600 der 16 800 erstmals erteilten Blauen Karten in Deutschland ausgestellt. Das entspricht einem Anteil von nahezu 90 %. In keinem anderen EU-Mitgliedstaat lag die Zahl bei über 1 000. In einer Reihe von EU-Ländern wurden sogar weniger als 20 Blaue Karten ausgestellt. Hierzu zählen auch Länder mit einer vergleichsweise guten Arbeitsmarktlage, wie die Niederlande und Schweden.

5.3.

Viele EU-Mitgliedstaaten nutzen die Blaue Karte EU also nicht als strategisches Instrument zur Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten. Das hat zur Folge, dass die Blaue Karte EU von zuwanderungsinteressierten Fachkräften aus Drittstaaten auch nicht als Marke für die gemeinsame Zuwanderungspolitik der EU insgesamt wahrgenommen wird und ihre Potenziale entfalten kann. Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission einen Reformvorschlag für die Blaue Karte EU vorgelegt.

5.4.

Insgesamt ist der Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Blauen Karte positiv zu bewerten, da er sich zum Ziel gesetzt hat, die wichtigen Themenbereiche Zusammenspiel mit anderen nationalen Aufenthaltstiteln, Mobilität der Fachkräfte aus Drittstaaten innerhalb der EU und erleichterte Vergabekriterien aufzugreifen und Lösungen zu bieten. Allerdings sind wichtige Korrekturen angebracht.

5.5.

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, dass an hoch qualifizierte Erwerbsmigranten aus Drittstaaten keine anderen Aufenthaltstitel als die Blaue Karte EU mehr vergeben werden sollen. Ausgenommen wären nur besondere Berufsgruppen wie Selbstständige und Wissenschaftler. Die Rigidität macht es für die Mitgliedstaaten schwierig, ihre Zuwanderungspolitik entsprechend ihrer Fachkräftebedarfe zu gestalten und gezielt auf besondere Engpasssituationen zu reagieren. Ein striktes Verbot anderer Zugangswege für hoch qualifizierte abhängig Beschäftigte ist daher nicht zielführend. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ihre nationalen Systeme auch weiterhin beizubehalten.

5.6.

Dennoch muss die Blaue Karte EU stärker in den Zulassungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten verankert werden. Hierzu sollte in den Erwägungsgründen der Richtlinie ein Passus aufgenommen werden, nachdem die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, die Vergabe einer Blauen Karte EU gegenüber nationalen Aufenthaltstiteln zu bevorzugen, wenn der betreffende Bewerber die Kriterien für ihre Vergabe erfüllt. Damit würden die nationalen Handlungsspielräume nicht so stark eingeschränkt wie bei einem Verbot anderer Titel. Zudem ist anzumerken, dass ein Erfolg der Blauen Karte EU nicht allein durch entsprechende Regelungen in der EU-Richtlinie erreicht werden kann, sondern dafür ein klares Bekenntnis der EU-Mitgliedstaaten zur Blauen Karte EU erforderlich ist. Diese kann nur erfolgreich sein, wenn die EU-Mitgliedstaaten den Mehrwert der Blauen Karte EU sehen.

5.7.

Ein Absenken der Gehaltsgrenzen ist sinnvoll, allerdings geht der Vorschlag der Kommission zu weit

5.7.1.

Die bisherigen Gehaltsgrenzen von mindestens dem 1,5-Fachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts bzw. dem 1,2-Fachen in Engpassberufen können in einzelnen EU-Staaten insbesondere für Berufsanfänger eine Hürde sein. Daher kann ein Absenken dieser Grenzen ein richtiger Schritt sein, dem die Gewerkschaften aber kritisch gegenüber stehen. Aus Sicht des EWSA ist sicherzustellen, dass hoch qualifizierte Berufseinsteiger keinesfalls unterhalb des Durchschnittslohnes bezahlt werden dürfen. Die Grenze von 0,8 im Kommissionsvorschlag ist zu niedrig.

5.7.2.

Diese Einschätzung fußt auf der Tatsache, dass in die Berechnung des durchschnittlichen Bruttogehalts alle Beschäftigte eingehen und Hochqualifizierte selbst beim Berufseinstieg bei qualifikationsadäquater Beschäftigung in der Regel überdurchschnittliche Löhne erzielen können sollten. Bestehen in einem Mitgliedstaat Fachkräfteengpässe ist die Festsetzung vergleichsweise niedriger Gehaltsgrenzen für die Vergabe der Blauen Karte EU sinnvoll, ist die Arbeitslosigkeit jedoch auch bei qualifizierten Erwerbstätigen hoch, sind in der Regel höhere Grenzen angebracht. Zudem sollte nicht der Eindruck erweckt werden, die Blaue Karte EU würde dazu dienen, „billige“ Arbeitskräfte in die EU zu holen. Dies könnte auch der notwendigen Akzeptanz der Regelung schaden.

5.7.3.

Zudem ist anzumerken, dass die Richtlinie nach wie vor nicht klar regelt, wie das zugrunde zu legende Durchschnittseinkommen ermittelt werden soll, was großen Einfluss auf die letztlich gültigen Gehaltsgrenzen haben kann.

5.8.

Die geplanten weiteren Erleichterungen bei der Vergabe der Blauen Karte EU sind zu begrüßen

5.8.1.

Die von der Kommission vorgeschlagene Reduzierung der Mindestlaufzeit des für die Blaue Karte EU vorzulegenden Arbeitsvertrags von 12 auf 6 Monate ist ein richtiger Schritt, da sie es Arbeitgebern, die sich unsicher über die tatsächlichen Fähigkeiten eines hoch qualifizierten Drittstaatenangehörigen sind, leichter macht, einen Arbeitsvertrag zu schließen und so die Zuwanderung fördert.

5.8.2.

Auch die weiterhin vorhandene Möglichkeit, einen Hochschulabschluss durch entsprechende Berufserfahrung zu ersetzen, ist positiv zu bewerten, sollte jedoch fakultativ bleiben. Auch die Reduzierung der erforderlichen vergleichbaren Berufserfahrung von fünf auf drei Jahre sollte überdacht werden. In diesem Zusammenhang sind zumindest auch Hinweise sinnvoll, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgen soll, damit die Auslegung durch die Mitgliedstaaten nicht zu weit auseinanderläuft.

5.8.3.

Eine Öffnung der Blauen Karte EU für Schutzberechtigte aus Drittstaaten, die die Anforderungen für eine qualifizierte Zuwanderung erfüllen, ist sinnvoll, denn gut qualifizierten Flüchtlingen muss der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden.

5.9.

Die Neuregelungen zur Mobilität von Inhabern der Blauen Karte innerhalb der EU sind ein wichtiger Schritt.

5.9.1.

Hoch qualifizierte Beschäftigte sollten bei Bedarf auch kurzfristig in anderen EU-Mitgliedstaaten einsetzbar sein. Daher ist die von der Kommission vorgeschlagene klare Regelung von Geschäftsaufenthalten in anderen EU-Mitgliedstaaten ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die vorgeschlagene Maximaldauer von 90 Tagen innerhalb einer Spanne von 180 Tagen sollte nochmals mit Praktikern erörtert werden.

5.9.2.

Die Möglichkeit, nach einem Jahr ohne erneute umfangreiche Überprüfung der Qualifikationen in einem anderen EU-Mitgliedstaat eine Blue Card zu beantragen, ist ein richtiger Schritt zur Mobilitätsförderung innerhalb der EU.

6.   Integrationspolitik als wichtiger Teil der europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

6.1.

Um vor dem Hintergrund des demografischen Wandels die Fachkräftebasis in Europa zu sichern, reicht es nicht aus, wenn genügend Fachkräfte aus Drittstaaten für die Zuwanderung gewonnen werden. Vielmehr müssen ihnen auch gute Integrationsperspektiven geboten werden, damit sie ihre Potenziale an den europäischen Arbeitsmärkten voll entfalten können und sich auch für einen langfristigen Verbleib in Europa entscheiden. Daher ist der von der EU-Kommission vorgelegte Aktionsplan für die Integration auch mit Blick auf die Erwerbsmigration zu begrüßen.

6.2.

Jedwede Form gewünschter Immigration ist auch Ausdruck der Ablehnung von Rassismus und Xenophobie. Dies entspricht der Werteorientierung der EU und ist handlungsleitend für Politik und Gesellschaft.

6.3.

Dass der Integrationsplan bereits die Zeit vor der Ankunft in Europa in den Blick nimmt, ist sehr positiv zu bewerten, da wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Integration bereits vor der Ankunft im Zielland gelegt werden. Insbesondere gilt das für den Spracherwerb. Indem Sprachkurse und weitere auf eine mögliche Zuwanderung in die EU ausgerichtete Bildungsangebote die Karriereperspektiven in der EU verbessern, machen sie diese für die teilnehmenden Personen aus Drittstaaten auch als Zielregion attraktiver. So können sie auch einen direkten Beitrag zur Förderung der Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten leisten.

6.4.

Auch wenn der Integrationsplan einzelne Maßnahmen für Hochqualifizierte enthält, wie eine engere Zusammenarbeit bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, ist er im Kern doch auf andere Zuwanderungsgruppen mit größeren Unterstützungsbedarfen ausgerichtet. Dies ist so auch richtig. Allerdings sollte eine gemeinsame Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten über den bestehenden Integrationsplan hinaus gezielte Integrationsangebote für Hochqualifizierte bündeln. In diesem Zusammenhang wird auf die Empfehlungen des Europäischen Forums für Migration vom April 2016 verwiesen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


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