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Document 52000DC0559

Mitteilung der Kommission zur Grundrechtscharta der Europäischen Union Vorlage von Herrn Vitorino im Einvernehmen mit dem Präsidenten

/* KOM/2000/0559 endg. */

52000DC0559

Mitteilung der Kommission zur Grundrechtscharta der Europäischen Union Vorlage von Herrn Vitorino im Einvernehmen mit dem Präsidenten /* KOM/2000/0559 endg. */


MITTEILUNG DER KOMMISSION zur Grundrechtscharta der Europäischen Union Vorlage von Herrn Vitorino im Einvernehmen mit dem Präsidenten

MITTEILUNG DER KOMMISSION

zur Grundrechtscharta der Europäischen Union

1. Einleitung:

1. Die Erstellung des Entwurfs der Grundrechtscharta befindet sich nunmehr in einer entscheidenden Phase. Effektiv heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Feira:

«Der Konvent wird aufgefordert, seine Arbeiten entsprechend dem im Mandat des Europäischen Rates (Köln) festgelegten Zeitplan fortzusetzen, sodass vor der Tagung des Europäischen Rates im Oktober 2000 ein Entwurfsdokument vorgelegt werden kann».

2. Im Anschluss an die intensiven Arbeiten des Konvents während der letzten Monate liegt nun ein neuer Vorentwurf der Charta vor [1].

[1] Der Vorentwurf ist in dem Dokument CHARTE 422/00, CONVENT 45 vom 28. Juli 2000 «Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - vom Präsidium vorgeschlagener vollständiger Text der Charta» enthalten.

3. Der Vorentwurf stützt sich auf den Ansatz, den der Konvent von Anfang an verfolgt hat und der darin besteht, dass der dem Europäischen Rat vorzulegende Entwurf so abgefasst wird, als ob er später in die EU-Verträge aufgenommen und zwingende Wirkung haben würde. Der Konvent schloss sich der Ansicht seines Vorsitzenden, Herrn Roman Herzog, an, dass nur dieser Ansatz die Entscheidung offenlässt, die der Europäische Rat zu gegebener Zeit darüber zu treffen hat, ob die Charta proklamatorischen Charakter haben oder in die Verträge aufgenommen und damit rechtsverbindlich sein soll.

4. Das Arbeitsverfahren in den letzten Monaten bestand darin, dass alle Mitglieder des Konvents anhand der vorliegenden Texte schriftliche Änderungen einreichen konnten. Insgesamt sind über 1 000 Änderungsanträge eingegangen, was die breite Palette der im Konvent vertretenen Interessen zeigt. Bei dem Vorentwurf handelt es sich um einen Kompromissvorschlag des Präsidiums, der darauf abstellt, allen im Konvent vorgetragenen Standpunkten und Anliegen Rechnung zu tragen.

5. Damit die Arbeiten des Konvents abgeschlossen und der Entwurf der Charta dem Europäischen Rat auf seiner Tagung in Biarritz vorgelegt werden kann, hat das Präsidium die Mitglieder des Konvents gebeten, vor dem 1. November 2000 allgemeine Bemerkungen zu dem Entwurf zu übermitteln. Außerdem wurde folgendes Verfahren für die beiden letzten Sitzungen des Konvents festgelegt:

-Am 11. und 12. September treten die Mitglieder des Konvents zu Gruppensitzungen zusammen und teilen dem Konvent am 13. September ihre Stellungnahme zum Vorentwurf mit.

-In der Sitzung am 25. und 26. September sollen die Standpunkte der Gruppen miteinander in Einklang gebracht werden, damit der Vorsitzende des Konvents entsprechend den Schlussfolgerungen von Köln einen Konsens feststellen und den Entwurf den Staats- und Regierungschefs übermitteln kann.

6. Die vorliegende Mitteilung dient also folgendem Zweck:

-Zum einen wird die Position der Kommission zum Inhalt des Vorentwurfs erläutert, um einen positiven Beitrag zur Konsensbildung innerhalb des Konvents zu leisten,

-zum anderen werden die politischen und institutionellen Fragen herausgestellt, denen nach Auffassung der Kommission vor allem im Zusammenhang mit dem Charakter der Charta besondere Bedeutung zukommt.

2. Ziele der Charta:

7. Das vom Europäischen Rat in Köln festgelegte Ziel der Europäischen Grundrechtscharta besteht im wesentlichen darin, die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern.

Dem Konvent wurde also nicht die Aufgabe übertragen, Neues oder Innovatives zu schaffen, sondern er soll Vorhandenes offenkundig machen und bündeln.

8. Allerdings fügen sich die Schlussfolgerungen von Köln in einen historischen Moment des europäischen Aufbaus ein. Eine Grundrechtscharta ist gerade jetzt erforderlich, weil die Europäische Union in eine neue Integrationsphase eintritt, die eindeutig politisch ausgerichtet ist. Die Charta stellt einen wichtigen Markstein dieses politischen Europas dar, das in einem integrierten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, folglich auch des Bürgerrechts entsteht. Die Charta ist ein unerlässliches Instrument der politischen und moralischen Legitimität, sowohl für die Bürger als auch gegenüber der politischen Klasse, der Verwaltung und den einzelstaatlichen Stellen sowie den Verantwortlichen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Charta bringt die gemeinsamen Werte zum Ausdruck, die das Wesen unserer demokratischen Gesellschaften ausmachen.

9. In einer Grundrechtscharta können pragmatische und ehrgeizige Ziele optimal kombiniert werden. Angesichts der Fülle juristischer oder politischer Texte, die es in Europa auf dem Gebiet der Menschenrechte gibt, wäre eine solche Charta tatsächlich von zusätzlichem Nutzen.

Pragmatisch ist so zu verstehen, dass nicht der Versuchung nachgegeben werden darf, «um jeden Preis» etwas Neues zu schaffen, sondern die Charta muss den in Köln vorgegebenen Rahmen respektieren.

Ehrgeizig ist hingegen der zusätzliche Nutzen, der sich insbesondere daraus ergibt, dass:

-bei der Kodifizierungsarbeit unterschiedliche Quellen herangezogen wurden, wie Europäische Menschenrechtskonvention, gemeinsame Verfassungstraditionen, Europäische Sozialcharta, Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, primäres und abgeleitetes Gemeinschaftsrecht, verschiedene internationale Übereinkommen (Europa-Rat, UNO, IAA), Rechtssprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte;

-neben den klassischen bürgerlichen und politischen Rechten sowie den in den Verträgen verankerten Bürgerrechten auch wirtschaftliche und soziale Rechte in die Charta einbezogen werden, "soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen";

-bestimmte "neue Rechte" verankert werden, die zwar bereits bestehen, aber trotz ihres hohen Schutzwertes bisher noch nicht ausdrücklich als Grundrechte gelten, wie der Schutz personenbezogener Daten und die Grundprinzipien der Bioethik oder das Recht auf eine gute Verwaltung.

10. Die Charta wird den Grundrechten nicht nur grössere Sichtbarkeit verleihen, sondern leistet auch einen erheblichen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit. So kann das derzeitige Schutzniveau der Grundrechte in der Union verbessert und das geltende, im Wesentlichen prätorisch geprägte System übertroffen werden.

Im EU-Vertrag wird derzeit in Artikel 6 auf die Grundrechte Bezug genommen. Im ersten Absatz werden die Grundsätze aufgeführt, auf denen die Europäische Union beruht und deren schwerwiegende und anhaltende Verletzung den in Artikel 7 erläuterten Sanktionsmechanismus auslösen kann. Im zweiten Absatz werden die von der Union geachteten Grundrechtsquellen genannt, von denen zumindest eine (die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) inhaltlich schwer zu erfassen ist. Mit der Grundrechtscharta werden - ungeachtet dessen, für welche Rechtsnatur man sich letztendlich entscheidet - die in Artikel 6 Absatz 2 genannten Grundrechte präzisiert. Damit könnte auch leichter bestimmt werden, was die in Artikel 6 Absatz 1 aufgeführten Grundsätze sowie die darauf verweisenden Bestimmungen (Artikel 7 und Artikel 49 EU-Vertrag) tatsächlich beinhalten.

11. Die Charta gilt für die Einrichtungen und Organe der Gemeinschaft sowie die Mitgliedstaaten nur insofern, als ihr Handeln in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Alle in diesem Bereich getroffenen Maßnahmen werden also nach Maßgabe der in der Charta festgelegten Rechte und Freiheiten beurteilt werden können. Mit Hilfe der Charta kann also überwacht werden, ob die Einrichtungen und Organe der Gemeinschaft bei der Ausübung der ihnen durch die Verträge übertragenen Kompetenzen den Schutz der Grundrechte wahren.

12. Zu einem Zeitpunkt, wo echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union entsteht, bei der die Achtung der Grundrechte eine wesentliche Rolle spielt, liefert die Verabschiedung eines Katalogs von Rechten denjenigen eine klare Antwort, die der Union vorwerfen, sie wende im Bereich der Menschenrechte auf externer und interner Ebene "zweierlei Maß" an. Mit der Grundrechtscharta gibt sich die Union eine Reihe ausdrücklicher Rechte vor, die sie selbst bei der Umsetzung ihrer Politik im internen und externen Rahmen einhalten muss.

13. Die Frage, ob sich die Verabschiedung der Grundrechtscharta auf die Erweiterung der Union auswirken kann, lässt sich nicht vermeiden. Alle diesbezüglichen Bedenken müssen jedoch zerstreut werden. Die Grundrechtscharta ist kein Instrument, das den Beitrittskandidaten zusätzliche Bedingungen auferlegt. Die Übernahme des "acquis communautaire", z. B. was den Schutz personenbezogener Daten anbelangt, setzt bereits voraus, dass die in der Charta aufgeführten Normen und Grundsätze akzeptiert und eingehalten werden. Die Charta trägt vielmehr dazu bei, die Grundrechtsnormen deutlicher herauszustellen und verstärkt die Rechtssicherheit, was sowohl den Beitrittsländern als auch den Bürgern generell zugute kommt. Damit bestätigt sich, dass die Grundrechtscharta ein wichtiger Markstein des politischen Europas sein wird.

14. Damit die Grundrechtscharta ein Erfolg wird, müssen nicht nur die Ziele und der zusätzliche Nutzen herausgestellt, sondern auch klar zum Ausdruck gebracht werden, dass gewisse Befürchtungen, die mitunter entstanden sein können, völlig unbegründet sind:

a) Die Grundrechtscharta wird kein Mittel sein, um die in den Verträgen festgelegten Kompetenzen der Union und der Gemeinschaft auszuweiten oder zu beschneiden. Die Charta hat keinerlei Einfluss auf die Kompetenzverteilung. Jede Änderung der Kompetenzen muss ausschließlich von der Regierungskonferenz und nicht von dem Konvent ausgehen.

Dass die Charta in Bezug auf die Kompetenzen der Union und der Gemeinschaft neutral ist, ergibt sich im Übrigen aus den Grundrechten selbst. Da sie das Individuum vor etwaigen Übergriffen der staatlichen Gewalt schützen sollen, besteht ihr oberstes Ziel darin, eine Kontrolle der Ausübung vorhandener Kompetenzen auf allen politischen Ebenen zu ermöglichen.

Insofern als die Grundrechte auch Werte darstellen, die das Handeln der Gemeinschaft und der Union bestimmen, steht natürlich außer Frage, dass dieses Handeln im Rahmen der den beiden übertragenen Kompetenzen und unter Wahrung des Subsiduaritätsprinzips erfolgen muss. Dies gilt insbesondere für jene Grundrechte, die Durchführungsmaßnahmen erfordern, was vor allem bei den sozialen Grundrechten und -prinzipien der Fall ist.

b) Wie die Diskussionen im Konvent gezeigt haben, erfordert die Grundrechtscharta keine Verfassungsänderung in den Mitgliedstaaten. Einerseits ist offensichtlich, dass die Charta in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte auf einzelstaatlicher Ebene nicht die Verfassungen der Mitgliedstaaten ersetzen wird; andererseits greift sie im Wesentlichen Rechte auf, die bereits in verschiedenen Vorschriften und den Verträgen festgelegt sind.

c) Mit der Grundrechtscharta werden die in den Verträgen vorgegebenen Rechtsmittelverfahren und gerichtliche Strukturen nicht geändert, denn es sollen keine neuen Wege für den Zugang zur gemeinschaftlichen Gerichtsbarkeit eröffnet werden. Das Recht, ein gemeinschaftliches oder einzelstaatliches Gericht anrufen zu können, wird entsprechend den bisherigen Verfahren umgesetzt, d.h.:

-durch eine Klage vor dem Gerichtshof, insbesondere nach Maßgabe der Artikel 230, 232 und 235 bzw. 288 EG-Vertrag, sofern die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfuellt sind,

-durch ein gerichtliches Verfahren vor einem nationalen Gericht, zu dem gegebenenfalls eine Vorabentscheidung im Sinne des Artikels 234 EGV beantragt werden kann.

d) Die Grundrechtscharta setzt weder den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention voraus noch verhindert sie einen solchen. In Zusammenhang mit der Charta hat sich erneut die Frage eines eventuellen Beitritts der Gemeinschaft oder der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben. In Anbetracht des Mandats des Europäischen Rates von Köln steht seit Beginn der Arbeiten eindeutig fest, dass diese Frage nicht in die Zuständigkeit des Konvents fällt.

Aber eine solche Charta schmälert in keiner Weise das Interesse eines Beitritts, denn so würde auf Unionsebene eine externe Aufsicht über die Grundrechte hergestellt. Ebenso würde ein Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention keinesfalls die Bedeutung einer Grundrechtscharta der Europäischen Union mindern. Aktuell ist diese Frage auch wegen des jüngsten Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, bei dem es um einen Rechtsakt des primären Gemeinschaftsrechts geht (Antrag Nr. 24 833/94 in der Rechtssache Matthews gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18. Februar 1999).

3. Inhalt des Vorentwurfs:

15. Zu dem Vorentwurf sind folgende allgemeine Bemerkungen vorzubringen:

3.1. Gliederung:

16. Der Vorentwurf enthält 52 Artikel, einschließlich einer Präambel. Neben den allgemeinen Bestimmungen, die sich in den Artikeln 49 bis 52 finden, sind die Artikel in Kapitel unterteilt, die sich an sechs Grundwerten orientieren: Würde des Menschen (Artikel 1 bis 5), Freiheiten (Artikel 6 bis 19), Gleichheit (Artikel 20 bis 24), Solidarität (Artikel 25 bis 36), Bürgerrechte (Artikel 37 bis 44) und justizielle Rechte (Artikel 45 bis 48).

17. Dem Vorentwurf liegt eine Begründung bei (Dokument CONVENT 46, das der Mitteilung als Anlage beigefügt ist); darin wird im Einzelnen aufgeführt, auf welche Quellen sich die in die Charta aufgenommenen Artikel stützen (Europäische Verträge, Konvention von Rom zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sonstige internationale Übereinkommen, Rechtssprechung des Gerichtshofs usw.). Nach Auffassung der Kommission könnte diese Begründung ein wichtiger Anhaltspunkt für die spätere Auslegung der Charta sein.

3.2. Form

18. Im Einklang mit den Schlussfolgerungen von Köln, in denen die Erstellung einer Charta gefordert wurde, um "die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern", war man bestrebt, den Vorentwurf möglichst prägnant und klar abzufassen.

3.3. Liste der Rechte:

19. Wie in den Schlussfolgerungen von Köln verlangt und unter Wahrung des Prinzips der Unteilbarkeit der Grundrechte greift der Vorentwurf entsprechend der vorgenannten Gliederung sowohl die Grundfreiheiten und Gleichheitsrechte als auch die durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten garantierten justiziellen Rechte, die den Unionsbürgern vorbehaltenen Bürgerrechte und die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte auf.

20. Im Vergleich zu der Liste, die vom Präsidium als Diskussionsgrundlage festgelegt wurde (CHARTE 4112/00), sind im Verlauf der Arbeiten des Konvents ausdrücklich weiterer Rechte aufgenommen worden, wie: Freiheit der Forschung (Artikel 13), unternehmerische Freiheit (Artikel 16), Schutz des geistigen Eigentums (Artikel 17), Recht auf eine gute Verwaltung (Artikel 39), Schutz der Kinder (Artikel 23), Zugang zu Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Artikel 34), Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung (Artikel 28). Der Gleichheitsgrundsatz, der in dem Entwurf des Präsidiums ausschließlich als Verbot der Diskriminierung zum Ausdruck gebracht wurde, wird nun in zwei spezifischen Artikeln behandelt: In Artikel 20 wird die Gleichheit vor dem Gesetz und in Artikel 22 die Gleichheit von Männern und Frauen verankert. Außerdem wird in der Präambel auf die mit den Rechten verbundenen Pflichten verwiesen.

21. Hingegen sind andere, ursprünglich in Betracht gezogene Rechte nicht berücksichtigt worden, weil sie:

-lediglich politische Ziele vorgeben, die nach den Schlussfolgerungen von Köln nicht in der Charta aufgeführt werden können, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf ein angemessenes Entgelt;

-sich bereits implizit aus anderen Bestimmungen des Vorentwurfs ergeben, wie das Streikrecht, das unter Artikel 26 über das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen fällt oder das Recht auf ein Mindesteinkommen, das durch Artikel 32 betreffend die soziale Sicherheit und soziale Unterstützung abgedeckt ist.

22. Am schwierigsten war es für den Konvent offensichtlich, sich darüber zu verständigen, welche wirtschaftlichen und sozialen Rechte in den Vorentwurf aufgenommen werden. Diese Rechte sind in Kapitel IV Solidarität (Artikel 25 bis 36) bzw. in Artikel 15 (Berufsfreiheit), Artikel 22 (Gleichheit von Männern und Frauen) und Artikel 24 (Integration von behinderten Menschen) niedergelegt. Es ist zu erwarten, dass der Konvent bei diesen Rechten die größte Mühe haben wird, einen Konsens herzustellen.

23. Generell ist die Kommission der Auffassung, dass die im Vorentwurf aufgenommenen Rechte - bürgerliche und politische Rechte, Rechte der Unionsbürger sowie wirtschaftliche und soziale Rechte - ein ausgewogenes Ganzes bilden. Sie hätte es allerdings vorgezogen, dass bestimmte Rechte ausdrücklicher formuliert würden (wie das Streikrecht, das durch die Artikel 26 betreffend das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen abgedeckt ist, die unter Artikel 12 fallende Koalitionsfreiheit oder die europäische Dimension der Ausübung dieser Rechte) bzw. stärker fomuliert würden (insbesondere der Umweltschutz in Artikel 35). Doch stellt der Vorentwurf eine gute Ausgangsbasis dar, um innerhalb des Konvent einen Konsens erzielen zu können.

3.4. Rechtsinhaber

24. Diese komplex erscheinende Frage wurde pragmatisch gelöst, da im Vorentwurf stets präzisiert wird, wem das Recht zusteht. Hierüber gibt es einen weitreichenden Konsens, dem sich auch die Kommission voll und ganz anschließt.

25. Um den Grundsatz der allgemeinen Gültigkeit zu wahren, stehen die meisten der im Vorentwurf aufgeführten Rechte jeder Person zu.

Lediglich einige Rechte sind bestimmten Personen vorbehalten, wie:

-Kindern (Artikel 23);

-Arbeitnehmern, soweit es um bestimmte soziale Rechte geht,

-Bürgern der Union: die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat zu arbeiten, Arbeit zu suchen, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen (Artikel 15 Absatz 2); Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit und der sozialen Unterstützung in einem anderen Mitgliedstaat (Artikel 32 Absatz 2); aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Artikel 37) und bei den Kommunalwahlen (Artikel 38); die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit im Gebiet der Mitgliedstaaten (Artikel 43 Absatz 1) und diplomatischer und konsularischer Schutz (Artikel 44);

-Bürgern der Union und in der Union ansässigen Personen: Recht auf Zugang zu Dokumenten der europäischen Institutionen (Artikel 40); Befassung des Bürgerbeauftragten (Artikel 41) und das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament (Artikel 42).

Zu bemerken ist, dass bestimmte den Unionsbürgern zugestandenen Rechte auch Staatangehörigen dritter Länder gewährt werden können, wie das Recht auf Freizügigkeit (Artikel 43 Absatz 2).

In einigen Fällen werden keine subjektiven Rechte festgelegt, auf die sich eine Person unmittelbar berufen kann, sondern vielmehr Grundprinzipien, die den gemeinschaftlichen oder einzelstaatlichen Behörden bei der Ausübung ihrer gesetzgebenden oder vollziehenden Kompetenzen entgegengehalten werden können. Dies gilt insbesondere für den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit (Artikel 32 Absatz 1), den Zugang zu Diensten von allgemein wirtschaftlichem Interesse (Artikel 34), den Umweltschutz (Artikel 35) oder den Verbraucherschutz (Artikel 36).

3.5. Tragweite der garantierten Rechte und Beschränkungen:

26. Abgesehen von einigen Ausnahmen, kann die Ausübung der Rechte eingeschränkt werden, um andere legitime Interessen zu wahren; dabei kann es sich um öffentliche Interessen wie die Bekämpfung von Straftaten oder private Interessen handeln, vor allem dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Die Kommission unterstützt den horizontalen Ansatz in Artikel 50 Absatz 1, der auf praktisch alle Rechte anwendbar ist und innerhalb des Konvents weitreichende Zustimmung findet. Da auf diese Weise nicht zu jedem Recht etwaige Einschränkungen angeführt werden müssen, lassen sich Wiederholungen vermeiden, die den Text unnötig erschweren würden; dennoch bietet dieser Ansatz alle nötigen Garantien für einen wirksamen Schutz der Rechte. Es kann lediglich die Ausübung des Rechts eingeschränkt werden, das Recht selbst darf nicht in Frage gestellt werden; die Einschränkungen müssen durch das zuständige Gesetzgebungsorgan auf einzelstaatlicher oder Gemeinschaftsebene vorgesehen und notwendig sein, um den von der Union verfolgten Zielsetzungen von allgemeinem Interesse, anderen legitimen Interessen in einer demokratischen Gesellschaft oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen; dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.

27. Die Ausübung der in den europäischen Verträgen begründeten Rechte erfolgt im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und Grenzen (Artikel 50 Absatz 2).

3.6. Schutzniveau:

28. Die Kommission unterstützt die in Artikel 51 des Vorentwurfs enthaltene Absicht, wonach keine Bestimmung der Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich durch die in der Union geltenden Rechtsakte anerkannt sind.

29. Desgleichen ist auch nach Auffassung der Kommission darauf zu achten, dass sich in Europa keine unterschiedlichen Konzepte der Grundrechte entwickeln, falls - entgegen dem wiederholt vorgebrachten Wunsch - ein Beitritt zur europäischen Menschenrechtskonvention nicht möglich sein sollte. Daher unterstützt sie nachdrücklich Artikel 50 Absatz 3, wonach die einschlägigen Bestimmungen der genannten Konvention und der Charta unter Wahrung der Autonomie des Gemeinschaftsrecht einheitlich ausgelegt werden sollten.

3.7. Zur Einhaltung der Charta verpflichtete Behörden:

30. Die im Vorentwurf (Artikel 49 Absatz 1) vorgeschlagene Lösung, wonach die Charta für die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten sollte, findet die volle Zustimmung der Kommission. Der Anwendungsbereich der Charta würde so einheitlich sämtliche Tätigkeiten erfassen, die von den Einrichtungen und Organen der Union sowie einzelstaatlichen Behörden in den Bereichen durchgeführt werden, die zu den drei Pfeilern der Union zählen. Damit würden selbstverständlich auch Bereiche erfasst, die in Bezug auf die Erhaltung und Weiterentwicklung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts besonders sensibel sind.

In rechtlicher Hinsicht steht dies im übrigen im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, der wiederholt darauf hingewiesen hat, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Grundrechte bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts einzuhalten.

31. Wie bereits an anderer Stelle hervorgehoben, werden mit der Erstellung der Grundrechtscharta in keiner Weise die Kompetenzen der Union oder das Subsidiaritätsprinzip in Frage gestellt. Die diesbezüglichen Bestimmungen des Vorentwurfs (Artikel 49) und in der Präambel haben deklaratorischen Wert und sollen jedem Mißverständnis in diesem Punkt vorbeugen. Die Charta wird keineswegs die Kompetenzen der Union ausweiten, sondern vielmehr als Summe der in der Union anerkannten gemeinsamen Grundwerte herangezogen werden können, um die Ausübung der in den Verträgen festgelegten Kompetenzen zu überwachen.

4. Rechtsnatur der Charta

32. Beim derzeitigen Stand der Arbeiten sollte man sich bis zur Fertigstellung des Entwurfs der Charta vorrangig mit inhaltlichen Aspekten befassen. Nur wenn die Charta ein ehrgeiziges Ziel anstrebt, ist die Frage der Rechtsnatur und der Aufnahme in die Verträge von Bedeutung.

33. Die Frage wurde von den Staats- und Regierungschefs selbst aufgeworfen. In den Schlussfolgerungen von Köln heißt es effektiv, dass nach der gemeinsamen Proklamation der Charta durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission

"zu prüfen sein wird, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Verträge aufgenommen werden sollte."

In dieser Perspektive hat der Konvent von Anfang an auf den Entwurf einer Charta hingearbeitet, die in die Verträge aufgenommen werden könnte.

34. Außerdem stellt die Kommission fest, dass sich das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom März 2000 und mehrere Regierungen der Mitgliedstaaten klar dafür ausgesprochen haben, dass die Charta in die Verträge aufgenommen wird. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen haben sich in diesem Sinne geäußert.

35. Da innerhalb des Konvents alle gesetzgebenden und ausführenden Organe der Mitgliedstaaten und der Union vertreten und an der Erstellung der Charta beteiligt sind, wird diese - sofern sie sich ein ehrgeiziges Ziel vorgibt - auf jeden Fall "proklamatorische" Wirkung haben, ungeachtet dessen, welche rechtliche Bedeutung ihr formell zugeschrieben wird.

Im Lichte des Vorentwurfs ist die Kommission allerdings der Auffassung, dass die Einbeziehung der Charta in die Verträge bestimmten Schwachstellen des derzeitigen Systems zum Schutz der Grundrechte in der Union abhelfen könnte. Die besonderen Merkmale des derzeitigen Systemes sind: ein indirekter Schutz, der durch die allgemeinen Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gewährleistet wird, ein im wesentlichen prätorischer Schutz durch die Rechtssprechung in den einschlägigen Rechtssachen und ein Schutz, der für die unmittelbar Begünstigten nicht ohne Weiteres sichtbar ist.

36. Wie bereits erläutert, wird in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln ebenfalls die Frage angeschnitten, wie die Charta in die Verträge integriert werden könnte. Sollte der Europäische Rat dazu neigen, der Charta zwingende Wirkung zuzuschreiben und sie in die Verträge aufzunehmen, würde sich dies natürlich nachhaltig auf die derzeitige politische Dynamik der Union auswirken. Insbesondere müsste man sich mit den technischen Modalitäten befassen, die es ermöglichen würden, die Charta entsprechend den spezifischen Verfahren zur Revision der Verträge im Rahmen einer Regierungskonferenz künftig in die Verträge einzubeziehen.

37. Sobald der abschließende Entwurf der Charta vorliegt, wird die Kommission unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung eine Mitteilung zur Rechtsnatur der Charta vorlegen.

5. Schlussfolgerungen

38.. Abschließend ist Folgendes festzustellen:

a) Die Kommission unterstützt grundsätzlich den in Dokument CONVENT 45 vom 28. Juli enthaltenen Vorentwurf der Charta. Sie nimmt jedoch zur Kenntnis, dass der Vorentwurf im Anschluss an die von den Mitgliedern des Konvents vorgetragenen Bemerkungen noch geändert werden könnte und behält sich daher die Möglichkeit vor, den Text zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu prüfen.

b) Die Kommission wird nach Fertigstellung des Entwurfs der Charta durch den Konvent eine Mitteilung zur Rechtsnatur der Charta vorlegen.

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