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Document 52001DC0566

    Mitteilung der Kommission über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

    /* KOM/2001/0566 endg. */

    ABl. C 333 vom 28.11.2001, p. 27–41 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

    52001DC0566

    Mitteilung der Kommission über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. /* KOM/2001/0566 endg. */

    Amtsblatt Nr. 333 vom 28/11/2001 S. 0027 - 0041


    Mitteilung der Kommission über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

    INHALTSVERZEICHNIS

    Zusammenfassung

    Einleitung

    I Aufträge, die unter die Vergaberichtlinien fallen

    1.1. Definition des Auftragsgegenstandes

    1.2. Technische Spezifikationen

    1.3. Auswahl der Bewerber oder Bieter

    1.3.1. Ausschluss von Bewerbern oder Bietern wegen Verstoßes gegen sozialrechtliche Vorschriften

    1.3.2. Berücksichtigung sozialer Belange bei der Prüfung der technischen Leistungsfähigkeit der Bewerber oder Bieter

    1.4. Zuschlagserteilung

    1.4.1. Das Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots

    1.4.2. Das ,Zusatzkriterium"

    1.5. Ungewöhnlich niedrige Angebote

    1.6. Auftragsausführung

    II Öffentliche Aufträge, die nicht unter die Richtlinien fallen

    III Vorschriften aus dem sozialen Bereich, die für öffentliche Aufträge gelten

    3.1 Einleitung

    3.2 Festlegung der geltenden Arbeitsbedingungen

    3.2.1 Beschränkungen bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch das Gemeinschaftsrecht

    3.2.1.1 Der Vertrag

    3.2.1.2 Wichtigste Bestimmungen des abgeleiteten Rechts im Zusammenhang mit dem Vergabewesen

    Zusammenfassung

    * Ziel dieser Mitteilung, die auf die Mitteilung der Kommission über ,Das öffentliche Auftragswesen in der Europäischen Union" vom 11 März 1998 [1] folgt, ist es, die Möglichkeiten aufzuzeigen, die der derzeitige gemeinschaftliche Rechtsrahmen zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bietet. Diese Mitteilung fügt sich ebenfalls in das Aktionsprogramm ein, das in der vom Rat im Dezember 2000 in Nizza angenommenen sozialpolitischen Agenda [2] angekündigt worden ist. Diese Agenda fügt sich in das integrierte Konzept der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung ein, wie es in Lissabon vereinbart worden war. Sie soll insbesondere eine positive und dynamische Wechselwirkung der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik gewährleisten, die sich gegenseitig bestärken.

    [1] KOM(98) 143.

    [2] Sozialpolitische Agenda, KOM (2000) 379 vom 28.6.2000.

    * Andere Lösungen, namentlich andere Praktiken, die über die geltenden Regelungen in den Vergaberichtlinien hinausgehen, würden ein Tätigwerden des Gemeinschaftsgesetzgebers erforderlich machen.

    * Alle einzelstaatlichen Vorschriften, die derzeit im sozialen Bereich gelten, einschließlich der einschlägigen Vorschriften zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, sind für die Auftraggeber bindend, sofern sie mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. Dies betrifft insbesondere die Vorschriften über die Rechte der Arbeitnehmer und die Arbeitsbedingungen.

    * Die Nichtbeachtung bestimmter sozialer Pflichten kann in bestimmten Fällen den Ausschluss von Bietern nach sich ziehen. In welchen Fällen dies der Fall ist, haben die Mitgliedstaaten zu bestimmen.

    * Vor allem bei der Ausführung, d.h. nach der Auftragsvergabe, kann ein öffentlicher Auftrag dem Auftraggeber als Mittel dienen, um die Verfolgung sozialer Zielsetzungen zu fördern. Er hat nämlich die Möglichkeit, den Auftragnehmer zur Einhaltung von Vertragsklauseln zu verpflichten, die sich auf die Ausführung des Auftrags beziehen und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sein müssen. Als Beispiel seien Maßnahmen zugunsten bestimmter Personengruppen genannt oder die bevorzugte Beschäftigung benachteiligter Personen (so genannte positive Maßnahmen).

    * Darüber hinaus bieten die Vergaberichtlinien verschiedene Möglichkeiten, um soziale Belange, die mit dem Produkt oder der Dienstleistung, das/die Gegenstand einer Ausschreibung ist, verbunden sind, bei der Auftragsvergabe, insbesondere bei den technischen Spezifikationen und den Auswahlkriterien, zu berücksichtigen.

    * Bei Aufträgen, die nicht unter die Richtlinien fallen, steht es den Auftraggebern frei, im Rahmen der von ihnen vergebenen Aufträge soziale Ziele zu verfolgen, sofern sie dabei die Vorschriften und allgemeinen Grundsätze des EG-Vertrags einhalten. Es obliegt den Mitgliedstaaten, zu bestimmen, ob die Auftraggeber solche Ziele bei der Vergabe öffentlicher Aufträge verfolgen dürfen bzw. müssen.

    Einleitung

    In dieser Mitteilung, die auf die Mitteilung zum öffentlichen Auftragswesen vom 11. März 1998 erfolgt, sollen die Möglichkeiten aufgezeigt werden, die der geltende Gemeinschaftsrechtsrahmen zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bietet. In diesem Sinne dürfte diese Mitteilung helfen, die unterschiedlichen sozialen Belange optimal in das Vergabewesen einzubeziehen und somit zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen, einem Konzept, das wirtschaftliches Wachstum, soziale Fortschritte und Umweltschutz vereint.

    Die Vergabepolitik ist ein Element der Binnenmarktpolitik [3], und die einschlägigen Richtlinien sollen garantieren, dass der freie Warenverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr im öffentlichen Beschaffungswesen [4] verwirklicht werden. Das setzt eine Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge voraus, mit der gewährleistet wird, dass öffentliche Aufträge wirksam und diskriminierungsfrei vergeben und die öffentlichen Mittel durch Auswahl der günstigsten Angebots optimal eingesetzt werden. Diese Koordinierung soll es den Auftraggebern [5] ermöglichen, ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis zu erzielen, unter Beachtung bestimmter Regeln, die namentlich die Auswahl der Bieter anhand objektiver Kriterien und die Vergabe des Auftrags ausschließlich anhand des Preises oder des wirtschaftlich vorteilhaftesten Angebots auf der Grundlage von objektiven Kriterien betreffen.

    [3] Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18.6.1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14.6.1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge und Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, in der durch die Richtlinie 97/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates geänderten Fassung; ferner Richtlinie 93/38/EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, geändert durch die Richtlinie 98/04/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.

    [4] Zur Verwirklichung dieses Ziels muss die Transparenz der Verfahren und der Praxis bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge verbessert werden, ,um besser gewährleisten zu können, dass das Verbot von Beschränkungen eingehalten wird, und um gleichzeitig die Unterschiede in den Wettbewerbsbedingungen für die Angehörigen der einzelnen Mitgliedstaaten zu verringern" (sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18.7.1989 zur Änderung der Richtlinie 71/305/EWG über die Koordination der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, ABl. L 210 vom 21.7.1989, S. 1).

    [5] Soweit nicht anders angegeben sind im Folgenden mit dem Begriff ,Auftraggeber" neben den ,öffentlichen Auftraggebern" auch die ,Auftraggeber" im Sinne der Richtlinie 93/38/EWG gemeint.

    Die Binnenmarktpolitik kann mit der Verfolgung anderer, auch sozialpolitischer, Ziele vereinbart werden.

    Sozialpolitische Aspekte haben bei der Erlangung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Europas eine wesentliche Rolle gespielt, dank eines sozialen Modells, das auf seinem Gebiet einzigartig ist. [6] Wirtschaftlicher Fortschritt und sozialer Zusammenhalt, einhergehend mit einem hohen Maß an Schutz und Verbesserung der Qualität der Umwelt, sind weitere Säulen der nachhaltigen Entwicklung und stehen im Mittelpunkt des europäischen Integrationsprozesses. Die Verbesserung des Lebensstandards, die Förderung einer hohen Beschäftigung und eines hohen Maßes an sozialer Sicherheit, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Förderung der Lebensqualität gehören zu den Zielen der Europäischen Union. [7] Die sozialpolitische Agenda, die auf der Tagung des Rates von Nizza im Dezember 2000 angenommen wurde, fügt sich in das integrierte Konzept der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung ein, wie es in Lissabon vereinbart worden war. Sie soll insbesondere eine positive und dynamische Wechselwirkung der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik gewährleisten und einen politischen Konsens herbeiführen, der alle treibenden Kräfte mobilisieren und zur Zusammenarbeit bei der Verwirklichung des neuen strategischen Ziels bringen möchte. [8]

    [6] Vorwort zur vorgenannten Mitteilung der Kommission - Sozialpolitische Agenda.

    [7] Mitteilung der Kommission "Förderung der grundlegenden Arbeitsnormen und sozialere Ausrichtung der Politik im Kontext der Globalisierung", KOM (2001) 416 vom 18.7.2001.

    [8] Vorwort der Mitteilung "Sozialpolitische Agenda".

    Darüber hinaus werden im Vertrag von Amsterdam die Beseitigung von Ungleichheiten und die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen bei allen Politiken und Maßnahmen der Europäischen Union als Hauptziele der Europäischen Union genannt. Der Vertrag legt außerdem in Artikel 13 ausdrücklich fest, dass jede Form der Diskriminierung bekämpft werden muss. [9] Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die in Nizza feierlich verkündet wurde, greift das Ziel der Union auf, die Grundrechte voll und ganz in ihre gesamten politischen Maßnahmen zu integrieren. [10]

    [9] Artikel 13 zielt auf jede Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der Ausrichtung ab.

    [10] Mitteilung s.o. über die grundlegenden Arbeitsnormen, Teil 3.

    Die geltenden Vergaberichtlinien enthalten zwar keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Verfolgung sozialpolitischer Ziele bei der Vergabe öffentlicher Aufträge [11]. Wie die Kommission bereits in der genannten Mitteilung von 1998 bestätigt hat, ist sie dennoch der Auffassung, dass das derzeitige Vergaberecht der Gemeinschaften Möglichkeiten bietet, die es bei entsprechender Anwendung ermöglichen, das gewünschte Ziel zu erreichen.

    [11] Lediglich in Artikel 23 der Richtlinie 93/37/EWG, Artikel 28 der Richtlinie 92/50/EWG und Artikel 29 der Richtlinie 93/38/EWG wird ausdrücklich auf Bestimmungen im sozialen Bereich Bezug genommen. Artikel 9 der Richtlinie 93/37/EWG sieht übrigens ein besonderes Vergabeverfahren für die Gesamtplanung und den Bau von Sozialwohnungen vor. Die Bestimmung geht auf die 70er Jahre zurück und hatte als alleiniges Ziel, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, Bauaufträge im sozialen Wohnungsbau an einen einzigen Auftragnehmer zu vergeben, der sowohl für die Planung als auch für den Bau zuständig wäre. Im Übrigen gelten die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie vollständig.

    Der Ausdruck ,soziale Belange", wie er in dieser Mitteilung verwendet wird, hat einen großen Bedeutungsradius und deckt sehr unterschiedliche Bereiche ab. Er kann sowohl Maßnahmen bezeichnen, die die Einhaltung der Grundrechte, der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung (beispielsweise zwischen Mann und Frau) garantieren, als auch einzelstaatliche sozialrechtliche Vorschriften sowie die Umsetzung der einschlägigen Richtlinien der Gemeinschaft. [12] Unter ,soziale Belange" einzuordnen sind aber auch Präferenzklauseln (beispielsweise zur Wiedereingliederung von benachteiligten oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Personen und positive Diskriminierung, insbesondere im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der sozialen Ausgrenzung).

    [12] Es gibt in der Tateine Reihe gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich, die auch im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen Anwendung finden. Es handelt sich insbesondere um die Vorschriften über Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (z.B. die Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12.6.1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit, ABl. L183/1 vom 29.6.1989, oder die Richtlinie 92/57/EWG vom 24.6.1992 über die auf zeitlich begrenzte oder ortsveränderliche Baustellen anzuwendenden Mindestvorschriften für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz), über Arbeitsbedingungen und die Anwendung des Arbeitsrechts (z. B. die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 018/1 vom 21.1.1997) sowie über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen (Richtlinie 2001/23/EG vom 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsstellen, ABl. L82/16 vom 22.3.2001, zur Kodifizierung der Richtlinie 77/187/EWG).

    Die vorliegende Mitteilung soll die vom Gemeinschaftsrecht gebotenen Möglichkeiten im Hinblick auf öffentliche Aufträge prüfen, um den sozialen Belangen bei diesen Aufträgen besser Rechnung tragen zu können. Dabei wird für jede Phase eines Vergabeverfahrens geprüft, ob und inwieweit soziale Belange berücksichtigt werden können.

    Es sei darauf hingewiesen, dass letztlich allein der Gerichtshof für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig ist.

    Falls man zu der Schlussfolgerung kommen sollte, dass das derzeitige System der Vergaberichtlinien keine angemessenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung der sozialen Belange bietet, müssten die Vergaberichtlinien geändert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass in den von der Kommission am 10. Mai 2000 angenommenen Änderungsvorschlägen zu den Vergaberichtlinien ausdrücklich Bedingungen für die Auftragsausführung erwähnt werden, die das Ziel verfolgen, die Beschäftigung von benachteiligten oder ausgeschlossenen Personen zu fördern oder gegen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. [13]

    [13] Siehe Erwägungsgrund 22 des Vorschlages für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge, Dienstleistungsaufträge und Bauaufträge, KOM(2000) 275 endg. (ABl. C 29 E vom 30.1.01, S. 11-111), der sich auf Artikel 23 Absatz 3 des Richtlinienvorschlages bezieht, sowie Erwägungsgrund 32 des Richtlinienvorschlages zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung, KOM(2000) 276 endg. (ABl. C 29 E vom 30.1.01, S. 112-188), der sich auf Artikel 33 Absatz 3 bezieht.

    I Aufträge, die unter die Vergaberichtlinien fallen

    1.1. Definition des Auftragsgegenstandes

    Die erste Möglichkeit zur Berücksichtigung sozialer Belange bei öffentlichen Aufträgen bietet sich in der Phase, die der Anwendung der einschlägigen Richtlinien vorausgeht und die sich auf die Wahl des Auftragsgegenstandes bezieht oder, einfacher ausgedrückt, auf die Frage "Was will der Auftraggeber bauen oder kaufen*". In diesem Stadium hat der Auftraggeber weitreichende Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange und kann ein Produkt oder eine Dienstleistung wählen, das/die seinen sozialen Zielen entspricht. Die Antwort auf die Frage, inwieweit dies tatsächlich der Fall sein wird, hängt im wesentlichen vom Grad der Sensibilisierung und den Kenntnissen des Auftraggebers ab.

    Wie die Kommission in ihrer Mitteilung über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ausführt, sind die Möglichkeiten, Umweltbelange zu berücksichtigen, bei jedem Auftragstyp anders. [14] Das gleiche gilt für die sozialen Belange. Im Rahmen der öffentlichen Bau- und Dienstleistungsaufträge, bei denen ein Ausführungsmodus vorgeschrieben werden kann, kann der Auftraggeber am ehesten soziale Anliegen berücksichtigen. Hinsichtlich der öffentlichen Lieferaufträge sind die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange - abgesehen von der grundlegenden Wahl des Auftragsgegenstandes ("Was soll gekauft werden*") - begrenzter. Ein Auftraggeber kann sich beispielsweise für den Kauf von Waren oder Dienstleistungen entscheiden, die die besonderen Bedürfnisse einer bestimmten Personengruppe erfuellen, insbesondere benachteiligter oder ausgegrenzter Personen. [15] In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Dienstleistungsaufträge mit sozialer Zweckbestimmung meistens Dienstleistungen im Sinne des Anhangs IB der Richtlinie 92/50/EWG oder des Anhangs XVIB der Richtlinie 93/38/EWG betreffen und dementsprechend nicht den detaillierten Verfahrensregeln der Richtlinien unterliegen, insbesondere nicht den Regeln über die Auswahl und Zuschlagserteilung [16] (siehe unten, Kapitel II, letzter Absatz).

    [14] Vgl. das Kapitel über die Definition des Auftragsgegenstandes in der Mitteilung über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, KOM (2001) 274 endg., von der Kommission angenommen am 4.7.2001.

    [15] Manche Dienstleistungsaufträge, die eine bestimmte soziale Kategorie betreffen, haben als solche eine soziale Zweckbestimmung (ein Auftrag über Fortbildungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose beispielsweise). Ein weiteres Beispiel sind Aufträge, die den Erwerb von Material/Informatikdiensten speziell für Behinderte betreffen.

    [16] Beispielsweise Gesundheits- und Sozialwesen, Unterrichtswesen und Berufsausbildung oder auch Erholung und Kultur. Die in Anhang IB der Richtlinie 92/50/EWG sowie in Anhang XVIB der Richtlinie 93/38/EWG genannten Dienste unterliegen lediglich den Vorschriften der Vergaberichtlinien über die technische Spezifikation und die Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung. Die Vergabe von Aufträgen über solche Dienstleistungen unterliegt jedoch den Bestimmungen des Vertrages, was insbesondere zu einer angemessenen Transparenz und der Wahrung der Chancengleichheit der Bieter führt.

    Wenn es verschiedene Lösungen gibt, um den Ansprüchen des Auftraggebers gerecht zu werden, ist dieser frei, den Auftragsgegenstand vertraglich so zu definieren, wie er ihn zur Befriedigung seines sozialpolitischen Anliegens am treffendsten findet und dies auch im Wege von Nebenangeboten (siehe unten 1.2).

    Diese Freiheit ist aber nicht ganz unbegrenzt. Ein Auftraggeber als öffentliche Einrichtung muss die Regeln und allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten, namentlich die Grundsätze betreffend den freien Warenverkehr und die Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 28 bis 30 (vormals 30 bis 36) und 43 bis 55 (vormals 52 bis 66) EG-Vertrag [17].

    [17] Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament - Binnenmarkt und Umwelt, KOM (1999) 263 endg. vom 8.6.1999, S. 8 und 9.

    Dies bedeutet, dass der Gegenstand eines öffentlichen Auftrages nicht so definiert werden kann, dass sein Ziel oder sein Ergebnis die Beschränkung des Marktzugangs auf nationale Unternehmen zuungunsten von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten ist.

    Die derzeit im sozialen oder anderen Bereichen geltenden gemeinschaftlichen oder einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, sofern letztere mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, könnten diese Wahlfreiheit ebenfalls beschränken oder beeinflussen.

    Generell kann jeder Auftraggeber bei der Definition der Waren oder Dienstleistungen, die er erwerben möchte, diejenigen Waren, Dienstleistungen oder Bauarbeiten wählen - und hierbei auch Nebenangebote zulassen -, die seinen sozialpolitischen Anliegen entsprechen, vorausgesetzt, diese Wahl führt nicht dazu, dass der Zugang zu dem betreffenden Markt zuungunsten der Bieter aus anderen Mitgliedstaaten begrenzt wird.

    Auf jeden Fall ist die Tatsache, dass ein Auftrag eine "soziale" Zweckbestimmung hat (z.B. Bau einer Schule, eines Krankenhauses oder eines Altersheims), aus der Sicht der Vergaberichtlinien kein besonderes Problem, da solche Aufträge nach den Bestimmungen dieser Richtlinien vergeben werden, sofern sie in ihren Anwendungsbereich fallen.

    Wenn der Auftraggeber einen Auftragsgegenstand ausgewählt hat, formuliert er zunächst die technischen Spezifikationen.

    1.2. Technische Spezifikationen

    Wie die Kommission bereits in der Auslegungsmitteilung über die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge [18] präzisiert hat, enthalten die Vergaberichtlinien [19] Bestimmungen in bezug auf technische Anforderungen, denen zufolge die technischen Spezifikationen für Liefer-, Dienstleistungs- oder Bauaufträge in den allgemeinen Unterlagen oder in den Verdingungsunterlagen.

    [18] Vgl. Kapitel II, Punkt 1 der genannten Mitteilung. Die Kommission erläutert hier insbesondere den Begriff "technische Spezifikation" im Sinne der Vergaberichtlinien.

    [19] Siehe Artikel 14 der Richtlinie 92/50/EWG, Artikel 8 der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 10 der Richtlinie 93/37/EWG und Artikel 18 der Richtlinie 93/38/EWG.

    Die Auftraggeber haben die Möglichkeit, technische Spezifikationen festzulegen, die den Gegenstand des Liefer- oder Dienstleistungsauftrags genauer bestimmen, sofern diese Vorgaben den Bestimmungen der Vergaberichtlinien über die Bezugnahme entsprechen und nicht zur Folge haben, dass ein Bieter ausgeschlossen oder bevorzugt wird. [20]

    [20] Siehe Artikel 8 Absatz 6 Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 10 Absatz 6 Richtlinie 93/37/EWG, Artikel 14 Absatz 6 Richtlinie 92/50/EWG und Artikel 18 Absatz 5 Richtlinie 93/38/EWG.

    In der bereits genannten Mitteilung stellt die Kommission insbesondere klar, dass die in den Vergaberichtlinien enthaltenen Bestimmungen über die technischen Spezifikationen unbeschadet zwingender einzelstaatlicher Vorschriften gelten, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. [21] Es kann sich hierbei um Anforderungen handeln, die beispielsweise die Sicherheit der Produkte, den Gesundheitsschutz oder die Zugänglichkeit bestimmter Gebäude oder Verkehrsmittel (Normen für die Breite von Fluren und Türen, für Toiletten, Zugangsrampen usw.) oder bestimmter Produkte und Dienstleistungen für Behinderte (z.B. im Bereich Informationstechnologie) betreffen. [22]

    [21] Das bedeutet, dass sie im Wesentlichen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich der Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen haben, vereinbar sein müssen.

    [22] Damit das Ziel einer "Informationsgesellschaft für alle" erreicht werden kann, fordert die Initiative eEuropa die Auftraggeber auf, sicherzustellen, dass Personen mit besonderen Bedürfnissen den größtmöglichen Zugang zur Informationstechnologie haben und dass die Zugänglichkeitsrichtlinien der "Web-Zugangsinitiative" für Internet-Sites angenommen werden.

    So unterliegen die Auftraggeber bei Bauarbeiten unter Umständen den Vorschriften der Richtlinie 92/57/EWG über die auf Baustellen anzuwendenden Mindestvorschriften für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz. [23] Diese Richtlinie hat Auswirkungen auf die technische Organisation von Baustellen. Sie kann sich in den Verdingungsunterlagen, in den technischen Vorgaben für einen bestimmten Auftrag niederschlagen, mit denen die Sicherheit und der Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern auf Baustellen und von Dritten sichergestellt werden sollen. Dabei handelt es sich unter anderem um Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitsunfällen, wie z. B. die Beschilderung und Lagerung gefährlicher Produkte oder die Festlegung der Fahrwege von Baumaschinen.

    [23] Diese Richtlinie verpflichtet die Auftraggeber, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf den Baustellen sowohl bei der Auftragsvergabe als auch bei der Auftragsausführung zu berücksichtigen.

    Außer diesen Spezifikationen, in denen Vorschriften im sozialen Bereich berücksichtigt sind, gibt es technische Spezifikationen mit sozialer Konnotation, die dazu dienen, ein Produkt oder eine Leistung objektiv zu beschreiben. [24]

    [24] Zum Beispiel der Kauf von speziellen Informatikausrüstungen oder -diensten für Blinde. Solche Anforderungen dienen der technischen Spezifizierung eines Produkts und hängen somit mit dem Auftragsgegenstand zusammen.

    Die Auftraggeber dürfen insbesondere verlangen, dass die ausgeschriebenen Produkte nach einem bestimmten Herstellungsverfahren produziert werden, sofern dieses bewirkt, dass sich das Produkt von anderen konkurrierenden Produkten unterscheidet und es den Bedürfnissen des Auftraggebers entspricht. [25] Die Anwendung von "Sozialgütesiegeln", die sich auf die "soziale" Einstellung eines Unternehmens beziehen, wird in Punkt 1.3.2 der vorliegenden Mitteilung behandelt. [26]

    [25] So wurde in der Auslegungsmitteilung über die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge präzisiert: Anforderungen, die keinen Bezug zu dem Produkt oder der Leistung selbst haben, wie beispielsweise Vorgaben zum Management eines Unternehmens, sind keine technischen Spezifikationen im Sinne der Vergaberichtlinien und dürfen deshalb nicht gestellt werden. Anforderungen über die Verwendung von Recyclingpapier in den Büros des Unternehmens, die Anwendung bestimmter Abfallentsorgungsmethoden in den Gebäuden des Vertragspartners oder die Einstellung von Arbeitspersonal aus bestimmten Personengruppen (ethnische Minderheiten, Behinderte, Frauen) sind nicht als ,technische Spezifikationen" anzusehen.

    [26] Ein Sozialsiegel, das mit der ,sozialen" Einstellung eines Unternehmens zu tun hat, kann nicht als ,technische Spezifikation" im Sinne der Vergaberichtlinien eingestuft werden.

    Ansonsten können die Auftraggeber Alternativangebote in Erwägung ziehen [27], anhand derer sie die Möglichkeit auswählen können, die ihren Vorgaben in finanzieller und sozialer Hinsicht am ehesten entspricht und gleichzeitig die in den Verdingungsunterlagen enthaltenen Mindestanforderungen erfuellt. Diese Alternativangebote können beispielsweise unterschiedliche technische Lösungen enthalten, die die ergonomischen Merkmale eines Produktes betreffen oder sicherstellen sollen, dass bestimmte Produkte oder Leistungen für Behinderte zugänglich sind, darunter "Online"- oder elektronische und computergestützte Hilfsmittel und -Dienste.

    [27] Alle Vergaberichtlinien sehen die Möglichkeit vor, dass die Auftraggeber, falls das Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots zugrunde gelegt wird, Alternativangebote berücksichtigen können, die von einem Bieter eingereicht werden und den vom Auftraggeber festgelegten Mindestanforderungen entsprechen. Die Auftraggeber können in den Verdingungsunterlagen angeben, welche technischen Mindestanforderungen in den Alternativangeboten berücksichtigt und welche besonderen Anforderungen erfuellt werden müssen. Wenn Alternativangebote nicht zulässig sind, müssen die Auftraggeber dies in der Ausschreibung angeben (Art. 24 der Richtlinie 92/50/EWG, Art. 16 der Richtlinie 93/36/EWG, Art. 19 der Richtlinie 93/37/EWG und Art. 34 Abs. 3 der Richtlinie 93/38/EWG).

    1.3. Auswahl der Bewerber oder Bieter

    Die Richtlinien umfassen im Kern zwei Regelungen über die Auswahl der Bieter.

    Die Richtlinien enthalten zum einen eine abschließende Liste der Fälle, in denen die persönliche Situation eines Bieters zum Ausschluss vom Vergabeverfahren führen kann. Es handelt sich im Wesentlichen um Konkursverfahren, Verurteilungen, schwere berufliche Verfehlungen oder die Nichtzahlung von Steuern und Abgaben. Diese Ausschlussgründe sind streng auszulegen. Nichtsdestoweniger stehen den Auftraggebern die Anwendung der Ausschlussbestimmungen frei.

    Zum anderen muss die Eignung der Bieter gemäß den Richtlinien anhand der Kriterien der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Leistungsfähigkeit überprüft werden. [28] Die Richtlinien enthalten eine verbindliche abschließende Liste der qualitativen Kriterien - d.h. der Kriterien zur Beurteilung der technischen, wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit -, die bei der Auswahl der Bieter herangezogen werden können. [29] Dementsprechend sind andere Auswahlkriterien als diese mit den derzeit geltenden Richtlinien nicht vereinbar.

    [28] Artikel 15 der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 18 der Richtlinie 93/37/EWG, Artikel 23 der Richtlinie 92/50/EWG und Artikel 31.1 der Richtlinie 93/38/EWG.

    [29] In seinem Urteil vom 20.9.1988 in der Rechtssache 31/87, Beentjes, hat der Gerichtshof präzisiert, dass aus den Bestimmungen der Vergaberichtlinien hervorgeht, ,dass die öffentlichen Auftraggeber die fachliche Eignung der Unternehmer nur auf der Grundlage von Kriterien prüfen können, die sich auf die wirtschaftliche, finanzielle und technische Leistungsfähigkeit der Betroffenen beziehen" (Randnr. 17 des Urteils).

    In der bereits angesprochenen Rechtssache Beentjes hat der Gerichtshof für Recht entschieden, dass eine Bedingung, die die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen verlangt, nichts mit der Prüfung der fachlichen Eignung der Unternehmer im Hinblick auf deren wirtschaftliche, finanzielle und technische Leistungsfähigkeit zu tun hat (Randnr. 28 des Urteils) [30]. Hierzu stellt die Kommission fest, dass die Auftraggeber die Möglichkeit haben, die Ausführung des Auftrags an Bedingungen zu knüpfen und in diesem Stadium eine Bedingung über die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen aufzunehmen (siehe unten, Punkt 1.6).

    [30] Das Gleiche gilt, wenn die Zuverlässigkeit des Leiters eines Unternehmens herangezogen wird, da es sich um ,eine Art des Nachweises" handelt, ,die nicht zu den durch die Richtlinie [71/305/EWG] abschließend zugelassenen Nachweisen" für die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit des Unternehmens gehört; das hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10.2.82 in der Rechtssache 76/81, Transporoute (Randnr. 9 und 10), festgestellt.

    Was die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit anbelangt, so sehen die Richtlinien mehrere Nachweise vor, anhand derer die Eignung des Bieters für einen bestimmten Auftrag beurteilt werden kann. Die Liste der genannten Nachweise ist nicht abschließend. Jedoch muss jeder weitere Nachweis, den der Auftraggeber verlangt, ,stichhaltig" sein, d. h. er muss geeignet sein, die Eignung des Bieters unter finanziellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten bei einem bestimmten Auftrag zu beurteilen. [31] Zur Feststellung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit des Bieters dürfen derzeit keine Nachweise gefordert werden, die soziale Gesichtspunkte betreffen.

    [31] Vgl. in diesem Sinne das genannte Urteil Transporoute, Randnr. 9.

    Was die technische Leistungsfähigkeit anbelangt, so lassen die Richtlinien in gewissem Rahmen die Berücksichtigung sozialer Belange zu. Die in den betreffenden Bestimmungen vorgesehenen Möglichkeiten werden weiter unten aufgeführt (siehe Punkt 1.3.2).

    Die Richtlinien legen fest [32], dass die Angaben, die zur Prüfung der fachlichen Eignung der Bieter auf der Grundlage der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Leistungsfähigkeit erforderlich sind, nur den Auftragsgegenstand betreffen dürfen.

    [32] Siehe z.B. Artikel 32.4 der Richtlinie 92/50/EWG.

    In den Versorgungssektoren haben die Auftraggeber insofern mehr Handlungsspielraum, als die Richtlinie 93/38/EWG in Artikel 31 Absatz 1 lediglich die Anwendung von ,objektiven Regeln und Kriterien" vorschreibt, die zuvor festgelegt und interessierten Bietern zur Verfügung gestellt wurden.

    1.3.1. Ausschluss von Bewerbern oder Bietern wegen Verstoßes gegen sozialrechtliche Vorschriften

    In der genannten Mitteilung von 1998 hat die Kommission daran erinnert, dass die derzeit geltenden Vergaberichtlinien Bestimmungen enthalten, die es ermöglichen, Bewerber oder Bieter im Auswahlstadium auszuschließen, ,die gegen sozialrechtliche Vorschriften, so auch gegen solche zur Förderung der Gleichbehandlung, verstoßen".

    Die Richtlinien erlauben es nämlich zum einen, Bieter auszuschließen, ,die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie ansässig sind, oder nach den Rechtsvorschriften des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfuellt haben" [33].

    [33] Vgl. Artikel 20 Buchstabe e der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 24 Buchstabe e der Richtlinie 93/37/EWG, auf die Artikel 31 Absatz 2 der Richtlinie 93/38/EWG und Artikel 29 Buchstabe e der Richtlinie 92/50/EWG verweisen.

    Zudem erlauben sie den Ausschluss von Bietern, ,die mit rechtskräftigem Urteil aus Gründen bestraft worden sind, die ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellen" oder ,die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die von den öffentlichen Auftraggebern nachweislich festgestellt wurde" [34].

    [34] Vgl. Artikel 20 Buchstabe c und d der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 24 Buchstabe c und d der Richtlinie 93/37/EWG, auf die Artikel 31 Absatz 2 der Richtlinie 93/38/EWG und Artikel 29 Buchstabe c und d der Richtlinie 92/50/EWG verweisen.

    Ein Bieter, der rechtskräftig wegen Nichteinhaltung nationaler Rechtsvorschriften, beispielsweise über das Verbot von Schwarzarbeit, verurteilt worden ist, kann gemäß den genannten Bestimmungen von einem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden. [35]

    [35] Nach Artikel L 362.-6.2 des französischen Arbeitsgesetzbuchs (Code du travail) kann eine Verurteilung wegen Nichtbeachtung des Verbots der Beschäftigung von Schwarzarbeitern dazu führen, dass ein Unternehmen vorübergehend bis zu höchstens fünf Jahren oder endgültig von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen wird.

    Nach den Richtlinien dürfen öffentliche Auftraggeber in den Mitgliedstaaten, die in ihr nationales Recht entsprechende Rechtsvorschriften aufgenommen haben, überdies einen Bewerber oder einen Bieter von einem Vergabeverfahren ausschließen, wenn dieser die Vorschriften nicht eingehalten hat.

    Denkbar ist auch, dass Bieter ausgeschlossen werden können, die gegen eine sozialrechtliche Vorschrift verstoßen haben, was eine schwere berufliche Verfehlung darstellt oder als Verstoß zu sehen ist, der die berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt. Diese Ausschlussklauseln können sich beispielsweise auf die Nichteinhaltung von Bestimmungen über die Chancengleichheit oder Gesundheit und Sicherheit oder zugunsten bestimmter Personenkategorien erstrecken. [36] Ein Auftraggeber kann beispielsweise einen inländischen Bieter ausschließen, der keine Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung durchgeführt hat, wie dies im nationalen Recht des Staates vorgeschrieben ist, in dem der Auftragnehmer ansässig ist, wenn die Nichteinhaltung einer solchen Rechtsvorschrift in dem betreffenden Mitgliedstaat eine schwerwiegende Verfehlung darstellt.

    [36] In Spanien gilt die Verletzung der Rechtsvorschrift über die Beschäftigung von Behinderten als schwere berufliche Verfehlung und kann zum Ausschluss eines Bieters führen. In Frankreich wurden etwa dreißig Fälle festgestellt, in denen die Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften zum Ausschluss eines Bieters geführt hat (beispielsweise verpflichtet das Arbeitsgesetz die Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten zwei Behinderte zu beschäftigen; der Unternehmenschef kann von der Gewerbeaufsicht bestraft werden; dies kann dazu führen, dass der Bieter wegen einer schweren beruflichen Verfehlung ausgeschlossen werden kann).

    Der Begriff der schweren beruflichen Verfehlung ist als solcher bisher weder durch die europäische Gesetzgebung, noch durch die Rechtsprechung definiert worden. [37] Daher obliegt es den Mitgliedstaaten, diesen Begriff in der nationalen Gesetzgebung zu bestimmen und insbesondere zu entscheiden, ob die Nichteinhaltung bestimmter sozialer Verpflichtungen eine schwere berufliche Verfehlung darstellt.

    [37] Abschlussbericht zur Falcone-Studie über das öffentliche Beschaffungswesen und organisierte Kriminalität 1998 - Band I: 24.5.1999, Institute of Advanced Legal Studies - University of London.

    1.3.2. Berücksichtigung sozialer Belange bei der Prüfung der technischen Leistungsfähigkeit der Bewerber oder Bieter

    Die Vergaberichtlinien legen fest, mit welchen Mitteln die technische Leistungsfähigkeit der Bewerber oder Bieter geprüft werden kann. Sie enthalten eine abschließende Liste der Nachweise oder Beweismittel, deren Vorlage von Bewerbern und Bietern verlangt werden kann, um die technische Eignung bei einem bestimmten Auftrag unter Berücksichtigung der Art, des Umfangs und der Zielsetzung des Auftrags [38] zu beurteilen. Auch müssen besondere Anforderungen bezüglich der technischen Leistungsfähigkeit des Bewerbers oder Bieters, die vom Auftraggeber festgelegt werden, einem der in den Richtlinien aufgeführten Nachweisen zu entnehmen sein.

    [38] Artikel 23 der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 27 der Richtlinie 93/37/EWG und Artikel 32 der Richtlinie 92/50/EWG.

    Ziel der Auswahlphase ist die Auswahl der Bieter, die der Auftraggeber für geeignet hält, den betreffenden Auftrag auszuführen. Die verschiedenen Anforderungen müssen daher in direktem Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen. [39]

    [39] Artikel 32 Absatz 2 der Richtlinie 92/50/EWG besagt ausdrücklich, dass diese Anforderungen je nach Art, Umfang und Verwendungszweck der betreffenden Dienstleistungen festgelegt werden müssen.

    In diesem Stadium der Auswahl hat der Auftraggeber die Möglichkeit, Nachweise über Erfahrung und Fachkunde der Bieter zu verlangen. [40] Er kann beispielsweise die Personalzusammensetzung des Unternehmens, seine personelle und technische Ausstattung, das System zur Qualitätskontrolle überprüfen, um sich zu vergewissern, dass das betreffende Unternehmen über das Personal und die Mittel verfügt, die erforderlich sind, um den Auftrag ausführen und abschließen zu können.

    [40] Bei Dienstleistungsaufträgen kann die Eignung des Bieters für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen insbesondere aufgrund ihrer Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Erfahrung, aber auch aufgrund ihrer Zuverlässigkeit beurteilt werden (Artikel 32 Absatz 1 Richtlinie 92/50/EWG). Vgl. in diesem Sinne das genannte Urteil Beentjes, Randnr. 35.

    Falls der Auftrag besondere "soziale" Fachkenntnisse erfordert, kann es auch zulässig sein, besondere Erfahrungen als Eignungskriterium und als Nachweis der technischen Fachkenntnisse zu verlangen, die zur Prüfung der Eignung der Bewerber dienen. [41]

    [41] Beispielsweise besondere Erfahrung in der Leitung eines Kinderhorts oder mit der Bereitstellung von Fortbildungsleistungen für Langzeitarbeitslose.

    Die Nachweise, die nach den Vergaberichtlinien verlangt werden dürfen [42], lassen indessen nur Raum für die Berücksichtigung der ,sozialen Ausrichtung" des Unternehmens (auch als "soziale Verantwortung" [43] bezeichnet), wenn diese die technische Fähigkeit des Unternehmens, einen bestimmten Auftrag auszuführen, im vorgenannten Sinn nachweist.

    [42] Zu den in den Vergaberichtlinien abschließend aufgeführten Nachweisen über die technische Leistungsfähigkeit eines Bieters gehören namentlich Folgende: (1) ein Verzeichnis der in den letzten fünf Jahren durchgeführten Arbeiten mit Bescheinigung über die ordnungsgemäße Ausführung der wichtigsten Arbeiten oder ein Verzeichnis der wichtigsten, in den letzten drei Jahren erbrachten Dienstleistungen; (2) Beschreibung der technischen Ausrüstung, der Maßnahmen zur Qualitätskontrolle sowie der Hilfsmittel für Studien und Recherchen; oder (3) Angabe der Fachkräfte oder technischen Stellen - unabhängig davon, ob sie Teil des Unternehmens des Lieferanten sind -, auf die der Bewerber bei der Ausführung des Auftrags zurückgreifen kann, insbesondere für die Qualitätskontrolle Verantwortliche.

    [43] Der Begriff "soziale Verantwortung" spiegelt eine Tendenz wider: Die Unternehmen sehen sich immer häufiger dazu veranlasst, mehr und mehr soziale, ethische und Umweltbelange in ihrer Unternehmens- und ihrer Investitionspolitik zu berücksichtigen, also mehr zu tun, als nur die Rechtsvorschriften zu beachten. Die Konzepte für diese Übernahme der sozialen Verantwortung unterscheiden sich jedoch sehr stark je nach Branche und kulturellen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern oder sogar Regionen. Die Kommission hat in ihrem Grünbuch "Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen" (KOM(2001) 366 endg. vom 18.7.2001) auf die Bedeutung der sozialen Verantwortung der Unternehmen hingewiesen, die zur Verwirklichung des in Lissabon vorgegebenen strategischen Ziels beitragen kann (s. Punkt 6). Mit diesem Grünbuch möchte die Kommission eine umfassende Debatte darüber in Gang bringen, wie die Europäische Union diese soziale Verantwortung auf europäischer und internationaler Ebene fördern kann (Punkt 7). Im Übrigen entstehen derzeit auf dem Markt verschiedene, freiwillige "Sozialsiegel". In dem vorgenannten Grünbuch definiert die Kommission das Konzept des Sozialsiegels als ,Textangaben und bildliche Angaben auf Produkten, die die Kaufentscheidungen der Verbraucher beeinflussen wollen durch Zusicherungen in Bezug auf die sozialen und ethischen Auswirkungen einer Geschäftstätigkeit auf andere Stakeholder".

    1.4. Zuschlagserteilung

    Nach der Auswahl der Bewerber oder Bieter beginnt der Auftraggeber mit der Bewertung der Angebote, die in die Zuschlagserteilung mündet.

    Bei der Auswahl der Bewerber oder Bieter und der Zuschlagserteilung handelt es sich um zwei Schritte, die unterschiedlichen Regeln unterliegen.

    Bei der Zuschlagserteilung lassen die Vergaberichtlinien [44] zwei Kriterien zu, nämlich das Kriterium des niedrigsten Preises, das keines Kommentars bedarf, und das Kriterium des ,wirtschaftlich günstigsten Angebots".

    [44] Artikel 26 der Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 30 der Richtlinie 93/37/EWG, Artikel 36 der Richtlinie 92/50/EWG und Artikel 34 der Richtlinie 93/38/EWG.

    Wenn der Zuschlag auf das wirtschaftlich günstigste Angebot erteilt werden soll, verlangen die Richtlinien vom Auftraggeber, dass er in den Verdingungsunterlagen oder in der Vergabebekanntmachung die Zuschlagskriterien nennt, die er anzuwenden beabsichtigt, und zwar möglichst in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung. Folglich ist der Auftraggeber nicht nur gehalten, alle Kriterien im Voraus festzulegen, die er bei der Wertung der Angebote anwenden will, sondern er ist auch verpflichtet, bei der Wertung keine anderen Kriterien anzuwenden als die, die in der Vergabebekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen genannt werden.

    1.4.1. Das Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots

    In den Vergaberichtlinien werden als Beispiel eine Reihe von Kriterien genannt, auf die sich die Auftraggeber stützen können, um das Angebot auszuwählen, das wirtschaftlich gesehen am günstigsten ist. [45] Es können auch andere Kriterien angewandt werden.

    [45] Die in den Richtlinien als Beispiel genannten Kriterien sind Preis, Liefer- oder Ausführungsfrist, Betriebskosten, Rentabilität, Qualität, ästhetischer und funktionaler Charakter, technischer Wert, Kundendienst und technische Hilfe.

    Als allgemeine Regel enthalten die Vergaberichtlinien zwei Bedingungen für die Kriterien, die herangezogen werden, um das wirtschaftlich günstigste Angebot zu ermitteln. Erstens muss der Grundsatz der Nichtdiskriminierung eingehalten werden [46] und zweitens müssen die angewandten Kriterien dem Auftraggeber einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen. Der Gerichtshof hat bestätigt, dass der Zweck der Richtlinien darin besteht, die Gefahr einer Bevorzugung einheimischer Bieter oder Bewerber bei der Auftragsvergabe durch öffentliche Auftraggeber zu verhindern und zugleich die Möglichkeit auszuschließen, dass eine vom Staat, von Gebietskörperschaften oder anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanzierte oder kontrollierte Stelle sich von anderen als wirtschaftlichen Überlegungen leiten lässt. [47]

    [46] Ein Kriterium, das die lokalen Bieter begünstigen und es den potenziellen Bietern aus anderen Mitgliedstaaten schwerer machen würde, den betreffenden Auftrag zu erhalten und die Dienstleistungen zu erbringen, die Gegenstand des Auftrags sind, wäre eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Artikel 49 (vormals 59) des EG-Vertrags.

    [47] Urteil des Gerichtshofs vom 3.10.2000, Rs. C-380/98 "Universität Cambridge", Randnr. 17, in dem sich der Gerichtshof auf die Urteile vom 15. Januar 1998, Mannesmann Anlagenbau Austria u.a., C-44/96, Slg. I-73, Randnr. 33 sowie Urteil vom 10.11.1998, BFI Holding, in der Rs. 360/96, Slg. I-6821, Randnr. 42 und 43 bezieht. Siehe auch das Urteil vom 1.2.2001, Rs. C-237/99, Kommission gegen Französische Republik, "HLM", Randnr. 41 und 42.

    Der gemeinsame Punkt der Kriterien, die zur Beurteilung von Angeboten gebraucht werden, ist der, dass sie alle - wie die als Beispiel genannten Kriterien - die zu erbringende Leistung, die Gegenstand des Auftrags ist, oder die Modalitäten ihrer Ausführung betreffen müssen. [48] Sie müssen es dem Auftraggeber ermöglichen, die Angebote objektiv zu vergleichen und festzustellen, welches Angebot bei einem bestimmten Auftrag am ehesten seinem Bedarf entspricht. Anhand eines Zuschlagskriteriums muss die eigentliche Qualität einer Ware oder einer Dienstleistung bewertet werden können.

    [48] Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 4.5.1998 in der Rs. Beentjes, a.a.O., Randnr. 35.

    Die Zuschlagskriterien müssen also mit dem Auftragsgegenstand oder seinen Ausführungsbedingungen zusammenhängen. [49]

    [49] Siehe z.B. Artikel 30.1 der Richtlinie 93/37/EWG. Siehe hierzu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer vom 5. Juni 2001 in den verbundenen Rechtssachen C-285/99 und C-286/99, Lombardini, Fußnote auf Seite 23 der Schlussanträge.

    Die als Beispiele in den Richtlinien aufgeführten Kriterien umfassen keine sozialen Kriterien. Wenn man indessen unter ,Sozialkriterium" ein Kriterium versteht, das beispielsweise ermöglicht, die Qualität einer Dienstleistung, die für eine bestimmte Gruppe benachteiligter Personen [50] bestimmt ist, zu bewerten, ist ein solches Kriterium dennoch insoweit zulässig, als es zur Wahl des wirtschaftlich günstigsten Angebots im Sinne der Richtlinie beiträgt.

    [50] Bei einem Auftrag zur Erbringung von Informatikdiensten für alle Beschäftigten einer Gemeinde (Dienstleistungen Anhang IA) könnte im Prinzip ein Kriterium über die vom Bieter vorgeschlagene Methode, um sicherzustellen, dass stets und in zufriedenstellender Form eine hochwertige Dienstleistung erbracht wird, die den Bedürfnissen Behinderter Rechnung trägt, bei der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebotes berücksichtigt werden.

    Dagegen wären insbesondere Quoten für Aufträge, die bestimmten Kategorien von Bietern [51] vorbehalten sind oder Preispräferenzen [52] nicht mit den derzeitigen Vergaberichtlinien vereinbar. Ebenso verhält es sich mit Kriterien, die erfassen sollen, inwiefern die Bieter eine bestimmte Personenkategorie beschäftigen oder ein Programm zur Förderung der Chancengleichheit eingerichtet haben; es handelt sich mit anderen Worten um Kriterien, die nichts mit dem Gegenstand eines bestimmten Auftrags oder mit seinen Ausführungsbedingungen zu tun haben. Solche Kriterien, die nicht zur Wahl des wirtschaftlich günstigsten Angebots beitragen, bleibt nach den derzeitigen Richtlinien aufgrund ihrer Zielsetzung, nämlich die Bewertung der eigentlichen Qualitäten eines Gutes oder einer Dienstleistung zu ermöglichen, ausgeschlossen. Darüber hinaus wären solche Kriterien als mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufgrund des Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) unvereinbar anzusehen, das im Rahmen der Welthandelsorganisation abgeschlossen wurde. [53]

    [51] In den Vereinigten Staaten sind 20% der Aufträge den ,small minority businesses" vorbehalten, d. h. Unternehmen, die von Minderheiten kontrolliert werden. Die Vereinigten Staaten haben eine diesbezügliche Ausnahmeregelung in das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) aufnehmen lassen.

    [52] Etwa die Annahme, dass bestimmte Kategorien von Bietern eine Preispräferenz genießen, aufgrund derer das Angebot von Bieter A zwar über dem von Bieter B liegt, aber als gleichwertig mit dem Angebot von B angesehen wird, weil A eine bestimmte Sozialpolitik anwendet, z. B. die aktive Förderung der Frauen.

    [53] Einige Unterzeichnerstaaten haben ausdrückliche Vorbehalte festschreiben lassen, die es den Auftraggebern ermöglichen sollen, bei der Auftragsvergabe einen Sozialgesichtspunkt anzuwenden. So haben die Vereinigten Staaten eine Ausnahme festschreiben lassen, wonach bestimmte Aufträge namentlich Minderheiten vorbehalten werden können. Solche Ausnahmen kommen gleichwohl in den Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft gegenüber ihren Partnern nicht vor. Daraus folgt, dass solche Kriterien im Allgemeinen als Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinien, insbesondere die Bestimmungen über die Auftragsvergabe, anzusehen sind.

    Bei der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots können Kriterien berücksichtigt werden, die soziale Gegebenheiten beinhalten, vorausgesetzt, dass sie dem Auftraggeber einen wirtschaftlichen Vorteil bieten, der mit dem eigentlichen Auftragsgegenstand zusammenhängt. [54]

    [54] In einer Sache, mit der die Kommission befasst war, hatte ein öffentlicher Auftraggeber sich bei der Vergabe eines Auftrags an ein lokales Transportunternehmen im Wesentlichen auf folgende Kriterien gestützt : die Ansiedlung des Unternehmens im Ort bedeutete zum einen Steuereinnahmen, zum anderen die Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze ; ferner sicherte der Erwerb großer Mengen von Waren und Dienstleistungen vor Ort lokale Arbeitsplätze. Die Kommission hielt diese Kriterien nicht für Kriterien, auf deren Grundlage öffentliche Auftraggeber Angebote bewerten können, da sie keine Bewertung eines wirtschaftlichen Nutzens ermöglichen, der in eigentlichem Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand steht und dem Auftraggeber zugute kommt. Es handelte sich also um einen Verstoß gegen die Zuschlagsbestimmungen nach Artikel 36.1 der Richtlinie 92/50/EWG. Darüber hinaus führten diese Elemente zur Diskriminierung der anderen Bieter, weil sie beim Vergleich der Angebote einen Vorteil für den einzigen Bieter mit sich brachten, der in der betreffenden Gemeinde ansässig war. Es handelte sich also um einen Verstoß gegen das allgemeine Prinzip der Nichtdiskriminierung von Dienstleistungserbringern nach Artikel 3 der Richtlinie 92/50/EWG.

    Es fragt sich, ob der Begriff "wirtschaftlich günstigstes Angebot" bedeutet, dass jedes der gewählten Kriterien einen direkten wirtschaftlichen Vorteil für den Auftraggeber darstellen muss oder ob es ausreicht, wenn die Kriterien wirtschaftlich messbar sind, auch wenn in dem betreffenden Erwerb kein wirtschaftlicher Nutzen für den Auftraggeber zum Ausdruck kommt.

    Diese Frage wurde dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtssache C-513/99 vorgelegt. Mit dem Urteil wird Ende 2001 gerechnet. Das Urteil, in dem es um eine umweltrelevante Frage geht, könnte, da es sich um ähnlichen Sachverhalt handelt, die Frage über die sozialen Kriterien teilweise beantworten. [55]

    [55] Rechtssache C-513/99 Stagecoach Finland Oy Ab, veröffentlicht im ABl. C 102/10 vom 8.4.2000.

    Sowohl in ihrem Grünbuch [56] als auch in der bereits genannten Mitteilung über das Vergabewesen [57] hat die Kommission eindeutig zugunsten der erstgenannten Auslegung Stellung genommen.

    [56] Grünbuch über das öffentliche Auftragswesen in der Europäischen Union: Überlegungen für die Zukunft, KOM (1996) 583 vom 27.11.1996.

    [57] Vgl. Kapitel 4.3 der bereits genannten Mitteilung von 1998 hinsichtlich der Berücksichtigung umweltbezogener Aspekte bei der Auftragsvergabe. Siehe ferner Ziffer 48 der Mitteilung Öffentliches Auftragswesen, regionale und soziale Aspekte, KOM(89) 400, von der Kommission angenommen am 22.09.1989 (ABl. C 311 vom 12.12.1989).

    Die Kommission stellt fest, dass die Auftraggeber die Möglichkeit haben, die Ausführung des Auftrags an Bedingungen zu knüpfen und in diesem Stadium bestimmte soziale Ziele zu berücksichtigen (siehe unten, Punkt 1.6).

    1.4.2. Das ,Zusatzkriterium"

    Dieser Begriff wurde vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geprägt. [58]

    [58] Rechtssache Beentjes, a.a.O., Randnr. 29 und Rechtssache C-225/98 Kommission gegen Französische Republik, Urteil vom 26. September 2000, ,Schulgebäude - Nord-Pas-de-Calais", Slg. 2000, I-7445.

    In der bereits angesprochenen Rechtssache Beentjes hat der Gerichtshof für Recht entschieden, dass eine Bedingung, die die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen verlangt, weder mit der Prüfung der fachlichen Eignung der Unternehmer im Hinblick auf deren wirtschaftliche, finanzielle und technische Leistungsfähigkeit noch mit den in der Richtlinie genannten Zuschlagskriterien zu tun hat. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dieses Kriterium dennoch mit den Vergaberichtlinien vereinbar ist, sofern die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts beachtet werden.

    In der Rechtssache C-225/98 hat der Gerichtshof befunden, dass die Auftraggeber eine Bedingung als Kriterium verwenden können, die mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zusammenhängt, wenn diese Bedingung alle Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachtet und nur dann angewandt wird, wenn den Auftraggebern zwei oder mehr wirtschaftlich gleichwertige Angebote vorliegen. [59] In diesem Sinne wurde die Bedingung von dem betreffenden Mitgliedstaat als nicht ausschlaggebendes Zusatzkriterium - nachdem die Angebote aus rein wirtschaftlicher Sicht miteinander verglichen worden waren - erachtet. Was schließlich die Anwendung eines Zuschlagskriteriums im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeht, erläutert der Gerichtshof, dass dieses nicht unmittelbar oder mittelbar zur Diskriminierung der Bieter aus anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft führen darf und in der Bekanntmachung ausdrücklich erwähnt werden muss, damit die Unternehmer in der Lage sind, von ihrem Bestehen Kenntnis zu nehmen.

    [59] Vgl. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union 2000, Seite 407, Ziffer 1119.

    Dies könnte ebenfalls auf andere Bedingungen im Sozialbereich Anwendung finden.

    1.5. Ungewöhnlich niedrige Angebote

    Die geltenden Vergaberichtlinien [60] beschränken sich darauf, den Auftraggeber zu verpflichten, vor Ablehnung eines Angebots, das im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein scheint, Aufklärung darüber vom Bieter zu verlangen. Der Auftraggeber muss die Zusammensetzung des betreffenden Angebots prüfen und kann dieses ablehnen, wenn es ihm nicht ausreichend zuverlässig erscheint, ohne jedoch durch die Richtlinien dazu verpflichtet zu sein. In den Mitgliedstaaten, die entsprechende Vorschriften erlassen haben, können die Auftraggeber jedoch verpflichtet sein, ungewöhnlich niedrige Angebote abzulehnen, wenn der niedrige Preis beispielsweise auf Verstöße gegen Beschäftigungsvorschriften oder das Arbeitsrecht zurückzuführen ist.

    [60] Artikel 27 Richtlinie 93/36/EWG, Artikel 30 der Richtlinie 93/37/EWG, Artikel 37 Richtlinie 92/50/EWG und Artikel 34 Absatz 5 der Richtlinie 93/38/EWG.

    Die Richtlinien führen als Beispiele bestimmte Kriterien auf, die der Auftraggeber berücksichtigen kann wie die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens, die gewählten technischen Lösungen und außergewöhnlich günstige Bedingungen, über die der Bieter verfügt. Elemente, die gegen die Sicherheits- oder Beschäftigungsvorschriften verstoßen, können nach den geltenden Richtlinien die Ablehnung eines Angebots mitbegründen, das im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig ist. Dem allgemeinen Ansatz der Richtlinien entsprechend sind die praktischen Modalitäten einer solchen Überprüfung durch die nationale Gesetzgebung zu regeln, wobei klar ist, dass es sich um ein kontradiktorisch ausgestaltetes Verfahren handeln muss.

    1.6. Auftragsausführung

    Ein Mittel zur Förderung der Berücksichtigung sozialer Zielsetzungen ist die Anwendung von Vertragsklauseln oder ,Bedingungen für die Auftragsausführung", sofern diese das Gemeinschaftsrecht einhalten und vor allem Bieter aus anderen Mitgliedstaaten nicht direkt oder indirekt benachteiligen. [61]

    [61] Beispielsweise dürfte eine Klausel, wonach der Auftragnehmer eine bestimmte Zahl oder einen bestimmten Prozentsatz von Langzeitarbeitslosen oder Auszubildenden beschäftigen muss, ohne zu verlangen, dass diese aus einer bestimmten Region kommen oder einer staatlichen Stelle zugehörig sind, etwa hinsichtlich der Ausführung eines öffentlichen Bauauftrags nicht von vornherein zu einer Diskriminierung von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten führen.

    Die Auftraggeber können Vertragsklauseln über die Auftragsausführung festlegen. Die Ausführungsphase ist nämlich derzeit nicht durch die Vergaberichtlinien geregelt.

    Dennoch müssen die Klauseln oder Bedingungen über die Ausführung das Gemeinschaftsrecht beachten, insbesondere, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung der ausländischen Bieter stattfindet (siehe unten 3.2).

    Darüber hinaus muss die Umsetzung dieser Klauseln oder Bedingungen unter Beachtung aller Verfahrensvorschriften der Richtlinien, insbesondere der Publizitätsvorschriften, erfolgen. [62] Sie dürfen keine offene oder versteckte technische Spezifikation enthalten. Sie dürfen auch weder die Prüfung der fachlichen Eignung der Bieter auf der Grundlage ihrer wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Leistungsfähigkeit noch die Zuschlagskriterien betreffen. [63] In diesem Sinne muss ,die Auftragsbedingung [...] unabhängig sein von der Beurteilung der Fähigkeit der Bieter, die Bauarbeiten auszuführen, oder von den Zuschlagskriterien" [64].

    [62] Vgl. Randnr. 31 des bereits genannten Beentjes-Urteils.

    [63] Vgl. Randnr. 28 des bereits genannten Beentjes-Urteils.

    [64] Mitteilung Öffentliches Auftragswesen - regionale und soziale Aspekte, s.o., Ziffer 59.

    Außerdem muss die Transparenz durch Erwähnung dieser Bedingungen in der Auftragsbekanntmachung sichergestellt werden, damit alle Bewerber oder Bieter sie zur Kenntnis nehmen können. [65]

    [65] "Schließlich müssen die öffentlichen Auftraggeber die für jede Ausschreibung geltenden Kriterien und Bedingungen in angemessener Weise bekannt machen, um dem Ziel der Richtlinie Rechnung zu tragen, die Entwicklung eines echten Wettbewerbs auf dem Gebiet der öffentlichen Bauaufträge sicherzustellen" (siehe Urteil Beentjes, Randnr. 21).

    Schließlich muss die Ausführung der Aufträge auf alle Fälle so erfolgen, dass die einschlägigen geltenden Vorschriften, insbesondere im Bereich Soziales und Sicherheit, eingehalten werden (siehe Kapitel III).

    Die Ausführungsbedingung muss vom Unternehmer, der den Auftrag erhalten hat, akzeptiert werden und sich auf die Auftragserfuellung beziehen. Im Prinzip reicht es also, wenn die Bieter sich bei der Angebotsabgabe dazu verpflichten, dieser Anforderung nachzukommen, wenn sie den Zuschlag erhalten. Das Angebot eines Bieters, der eine solche Auftragsbedingung nicht akzeptiert, würde nicht den Verdingungsunterlagen entsprechen und könnte deshalb nicht berücksichtigt werden. [66] Dagegen kann nicht verlangt werden, dass diese Auftragsausführungsbedingungen schon bei der Angebotsabgabe eingehalten werden.

    [66] Aus dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-243/89 ,Brücke über den Storebaelt" geht hervor, dass ein Auftraggeber die Angebote, die nicht den Vorschriften der Verdingungsunterlagen entsprechen, zurückweisen muss, da er ansonsten gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter verstößt, der den Vergaberichtlinien zugrunde liegt.

    Der Auftraggeber verfügt über eine breite Palette von Möglichkeiten, um Vertragsklauseln im sozialen Bereich festzulegen. Als Beispiel seien hier einige Zusatzbedingungen genannt, die ein Auftraggeber dem Auftragnehmer unter Einhaltung der oben genannten Bedingungen auferlegen könnte und die die Berücksichtigung sozialer Belange ermöglichen:

    * die Verpflichtung, Arbeitsuchende, insbesondere Langzeitarbeitslose, einzustellen oder bei der Ausführung des Auftrags Schulungsmaßnahmen für Arbeitslose oder Jugendliche durchzuführen

    * die Verpflichtung, bei der Ausführung des Auftrags Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit zwischen Man und Frau oder der ethnischen und rassischen Vielfalt durchzuführen [67]

    [67] Bei einem Dienstleistungsauftrag kann beispielweise eine politische Maßnahme zur Förderung der ethnischen und rassischen Vielfalt am Arbeitsplatz durchgeführt werden, indem die für die Einstellung, die Beförderung oder die Weiterbildung zuständigen Personalsachbearbeiter entsprechende Weisungen erhalten; hierzu kann auch die Ernennung eines Mitarbeiters, der für die Durchführung einer diesbezüglichen Politik am Arbeitsplatz zuständig ist, durch den Auftragnehmer gehören.

    * die Verpflichtung, die Bestimmungen der grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) bei der Ausführung des Auftrags einzuhalten, falls diese nicht bereits im nationalen Recht verankert sind

    * die Verpflichtung, zur Auftragsausführung eine größere Zahl von Behinderten einzustellen, als von der nationalen Gesetzgebung des Mitgliedstaates, in dem der Auftrag ausgeführt wird oder der Auftragnehmer ansässig ist, verlangt wird

    Schließlich dürfte es schwieriger sein, Vertragsklauseln festzulegen, die mit der Ausführung von Lieferaufträgen zusammenhängen, denn Klauseln, die die Anpassung der Organisation, der Struktur oder der Politik eines Unternehmens erforderlich machen würden, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, könnten sich als diskriminierend erweisen oder als ungerechtfertigtes Handelshemmnis darstellen.

    II Öffentliche Aufträge, die nicht unter die Richtlinien fallen

    Die Vergaberichtlinien gelten nur für bestimmte Aufträge, insbesondere solche, deren Höhe die in den Richtlinien genannte Schwelle erreicht oder übersteigt.

    Das Gemeinschaftsrecht überlässt es den Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob Aufträge, die nicht unter die gemeinschaftlichen Vergaberichtlinien fallen, den einschlägigen nationalen Vorschriften unterworfen werden oder nicht.

    Den Mitgliedstaaten ist es überdies freigestellt, innerhalb der vom Gemeinschaftsrecht festgelegten Grenzen zu entscheiden, ob Aufträge, die nicht unter die gemeinschaftlichen Vergaberichtlinien fallen, benutzt werden können - oder gar müssen -, um andere Zielsetzungen der Vergaberichtlinien zu verfolgen als die des "besten Preis-Leistungsverhältnisses".

    Unbeschadet der einschlägigen nationalen Gesetzgebung bleibt es den Auftraggebern bei diesen Aufträgen überlassen, im Rahmen ihrer Vergabeverfahren soziale Auswahl- und Zuschlagskriterien festzulegen, vorausgesetzt, dass sie die Vorschriften und allgemeinen Grundsätze des EG-Vertrags [68] einhalten, insbesondere im Hinblick auf eine angemessene Transparenz und die Gleichbehandlung der Bieter.

    [68] Näheres s. Kapitel III der zitierten Mitteilung über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

    Eine Vergabepraxis, bei der bestimmte Kategorien von Personen bevorzugt werden, z. B. Behinderte (Werkstätten für Behinderte) oder Arbeitslose, kann zulässig sein. Dazu dürfen die betreffenden Maßnahmen allerdings weder eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung der entsprechenden Bieter aus den anderen Mitgliedstaaten [69], noch eine ungerechtfertigte Beschränkung des Handels [70] darstellen. Die Reservierung eines Auftrags für nationale Bieter würde gegen die Vorschriften und allgemeinen Grundsätze des EG-Vertrags verstoßen. Dagegen wären Fälle, in denen auch Behindertenwerkstätten aus anderen Mitgliedstaaten teilnehmen könnten, nicht von vornherein diskriminierend. Die Auftragserteilung muss jedoch unter Einhaltung namentlich der Grundsätze der Chancengleichheit der Bieter und der Transparenz [71] erfolgen (s. auch Kapitel III).

    [69] Im Vereinigten Königreich sah das Präferenzsystem ,Priority Suppliers Scheme" (Programm prioritär zu berücksichtigender Lieferanten), das die Beschäftigung Behinderter mittels staatlicher Lieferaufträge fördern sollte, vor, dass bestimmte, in einer Liste verzeichnete Unternehmen ein zweites Angebot einreichen konnten, um sich dem niedrigsten Angebot anzupassen; entsprechende Bieter aus anderen Mitgliedstaaten erhielten diesen Vorteil nicht. Dieses System wurde bei den Verhandlungen über die kodifizierte Richtlinie 93/36/EWG abgeschafft und im November 1994 durch ein System ersetzt, das dem Gemeinschaftsrecht entspricht, nämlich dem ,special contract arrangement". Nach diesem System sind Arbeitgeber aus der gesamten Union zugelassen, die Behinderte beschäftigen; die Anwendung des Systems ist auf Aufträge beschränkt, deren Wert unterhalb der Schwelle liegt.

    [70] Artikel XXIII des GPA (Ausnahmen) sieht die Möglichkeit vor, dass die Vertragsparteien Maßnahmen einführen oder anwenden, die sich auf Artikel beziehen, die von Behinderten hergestellt wurden oder auf Dienstleistungen, die von Behinderten erbracht werden oder in wohltätigen Einrichtungen oder Gefängnissen, vorausgesetzt, dass diese Maßnahmen kein Mittel der willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung darstellen und keine versteckte Beschränkung des internationalen Handels. Diese Möglichkeit wurde durch die Richtlinien nicht umgesetzt.

    [71] Siehe hierzu die Urteile des Gerichtshofs vom 18.11.1999, Rechtss. C-275/98, Unitron, und vom 7.12.2000, Rechtss. C-324/98, Telaustria.

    Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Auftraggeber - außer bei nicht den Richtlinien unterliegenden Aufträgen - bei Dienstleistungsaufträgen nach Anhang IB der Richtlinie 92/50/EWG sowie nach Anhang XVIB der Richtlinie 93/38/EWG, unter die die meisten Dienstleistungen "sozialer" Art fallen (z. B. soziale und sanitäre Dienste) über Handlungsmöglichkeiten verfügen. Solche Aufträge unterliegen den Vorschriften der Vergaberichtlinien nämlich nur im Hinblick auf technische Spezifikationen und die Veröffentlichung einer Bekanntmachung über die Zuschlagserteilung. Die ausführlichen Bestimmungen der Richtlinien über die Auswahl der Bewerber und die Auftragserteilung gelten für sie nicht. Die Vergabe von Aufträgen über solche Dienstleistungen unterliegt jedoch, wie bereits erwähnt, den nationalen Gesetzen und den Grundsätzen des Vertrages.

    III Vorschriften aus dem sozialen Bereich, die für öffentliche Aufträge gelten

    3.1 Einleitung

    Zunächst sei daran erinnert, dass die Vergaberichtlinien zwar keine spezifischen Vorschriften in diesem Sinne enthalten, die Ausführung eines Auftrages nach Zuschlagserteilung aber unter vollständiger Einhaltung aller geltenden nationalen, internationalen oder gemeinschaftlichen Normen, Regeln, Vorschriften und Pflichten erfolgen muss, die im sozialen Bereich zwingend vorgeschrieben sind. Diese einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder tarifrechtlichen Bestimmungen sind in der Ausschreibung bzw. in den Verdingungsunterlagen ausdrücklich anzugeben. Die Vergaberichtlinien [72] sehen bereits die Möglichkeit vor, dass die öffentlichen Auftraggeber in den Verdingungsunterlagen die Behörde/n angeben können bzw. von einem Mitgliedstaat zu dieser Angabe verpflichtet werden können, bei der/denen die Bieter die einschlägigen Auskünfte über die Verpflichtungen hinsichtlich der Arbeitsschutzbestimmungen und Arbeitsbedingungen erhalten können, die an dem Ort gelten, wo die Bauarbeiten auszuführen sind, bzw. an dem Ort, an dem die Dienstleistung zu erbringen ist. [73]

    [72] Artikel 23 der Richtlinie 93/37/EWG (Bauaufträge), Artikel 28 der Richtlinie 93/50/EWG (Dienstleistungen) und Artikel 29 der Richtlinie 92/38/EWG (Sektorenrichtlinie).

    [73] Im Rahmen der geltenden Vergaberichtlinien sind Auftraggeber, die die von den Richtlinien gebotenen Möglichkeiten nutzen und die oben erwähnten Informationen in den Verdingungsunterlagen aufführen, auch gehalten, sich zu vergewissern, dass die Bieter bei der Erstellung ihrer Angebote die Verpflichtungen im Hinblick auf den Arbeitsschutz und die Arbeitsbedingungen berücksichtigt haben, indem sie die Bieter auffordern, dies in ihren Angeboten anzugeben. Dadurch haben die Bieter gegebenenfalls Gelegenheit, sich die erforderlichen Informationen über die sozialen Verpflichtungen zu beschaffen, die bei Auftragserteilung am Ort der Auftragsausführung zu beachten sind und bei der Erstellung ihrer Angebote die Kosten zu berücksichtigen, die durch diese Verpflichtungen entstehen.

    Zu diesen Verpflichtungen zählt unter anderem die Einhaltung der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien im sozialen Bereich. Besonders wichtig im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge sind die Richtlinien über den Gesundheitsschutz und die Sicherheit von Arbeitnehmern sowie die Richtlinien, die die ,Übertragung von Unternehmen" und die ,Entsendung von Arbeitnehmern" betreffen (siehe unten 3.2.2.2.) sowie die neuen Richtlinien über Chancengleichheit. [74]

    [74] Richtlinie 2000/43/EG vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180/22) und Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303/16).

    Solche Verpflichtungen können sich auch aus bestimmten Übereinkommen der Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) ableiten. [75] Die von der IAO identifizierten, grundlegenden internationalen Arbeitsnormen und die Rechte bei der Arbeit gelten selbstverständlich in der Gesamtheit der Mitgliedstaaten. [76]

    [75] Beispielsweise das Übereinkommen Nr. 87 vom 9.7.1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes und das Übereinkommen Nr. 98 vom 1.7.1949 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen; Übereinkommen Nr. 29 vom 28.6.1930 über Zwangsarbeit; Übereinkommen Nr. 105 vom 25.6.1957 über die Abschaffung der Zwangsarbeit; Übereinkommen Nr. 111 vom 25.6.1958 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf; Übereinkommen Nr. 100 vom 29.6.1951 über die Gleichheit des Entgelts; Übereinkommen Nr. 138 vom 26.6.1973 über das Mindestalter; Übereinkommen Nr. 182 vom 17.6.1999 über die schlimmsten Formen von Kinderarbeit.

    [76] Zitierte Mitteilung der Kommission über die grundlegenden Arbeitsnormen. Die Kommission führt hierzu aus, dass eine schnelle Ratifizierung aller acht IAO-Kernübereinkommen angesichts der Verpflichtung der Union zur Förderung der grundlegenden Arbeitsnormen eine Selbstverständlichkeit darstellt und sie deshalb am 15.9.2000 den Mitgliedstaaten in einer Empfehlung die Ratifikation des jüngsten Kernübereinkommens der IAO (Nr. 182) nahegelegt habe (Empfehlung veröffentlicht im ABl. L 243 vom 28.9.2000).

    Angebote von Bietern, die die vom Auftraggeber in den Verdingungsunterlagen aufgeführten Verpflichtungen in bezug auf Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen nicht berücksichtigt haben, können nicht als dem Lastenheft entsprechend angesehen werden. Bei Angeboten von Bietern, die beispielsweise die Verpflichtungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen nicht ausreichend berücksichtigt haben, kann es ferner geschehen, dass sie als im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig angesehen werden und deshalb abgewiesen werden (siehe hierzu Punkt 1.5).

    Wiederholt wurde nach der Auslegung und der Anwendung bestimmter Regeln oder Regelungen des sozialen Bereichs gefragt [77], die bei der Auftragsvergabe unbedingt beachtet werden müssen und deren Überprüfung bei öffentlichen Aufträgen insbesondere in der Ausführungsphase schwierig sein könnte. Oft wird vor allem gefragt, wie das Arbeitsrecht und die Arbeitsbedingungen auf Arbeitnehmer angewandt werden, die von einem Unternehmen entsandt werden, um in einem anderen Mitgliedstaat eine Dienstleistung zu erbringen, sofern diese Bedingungen bei der Erstellung der Angebote durch die Bieter berücksichtigt werden. Auch der Fall, dass der Auftragnehmer einen Teil oder alle Beschäftigten des vorherigen Auftragnehmers übernimmt, wird im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen oft angesprochen.

    [77] Der Wunsch, die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und ihre Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, ist oft der Grund für solche Fragen. Das Ziel, die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer zu schützen, wurde überdies vom Gerichtshof als zwingendes Erfordernis des allgemeinen Interesses anerkannt, das nationale Maßnahmen zur Begrenzung der Ausübung einer der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts rechtfertigen kann (Urteil vom 17. Dezember 1981 in der Rs. C-279/80, Webb, Slg. 3305; Urteil vom 3. Februar 1982, Seco und Desquenne & Giral, 62/81 und 63/81, Slg. 223; Urteil vom 27. März 1990, Rush Portuguesa, C-113/89, Slg. I -345; Urteil vom 23. November 1999, Arblade, C-369/96 und C-376/96).

    Auch kann die Beurteilung des Ausmaßes der Verpflichtungen sozialer Art bei der Bearbeitung und Prüfung der Angebote, die außergewöhnlich niedrig zu sein scheinen, eine wichtige Rolle spielen.

    Die Kommission möchte in dieser Mitteilung auf die Tragweite der gemeinschaftlichen Bestimmungen und Verpflichtungen hinweisen, die für die Beantwortung dieser Fragen besonders wichtig sind.

    3.2 Festlegung der geltenden Arbeitsbedingungen

    Was die nationalen, internationalen und gemeinschaftlichen Normen und Regeln angeht, deren Anwendung im sozialen Bereich zwingend vorgeschrieben ist, muss zwischen grenzüberschreitenden Fällen und anderen Fällen unterschieden werden (die grundsätzlich als rein nationale Fälle angesehen werden können).

    In den "nationalen" Fällen sind die Auftraggeber, Bieter und Auftragnehmer gehalten, als Mindestnorm alle Verpflichtungen hinsichtlich des Arbeitsschutzes und der Arbeitsbedingungen einzuhalten, einschließlich derer, die sich aus den Rechten des Einzelnen und der Öffentlichkeit ergeben und die sich aus dem geltenden Arbeitsrecht herleiten, vorausgesetzt, dass sie mit den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und den allgemeinen Regeln und Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sind, insbesondere mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung.

    In den grenzüberschreitenden Fällen müssen vor allem die Erfordernisse erfuellt werden, die durch zwingende Gründe des allgemeinen Interesses gerechtfertigt sind, im Empfängerland gelten (der Katalog dieser Regeln wurde in der Richtlinie 96/71/EG "vergemeinschaftet", siehe unten 3.2.1.2) und von den Dienstleistungserbringern zu beachten sind, und zwar ohne dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu schaden.

    In beiden Fällen können jedoch auch Bestimmungen gelten (und sind somit gegebenenfalls auch einzuhalten), die den Arbeitnehmern größere Vorteile bringen, sofern sie mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.

    3.2.1 Beschränkungen bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch das Gemeinschaftsrecht

    3.2.1.1 Der Vertrag

    Da die einschlägigen Bestimmungen nur angewandt werden können, wenn sie mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, muss gefragt werden, welche Beschränkungen das Gemeinschaftsrecht aufstellt.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs wie sie im Arblade-Urteil [78] zusammengefasst ist verlangt Artikel 49 (vormals 59) des EG-Vertrags nicht nur die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringers, die auf seiner Staatsangehörigkeit beruhen, sondern auch aller Beschränkungen, die - obwohl sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende aus anderen Mitgliedstaaten gelten - geeignet sind, die Tätigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden, der dort rechtmäßig gleichartige Dienstleistungen [79] erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Außerdem kann - obwohl dieser Bereich noch nicht harmonisiert ist - der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrags nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und die für alle im Hoheitsgebiet des Bestimmungsstaates tätigen Personen oder Unternehmen gelten, und nur insoweit, als dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Rechtsvorschriften Rechnung getragen ist, denen der Dienstleistende in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist. [80] Die Anwendung der nationalen Vorschriften eines Mitgliedstaates auf Dienstleistende, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, muss ferner geeignet sein, die Verwirklichung des angestrebten Zieles sicherzustellen und nicht über das zu seiner Erreichung erforderliche Maß hinausgehen. [81]

    [78] Urteil Arblade, a.a.O., insbesondere Randnr. 33-39.

    [79] Vgl. Urteil vom 25. Juli 1991, Säger, C-76/90, Slg. I-4221, Randnr. 12; Urteil vom 9. August 1994, Vander Elst, C-43/93, Slg. I-3803, Randnr. 14; Urteil vom 28. März 1996, Guiot, C-272/94, Slg. I -1905, Randnr. 10; Urteil vom 12. Dezember 1996, Reisebüro Broede, C-3/95, Slg. I-6511, Randnr. 25; Urteil vom 9. Juli 1997, Parodi, C-222/95, Slg. I-3899, Randnr. 18 sowie Randnr. 10 des vorgenannten Urteils Guiot.

    [80] Vgl. Urteil Webb, a.a.O., Randnr. 17; Urteil vom 26. Februar 1991, Kommission/Italienische Republik, C-180/89, Slg. I-709, Randnr. 17; Kommission/Republik Griechenland, C-198/89, Slg. I-727, Randnr. 18 ; Säger, s.o., Randnr. 15; Vander Elst, s.o., Randnr. 16, und Guiot, s.o., Randnr. 11.

    [81] Siehe insbesondere Urteile Säger, s.o., Randnr. 15.; vom 31. März 1996, Kraus, C-19/92, Slg. I -1663, Randnr. 32; vom 30. November 1995, Gebhard, C-55/94, Slg. I-4165, Randnr. 37, und Guiot, s.o., Randnrn. 11 und 13.

    Zu diesen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die vom Gerichtshof bereits anerkannt worden sind, gehören insbesondere der Schutz der Arbeitnehmer [82] sowie der soziale Schutz der Arbeitnehmer des Bausektors [83]. Dagegen können Erwägungen rein administrativer Art es nicht rechtfertigen, dass ein Mitgliedstaat von den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abweicht, erst recht nicht, wenn eine derartige Abweichung darauf hinausläuft, die Ausübung der im Gemeinschaftsrecht [84] verankerten Grundfreiheiten auszuschließen oder einzuschränken. Es sei darauf hingewiesen, dass die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses, die die Bestimmungen einer Verordnung rechtfertigen, auch die Kontrollmaßnahmen rechtfertigen können, die zu ihrer Einhaltung erforderlich sind. [85]

    [82] Siehe Urteile Webb, a.a.O., Randnr. 19, Rush Portuguesa, a.a.O., Randnr. 18, Seco und Desquenne & Giral, 62/81 und 63/81, Slg. 223, Randnr. 14.

    [83] Urteil Guiot, s.o., Randnr. 16.

    [84] Vgl. insbesondere das Urteil vom 26. Januar 1999, Terhoeve,C-18/ 95, Slg. I-345, Randnr. 45.

    [85] Vgl. in diesem Sinne das genannte Urteil Rush Portuguesa, Randnr. 18 sowie das Urteil Arblade, s.o., Randnrn. 61 bis 63 und 74. Obwohl jedoch der Gerichtshof im letztgenannten Urteil die Bedeutung des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer und die Begründetheit bestimmter Kontrollmaßnahmen, die erforderlich sind, um deren Einhaltung sicherzustellen, bestätigt hat, hat er auch erklärt, dass diese Kontrollmaßnahmen nur akzeptabel seien, "da ein organisiertes System der Zusammenarbeit und des Informationsaustauschs zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Artikel 4 der Richtlinie 96/71 fehlt" (siehe oben II.3.2). Das vorgesehene organisierte System der Zusammenarbeit und des Informationsaustauschs zwischen Mitgliedstaaten wird nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie (16. Dezember 1999) bestimmte Kontrollmaßnahmen überfluessig machen. Hierzu vgl. auch die Antwort auf die schriftliche Anfrage E-00/0333 von Frau B. Weiler.

    Der Ausschluss eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens, das den für den betreffenden Sektor im Land des Auftraggebers geltenden nationalen Tarifvertrag nicht unterzeichnet hat, von der Beteiligung an einer Ausschreibung würde nicht nur gegen die Vergaberichtlinien verstoßen, sondern könnte auch einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit sowie gegebenenfalls gegen die Niederlassungsfreiheit [86] darstellen.

    [86] Siehe hierzu auch die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-493/99, Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland, vom 5.4.2001.

    3.2.1.2 Wichtigste Bestimmungen des abgeleiteten Rechts im Zusammenhang mit dem Vergabewesen

    Richtlinie 96/71/EG ("Entsenderichtlinie")

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs [87] verwehrt es das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten nicht, ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge, insbesondere über Mindesteinkommen, unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Personen auszudehnen, die in ihrem Hoheitsgebiet - und sei es auch nur vorübergehend - eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben.

    [87] Insbesondere im Urteil vom 27.3.1990, Rush Portuguesa, a.a.O., Randnr. 18.

    Ausgehend von dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs und den einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Rom von 1980 [88] ist die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen auf die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ausgerichtet, um die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zu ,vergemeinschaften" und die ,Möglichkeiten" der Mitgliedstaaten in Fällen, in denen mehrere Länder betroffen sind, nach dem Gemeinschaftsrecht zu regeln. Dieser gemeinschaftliche Rechtsakt soll sowohl die im Vertrag verankerten Grundfreiheiten als auch den Schutz der Arbeitnehmer gewährleisten und den Unternehmen als Dienstleistungserbringern sowie den Arbeitnehmern, die im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit entsandt werden, zu mehr Rechtssicherheit verhelfen. Im gemeinschaftlichen Arbeitsrecht ist dies ein Text, der den Arbeitnehmern umfangreichen Schutz gewährt. Zu diesem Zweck enthält die Richtlinie eine gemeinsame Liste von Mindestschutzvorschriften, die Arbeitgeber, die in den oben genannten Fällen Arbeitnehmer entsenden, im Empfängerland beachten müssen. Bei öffentlichen Aufträgen wird durch die Richtlinie ferner garantiert, dass für alle Bieter gleiche Spielregeln gelten und Rechtsklarheit in bezug auf die Elemente besteht, die bei der Erstellung der Angebote berücksichtigt werden müssen.

    [88] Über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, ABl. L 266, 1980.

    Dieser "harte Kern" zwingender Gründe für einen Mindestschutz beruht entweder auf den gesetzlichen Bestimmungen oder auf (im Sinne der Richtlinie) als allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen und betrifft folgende Bereiche:

    * Hoechstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten

    * bezahlter Mindestjahresurlaub

    * Mindestlohnsätze

    * Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften (insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen)

    * Sicherheit, Gesundheit und Hygiene am Arbeitsplatz

    * Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen

    * Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen

    Es ist zu beachten, dass der Richtlinie zufolge die Bestimmungen der für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge [89] im Bausektor obligatorisch anzuwenden sind. Die Mitgliedstaaten können die Anwendung dieser Bestimmungen allerdings auf andere Sektoren ausdehnen. Die Bestimmungen, die auf Rechtsvorschriften beruhen, gelten für alle Sektoren.

    [89] In Artikel 3 der ,Entsenderichtlinie" wird erläutert, was unter ,allgemein verbindlichen" (Art. 3 Absatz 1) oder ,für allgemein verbindlich erklärten" (Art. 3 Absatz 8) Tarifverträgen oder Schiedssprüchen zu verstehen ist. In jedem Fall muss die Anwendung dieser Tarifverträge dem im letzten Unterabsatz des betreffenden Artikels definierten Grundsatz der Gleichbehandlung entsprechen. Gleichbehandlung im Sinne dieser Bestimmung liegt vor, ,wenn für die inländischen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, am betreffenden Ort und in der betreffenden Sparte hinsichtlich der Aspekte des Absatzes 1 Unterabsatz 1 dieselben Anforderungen gelten wie für die Entsendeunternehmen" und ,diese Anforderungen ihnen gegenüber mit derselben Wirkung durchgesetzt werden können."

    Die ,Entsenderichtlinie" führt somit gewisse ,Sozialklauseln" für die Beziehungen zwischen einem Dienstleistungserbringer, der in einem Mitgliedstaat tätig ist, und einem Empfänger der Leistung in einem anderen Mitgliedstaat (Gastland) ein, bei dem es sich um eine Behörde handeln kann. Der Dienstleistungserbringer, der seine Arbeitnehmer in das Gastland entsendet, muss in diesem Staat geltende arbeitsrechtliche Mindestbestimmungen einhalten.

    Richtlinie 2001/23/EG (Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim ,Übergang von Unternehmen")

    Wenn ein Unternehmen bestimmte Tätigkeiten, die bisher von einem anderen Unternehmen ausgeübt wurden, im Anschluss an das Vergabeverfahren für einen öffentlichen Auftrag weiterführt, so könnte dies in den Anwendungsbereich der Richtlinie über den Übergang von Unternehmen fallen. Ein solcher Übergang könnte nämlich im Rahmen der Vergabe eines Auftrags über Dienstleistungen für die Allgemeinheit [90], im Rahmen der Privatisierung eines Sektors beim Übergang einer Einheit aufgrund einer Verwaltungskonzession [91] oder infolge eines Vergabeverfahrens für einen öffentlichen Auftrag, wie z.B. die Erteilung eines Dienstleistungsauftrags [92] erfolgen.

    [90] Vgl. z. B. den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Anforderungen des öffentlichen Dienstes und der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge für den Personenverkehr auf der Schiene, der Straße und auf Binnenschifffahrtswegen vom 26.7.2000, KOM (2000) 7, insbesondere Artikel 9.3.

    [91] Rechtssache C-343/98, Collino, Urteil vom 14.9.2000 betreffend den entgeltlichen Übergang aufgrund einer Verwaltungskonzession einer Einheit zur Erbringung von Telekommunikationsdiensten (die von einer in die staatliche Verwaltung eingegliederten öffentlichen Einrichtung betrieben wird), auf eine privatrechtliche Gesellschaft, deren Kapital in öffentlicher Hand ist.

    [92] Rechtssache C-172/99, Oy Liikenne, Urteil vom 25.1.2001 betreffend den Betrieb von Bussen.

    Die hier anwendbare Richtlinie der Gemeinschaft [93] soll die Kontinuität der bestehenden Arbeitsverhältnisse aller Personen sicherstellen, die als Arbeitnehmer durch die nationale arbeitsrechtliche Gesetzgebung [94] geschützt sind, unabhängig von den Funktionen, die diese Personen ausüben [95].

    [93] Richtlinie 2001/23/EG, a.a.O.

    [94] Vgl. Urteile vom 11.7.1985, 105/84, Danmols Inventar; vom 19.5.1992, C-29/91, Sophie Redmond Stichting und vom 10.12.1998, verbundene Rechtssachen C-173/96 und C-247/96, Sánchez-Hidalgo u.a.

    [95] Urteil Collino, s.o.

    Ausschlaggebend für die Anwendbarkeit der Richtlinie über den Übergang von Unternehmen im Einzelfall, und insbesondere dafür, ob ein Übergang im Sinne dieser Richtlinie stattgefunden hat, ist, dass die fragliche wirtschaftliche Einheit nach erfolgter Übertragung ihre Identität [96] bewahrt, was namentlich dann der Fall ist, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen wird [97]. Der Begriff Einheit umfasst eine auf Dauer angelegte strukturierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung [98]. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit erfuellt sind, müssen sämtliche, den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb von dem nationalen Gericht, das diese Bewertung vorzunehmen hat, nicht isoliert betrachtet werden. [99]

    [96] Urteile vom 14.4.1994, Rechtssache C-392/92, Schmidt; vom 19.9.1995, Rechtssache C-48/94, Rygaard; vom 26.9.2000, C-175/99, Mayeur.

    [97] Urteil vom 18.3.1986, 24/85, Spijkers; Urteil vom 11.3.1997, C-13/95, Süzen; Urteil vom 10.12.1998, verb. Rs. C-127/96, C-229/96 und C-74/97, Hernández Vidal sowie Urteil vom 2.12.1999, Rs. C-34/98, Allen u.a. sowie Urteil Oy Liikenne, a.a.O.

    [98] Z.B. die bereits genannten Rechtssachen Süzen, Hidalgo u.a., Allen u.a. und Oy Liikenne.

    [99] Bereits genannte Rechtssachen Spijkers, Süzen, Sanchez Hidalgo u.a. und Hernández Vidal

    Das Fehlen einer vertraglichen Beziehung zwischen dem Veräußerer (d.h. dem früheren Auftragnehmer) und dem Erwerber (dem neuen Auftragnehmer) kann zwar ein Indiz dafür sein, dass kein Übergang im Sinne der Richtlinie erfolgt ist; ihm kommt in diesem Zusammenhang aber keine ausschlaggebende Bedeutung zu. [100] Die Richtlinie ist in allen Fällen anwendbar, in denen die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt. [101]

    [100] Urteil vom 10. Februar 1988, Rs. C-324/86, Tellerup, genannt ,Daddy's Dance Hall" und Urteile in den bereits genannten Rechtssachen Süzen, Hidalgo u.a., Mayeur und Oy Liikenne.

    [101] Urteile Tellerup, Süzen, Hidalgo u.a., Mayeur und Oy Liikenne. Ferner ist die Richtlinie auch anwendbar, wenn die Übertragungsentscheidung einseitig von der Körperschaft (Gemeinde) getroffen wurde [Urteil vom 19.5.1992, Rechtssache C-29/91, Sophie Redmond Stichting]. Darüber hinaus kann der Umstand, dass die übertragene Dienstleistung durch eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, wie z. B. eine Gemeinde, vergeben worden ist, die Anwendung der Richtlinie nicht ausschließen, wenn die betreffende Tätigkeit keine hoheitliche Tätigkeit darstellt [bereits genannte Rechtssachen Collino (Randnr. 32) und Hidalgo u.a. (Randnr. 24)]. Dagegen stellt die strukturelle Neuordnung der öffentlichen Verwaltung oder die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf eine andere keine Unternehmensübertragung dar [Urteil vom 15.10.1996, Rechtssache C-298/94, Henke; vgl. Rechtssache Mayeur, s.o.].

    Wie aus dem jüngsten Urteil in der bereits genannten Rechtssache Oy Liikenne [102] hervorgeht, bringt die Tatsache, dass der Übergang nach Durchführung eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt ist, keine besonderen Probleme bezüglich der Anwendung der Richtlinie über den Übergang von Unternehmen mit sich. Darüber hinaus sind die beiden Richtlinien aufgrund ihrer Zielsetzungen nicht unvereinbar. [103] Überdies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vergabewesen eine Verpflichtung der Auftraggeber zur Information der Bieter über alle Bedingungen im Zusammenhang mit der Ausführung eines Auftrags, damit sie dies bei der Erstellung ihrer Angebote berücksichtigen können. Ein Wirtschaftsteilnehmer muss abschätzen können, ob es bei Auftragserteilung für ihn von Interesse ist, nennenswerte Aktiva des derzeitigen Auftragnehmers sowie dessen Belegschaft ganz oder teilweise zu übernehmen oder ob er dazu verpflichtet ist und ob gegebenenfalls ein Betriebsübergang im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG vorliegt. [104]

    [102] Insbesondere Randnr. 21 und 22.

    [103] Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Léger in der bereits zitierten Rs. C-172/99, insbesondere Randnrn. 28 bis 37; vgl. Randnr. 22 des Urteils.

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