EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 2.7.2020
COM(2020) 270 final
BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT
über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten
1.EINLEITUNG
1.1. Hintergrund
Der Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten („Rahmenbeschluss“) ist das erste Rechtsinstrument der EU über die Zusammenarbeit in Strafsachen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht. Mit dem Rahmenbeschluss wurde ein effizienterer Mechanismus geschaffen, mit dem sichergestellt werden soll, dass offene Grenzen nicht von denjenigen ausgenutzt werden, die sich der Justiz entziehen wollen, und hat zur Verwirklichung des Ziels der EU beigetragen, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Das Instrument wird flächendeckend für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU genutzt. Laut den Statistiken für 2018 stimmen schätzungsweise durchschnittlich 54,5 % der gesuchten Personen ihrer Übergabe zu (gegenüber 62,96 % im Jahr 2017), wobei das Übergabeverfahren ab der Festnahme im Durchschnitt 16,41 Tage dauert. Die durchschnittliche Übergabezeit für diejenigen, die nicht zustimmen, beträgt etwa 45,12 Tage. Dies unterscheidet sich erheblich von den langwierigen Auslieferungsverfahren, die vor Erlass des Rahmenbeschlusses zwischen den Mitgliedstaaten bestanden.
Der Rahmenbeschluss wurde im Februar 2009 durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates in Bezug auf Abwesenheitsurteile geändert, wobei eine klare und gemeinsame Grundlage für die Ablehnung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist, eingefügt wurde. Darüber hinaus wurden die Verfahrensrechte von Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden, durch sechs Richtlinien zu folgenden Punkten gestärkt: das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen; das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren; das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand; die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung; Verfahrensgarantien für Kinder und Prozesskostenhilfe.
Die Kommission veröffentlichte drei Berichte über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses. Der Rat veröffentlichte 2008 ein Handbuch über die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls als praktische Hilfestellung und überarbeitete es 2010. Die Kommission hat das Handbuch 2017 aktualisiert. Zwischen März 2006 und April 2009 wurde die praktische Anwendung des Rahmenbeschlusses von den Mitgliedstaaten einer gegenseitigen Begutachtung („peer review“) unterzogen, wobei die Kommission im Rahmen der vierten Runde der gegenseitigen Begutachtungen als Beobachter fungierte. Bestimmte Aspekte des Rahmenbeschlusses werden derzeit zum neunten Mal einer gegenseitigen Begutachtung unterzogen, bei der ausgewählte praktische und operative Aspekte des Europäischen Haftbefehls bewertet werden.
Am 27. Februar 2014 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des Europäischen Haftbefehls an, in der insbesondere eine vorherige Prüfung der Verhältnismäßigkeit, ein zwingender Ablehnungsgrund im Zusammenhang mit Grundrechten, das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf und eine bessere Definition der Straftatbestände, die in den Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls fallen sollten, vorgeschlagen wurden. In ihrer Antwort an das Europäische Parlament erläuterte die Kommission, warum sie es nicht für angebracht hielt, den Rahmenbeschluss allein oder parallel zu einer Überarbeitung anderer Instrumente, die der gegenseitigen Anerkennung unterliegen, zu überarbeiten.
Die Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof und der Durchsetzungsbefugnisse der Kommission im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wurden am 1. Dezember 2014 nach Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist für die Instrumente der ehemaligen dritten Säule nach dem Protokoll (Nr. 36) zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgehoben. Folglich hat die Auslegung des Rahmenbeschlusses zu einer stetig steigenden Zahl von Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof geführt. Daher ist die Zahl der Vorabentscheidungsvorlagen zum Rahmenbeschluss rasch gestiegen, und zwar von insgesamt 12 im Jahr 2014 auf über 50 Mitte 2020.
1.2.Zweck und Hauptelemente des Rahmenbeschlusses
Der Rahmenbeschluss hat das herkömmliche Auslieferungssystem durch einfachere und schnellere Verfahren für die Übergabe gesuchter Personen zu Zwecken der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ersetzt. Er beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Die gerichtliche Entscheidung des Ausstellungsmitgliedstaats muss im Vollstreckungsmitgliedstaat ohne weitere Formalitäten anerkannt werden, es sei denn, es liegen Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung vor.
Die wichtigsten Elemente des Rahmenbeschlusses, die diesen von Auslieferungsregelungen unterscheiden, sind die folgenden:
·Der Europäische Haftbefehl ist eine in einem anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vollstreckbare justizielle Entscheidung;
·Die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung sind begrenzt und erschöpfend in dem Rahmenbeschluss aufgeführt;
·Die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt bei 32 in Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Straftaten, wenn diese Straftaten im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind;
·Die Übergabe eigener Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats gilt als allgemeine Regel, wobei nur einige wenige Ausnahmen bestehen. Diese Ausnahmen betreffen die Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Herkunftsmitgliedstaat und gelten in gleicher Weise auch für Gebietsangehörige. Der Hauptgrund für diese Ausnahmen ist die Förderung der sozialen Wiedereingliederung einer gesuchten Person;
·Für die Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und die Übergabe einer gesuchten Person gelten strenge Fristen;
·Für Übergabeersuchen gibt es ein Formular, sodass es einfacher ist, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen und zu bearbeiten.
1.3.Ziel und Umfang des Berichts
In diesem Bericht wird bewertet, wie der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates geänderte Rahmenbeschluss in allen 27 Mitgliedstaaten umgesetzt wurde, die an ihn gebunden sind. Die Bewertung stützt sich in erster Linie auf die Analyse der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses, die dem Generalsekretariat des Rates und der Kommission in Übereinstimmung mit Artikel 34 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses mitgeteilt wurden.
Die meisten Mitgliedstaaten haben ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses seit dem letzten Bericht der Kommission von 2011 geändert. Daher wurden bei der Ausarbeitung dieses Berichts die Empfehlungen der Kommission aus früheren Berichten und Empfehlungen aus der vierten Runde der gegenseitigen Begutachtungen zur Umsetzung (z. B. zur Verhältnismäßigkeit der ausgestellten Europäischen Haftbefehle) berücksichtigt.
Ähnlich wie im ersten Umsetzungsbericht der Kommission aus dem Jahr 2005 enthält dieser Bericht eine Bewertung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses. Der Schwerpunkt liegt auf ausgewählten Bestimmungen, die den Kern des Rahmenbeschlusses bilden und für das reibungslose Funktionieren des Europäischen Haftbefehls von entscheidender Bedeutung sind. Hierzu zählen unter anderem: die Benennung der zuständigen Justizbehörden, die Definition und der Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls, die Grundrechte und Verfahrensrechte einer gesuchten Person, die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung und die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit sowie die Fristen für den Erlass einer Entscheidung und die Übergabe einer gesuchten Person.
2.ALLGEMEINE BEWERTUNG
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts hatten alle Mitgliedstaaten die Umsetzung des Rahmenbeschlusses mitgeteilt.
Die allgemeine Bewertung zeigt, dass die Umsetzung des Rahmenbeschlusses in einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten recht zufriedenstellend ist. Die Bewertung der nationalen Umsetzungsmaßnahmen hat jedoch auch gezeigt, dass in einigen Mitgliedstaaten bestimmte Probleme bei der Einhaltung der Vorschriften bestehen. Sofern diese Mängel nicht behoben werden, schränken sie die Wirksamkeit des Europäischen Haftbefehls ein. Daher wird die Kommission jede geeignete Maßnahme ergreifen, um in der gesamten EU die Einhaltung des Rahmenbeschlusses sicherzustellen, und dazu bei Bedarf auch Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einleiten.
Seit der Veröffentlichung des letzten Umsetzungsberichts hat die Kommission fünf Expertentreffen mit den Mitgliedstaaten organisiert, um sie bei der praktischen Durchführung des Rahmenbeschlusses zu unterstützen.
Im März 2020 wurde eine Koordinierungsgruppe für den Europäischen Haftbefehl eingesetzt. Die Koordinierungsgruppe für den Europäischen Haftbefehl zielt darauf ab, den raschen Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen an der Durchführung des Rahmenbeschlusses beteiligten Akteuren, d. h. Praktikern und politischen Entscheidungsträgern aus den Mitgliedstaaten, von Eurojust, dem EJN, dem Generalsekretariat des Rates und der Kommission, zu verbessern. Der Austausch innerhalb der Gruppe sollte zu einer einheitlicheren Anwendung des Rahmenbeschlusses führen.
3.SPEZIFISCHE PUNKTE DER BEWERTUNG
3.1.Zuständige Justizbehörden und zentrale Behörden (Artikel 6 und 7)
Alle Mitgliedstaaten haben dem Generalsekretariat des Rates im Einklang mit Artikel 6 mitgeteilt, welche Justizbehörden für die Ausstellung und die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zuständig sind. Im Allgemeinen handelte es sich dabei um die Justizbehörden, die für Ermittlungen und Verfahren in Strafsachen zuständig sind.
3.1.1.Ausstellende Justizbehörden (Artikel 6 Absatz 1)
Der in Artikel 6 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses verwendete Begriff „Justizbehörde“, so der Gerichtshof, beschränke sich nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats, sondern müsse weiter gefasst werden und auch die Behörden erfassen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zur Mitwirkung bei der Rechtspflege berufen sind. Daher gelten die Staatsanwaltschaften als ausstellende Justizbehörden, sofern sie nicht der Gefahr ausgesetzt sind, im Zusammenhang mit dem Erlass einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls in bestimmten Fällen unmittelbar oder mittelbar Weisungen der Exekutive, wie etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden. Darüber hinaus könne der Begriff „Justizbehörde“ nicht dahin ausgelegt werden, dass es möglich wäre, ihn auch auf die Polizeibehörden oder auf ein Exekutivorgan eines Mitgliedstaats wie ein Justizministerium zu erstrecken.
Da die Exekutive ihren Staatsanwälten Anweisungen erteilen kann‚ haben einige wenige Mitgliedstaaten kürzlich Gerichte oder Richter als zuständige Ausstellungsbehörden benannt, um dem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C‑-508/18‚ OG und C-82/19 PPU, PI und dem Urteil in der Rechtssache C-509/18‚ PF nachzukommen.
Derzeit sind in der Hälfte der Mitgliedstaaten die Gerichte oder Richter allein für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig. In einigen Mitgliedstaaten ist es ausschließlich Sache der Staatsanwaltschaften, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen. Mehrere Mitgliedstaaten haben sowohl Gerichte als auch Staatsanwaltschaften als Ausstellungsbehörden benannt. Darüber hinaus haben einige dieser Mitgliedstaaten je nach Stadium des Strafverfahrens (z. B. vor oder nach der Anklageerhebung; in der vorgerichtlichen Phase oder während der Gerichtsverhandlung) oder dem Zweck des Europäischen Haftbefehls (Strafverfolgung oder Strafvollstreckung) unterschiedliche Behörden benannt. In einem Mitgliedstaat billigt ein Gericht den Vorschlag einer Staatsanwaltschaft, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen. Ein Mitgliedstaat hat seine Staatsanwaltschaft und die Behörde für strafrechtliche Sanktionen als zuständige Behörden benannt. Einige wenige Mitgliedstaaten haben eine einzige spezielle Stelle benannt (z. B. die Generalstaatsanwaltschaft).
3.1.2.Vollstreckende Justizbehörden (Artikel 6 Absatz 2)
Als zuständige Vollstreckungsbehörden hat eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten Gerichte (z. B. Berufungsgerichte, Bezirksgerichte, Oberste Gerichtshöfe) oder Richter benannt. So hat beispielsweise ein Mitgliedstaat einen spezialisierten Jugendrichter für Europäische Haftbefehle gegen Minderjährige benannt; ein anderer Mitgliedstaat hat zwei verschiedene Stellen benannt, je nachdem, ob eine Person der Übergabe zustimmt oder nicht. Einige Mitgliedstaaten haben Staatsanwaltschaften benannt. Einige wenige Mitgliedstaaten haben sowohl Gerichte als auch Staatsanwaltschaften benannt. Einige Mitgliedstaaten haben eine einzige spezielle Stelle benannt (z. B. die Generalstaatsanwaltschaft oder den Obersten Gerichtshof).
3.1.3.Zentrale Behörden (Artikel 7)
Artikel 7 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten eine oder mehrere zentrale Behörden benennen können, die die zuständigen Justizbehörden bei der administrativen Übermittlung und Entgegennahme der Europäischen Haftbefehle und dem übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehr unterstützen.
Eine erhebliche Zahl von Mitgliedstaaten hat eine zentrale Behörde gemäß Artikel 7 Absatz 1 benannt. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um das Justizministerium. Einige wenige Mitgliedstaaten haben mehrere zentrale Behörden benannt (z. B. drei zentrale Behörden: neben dem Justizministerium auch den Oberstaatsanwalt und das Polizeipräsidium bzw. das Bundesministerium des Innern und das Bundeskriminalamt).
Einige Mitgliedstaaten haben der (den) benannten zentralen Behörde(n) zusätzliche Befugnisse übertragen, die nicht im Rahmen von Artikel 7 Absatz 2 genehmigt sind (beispielsweise sind die zentralen Behörden für die vorläufige Bestätigung eingehender Europäischer Haftbefehle zuständig; oder die zentrale Behörde kann unter bestimmten Voraussetzungen die Vollstreckung einer Übergabeentscheidung aufschieben).
3.2.Sprachenregelung (Artikel 8 Absatz 2)
Der Europäische Haftbefehl ist nach Artikel 8 Absatz 2 von den zuständigen Ausstellungsbehörden in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Die Mitgliedstaaten können erklären, dass sie eine Übersetzung in eine oder mehrere andere Amtssprachen der EU akzeptieren.
Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat eine Erklärung abgegeben, dass Europäische Haftbefehle in anderen Amtssprachen als der eigenen (üblicherweise Englisch) akzeptiert werden. Einige wenige Mitgliedstaaten haben ihre Erklärungen von einer gegenseitigen Verpflichtung anderer Mitgliedstaaten abhängig gemacht. Einige Mitgliedstaaten haben Präferenzregelungen für die Sprache eingehender Europäischer Haftbefehle aus bestimmten benachbarten Mitgliedstaaten eingeführt.
3.3.Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze (Artikel 1)
3.3.1.Definition (Artikel 1 Absatz 1)
Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 1 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses umgesetzt, der den Europäischen Haftbefehl als eine justizielle Entscheidung definiert, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
Die meisten Mitgliedstaaten nennen den Europäischen Haftbefehl ausdrücklich eine justizielle Entscheidung, und fast alle Mitgliedstaaten haben ausdrücklich festgelegt, dass der Europäische Haftbefehl für die Zwecke der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung gelten muss. Wenn es jedoch um Europäische Haftbefehle zur Strafverfolgung geht, sind einige Mitgliedstaaten von dem Rahmenbeschluss insofern abgewichen, dass sie in Bezug auf die Strafverfolgungszwecke einen engeren Ansatz gewählt haben und verlangen, dass ein Europäischer Haftbefehl „prozessreif“ ist. Alle Mitgliedstaaten verweisen auf die „Freiheitsstrafe“; bei einigen wenigen fehlt jedoch der ausdrückliche Verweis auf die „freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung“.
3.3.2.Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze (Artikel 1 Absatz 3 und Erwägungsgründe 10, 12 und 13)
Nach Artikel 1 Absatz 3 darf der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berühren, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten. Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union verweist auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten.
In Erwägungsgrund 10 ist festgelegt, dass die Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ist. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Artikel 7 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union festgestellt wird.
In Erwägungsgrund 12 ist festgelegt, das keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses in dem Sinne ausgelegt werden darf, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung der Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann. In Erwägungsgrund 12 ist auch festgelegt, dass der vorliegende Rahmenbeschluss jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien belässt.
In Erwägungsgrund 13 sind Artikel 4 und Artikel 19 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wiedergespiegelt, in denen festgelegt ist, dass niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden sollte, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.
Diese Bestimmungen gelten für die Mitgliedstaaten sowohl als Ausstellungsmitgliedstaat als auch als Vollstreckungsmitgliedstaat.
Die große Mehrheit der Mitgliedstaaten hat die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze ausdrücklich umgesetzt, einige allgemein, andere jedoch mit konkretem Verweis auf die in den Erwägungsgründen 12 und 13 genannten Rechte. So beziehen sich einige nationale Umsetzungsmaßnahmen allgemein auf Verträge über Menschenrechte und Grundfreiheiten und/oder auf Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union. Einige Mitgliedstaaten haben Artikel 1 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses umgesetzt, indem sie sich ausschließlich auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bezogen, ohne auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bezug zu nehmen.
Einige Mitgliedstaaten verweisen auch auf nationale Verfassungen. Die Bezugnahme auf nationale Verfassungen kann jedoch über Artikel 1 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses hinausgehen, insbesondere da Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union nur auf die Verfassungsgrundsätze verweist, die allen Mitgliedstaaten gemein sind. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen die Mitgliedstaaten von einem anderen Mitgliedstaat kein höheres Niveau des nationalen Schutzes der Grundrechte als das im EU-Recht vorgesehene verlangen.
Darüber hinaus haben einige wenige Mitgliedstaaten in ihren Durchführungsbestimmungen nicht ausdrücklich auf Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze Bezug genommen, da sie nach ihrem Verfassungsrecht verpflichtet sind, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten.
Obwohl der Rahmenbeschluss keine entsprechende Bestimmung enthält, sehen die meisten Mitgliedstaaten ausdrücklich einen zwingenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung auf der Grundlage einer Verletzung der Grundrechte oder von Verletzungen der in den Erwägungsgründen 12 und 13 genannten Rechte (z. B. Rasse, Staatsangehörigkeit, Religion oder politische Überzeugung) vor.
3.4.Erlass eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 8 Absatz 1)
3.4.1. Anwendungsbereich und Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 2 Absatz 1)
Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.
Diese Bestimmung wurde von den meisten Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Rahmenbeschluss umgesetzt. Jedoch haben einige wenige Mitgliedstaaten ihren zuständigen ausstellenden Justizbehörden keinen ausdrücklichen Ermessensspielraum eingeräumt, um zu prüfen, ob es angesichts der besonderen Umstände des jeweiligen Falles verhältnismäßig ist, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen.
Einige Mitgliedstaaten haben einen engeren Anwendungsbereich für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Europäischen Haftbefehle vorgesehen, die von ihren Justizbehörden ausgestellt werden können (z. B. Festlegung höherer Schwellenwerte; die Anforderung, dass noch eine Reststrafe von vier Monaten verbüßt werden muss oder dass ein Europäischer Haftbefehl im Interesse der Rechtspflege sein muss).
Der Rahmenbeschluss enthält keine Bestimmungen zur Übergabe wegen einer Straftat, die mit einem niedrigeren Strafmaß als in Artikel 2 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses bedroht ist, soweit es sich dabei um eine akzessorische Straftat handelt und die Haupttat die Anforderungen dieses Rahmenbeschlusses an das Strafmaß erfüllt. In der Praxis lassen einige Mitgliedstaaten die Übergabe in solchen Fällen zu, andere hingegen nicht.
Darüber hinaus haben einige Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft ausdrücklich dahingehend angepasst‚ dass ein Europäischer Haftbefehl auch dann ausgestellt werden kann‚ wenn das Strafmaß von zwölf Monaten nicht erreicht wird, wenn gegen eine Überwachungsmaßnahme verstoßen wurde.
3.4.2. Anforderungen an den Inhalt eines Europäischen Haftbefehls und die erste Stufe des gerichtlichen Schutzes (Artikel 8 Absatz 1)
In Artikel 8 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses sind die Anforderungen an den Inhalt eines Europäischen Haftbefehls festgelegt. Dazu gehören insbesondere:
-die Angabe, ob eine vollstreckbare justizielle Entscheidung vorliegt (z. B. ein nationaler Haftbefehl), die sich vom Europäischen Haftbefehl selbst unterscheiden muss, damit die erste Stufe des gerichtlichen Schutzes gewährleistet wird;
-die Art und rechtliche Würdigung der Straftat;
-die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person sowie die verhängte Strafe.
Fast alle Mitgliedstaaten haben Artikel 8 Absatz 1 des Rahmenbeschlusses vollständig und übereinstimmend umgesetzt, wobei die in dem genannten Artikel angegebenen Anforderungen vergleichsweise häufig wörtlich umgesetzt wurden. Ein Mitgliedstaat sieht vor, dass dem Europäischen Haftbefehl zusätzliche Dokumente beigefügt werden müssen (z. B. eine Kopie der geltenden Bestimmungen; ein Bericht über die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Sachverhalte; Informationen über die Beweisquellen).
3.5.Direkte Kontakte zwischen der ausstellenden Justizbehörde und der vollstreckenden Justizbehörde (Artikel 10 Absatz 5 und Artikel 15 Absatz 2)
Gemäß Artikel 10 Absatz 5 werden alle Schwierigkeiten in Verbindung mit der Übermittlung oder der Echtheit der zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erforderlichen Unterlagen direkt zwischen den betreffenden Justizbehörden oder gegebenenfalls unter Einschaltung der Zentralbehörden der Mitgliedstaaten behoben (vgl. 3.1). Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat Artikel 10 Absatz 5 ordnungsgemäß umgesetzt. In einigen Mitgliedstaaten konnten die einschlägigen Bestimmungen jedoch nicht ermittelt werden und einige wenige Mitgliedstaaten haben den besagten Artikel nur teilweise umgesetzt (z. B. wurde nur auf die Echtheit, nicht aber auf die Übermittlung ausdrücklich Bezug genommen).
Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie gemäß Artikel 15 Absatz 2 um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen. Dies gilt insbesondere für die Artikel 3 bis 5 (Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung, vgl. 3.8. und Garantien, vgl. 3.9.) und Artikel 8 (Inhalt, vgl. 3.4.2.) des Rahmenbeschlusses. Die vollstreckende Justizbehörde kann eine Frist für den Erhalt dieser Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist (vgl. 3.13.). Eine Vielzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung im Einklang mit dem Rahmenbeschluss umgesetzt. Einige Mitgliedstaaten verweisen nicht ausdrücklich darauf, dass es sich bei dem Europäischen Haftbefehl um eine Eilsache handelt, geben aber an, dass Fristen festgesetzt werden müssen. In einem Mitgliedstaat wurde die Bestimmung als fakultative Bestimmung umgesetzt. In zwei Mitgliedstaaten konnten die einschlägigen Bestimmungen jedoch nicht ermittelt werden.
3.6.Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 1 Absatz 2)
Die vollstreckende Justizbehörde hat grundsätzlich die Pflicht, einen Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses (Artikel 1 Absatz 2) zu vollstrecken.
Weniger als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat in ihren Rechtsvorschriften ausdrücklich auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Bezug genommen. In zwei Mitgliedstaaten ist dieser Grundsatz nicht verbindlich. Einige Mitgliedstaaten haben stattdessen auf das Gegenseitigkeitsprinzip verwiesen. In einigen anderen Mittgliedstaaten konnten keine spezifischen Umsetzungsbestimmungen ermittelt werden. In Fällen, in denen der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses nicht ausdrücklich erwähnt wird, ergibt dieser sich aus der Auslegung der Umsetzungsgesetze. Insbesondere die Umsetzung der Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung deutet jedoch darauf hin, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in vielen Mitgliedstaaten nicht vollständig eingehalten wird (vgl. 3.8.).
3.7.Beiderseitige Strafbarkeit (Artikel 2 Absätze 2 und 4)
3.7.1.Liste der 32 Straftaten, die eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Folge haben (Artikel 2 Absatz 2)
Artikel 2 Absatz 2 enthält eine Liste mit 32 Arten von Straftaten, die – wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind – zu einer Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit führen.
Einige der 32 Straftaten wurden auf EU-Ebene auf der Grundlage von Artikel 83 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bis zu einem gewissen Grad harmonisiert.
Die meisten Mitgliedstaaten haben Artikel 2 Absatz 2 wörtlich umgesetzt. Einige Mitgliedstaaten verweisen in ihren nationalen Rechtsvorschriften direkt auf Artikel 2 Absatz 2. Zwei Mitgliedstaaten haben jedoch wesentliche Änderungen vorgenommen, die sich auf die Liste der 32 Straftaten auswirken (z. B. durch die Einschränkung des Anwendungsbereichs bestimmter Arten von Straftaten oder indem die Umsetzung nicht alle Arten umfasst). Darüber hinaus sehen einige Mitgliedstaaten die Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit in Fällen vor, die eigene Staatsangehörige betreffen. Ein Mitgliedstaat sieht – in der Rolle des Vollstreckungsmitgliedstaats – vor, dass bei der Prüfung eines Strafmaßes von mindestens drei Jahren erschwerende Umstände nicht berücksichtigt werden sollten.
3.7.2.Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit (Artikel 2 Absatz 4)
Nur bei Straftaten, die nicht in der Liste der 32 Straftaten aufgeführt oder die zwar in der List aufgeführt sind, das Strafmaß von drei Jahren jedoch nicht erreicht wird, kann die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit prüfen. Daher kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat (Artikel 2 Absatz 4). Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 2 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses umgesetzt. In einigen wenigen Mitgliedstaaten konnten jedoch die entsprechenden Bestimmungen über das Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit als Grund für die Ablehnung der Vollstreckung nicht ermittelt werden (vgl. 3.8.2.).
Die meisten Mitgliedstaaten haben in ihren nationalen Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich umgesetzt, dass die Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit in Bezug auf die entsprechende Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats „unabhängig von ihren Tatbestandsmerkmalen oder ihrer Bezeichnung“ erfolgen muss.
Darüber hinaus haben einige wenige Mitgliedstaaten zusätzliche Bedingungen festgelegt (z. B. dass die Straftat, die der Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit unterliegt, sowohl im Ausstellungs- als auch im Vollstreckungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten geahndet werden muss; dass die Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats als Vergehen oder Verbrechen eingestuft werden muss; dass bei Berücksichtigung des Strafmaßes von mindestens 12 Monaten erschwerende Umstände ausgeschlossen werden; oder die Anforderung bei einem Europäischen Haftbefehl zum Zwecke der Vollstreckung, dass noch eine Reststrafe von vier Monaten verbüßt werden muss).
3.8.Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung (Artikel 3, 4 und 4a)
Die in Artikel 1 Absatz 2 verankerte allgemeine Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird durch die zwingenden bzw. fakultativen Ablehnungsgründe des Europäischen Haftbefehls eingeschränkt (Artikel 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses). Diese Gründe sind erschöpfend. Fakultative Ablehnungsgründe kann die vollstreckende Justizbehörde nur geltend machen, wenn sie in das für sie geltende nationale Recht umgesetzt wurden. Außerdem stellt die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine Ausnahme dar, die eng auszulegen ist.
Aus der Bewertung geht jedoch hervor, dass mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten zusätzliche Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung vorsieht (z. B. auf der Grundlage der Grundrechte (vgl. 3.3.2.), politischer Straftaten, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, zusätzlicher Schwellenwerte in den Vollstreckungsmitgliedstaaten (vgl. 3.7.2.), der Anforderung der Prozessbereitschaft (vgl. 3.3.1.) oder des Hinweises auf Schuld, wenn eine gesuchte Person nicht gesteht, oder bei der Gefährdung der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder anderer wesentlicher Interessen des Vollstreckungsmitgliedstaats).
Darüber hinaus haben einige Mitgliedstaaten zusätzliche Anforderungen und Beschränkungen in Bezug auf eigene Staatsangehörige eingeführt (z. B. Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bei eigenen Staatsangehörigen).
3.8.1.Zwingende Ablehnungsgründe
Wenn mindestens einer der drei zwingenden Ablehnungsgründe vorliegt, muss die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ablehnen (Artikel 3).
·Amnestie (Artikel 3 Nummer 1)
Die Vollstreckung ist abzulehnen, wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat unter eine Amnestie fällt. Ferner muss der Vollstreckungsmitgliedstaat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig gewesen sein. Fast alle Mitgliedstaaten haben Artikel 3 Nummer 1 umgesetzt. In einem Mitgliedstaat konnte die entsprechende Bestimmung nicht ermittelt werden. Einige wenige Mitgliedstaaten wählten den Begriff „Begnadigung“ anstelle von „Amnestie“ (oder beide Begriffe).
·Grundsatz „ne bis in idem“ (Artikel 3 Nummer 2)
Die Vollstreckung ist abzulehnen, wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat bereits rechtskräftig verurteilt worden ist (das Verbot der Doppelbestrafung als autonomer Begriff des EU-Rechts). Darüber hinaus wird verlangt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (Durchsetzungsanforderungen).
Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 3 Nummer 2 umgesetzt. Einige wenige Mitgliedstaaten nutzen in ihren Rechtsvorschriften jedoch den Wortlaut „dieselbe Straftat“ anstelle von „dieselben Handlungen“. Was die Durchsetzungsanforderungen betrifft, so wurden die drei genannten möglichen Kriterien von mehreren Mitgliedstaaten nicht vollständig umgesetzt.
·Mangelnde Strafmündigkeit (Artikel 3 Nummer 3)
Die Vollstreckung ist abzulehnen, wenn die gesuchte Person nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. In Bezug auf die Umsetzung von Artikel 3 Nummer 3 konnten keine Probleme festgestellt werden, auch wenn das Alter der Strafmündigkeit je nach Mitgliedstaat gegebenenfalls unterschiedlich geregelt ist.
3.8.2.Fakultative Ablehnungsgründe (Artikel 4 und 4a)
Die Artikel 4 und 4a des Rahmenbeschlusses sehen acht fakultative Ablehnungsgründe vor. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, die fakultativen Ablehnungsgründe umzusetzen.
Einige Mitgliedstaaten haben nur einzelne in Artikel 4 genannte Gründe umgesetzt. Des Weiteren haben einige Mitgliedstaaten alle umgesetzten Gründe verbindlich vorgeschrieben und ihren Vollstreckungsbehörden keinen Ermessensspielraum eingeräumt. In nur wenigen Mitgliedstaaten sind alle umgesetzten Gründe fakultativ. Einige Mitgliedstaaten haben darüber hinaus einzelne Gründe aus den Artikeln 4 und 4a als fakultativ und andere Gründe als obligatorisch umgesetzt.
·Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit (Artikel 4 Nummer 1)
Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann abgelehnt werden, wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle (vgl. 3.7.2.) die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt (ausgenommen sind Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten (Steuerdelikte)). Darüber hinaus sind von Artikel 4 Nummer 1 nur Straftaten betroffen, die nicht in der Liste der 32 Straftaten aufgeführt sind und bei denen die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt, wenn ein Strafmaß von drei Jahren vorliegt (Artikel 2 Absatz 2).
Obwohl Artikel 2 Absatz 4 umgesetzt wurde, konnte die entsprechende Bestimmung in einigen wenigen Mitgliedstaaten nicht ermittelt werden (vgl. 3.7.1.). Einige Mitgliedstaaten haben Artikel 4 Nummer 1 als fakultativen, andere als zwingenden Ablehnungsgrund umgesetzt.
In Bezug auf Steuerdelikte in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten haben die meisten Mitgliedstaaten die Ausnahmeregelung umgesetzt. Einige Mitgliedstaaten haben die Ausnahmeregelung jedoch nur teilweise umgesetzt (z. B. wurde die Bezugnahme auf „Zoll- und Währungsangelegenheiten“ ausgelassen). Einige wenige Mitgliedstaaten haben die Ausnahmeregelung für Steuerdelikte nicht ausdrücklich umgesetzt. In einem Mitgliedstaat sind Steuerdelikte darüber hinaus ausdrücklich von der Gleichartigkeit der Steuern und Abgaben im Ausstellungs- und im Vollstreckungsmitgliedstaat abhängig, einschließlich des Erfordernisses einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren (unter Ausschluss erschwerender Umstände) im Vollstreckungsmitgliedstaat.
Einige wenige Mitgliedstaaten haben zusätzliche Anforderungen gestellt (vgl. 3.7.2.).
·Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat anhängig (Artikel 4 Nummer 2)
Die Vollstreckung kann abgelehnt werden, wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird.
Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 4 Nummer 2 umgesetzt. In den meisten Mitgliedstaaten wurde der Grund als fakultativer Ablehnungsgrund umgesetzt, mit Ausnahme derjenigen, in denen der Ablehnungsgrund zwingend oder teilweise zwingend ist (z. B. bevorzugt ein Mitgliedstaat seine eigenen Staatsangehörigen, indem er vorsieht, dass besagter Grund für die Ablehnung der Vollstreckung für seine eigenen Staatsangehörigen zwingend und für nicht Staatsangehörige fakultativ ist). So hat beispielsweise ein Mitgliedstaat den Grund davon abhängig gemacht, dass Strafverfahren im Vollstreckungsmitgliedstaat eindeutig einfacher durchgeführt werden können.
·Strafverfolgung wegen derselben Straftat im Vollstreckungsmitgliedstaat ausgeschlossen (Artikel 4 Nummer 3)
Bei der Umsetzung von Artikel 4 Nummer 3 muss zwischen drei Fällen unterschieden werden: Die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats haben entweder beschlossen, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder es ist gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht.
Nur ein Mitgliedstaat hat Artikel 4 Nummer 3 nicht umgesetzt. Die Hälfte der Mitgliedstaaten hat besagten Grund als fakultativen Ablehnungsgrund umgesetzt. In andere Mitgliedstaaten wurde besagter Grund als obligatorischer Grund umgesetzt (ausgenommen hiervon sind einige wenige Mitgliedstaaten, die einen Teil der drei möglichen Bedingungen als fakultativ und andere als zwingend umgesetzt haben). Darüber hinaus haben einige dieser Mitgliedstaaten die drei in Artikel 4 Nummer 3 genannten Bedingungen nur teilweise umgesetzt.
·Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt (Artikel 4 Nummer 4)
Die Vollstreckung kann abgelehnt werden, wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand.
Mit einer Ausnahme haben alle Mitgliedstaaten Artikel 4 Nummer 4 umgesetzt. Ein Mitgliedstaat hat auf den Zeitablauf verwiesen. In einigen Mitgliedstaaten gilt dieser Grund als zwingender Ablehnungsgrund.
·Rechtskräftige Verurteilung in einem Drittstaat – grenzüberschreitender Grundsatz „ne bis in idem“ (Artikel 4 Nummer 5)
Die Vollstreckung kann abgelehnt werden, wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist (Grundsatz „ne bis in idem“), vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (Durchsetzungsanforderungen).
Bis auf einen haben alle Mitgliedstaaten Artikel 4 Nummer 5 umgesetzt. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat besagten Grund als fakultativen Ablehnungsgrund umgesetzt, alle anderen als zwingenden. Einige Mitgliedstaaten haben die drei möglichen Bedingungen für die Durchsetzung jedoch nur teilweise umgesetzt.
·Vollstreckungsmitgliedstaat übernimmt Vollstreckung der Sanktion (Artikel 4 Nummer 6)
Wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist und sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, kann die vollstreckende Justizbehörde prüfen, ob die Sanktion in ihrem Mitgliedstaat vollstreckt werden könnte, anstatt die Person dem Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben. Die in Artikel 4 Nummer 6 genannten Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ müssen einheitlich ausgelegt werden, da sie sich auf autonome Begriffe des Unionsrechts beziehen.
Einige wenige Mitgliedstaaten haben Artikel 4 Nummer 6 nicht umgesetzt. Andere Mitgliedstaaten haben ihn in abweichender Form umgesetzt, da der persönliche Anwendungsbereich der Umsetzung von Artikel 4 Nummer 6 sehr unterschiedlich ist.
Nur wenige Mitgliedstaaten haben den in Artikel 4 Nummer 6 genannten Grund als fakultativen Ablehnungsgrund umgesetzt. In den meisten Mitgliedstaaten ist der Ablehnungsgrund zwingend oder teilweise zwingend, da einige von ihnen zwischen eigenen Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen (Gebietsansässigen) unterscheiden, indem besagter Grund der Ablehnung der Vollstreckung für eigene Staatsangehörige zwingend und für Gebietsansässige fakultativ ist (bzw. zu Gebietsansässigen keine Äußerung dahingehend gemacht wurde). Einige Mitgliedstaaten haben die Bedingung des Wohnsitzes weiter eingeschränkt (z. B. ständiger Wohnsitz über zwei oder fünf Jahre, Aufenthaltsgenehmigung). Darüber hinaus hat ein Mitgliedstaat Artikel 4 Nummer 6 so umgesetzt, dass dieser nur für EU-Bürger gilt und somit Drittstaatsangehörige ausschließt. Ein Mitgliedstaat hingegen verweist ausdrücklich auf Personen, denen Asyl gewährt wurde. Nur wenige Mitgliedstaaten haben Artikel 4 Nummer 6 so umgesetzt, dass auch Personen darunterfallen, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
·Extraterritorialität (Straftaten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden) (Artikel 4 Nummer 7)
Die Vollstreckung kann abgelehnt werden, wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die
a) nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind;
oder
b) außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.
Einige Mitgliedstaaten haben nur einen der beiden Gründe umgesetzt.
Einige Mitgliedstaaten haben den unter a) genannten Grund nicht umgesetzt. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat den unter a) genannten Grund als fakultativen Ablehnungsgrund umgesetzt. Darüber hinaus haben einige dieser Mitgliedstaaten den Wortlaut „ganz oder zum Teil“ und/oder „diesem gleichgestellten Ort“ nicht ausdrücklich umgesetzt.
Einige wenige Mitgliedstaaten haben den unter b) genannten Grund nicht umgesetzt. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung als fakultativen Ablehnungsgrund umgesetzt.
·Abwesenheitsurteile (Artikel 4a)
Artikel 4a sieht einen fakultativen Ablehnungsgrund in Fällen vor, in denen bei einer vollstreckenden Justizbehörde ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung eingeht, die im Ausstellungsmitgliedstaat in einem Verfahren verhängt wurde, zu dem die Person nicht erschienen war (Abwesenheitsurteil). Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier Ausnahmen, bei denen eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines auf ein Abwesenheitsurteil gestützten Europäischen Haftbefehl nicht ablehnen kann.
Die Hälfte der Mitgliedstaaten hat Artikel 4a als zwingenden Ablehnungsgrund umgesetzt, die andere Hälfte als fakultativen. In Bezug auf die vier Ausnahmen konnten die einschlägigen Bestimmungen in mehreren Mitgliedstaaten nicht ermittelt werden. In einigen Mitgliedstaaten, die die vier Ausnahmen umgesetzt haben, wurden die in diesen Ausnahmen festgelegten verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen nicht ausdrücklich umgesetzt. Dazu gehören autonome Begriffe des EU-Rechts‚ insbesondere „persönliche Vorladung“, „tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt“ oder „Kenntnis von der anberaumten Verhandlung“.
3.9.Garantien, die der Ausstellungsmitgliedstaat zu gewähren hat (Artikel 5)
Nach Artikel 5 kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde nach dem für sie geltenden nationalen Recht an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, die in Artikel 5 abschließend festgelegt sind. Diese Bedingungen können sich auf die Überprüfung des lebenslangen Freiheitsentzugs oder die Rücküberstellung von Staatsangehörigen und Gebietsansässigen in den Vollstreckungsmitgliedstaats zur Verbüßung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängten Freiheitsstrafe beziehen.
Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit umgesetzt, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls von der Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung abhängig zu machen. Darüber hinaus hat eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten die Möglichkeit umgesetzt, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls davon abhängig zu machen, dass Staatsangehörige und Gebietsansässige nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wurde, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt werden. Die Umsetzung ist in einigen Mitgliedstaaten nur teilweise erfolgt, da nicht klar festgelegt wurde, dass die Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs rücküberstellt werden muss. Darüber hinaus bevorzugen einige Mitgliedstaaten ihre eigenen Staatsangehörigen.
3.10.Verfahrensrechte der gesuchten Person (Artikel 11, Artikel 13 Absatz 2, Artikel 14 und Artikel 23 Absatz 5)
Der Rahmenbeschluss garantiert der gesuchten Person verschiedene Verfahrensrechte. Nach Artikel 11 hat die gesuchte Person das Recht, von dem Europäischen Haftbefehl, seinem Inhalt und der Möglichkeit, der Übergabe zuzustimmen, unterrichtet zu werden, und sie hat Anspruch auf einen Rechtsbeistand und einen Dolmetscher. Diese Rechte müssen im Einklang mit dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gewährt werden. Darüber hinaus wurden die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Rechte durch die Richtlinien über Mindestverfahrensrechte ergänzt und gestärkt.
Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 11 umgesetzt. In einigen Mitgliedstaaten wurden die Anforderungen jedoch nur teilweise umgesetzt oder es konnten nicht alle relevanten Elemente ermittelt werden (z. B. keine ausdrücklichen Bestimmungen, wonach die gesuchte Person über die Möglichkeit der Zustimmung zur Übergabe informiert werden muss, oder erst in einer Hafteinrichtung darüber informiert wird).
Darüber hinaus gewähren verschiedene Bestimmungen des Rahmenbeschlusses der gesuchten Person Mindestverfahrensrechte, insbesondere die im Folgenden aufgeführten:
·Nach Artikel 13 Absatz 2 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit die Zustimmung zur Übergabe und der Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität (gemäß Artikel 27 Absatz 2) unter Bedingungen entgegengenommen werden, die erkennen lassen, dass die Person sie freiwillig und in vollem Bewusstsein der sich daraus ergebenden Folgen vor der Vollstreckungsbehörde bekundet hat. Zu diesem Zweck hat die gesuchte Person das Recht, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen. Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 13 Absatz 2 umgesetzt. Allerdings konnten die Elemente der Freiwilligkeit und des vollen Bewusstseins der sich ergebenden Folgen in den nationalen Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten nicht ermittelt werden. Ähnliche Probleme konnten in einigen Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität im Ausstellungsmitgliedstaat nach einer Übergabe festgestellt werden (Artikel 27 Absatz 3 Buchstabe f).
·Nach Artikel 14 hat die festgenommene Person, wenn sie ihrer Übergabe nicht zustimmt, das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats vernommen zu werden. Fast alle Mitgliedstaaten haben Artikel 14 ordnungsgemäß umgesetzt.
·Nach Artikel 23 Absatz 5 ist die gesuchte Person nach Ablauf der Frist für die Übergabe freizulassen. Die meisten Mitgliedstaaten haben Artikel 23 Absatz 5 ordnungsgemäß umgesetzt. Ein Mitgliedstaat sieht jedoch ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass – bevor mit der Ausstellungsbehörde ein neues Datum und eine neue Uhrzeit vereinbart wird – die Inhaftierung der gesuchten Person von der Vollstreckungsbehörde einseitig um 10 Tage verlängert werden kann (vgl. 3.14.). In einigen wenigen Mitgliedstaaten konnten die einschlägigen Bestimmungen nicht ermittelt werden.
3.11.Vorrechte und Immunitäten (Artikel 20)
Artikel 20 des Rahmenbeschlusses betrifft Vorrechte und Immunitäten, auf die sich die gesuchte Person berufen kann. Die Bestimmung wurde von knapp der Hälfte der Mitgliedstaaten vollständig und übereinstimmend umgesetzt. In anderen Mitgliedstaaten konnte nur eine teilweise Umsetzung festgestellt werden (z. B. wurde nicht ausdrücklich auf Privilegien eingegangen) oder die einschlägigen Bestimmungen konnten nicht ermittelt werden (z. B. das Verfahren zur Beantragung der Aufhebung von Vorrechten oder Immunitäten).
3.12.Zustimmung zur Übergabe, Grundsatz der Spezialität und Verzicht darauf (Artikel 13 und 27)
Überstellte Personen dürfen normalerweise wegen einer vor ihrer Überstellung begangenen anderen strafbaren Handlung als derjenigen, die ihrer Überstellung zugrunde liegt, weder verfolgt, verurteilt noch einer anderweitigen freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. So lautet der in Artikel 27 des Rahmenbeschlusses verankerte Grundsatz der Spezialität.
Der Rahmenbeschluss gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit mitzuteilen, dass sie in ihren Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität verzichten, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anderslautende Erklärung abgibt. Den der Kommission vorliegenden Informationen zufolge haben nur drei Mitgliedstaaten solche Mitteilungen übermittelt.
Darüber hinaus sieht Artikel 27 Absatz 3 mehrere Ausnahmen vom Grundsatz der Spezialität vor, von denen eine darin besteht, dass die gesuchte Person gemäß Artikel 13 auf den Grundsatz der Spezialität verzichtet.
Die gesuchte Person hat die Möglichkeit, der Übergabe nach Artikel 13 zuzustimmen. Gibt die festgenommene Person an, dass sie ihrer Übergabe zustimmt, so werden diese Zustimmung und gegebenenfalls der ausdrückliche Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vor der vollstreckenden Justizbehörde nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats erklärt. Die meisten Mitgliedstaaten haben Artikel 13 ordnungsgemäß umgesetzt. In einigen wenigen Mitgliedstaaten verliert die gesuchte Person jedoch automatisch den Schutz des Grundsatzes der Spezialität, wenn sie der Übergabe zugestimmt hat. Folglich hat die gesuchte Person kein Mitspracherecht mehr, wenn es darum geht, auf den Schutz durch den Grundsatz der Spezialität zu verzichten. In einigen Mitgliedstaaten konnten die Umsetzungsbestimmungen nicht ermittelt werden, oder die Umsetzung erfolgte nur teilweise, da sie nicht ausdrücklich den Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vorsah.
Einige Mitgliedstaaten haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, dass die Person sowohl die Zustimmung als auch den Verzicht widerrufen kann. In einigen wenigen Mitgliedstaaten kann lediglich die Zustimmung widerrufen werden. In den meisten Mitgliedstaaten sind sowohl die Zustimmung zur Übergabe als auch der Verzicht unwiderruflich.
In diesem Zusammenhang ist in einigen Mitgliedstaaten die Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine Entscheidung über die Übergabe einer gesuchten Person auch dann möglich, wenn eine Person der Übergabe zustimmt.
3.13.Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 15 Absatz 1 und Artikel 17)
Die Übergabeentscheidung muss grundsätzlich – wie im Rahmenbeschluss festgelegt – innerhalb strenger Fristen getroffen werden (Artikel 15 Absatz 1). Ungeachtet dieser Fristen müssen alle Europäischen Haftbefehle als Eilsache erledigt und vollstreckt werden (Artikel 17 Absatz 1). Allerdings haben nicht alle Mitgliedstaaten diese Anforderung ausdrücklich umgesetzt.
Stimmt die gesuchte Person ihrer Übergabe zu, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen (Artikel 17 Absatz 2). Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt. In zwei Mitgliedstaaten konnten die Umsetzungsbestimmungen jedoch nicht ermittelt werden.
Wenn die Person ihrer Übergabe nicht zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen (Artikel 17 Absatz 3). Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt. Ein Mitgliedstaat hat die Frist von 60 Tagen nicht umgesetzt. Darüber hinaus sehen einige Mitgliedstaaten alternativ vor, dass die Frist von 60 Tagen entweder am Tag der Festnahme oder am Tag der ersten Vernehmung beginnt.
In einigen Mitgliedstaaten wurde die 10- und/oder 60-Tage-Frist unverbindlich umgesetzt.
Wenn in einem Sonderfall der Europäische Haftbefehl nicht innerhalb der oben genannten geltenden Fristen vollstreckt werden kann, können die Fristen ausnahmsweise um weitere 30 Tage verlängert werden. In einem solchen Fall muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis zu setzen (Artikel 17 Absatz 4).
Knapp die Hälfte der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung vollständig umgesetzt. Die meisten Mitgliedstaaten haben sie nur teilweise umgesetzt (z. B. wird das unverzügliche Inkenntnissetzen nicht ausdrücklich widergespiegelt; die Gründe für die Verzögerung sind nicht anzugeben; es wird lediglich auf die Frist nach Artikel 17 Absatz 3 Bezug genommen, wobei die Frist von zehn Tagen nach Artikel 17 Absatz 2 nicht abgedeckt ist). In einigen wenigen Mitgliedstaaten konnten die einschlägigen Bestimmungen nicht ermittelt werden.
Darüber hinaus sind die Probleme bei der Einhaltung der im Rahmenbeschluss festgelegten Fristen in einigen Mitgliedstaaten u. a. auf langwierige Rechtsmittelverfahren zurückführen. Die einschlägigen Bestimmungen über die Dauer des Rechtsmittelverfahrens konnten nicht für alle Mitgliedstaaten ermittelt werden. Einige Mitgliedstaaten sehen jedoch strenge Fristen für Rechtsmittelverfahren vor.
Solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ergangen ist, hat diese sicherzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind (Artikel 17 Absatz 5). Eine erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten hat Artikel 17 Absatz 5 ordnungsgemäß umgesetzt. Ein Mitgliedstaat sieht jedoch eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung vor, eine gesuchte Person, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurde, nach Ablauf einer Frist von 90 Tagen ab dem Zeitpunkt der Festnahme freizulassen.
Artikel 17 Absatz 7 sieht vor, dass wenn ein Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die geltenden Fristen nicht einhalten kann, dieser Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis zu setzen hat. Außerdem hat ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mitzuteilen, damit eine Beurteilung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses erfolgen kann. In mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten ist erfolgte die Umsetzung vollständig und übereinstimmend. Andere Mitgliedstaaten haben Artikel 17 Absatz 7 nur teilweise umgesetzt (z. B. indem sie nur auf die Frist von 60 Tagen verwiesen oder keine Verpflichtung zur Unterrichtung von Eurojust auferlegt haben).
3.14.Frist für die Übergabe der Person (Artikel 23 Absatz 1 bis 4)
Die Frist für die Übergabe der gesuchten Person beginnt unmittelbar nach Erlass der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu laufen. Die zuständigen Behörden sollten die Übergabe der Person so bald wie möglich regeln und vereinbaren (Artikel 23 Absatz 1). In jedem Fall muss die Übergabe spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgen (Artikel 23 Absatz 2). Artikel 23 Absätze 3 und 4 betreffen Verlängerungen der Fristen in Fällen, in denen die Übergabe der betreffenden Person innerhalb der Frist von zehn Tagen aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, oder aus schwerwiegenden humanitären Gründen unmöglich ist.
Der Frist für die Übergabe ist grundsätzlich nur von einigen Mitgliedstaaten weitgehend übereinstimmend umgesetzt worden. In den meisten Mitgliedstaaten wurden die wichtigsten Elemente von Artikel 23 Absätze 1 bis 4 nicht umgesetzt (z. B. Dringlichkeit, verbindliche Fristen und deren Berechnung; Bezugnahme nur auf die Umstände im Ausstellungsmitgliedstaat; zu enge oder zu weite Definition des Wortlauts „schwerwiegende humanitäre Gründe“).
4.SCHLUSSFOLGERUNG
Zwar werden die bisherigen Anstrengungen der Mitgliedstaaten anerkannt, doch ist der Stand der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor nicht zufriedenstellend. Aus dieser Bewertung, den Statistiken über den Europäischen Haftbefehl und einer vergleichenden Analyse mit früheren Berichten geht hervor, dass einige Mitgliedstaaten einige der früheren Empfehlungen der Kommission und die Empfehlungen, die sich aus der vierten Runde der gegenseitigen Begutachtungen ergaben, nicht umgesetzt haben. Darüber hinaus hat es den Anschein, dass einige Mitgliedstaaten bestimmte Urteile des Gerichtshofs noch nicht umgesetzt haben.
Die unvollständige und/oder fehlerhafte Umsetzung des Rahmenbeschlusses behindert die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen. Das Ziel der Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürger der Europäischen Union, das in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union verankert ist, kann nicht erreicht werden, wenn die Mitgliedstaaten die von allen gemeinsam vereinbarten Instrumente nicht ordnungsgemäß umsetzen.
Die Kommission wird weiterhin prüfen, ob die einzelnen Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss einhalten. Sofern keine Abhilfe geschaffen wird, wird die Kommission geeignete Maßnahmen ergreifen, um in der gesamten EU die Einhaltung des Rahmenbeschlusses sicherzustellen, und dazu bei Bedarf auch Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einleiten.