EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 24.10.2024
COM(2024) 489 final
BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT
über die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind
1.
EINLEITUNG
2.
ALLGEMEINE BEWERTUNG
3.
EINZELNE PUNKTE DER BEWERTUNG
3.1.Anwendungsbereich (Artikel 2) und Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 17)
3.2.Begriffsbestimmungen (Artikel 3)
3.3.Auskunftsrecht (Artikel 4)
3.4.Recht des Kindes auf Information des Trägers der elterlichen Verantwortung (Artikel 5)
3.5.Unterstützung durch einen Rechtsbeistand (Artikel 6)
3.6.Recht auf individuelle Begutachtung (Artikel 7)
3.7.Recht auf eine medizinische Untersuchung (Artikel 8)
3.8.Audiovisuelle Aufzeichnung der Befragung (Artikel 9)
3.9.Begrenzung des Freiheitsentzugs (Artikel 10)
3.10.Alternative Maßnahmen (Artikel 11)
3.11.Besondere Behandlung bei Freiheitsentzug (Artikel 12)
3.12.Zügige und sorgfältige Bearbeitung der Fälle (Artikel 13)
3.13.Recht auf Schutz der Privatsphäre (Artikel 14)
3.14.Recht des Kindes auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während des Verfahrens (Artikel 15)
3.15.Recht von Kindern, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen und daran teilzunehmen (Artikel 16)
3.16.Recht auf Prozesskostenhilfe (Artikel 18)
3.17.Rechtsbehelfe (Artikel 19)
3.18.Schulung (Artikel 20)
3.19.Datenerhebung (Artikel 21)
3.20.Kosten (Artikel 22)
3.21.Umsetzung (Artikel 24)
4.
ANWENDUNG DES ARTIKELS 6 DER RICHTLINIE
5.
SCHLUSSFOLGERUNG
1.EINLEITUNG
Mit der Richtlinie (EU) 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (im Folgenden „Richtlinie“), sollen Verfahrensgarantien festgelegt werden, um sicherzustellen, dass Kinder, d. h. Personen unter 18 Jahren, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, diese Verfahren verstehen, ihnen folgen und ihr Recht auf ein faires Verfahren wirksam ausüben können. Ferner soll damit dazu beigetragen werden, Rückfälle zu verhindern und die soziale Integration von Kindern, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, zu fördern.
Die in dieser Richtlinie festgelegten Garantien beruhen auf dem Recht auf ein unparteiisches Gericht und den Verteidigungsrechten, wie sie in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
in Verbindung mit Artikel 24 über die Rechte des Kindes, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss, verankert sind.
Die Richtlinie ist das fünfte Instrument, das auf der Grundlage von Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) angenommen wurde. Diese Bestimmung bildet die Rechtsgrundlage für den Erlass von Mindestvorschriften über „die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“. Die Richtlinie gilt in 25 Mitgliedstaaten.
Die EU hat die folgenden fünf weiteren Richtlinien angenommen, deren Schwerpunkte auf den Rechten von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegen:
·die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen
·die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren
·die Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Kommunikation mit Dritten während des Freiheitsentzugs
·die Richtlinie über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
·die Richtlinie über Prozesskostenhilfe
Diese sechs Richtlinien über Verfahrensrechte dienen der Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten in die jeweilige Strafrechtspflege der anderen Mitgliedstaaten und damit der Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen in Strafsachen.
Die Europäische Kommission hat entsprechend ihrer Berichtspflicht nach diesen Rechtsakten bereits Berichte über die Durchführung von fünf der Richtlinien veröffentlicht. Gemäß Artikel 25 der hier behandelten Richtlinie muss die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht übermitteln, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die Maßnahmen ergriffen haben, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, einschließlich einer Bewertung der Anwendung des Artikels 6; die Kommission unterbreitet erforderlichenfalls Gesetzgebungsvorschläge.
Zur Zusammenstellung von Informationen über die praktische Anwendung von Artikel 6 sowie unter anderem zur Erhebung von Informationen über die Durchführung von Bestimmungen der Richtlinie, die vielmehr praktische Durchführungsmaßnahmen als eine Umsetzung in Rechtsvorschriften erfordern, wurde ein Fragebogen an die Mitgliedstaaten versandt. Von 20 der 25 teilnehmenden Mitgliedstaaten gingen Antworten ein.
Dieser Bericht stützt sich daher auf die Informationen, die die Mitgliedstaaten der Kommission im Zusammenhang mit der Übermittlung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie übermittelt haben, sowie auf die entsprechenden erläuternden Dokumente und auf die zusätzlichen Informationen, die durch die Beantwortung des Fragebogens bereitgestellt wurden, sofern tatsächlich zusätzliche Informationen übermittelt wurden. Zudem wurden die Informationen aus den von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte durchgeführten Untersuchungen und aus den von der Kommission finanzierten Studien externer Interessenträger berücksichtigt.
In diesem Bericht werden auch die Bestimmungen der Richtlinie hervorgehoben, die den Erlass praktischer Durchführungsmaßnahmen erfordern, und es wird ein Überblick über die von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Informationen über den Erlass solcher Maßnahmen gegeben.
2.ALLGEMEINE BEWERTUNG
Gemäß Artikel 24 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 11. Juni 2019 nachzukommen. Außerdem waren sie verpflichtet, die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen.
Bei der Umsetzung der Richtlinie gingen die Mitgliedstaaten aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen ihren Justizsystemen unterschiedlich vor. Es können drei allgemeine Arten von Vorgehensweisen bei der Umsetzung unterschieden werden. Eine erste Gruppe von Mitgliedstaaten hat spezifische Rechtsinstrumente zu Verfahrensgarantien für Kinder erlassen, z. B. in Form eines Jugendgerichtsgesetzes, das als lex specialis zu den für alle Verdächtigen und beschuldigten Personen geltenden allgemeinen Strafverfahrensregeln gestaltet wurde. Eine zweite Gruppe von Mitgliedstaaten hat sich für kinderspezifische Änderungen ihrer allgemeinen Verfahrensregeln, d. h. ihrer allgemeinen Strafprozessordnung, entschieden. Eine dritte Gruppe von Mitgliedstaaten hat sowohl in ihren allgemeinen Strafverfahrensregeln als auch in anderen Rechtsinstrumenten Vorschriften für Strafverfahren gegen Kinder, die eine als Straftat einzustufende Handlung begangen haben, eingeführt, ohne dass diese Verfahren selbst als Strafverfahren nach nationalem Recht gelten. In diesen Mitgliedstaaten unterliegen Kinder nur ausnahmsweise in besonders schweren Fällen oder bereits ab Vollendung des 17. Lebensjahres statt ab dem 18. Lebensjahr den allgemeinen Regeln des Strafverfahrens. In allen anderen Fällen werden gegen Kinder, die eine als Straftat einzustufende Handlung begangen haben, Verfahren eingeleitet, die von den jeweiligen Mitgliedstaaten nicht als Strafverfahren eingestuft werden. Diese Mitgliedstaaten erkennen daher die Anwendbarkeit der Richtlinie auf solche Verfahren nicht an. Auf der Grundlage der vom Gerichtshof der Europäischen Union für Menschenrechte entwickelten Engel-Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung anwendet, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen Verfahren um Strafverfahren handelt, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. In einigen dieser Mitgliedstaaten hat dies zu materiell-rechtlichen Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit der für Kinder in solchen Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften mit den Anforderungen der Richtlinie geführt.
Bulgarien, Tschechien, Deutschland, Griechenland, Kroatien, Zypern und Malta haben die Umsetzungsmaßnahmen nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist mitgeteilt. Daher leitete die Kommission im Juni 2019 gegen diese sieben Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV ein. Darüber hinaus erhielt Zypern im Mai 2020 eine mit Gründen versehene Stellungnahme wegen fortgesetzter Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen. Die Umsetzungsmaßnahmen wurden daraufhin von allen sieben Mitgliedstaaten mitgeteilt.
Was die vollständige und/oder ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie betrifft, so wurden in allen Mitgliedstaaten Probleme bei der Einhaltung festgestellt. Von den sieben Verfahren gegen Mitgliedstaaten wegen vollständiger Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen, die im Juni 2019 eingeleitet wurden, wurden bislang vier Verfahren – nämlich die gegen Malta, Zypern, Kroatien und Tschechien eingeleiteten – abgeschlossen. Die übrigen drei Mitgliedstaaten haben ein zusätzliches Aufforderungsschreiben wegen teilweiser Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen erhalten, in dem auf noch bestehende Umsetzungslücken hingewiesen wurde. Zudem hat die Kommission seit Juli 2023 gegen alle übrigen 18 Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren wegen vollständiger oder teilweiser Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet. Drei dieser Vertragsverletzungsverfahren konnten bereits wieder abgeschlossen werden. Daher laufen derzeit gemäß Artikel 260 Absatz 3 AEUV gegen 18 Mitgliedstaaten aktive Vertragsverletzungsverfahren wegen teilweiser Nichtmitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie. Hinsichtlich der Übereinstimmung der mitgeteilten Umsetzungsmaßnahmen mit der Richtlinie wurden eine Studie und eine vorläufige Bewertung durchgeführt. Die Kommission wird zu gegebener Zeit auch die notwendigen Schritte unternehmen, um die in diesem Zusammenhang festgestellten Mängel zu beheben, indem sie Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV einleitet.
Insgesamt sind Umfang und Art der festgestellten Mängel unterschiedlich. Drei Arten von Problemen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie sind besonders hervorzuheben. Bei der ersten Art handelt es sich um Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung bestimmter Bestimmungen der Richtlinie, die aufgrund der Anzahl der Mitgliedstaaten, deren Umsetzung die gleichen Mängel aufweist, als erheblich angesehen werden können.
Die zweite Art von nennenswerten Problemen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie kann aufgrund des Umfangs ihrer Auswirkungen als besonders problematisch angesehen werden, da die betroffenen Kinder faktisch von den meisten oder sogar allen Rechten und Garantien, auf die sie gemäß der Richtlinie Anspruch haben, ausgeschlossen sind. Diese Art von Problemen stellt sich insbesondere bei der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Artikel 2, in dem der Anwendungsbereich der Richtlinie festgelegt ist, und bei der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Artikel 17 der Richtlinie, mit dem sichergestellt werden soll, dass die in den Artikeln 4, 5, 6 und 8 sowie den Artikeln 10 bis 15 und Artikel 18 der Richtlinie genannten Rechte für Kinder, die gesuchte Personen sind, entsprechend gelten.
Die dritte Art von Problemen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie betrifft die mangelnde Beachtung des Unterschieds zwischen dem Anwendungsbereich und der Art bestimmter wesentlicher Standards bei den Verfahrensrechten für erwachsene Verdächtige und beschuldigte Personen sowie deren Anwendungsbereich und die Art, wie sie in der Richtlinie für Kinder vorgesehen sind. Sowohl Artikel 6 der Richtlinie, in dem die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand geregelt ist, als auch die Artikel 4 und 5, in denen das Auskunftsrecht geregelt ist, sind besonders von der fehlenden Anerkennung (und damit der fehlenden Umsetzung) der zusätzlichen rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber Kindern im Vergleich zu Erwachsenen betroffen.
Eine solche nicht vollständige Einhaltung der Bestimmungen der Richtlinie beeinträchtigt die Wirksamkeit der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte. Die Kommission wird weiterhin alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um hier Abhilfe zu schaffen, einschließlich Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 und Artikel 260 Absatz 3 AEUV.
In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden „Gerichtshof“) kürzlich in der Rechtssache C-603/22 sein erstes Urteil zur Auslegung der Richtlinie erlassen hat. Der Fall betraf die Anwendung der Richtlinie auf Strafverfahren in Polen gegen drei Kinder (im Alter von 17 Jahren).
3.EINZELNE PUNKTE DER BEWERTUNG
3.1.Anwendungsbereich (Artikel 2) und Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 17)
In Artikel 2 Absatz 1 ist der Anwendungsbereich der Richtlinie festgelegt, die für Kinder gilt, die Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, bis diese Verfahren endgültig abgeschlossen sind. Dies bedeutet, dass die Richtlinie grundsätzlich sofort anwendbar ist, sobald das Kind faktisch verdächtigt wird. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn es von einem Zeugen oder einem Opfer als mutmaßlicher Täter einer Straftat bezeichnet wird, unabhängig davon, ob es bereits durch eine förmliche behördliche Handlung als Verdächtiger oder beschuldigte Person eingestuft oder ob darauf hingewiesen wurde, dass es verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat begangen zu haben. Dieser besonders weit gefasste Anwendungsbereich der Richtlinie ist im Hinblick auf bestimmte Garantien, wie das Recht auf den Schutz der Privatsphäre, von Bedeutung. Diese Garantien sollen bereits wirksam werden, bevor das Kind unmittelbar mit den Ermittlungsbehörden in Kontakt kommt und darüber unterrichtet wird, dass es verdächtigt wird. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass zwar einige Bestimmungen der Richtlinie, wie etwa die Bestimmungen über die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, erst dann Anwendung finden sollen, wenn das Kind davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass es Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, das Versäumnis der zuständigen Behörden, das Kind darüber zu unterrichten, obgleich sie es tatsächlich bereits verdächtigen, jedoch nicht das Recht des Kindes auf Inanspruchnahme seiner Rechte gemäß der Richtlinie ab dem Zeitpunkt, zu dem es faktisch als Verdächtiger gilt, beeinträchtigt. Diese Argumentation wurde vom Gerichtshof im Zusammenhang mit der Anwendung der Richtlinie 2012/13/EU bestätigt und stellt sicher, dass ein Versäumnis der zuständigen Behörden hinsichtlich der Unterrichtung eines Verdächtigen über seinen Status im Verfahren nicht dazu führt, dass dieser seine Rechte verliert.
Mehr als ein Drittel der Mitgliedstaaten hat dem Schutz auf nationaler Ebene jedoch nicht den gleichen Anwendungsbereich eingeräumt. Einige Mitgliedstaaten wenden die Richtlinie oder zumindest einige ihrer Bestimmungen erst dann auf Kinder an, wenn diese durch eine amtliche Handlung förmlich als Verdächtige oder beschuldigte Person (in einigen Mitgliedstaaten subsumiert unter den Begriff „Beklagter“) eingestuft wurden oder unmittelbar in Kontakt mit den Ermittlungsbehörden stehen, beispielsweise im Rahmen einer polizeilichen Befragung. Andere wenden die regulären Regeln des Strafverfahrens an, die Kinder in Fällen, in denen sie eine besonders schwere Straftat begangen haben, oder allgemein ab Vollendung des 17. Lebensjahres nicht speziell schützen. Daher kommen in diesen Mitgliedstaaten im Prinzip nicht allen Kindern die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte und Garantien zugute. Die Einhaltung der Richtlinie erfolgt in diesen Fällen nur dann, wenn es Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Garantien für Erwachsene und denen für Kinder gibt, die in der Richtlinie festgelegt sind. Insgesamt sind Einhaltungsprobleme in Zusammenhang mit der Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie besonders schwerwiegend, da sie dazu führen können, dass einer großen Anzahl von Kindern alle Schutzbestimmungen der Richtlinie auf einmal vorenthalten werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass viele Probleme bei der Umsetzung bestimmter materiell-rechtlicher Bestimmungen der Richtlinie auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen sind.
Diejenigen Mitgliedstaaten, in denen keine nationalen Garantien für Kinder gelten, bevor diese förmlich als Verdächtige oder beschuldigte Personen eingestuft werden, haben auch Probleme bei der Umsetzung von Artikel 2 Absatz 4 zu verzeichnen. Gemäß Artikel 2 Absatz 4 gilt die Richtlinie auch für Kinder, die beispielsweise zunächst als Zeugen angesehen werden, aber während der Befragung selbstbelastende Aussagen machen und dadurch zu Verdächtigen werden. In solchen Fällen muss, wie in Erwägungsgrund 29 klargestellt, die Befragung ausgesetzt werden, bis das Kind davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass es Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, und es durch einen Rechtsbeistand unterstützt wird. Diese Maßnahmen sind beispielsweise notwendig, um sicherzustellen, dass diese Kinder ihr Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage zu verweigern, kennen und wirksam ausüben können.
Gemäß Artikel 2 Absatz 2 gilt die Richtlinie auch für Kinder, die aufgrund eines Auslieferungsersuchens eines anderen Mitgliedstaats, z. B. aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, festgenommen werden, ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat. Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie wird in Artikel 17 der Richtlinie näher erläutert, in dem die Rechte und Garantien aufgeführt sind, die für alle Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, gleichermaßen gelten sollten, unabhängig davon, ob sie auf ihre Auslieferung warten.
Mehr als ein Drittel aller Mitgliedstaaten haben Artikel 2 Absatz 2 nicht ausdrücklich umgesetzt und es folglich versäumt, einige der in Artikel 17 festgelegten notwendigen Rechte, wie das Recht auf Begleitung durch einen Träger der elterlichen Verantwortung, auf Kinder auszudehnen, die auf ihre Übergabe warten.
Auf der Grundlage von Artikel 2 Absatz 3 gelten die meisten Rechte der Richtlinie auch weiterhin für Kinder, die während des gegen sie laufenden Strafverfahrens volljährig werden, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass dies unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person, angemessen ist. Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht anzuwenden, wenn der Jugendliche das 21. Lebensjahr vollendet hat, auch wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. In einer beträchtlichen Anzahl von Mitgliedstaaten wurden Probleme bei der Einhaltung dieser Bestimmung festgestellt.
In einigen Mitgliedstaaten ist eine andere Behörde als das für Strafsachen zuständige Gericht für die Verhängung von Sanktionen zuständig oder kann ein Freiheitsentzug nicht als Sanktion für relativ geringfügige Zuwiderhandlungen, wie etwa Verkehrsdelikte, verhängt werden, die nach einer Verkehrskontrolle festgestellt werden könnten. In Artikel 2 Absatz 6 ist festgelegt, dass die Richtlinie in solchen Fällen bei geringfügigen Zuwiderhandlungen und bei Straftaten, bei denen kein Freiheitsentzug als Strafe verhängt werden kann, nur auf das Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht Anwendung findet, wenn dem Kind die Freiheit entzogen wird.
Eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedstaaten hat es jedoch versäumt, zwischen Verfahren wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen vor Gerichten, die für Strafsachen zuständig sind, und Verfahren vor anderen Behörden zu unterscheiden, oder sie haben die Rechte der Richtlinie nicht sichergestellt, wenn Freiheitsentzug als Sanktion für bestimmte geringfügige Zuwiderhandlungen verhängt werden kann. Sie erweitern die nationalen Garantien nicht auf Kinder, die einer geringfügigen Zuwiderhandlung verdächtigt oder beschuldigt werden.
3.2.Begriffsbestimmungen (Artikel 3)
In Artikel 3 der Richtlinie werden die Schlüsselbegriffe „Kind“, „Träger der elterlichen Verantwortung“ und „elterliche Verantwortung“ definiert. Darüber hinaus ist dort geregelt, dass eine Person als Kind gilt, wenn Zweifel daran bestehen, ob eine Person das 18. Lebensjahr vollendet hat; eine Anforderung, die ein Drittel aller Mitgliedstaaten für die Zwecke von Strafverfahren nicht ausdrücklich umgesetzt hat.
3.3.Auskunftsrecht (Artikel 4)
In Artikel 4 Absatz 1 ist festgelegt, welche Informationen ein Kind, das einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, erhalten muss und zu welchen bestimmten Zeitpunkten diese Informationen zu erteilen sind. Zusätzlich zu ihren Rechten gemäß der Richtlinie 2012/13/EU sind Kinder umgehend über ihre Rechte und über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens zu unterrichten, etwa über die nächsten Verfahrensschritte. Nahezu die Hälfte der Mitgliedstaaten hat dies nicht ausdrücklich geregelt.
Weitere Rechte, über die Kinder umgehend zu unterrichten sind, betreffen die Prozesskostenhilfe und andere in den Artikeln 5, 6, 14 und 15 Absatz 4 der Richtlinie verankerte Rechte, die bereits in einer frühen Phase des Verfahrens ausgeübt werden können und sollten. Informationen über das Recht auf individuelle Begutachtung sowie andere Rechte, die in den Artikeln 8, 10, 11, 15 Absatz 1, 16 und 19 verankert sind und die je nach Rechtsordnung zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum Tragen kommen, sind in der frühestmöglichen geeigneten Phase zu erteilen. Schließlich gibt es einige Informationen, die bei einem Freiheitsentzug bereitgestellt werden müssen, nämlich Informationen in Bezug auf das Recht auf besondere Behandlung während des Freiheitsentzugs, wie in Artikel 12 der Richtlinie festgelegt.
Insgesamt gibt es nur einige wenige Mitgliedstaaten, die ihren zuständigen Behörden vorschreiben, in den verschiedenen in der Richtlinie genannten Phasen des Verfahrens schrittweise alle erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. In den meisten Mitgliedstaaten ist der Umfang der bereitzustellenden Informationen beschränkter oder die Informationen über die geltenden Verfahrensrechte und -garantien werden auf einmal erteilt. Letzteres kann das Kind leicht überfordern. Der Zweck der gestaffelten Bereitstellung von Informationen in der Richtlinie besteht in erster Linie darin, sicherzustellen, dass Kinder von den entscheidenden Informationen über bestimmte Rechte genau zu dem Zeitpunkt in vollem Umfang profitieren können, zu dem diese Rechte anwendbar oder relevant werden.
Viele Mitgliedstaaten fordern von den zuständigen Behörden auch nicht ausdrücklich, dass sie Kindern Informationen in einfacher und verständlicher Sprache erteilen, wie dies in Artikel 4 Absatz 2 vorgeschrieben ist. Andere haben es versäumt, förmlich eine speziell angepasste Erklärung der Rechte von Kindern einzuführen, die einen Hinweis gemäß Absatz 3 auf alle ihre in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte in der Form enthält, in der sie in nationales Recht umgesetzt wurden.
In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass einige der zu diesem Thema konsultierten Mitgliedstaaten angegeben haben, dass spezielle Erklärungen der Rechte für Kinder erstellt wurden und in der Praxis angewandt werden. Es wurde jedoch keine entsprechende Verpflichtung in nationales Recht umgesetzt, was ein Problem bei der Einhaltung der Richtlinie darstellt.
3.4.Recht des Kindes auf Information des Trägers der elterlichen Verantwortung (Artikel 5)
Wie in Erwägungsgrund 22 der Richtlinie erwähnt, sollten die Mitgliedstaaten den oder die Träger der elterlichen Verantwortung (grundsätzlich gelten beide Elternteile als Träger der elterlichen Verantwortung) über die Verfahrensrechte des Kindes unterrichten. Diese Unterrichtung sollte so rasch wie möglich und so detailliert wie nötig erfolgen, um ein faires Verfahren sicherzustellen und es dem/den Träger(n) der elterlichen Verantwortung zu ermöglichen, das Kind bei der wirksamen Ausübung seiner Rechte zu unterstützen. Dieser Grundsatz ist in Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie verankert, wurde jedoch in der Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht richtlinienkonform umgesetzt.
Einige Mitgliedstaaten haben keine Unterscheidung zwischen der Verpflichtung, den/die Träger der elterlichen Verantwortung über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte des Kindes zu unterrichten, und der Verpflichtung, sie davon zu unterrichten, dass dem Kind die Freiheit entzogen worden ist, vorgenommen. Letzteres ist in Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 2013/48/EU verankert, nicht in der vorliegenden Richtlinie. Es gibt allerdings auch indirekte Probleme bei der Einhaltung der Richtlinie. Diese stehen im Zusammenhang mit der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Artikel 4 über das Auskunftsrecht des Kindes, denn wie bereits erwähnt, ist in einigen Mitgliedstaaten nach nationalem Recht nicht vorgeschrieben, dass das Kind alle Informationen erhält, die ihm gemäß der Richtlinie zu erteilen sind. Die Träger der elterlichen Verantwortung oder ein anderer geeigneter Erwachsener, der vom Kind benannt und von der zuständigen Behörde gemäß Artikel 5 Absatz 2 als solcher akzeptiert wurde, müssen im Allgemeinen nur die gleichen (unzureichenden) Informationen wie das Kind erhalten. Dies führt in vielen Mitgliedstaaten zu einem indirekten Problem im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie.
Insgesamt wurden in 21 Mitgliedstaaten Probleme bei der Umsetzung von Artikel 5 Absatz 2 bezüglich der Benennung und Unterrichtung eines anderen geeigneten Erwachsenen festgestellt. Zusätzlich zu dem indirekten Problem im Zusammenhang mit der Einhaltung von Artikel 4 ergeben sich einerseits Einhaltungsprobleme unter anderem aus der mangelnden Genauigkeit bei der Umsetzung der streng begrenzten Gründe für die Abweichung vom primären Recht der Träger der elterlichen Verantwortung, die Informationen zu erhalten, oder andererseits aus der fehlenden Anerkennung der Person eines anderen geeigneten Erwachsenen, die von dem Kind als Partei benannt wurde, die in Bezug auf die Verfahrensrechte und -privilegien derjenigen eines Trägers der elterlichen Verantwortung entspricht.
Der erstgenannte Aspekt fließt auch in die Probleme ein, die im Zusammenhang mit der Umsetzung von Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie festgestellt wurden. Darin ist festgelegt, wie zu verfahren ist, wenn die Umstände für die Nichtmitteilung von Informationen an die Träger der elterlichen Verantwortung wegfallen.
3.5.Unterstützung durch einen Rechtsbeistand (Artikel 6)
In Artikel 6 Absatz 1 wird auf das in der Richtlinie 2013/48/EU verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hingewiesen und dieses bekräftigt. Zwar sind derzeit wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU neun Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten anhängig, jedoch wurde bei keiner der mitgeteilten Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie eine Beeinträchtigung dieses Rechts festgestellt. Allerdings entsprechen die von den Mitgliedstaaten mitgeteilten Umsetzungsmaßnahmen in vielen Fällen nicht den Anforderungen der hier behandelten Richtlinie, wie sie in den auf Artikel 6 folgenden Absätzen dargelegt sind.
Artikel 6 Absatz 2 enthält eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wonach sie sicherzustellen haben, dass Kinder von einem Rechtsbeistand in einer Weise unterstützt werden, die es ihnen ermöglicht, ihre Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen. Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ist in diesem Zusammenhang als rechtliche Unterstützung und Vertretung durch einen Rechtsbeistand während des Strafverfahrens zu verstehen. Hat das Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung selbst keinen Rechtsbeistand bestellt, so müssen die zuständigen Behörden dafür Sorge tragen.
Die detaillierten Verfahrensvorschriften, mit denen dafür gesorgt werden soll, dass die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand in einer Weise sichergestellt ist, dass die wirksame Wahrnehmung der Verteidigungsrechte möglich ist, sind in den Absätzen 3 bis 8 aufgeführt. Diese Vorschriften wurden jedoch in vielen Mitgliedstaaten nicht alle richtlinienkonform umgesetzt (wie noch näher erläutert wird). Daher ist die Einhaltung des in Artikel 6 Absatz 2 genannten allgemeinen Grundsatzes auch in den meisten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten insgesamt nicht unter allen Umständen sichergestellt.
Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat beispielsweise keine vollständige Umsetzung von Artikel 6 Absatz 3 erreicht, wonach die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass Kinder unverzüglich von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, sobald sie davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen sind. In der Richtlinie werden vier frühestmögliche Zeitpunkte des Verfahrens genannt, ab denen Kinder durch einen Rechtsbeistand zu unterstützen sind.
In einigen dieser Mitgliedstaaten, die die Anforderungen der Richtlinie nicht einhalten, ist der rechtliche Beistand noch nicht sichergestellt, wenn das Kind eindeutig bereits ein Verdächtiger im Ermittlungsverfahren ist, aber noch nicht als solcher bezeichnet wurde, da der Begriff des Verdächtigen in der jeweiligen Rechtsordnung nicht vorgesehen ist. Dies ist auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen. Unverzüglicher rechtlicher Beistand ist ebenfalls nicht in allen Fällen in den Mitgliedstaaten sichergestellt, in denen Verfahren gegen ein Kind durch die regulären statt durch die kinderspezifischen Strafverfahrensvorschriften geregelt werden können. In anderen Mitgliedstaaten kann zwar sichergestellt werden, dass ein Rechtsbeistand für das Kind bestellt wird, aber es besteht keine Rechtssicherheit darüber, ob der Rechtsbeistand bei den in der Richtlinie genannten Handlungen anwesend sein und das Kind wirksam unterstützen muss, ohne dass das Kind um seine Anwesenheit/Teilnahme ersuchen muss. In einigen Rechtsordnungen haben die Rechtsbeistände das Recht zu entscheiden, ob ihre Anwesenheit notwendig ist oder nicht, und können daher von ihrer Anwesenheit absehen, obgleich nach der Richtlinie das Recht des Kindes auf die Anwesenheit des Rechtsbeistands besteht. Ähnliche Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie gibt es bei der Umsetzung von Artikel 6 Absatz 4, wonach die Mitgliedstaaten im Rahmen der sicherzustellenden Unterstützung durch einen Rechtsbeistand dafür sorgen müssen, dass Kinder das Recht haben, vor einer Befragung mit einem Rechtsbeistand unter vier Augen zusammenzutreffen. Ebenso muss gewährleistet werden, dass ein Rechtsbeistand anwesend ist und effektiv an der Befragung teilnehmen kann und dass Kinder zumindest bei bestimmten, in der Richtlinie festgelegten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen von einem Rechtsbeistand unterstützt werden. In vielen Mitgliedstaaten ist nicht in allen diesen Fällen die Anwesenheit und aktive Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vorgeschrieben. Einige garantieren zum Beispiel kein persönliches Zusammentreffen mit dem Rechtsbeistand vor der Befragung.
Artikel 6 Absatz 5 garantiert die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand, unabhängig davon, in welcher Form sie stattfindet, wie zum Beispiel durch Treffen, Schriftverkehr oder telefonische Kommunikation. Allerdings erweitern nicht alle Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich der Vertraulichkeit ausdrücklich auf alle Arten von Kommunikation.
Das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand besteht keineswegs nicht uneingeschränkt. Die Richtlinie sieht zwei Gründe für eine Abweichung von den Vorschriften über die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vor. Diese beruhen auf der Verhältnismäßigkeit (Artikel 6 Absatz 6) und auf einer außergewöhnlichen und vorübergehenden Notwendigkeit (Artikel 6 Absatz 8).
Sofern die Einhaltung des Rechts auf ein faires Verfahren dies zulässt, können die Mitgliedstaaten daher gemäß Artikel 6 Absatz 6 von der Gewährung der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand abweichen, wenn dies unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig wäre. Eine Ausnahmeregelung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit erfordert daher eine Beurteilung des Einzelfalls, bei der die Schwere der mutmaßlichen Straftat, die Komplexität des Falles und die Maßnahmen, die in Bezug auf eine solche Straftat ergriffen werden könnten, berücksichtigt werden, ohne dass dies jedoch allein ausschlaggebend ist. Das Wohl des Kindes muss in jedem Fall stets eine vorrangige Erwägung sein, und Kinder müssen nach wie vor von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie einem zuständigen Gericht oder Richter vorgeführt werden, um über eine Haft zu entscheiden, und während sie sich in Haft befinden. Wichtig ist, dass auch kein Freiheitsentzug als Strafe verhängt werden darf, wenn die fehlende Unterstützung durch einen Rechtsbeistand die Fähigkeit des Kindes, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen, beeinträchtigt hat.
Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat von dieser Möglichkeit in gewisser Form Gebrauch gemacht, allerdings entsprechen die Bestimmungen nicht unbedingt in vollem Umfang den Anforderungen der Richtlinie. So beschränken viele die Umstände, unter denen diese auf der Verhältnismäßigkeit basierende Ausnahmeregelung gilt, nicht in demselben Umfang wie in der Richtlinie. Insbesondere schreiben einige Mitgliedstaaten keine echte Beurteilung des Einzelfalls vor, bei der alle Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Stattdessen wenden sie die Möglichkeit der Ausnahmeregelung allein auf der Grundlage allgemeiner Kriterien wie der Schwere der Straftat an. Dies reicht nicht aus, um das Wohl des Kindes sicherzustellen, da im Zusammenhang mit der besonderen Schutzbedürftigkeit oder dem Reifegrad eines Kindes Umstände vorliegen könnten, die seine Fähigkeit, das Verfahren richtig zu verstehen und daran teilzunehmen, beeinträchtigen und daher gegen eine Ausnahme von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand sprechen würden, auch wenn bestimmte allgemeine Kriterien erfüllt sind.
Die Mitgliedstaaten dürfen auch nicht nur deshalb von der Sicherstellung der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand abweichen, weil der Rechtsbeistand nicht rechtzeitig zu einer bestimmten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung, wie etwa einer Befragung, erscheint, für die normalerweise eine Unterstützung sichergestellt werden muss. Nach Artikel 6 Absatz 7 der Richtlinie müssen die zuständigen Behörden in solchen Fällen die Handlung für eine angemessene Zeit verschieben, um das Eintreffen des Rechtsbeistands zu ermöglichen. Hat das Kind keinen Rechtsbeistand benannt, müssen die Behörden die Handlung verschieben, bis sie einen Rechtsbeistand für das Kind bestellt haben.
Wie bereits im Rahmen der Erörterung der Absätze 3 und 4 erwähnt, schreiben einige Mitgliedstaaten jedoch nicht unbedingt vor, dass ein Kind in allen in der Richtlinie aufgeführten Fällen von einem Rechtsbeistand unterstützt wird. Dies wirkt sich auch auf die Umsetzung von Artikel 6 Absatz 7 aus.
Hinsichtlich der auf Notwendigkeit basierenden vorübergehenden Ausnahmen von der Verpflichtung, die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand sicherzustellen, gestattet Artikel 6 Absatz 8 den Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium, aus zwingenden, in der Richtlinie genannten Gründen vorübergehend Ermittlungs- oder Beweiserhebungsmaßnahmen in Abwesenheit eines Rechtsbeistands durchzuführen. Dies gilt insbesondere, wenn dies zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person oder zur Sicherung wichtiger Beweise in Bezug auf eine schwere Straftat dringend erforderlich ist. Eine solche Ausnahme darf natürlich auch nur dann angewandt werden, wenn eine Beurteilung der besonderen Umstände des Einzelfalls, einschließlich einer etwaigen besonderen Schutzbedürftigkeit des Kindes, dies unter Berücksichtigung des Kindeswohls rechtfertigt. Wichtig ist, dass jede Entscheidung über die Anwendung einer solchen Ausnahmeregelung von einer Justizbehörde getroffen oder einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt.
Die große Mehrheit der Mitgliedstaaten sieht eine solche Ausnahmemöglichkeit vor, allerdings entsprechen die Bestimmungen nicht unbedingt in vollem Umfang den Anforderungen der Richtlinie. Einige sehen umfassendere Gründe für eine vorübergehende Ausnahmeregelung vor oder berücksichtigen nicht die in der Richtlinie festgelegte Anforderung des „Vorrangs“. Dies ist problematisch, da solche Ausnahmen von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand stets das Risiko bergen, dass das Kind seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen kann. Daher sollten diese Ausnahmen nur innerhalb strenger Grenzen angewendet werden. Insbesondere könnten sich Kinder versehentlich selbst belasten, entweder weil sie den Umfang ihres Rechts, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht vollständig verstanden haben oder weil sie sich eingeschüchtert und unter Druck geraten fühlen, auf Fragen antworten zu müssen.
3.6.Recht auf individuelle Begutachtung (Artikel 7)
In Strafverfahren gegen Kinder ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie individuell begutachtet werden, um ihre besonderen Bedürfnisse in Bezug auf Schutz, allgemeine und berufliche Bildung und soziale Integration zu ermitteln. Dies ist in Artikel 7 Absätze 1 und 2 vorgeschrieben. Wie in Absatz 2 dargelegt, sind bei der individuellen Begutachtung insbesondere der Persönlichkeit und dem Reifegrad des Kindes, seinem wirtschaftlichen, sozialen und familiären Hintergrund sowie möglichen spezifischen Schutzbedürftigkeiten wie Lern- oder Kommunikationsschwierigkeiten Rechnung zu tragen.
Die Ergebnisse der Begutachtung in Form von Hintergrundinformationen sollten niemals als eine Art inoffizielles „Beweismittel“ gegen die Kinder verwendet werden, sondern lediglich dazu dienen, gemäß Artikel 7 Absatz 4 festzustellen, ob und inwieweit sie während des Strafverfahrens besondere Maßnahmen benötigen, inwieweit sie strafrechtlich verantwortlich sind und ob eine bestimmte Strafe oder erzieherische Maßnahme angemessen ist.
Die nationalen Vorschriften über die Durchführung von individuellen Begutachtungen und deren Zweck entsprechen in mindestens der Hälfte der Mitgliedstaaten nicht den Anforderungen der Richtlinie. Hinsichtlich der Umsetzung des persönlichen Anwendungsbereichs des Rechts auf individuelle Begutachtung stellt sich ein Problem im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten, die nicht für alle Kinder eine individuelle Begutachtung vorschreiben, etwa bei Kindern über 17 Jahren, oder in den Mitgliedstaaten, die nicht in allen Arten von Fällen eine individuelle Begutachtung vorsehen, wie beispielsweise in den Fällen, in denen das Verfahren durch die regulären Strafverfahrensregeln und nicht durch kinderspezifische Vorschriften geregelt ist. Dies ist auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen. Darüber hinaus haben einige Mitgliedstaaten die individuelle Begutachtung in der Regel fakultativ und nicht obligatorisch ausgestaltet, sodass die Durchführung im Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt. In solchen Fällen besteht keine Rechtssicherheit, dass die individuelle Begutachtung immer dann durchgeführt wird, wenn dies nach der Richtlinie erforderlich ist, auch wenn nicht bindende Leitlinien die Staatsanwälte dazu anhalten, sich an die Grundsätze der Richtlinie zu halten. Außerdem ist in einigen Mitgliedstaaten der inhaltliche Anwendungsbereich der durchzuführenden Begutachtung stärker begrenzt als in der Richtlinie vorgesehen. Oft ist auch nicht geregelt, wie alle erforderlichen und relevanten Informationen in Fällen erhoben werden, in denen dies nicht bereits von anderen zuständigen Behörden, wie Kinderschutzdiensten, erfolgt ist.
Hinsichtlich des Zwecks der individuellen Begutachtung und ihrer Rolle bei der Entscheidungsfindung in Strafverfahren haben die Mitgliedstaaten häufig keine ausdrücklichen Bestimmungen im nationalen Recht getroffen. Wenn ein Zweck im nationalen Recht festgelegt ist, beschränkt er sich meist auf die Information über Entscheidungen über die Verurteilung. Werden die Ergebnisse einer individuellen Begutachtung nicht bei allen wesentlichen Entscheidungen berücksichtigt, die das Kind während des gesamten Verfahrens betreffen, ist ihre Funktion als zentrales Instrument zur Sicherstellung eines kindgerechten und am Wohl des Kindes orientierten Verfahrens stark begrenzt.
Damit die Ergebnisse der individuellen Begutachtung in der Praxis bereits im vorgerichtlichen Stadium in wesentliche Entscheidungen gegenüber dem Kind einfließen können, ist in Absatz 5 festgelegt, dass die Begutachtung in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens und vorbehaltlich der Regelungen in Absatz 6 spätestens vor der Vorlage der förmlichen Anklageschrift durchgeführt werden sollte. Nur in Ausnahmefällen, z. B. wenn das Kind inhaftiert ist und das Warten auf den Bericht über die individuelle Begutachtung die Haft unnötig verlängern würde, kann die Begutachtung erst zu Beginn der Verhandlung vor einem Gericht vorgelegt werden. In Erwägungsgrund 38 wird erläutert, dass die Angemessenheit und Wirksamkeit der vor der Durchführung einer individuellen Begutachtung ergriffenen Maßnahmen oder getroffenen Entscheidungen erneut geprüft werden könnten, wenn die individuelle Begutachtung vorliegt.
Die meisten Mitgliedstaaten schreiben zwar vor, dass die individuelle Begutachtung spätestens vor Anklageerhebung oder zumindest zu Beginn der Verhandlung vor einem Gericht vorliegen muss, in den meisten Umsetzungsmaßnahmen wird dieser frühestmögliche geeignete Zeitpunkt jedoch nicht näher angegeben.
Selbst wenn individuelle Begutachtungen in der frühestmöglichen geeigneten Phase durchgeführt werden, könnten diese unzureichend sein, denn nur sehr wenige Mitgliedstaaten schreiben ausdrücklich vor, dass das Kind und gegebenenfalls die Träger der elterlichen Verantwortung eng in die Begutachtung einbezogen werden oder dass die Begutachtung im Zuge des Strafverfahrens auf den neuesten Stand gebracht wird, wenn ein in Artikel 7 Absätze 7 und 8 vorgeschriebener Grund vorliegt. Darüber hinaus ist in einigen Mitgliedstaaten nicht wirksam geregelt, wer aus welchen Quellen die erforderlichen/relevanten Informationen in den Fällen erhebt, in denen nicht bereits ohne Weiteres von anderen zuständigen Behörden, wie Kinderschutzdiensten, Informationen über das Kind und dessen Umstände verfügbar sind. Dies wirkt sich auf die Einhaltung der Anforderung aus, dass individuelle Begutachtungen von qualifiziertem Personal durchgeführt werden müssen, wobei in diesen Mitgliedstaaten so weit wie möglich ein multidisziplinärer Ansatz verfolgt wird. Gemäß Artikel 7 Absatz 9 können die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zur Durchführung einer individuellen Begutachtung abweichen, wenn dies mit dem Kindeswohl vereinbar und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt ist, z. B. wenn das Kind in der jüngeren Vergangenheit bereits einer individuellen Begutachtung unterzogen wurde. Die meisten Mitgliedstaaten, die sich für diese Ausnahmemöglichkeit entschieden haben, haben diese zwar unter Einhaltung der Richtlinie umgesetzt, jedoch schreiben einige wenige gesetzlich für die Zwecke der Anwendung dieser Ausnahmeregelung keine Beurteilung des Einzelfalls vor.
3.7.Recht auf eine medizinische Untersuchung (Artikel 8)
Zum Schutz der Gesundheit und der persönlichen Unversehrtheit eines Kindes, dem die Freiheit entzogen wurde, sind die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diese Kinder das Recht auf eine wenig eingreifende und durch eine Fachkraft durchgeführte unverzügliche medizinische Untersuchung haben, die gemäß Absatz 3 entweder von Amts wegen oder auf Antrag des Kindes, seines Rechtsbeistands oder der Träger der elterlichen Verantwortung durchgeführt, schriftlich festgehalten (siehe Absatz 4) und erforderlichenfalls auf den neuesten Stand gebracht wird (siehe Absatz 5). Zweck einer solchen Untersuchung ist die Beurteilung der allgemeinen geistigen und körperlichen Verfassung des Kindes und insbesondere, wie in Absatz 2 dargelegt, die Feststellung, ob das Kind Befragungen, anderen Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen oder zulasten des Kindes ergriffenen oder geplanten Maßnahmen wie längerem Freiheitsentzug in der Untersuchungshaft gewachsen ist. Die Untersuchung ist auch erforderlich, um festzustellen, in welchen Fällen medizinische Versorgung geleistet werden muss (siehe Absatz 4).
Zwar ist in allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer medizinischen Untersuchung vorgeschrieben, wenn Kindern im Polizeigewahrsam oder in der Untersuchungshaft die Freiheit entzogen wird, doch müssen solche Untersuchungen nicht immer unverzüglich durchgeführt werden.
In vielen Rechtsordnungen ist auch nicht ausdrücklich festgelegt, dass die Ergebnisse einer medizinischen Untersuchung berücksichtigt werden müssen, um festzustellen, ob das Kind bestimmten zulasten des Kindes eingeleiteten Verfahrenshandlungen/Zwangsmaßnahmen gewachsen ist. Es liegt häufig im Ermessen der zuständigen Ermittlungsbehörden, ob sie zu diesem Zweck medizinische Unterlagen anfordern, was nicht den Anforderungen der Richtlinie entspricht.
3.8.Audiovisuelle Aufzeichnung der Befragung (Artikel 9)
Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, können den Inhalt von Befragungen, denen sie unterzogen werden, nicht immer verstehen. Um einen ausreichenden Schutz dieser Kinder sicherzustellen, sind die von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde während des Strafverfahrens durchgeführte Befragungen audiovisuell aufzuzeichnen, wenn dies, wie in Artikel 9 Absatz 1 dargelegt, im Einzelfall verhältnismäßig ist. Die für die Befragung zuständigen Behörden haben insbesondere zu berücksichtigen, ob ein Rechtsbeistand zugegen ist oder dem Kind die Freiheit entzogen ist. Sie müssen zudem sicherstellen, dass das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung ist.
Schreibt das nationale Recht eine solche Aufzeichnung nur auf der Grundlage bestimmter allgemeiner Kriterien vor und verlangt nicht, dass die besonderen Umstände des Falles berücksichtigt werden, z. B. ob das Kind eine geistige oder psychosoziale Behinderung hat, die eine audiovisuelle Aufzeichnung angemessen erscheinen lassen könnte, ist es zweifelhaft, ob die Umsetzung den Anforderungen der Richtlinie entspricht. Eine unzureichende technische Infrastruktur stellt keinen Rechtfertigungsgrund für eine Abweichung von den in der Richtlinie festgelegten Vorschriften für audiovisuelle Aufzeichnungen dar. Ein systembedingter Mangel an Investitionen in eine angemessene technische Infrastruktur kann nicht als außergewöhnliches, unüberwindbares technisches Problem angesehen werden, das eine Ausnahme von den Vorschriften der Richtlinie über audiovisuelle Aufzeichnungen rechtfertigen würde. Insgesamt wurden in zwei Dritteln der Mitgliedstaaten derartige Probleme bei der Umsetzung von Artikel 9 festgestellt.
3.9.Begrenzung des Freiheitsentzugs (Artikel 10)
Kinder sind in einer besonders schutzbedürftigen Lage, wenn ihnen die Freiheit entzogen worden ist, insbesondere in Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft. Jeder Freiheitsentzug birgt das Risiko einer Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung sowie ihrer erfolgreichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft. In der Richtlinie werden daher zwei wesentliche Grundsätze festgelegt, die von den zuständigen Behörden zu beachten sind, wenn sie einen Freiheitsentzug verhängen.
Der erste Grundsatz beinhaltet, dass der Freiheitsentzug eines Kindes in jeder Phase des Verfahrens auf den kürzesten angemessenen Zeitraum begrenzt werden muss, wobei dem Alter und der individuellen Situation des Kindes sowie den besonderen Umständen des Falles gebührend Rechnung zu tragen ist (Artikel 10 Absatz 1). Der zweite Grundsatz beinhaltet, dass Freiheitsentzug, insbesondere Haft, immer das letzte Mittel sein muss und dass Entscheidungen über die Verhängung von Untersuchungshaft auf einer begründeten Entscheidung beruhen und unverzüglich getroffen werden sowie einer regelmäßigen, in angemessenen Zeitabständen erfolgenden Überprüfung durch ein Gericht unterliegen müssen (Artikel 10 Absatz 2).
Mehr als ein Drittel aller Mitgliedstaaten haben weder den ersten noch den zweiten Grundsatz in vollem Umfang entsprechend den Anforderungen der Richtlinie umgesetzt. Dabei spielen wiederkehrende Probleme bei der Einhaltung der Richtlinie eine Rolle, darunter die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie und das allgemeine Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Anforderung in den nationalen Rechtsvorschriften vieler Mitgliedstaaten für die zuständigen Behörden, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Kindes und des Falles gründliche Beurteilungen des Einzelfalls vorzunehmen, insbesondere um die potenzielle Eignung alternativer Maßnahmen festzulegen.
3.10.Alternative Maßnahmen (Artikel 11)
Gemäß Artikel 11 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass bei Kindern nach Möglichkeit Maßnahmen angewendet werden, die eine Alternative zur Haft darstellen, anstatt ihnen die Freiheit zu entziehen. Diese alternativen Maßnahmen könnten Folgendes umfassen: ein an das Kind gerichtetes Verbot, sich an bestimmten Orten aufzuhalten, seine Verpflichtung, an einem bestimmten Ort zu wohnen, Einschränkungen im Hinblick auf den Kontakt zu bestimmten Personen, die Verpflichtung, sich bei den zuständigen Behörden zu melden, die Teilnahme an Erziehungsmaßnahmen oder, abhängig von der Einwilligung des Kindes, die Teilnahme an Heilbehandlungen oder Entziehungskuren (siehe Erwägungsgrund 46).
Die meisten Mitgliedstaaten schreiben solche alternativen Maßnahmen vor, aber die Art der Maßnahmen sind in den einzelnen Mitgliedstaaten und sogar in den Regionen der Mitgliedstaaten unterschiedlich. Nur einige wenige Mitgliedstaaten garantieren im nationalen Recht nicht die Verfügbarkeit von mehr als einer alternativen Maßnahme oder garantieren die Alternativen nicht für alle Kinder.
In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass in der Richtlinie alternative Maßnahmen im Plural aufgeführt sind, was bedeutet, dass angesichts der großen Bandbreite möglicher Maßnahmen, aus denen die Mitgliedstaaten grundsätzlich auswählen können, mehr als eine potenzielle alternative Maßnahme gesetzlich verfügbar sein muss. Die größte Herausforderung, um sicherzustellen, dass die Anwendung solcher alternativen Maßnahmen tatsächlich zugunsten der Kinder erfolgt, liegt jedoch in der gerichtlichen Praxis, deren Ergebnisse je nach Mitgliedstaat unterschiedlich sind.
3.11.Besondere Behandlung bei Freiheitsentzug (Artikel 12)
Nach Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie müssen inhaftierte Kinder von Erwachsenen getrennt untergebracht werden, es sei denn, dies entspricht nicht dem Kindeswohl. In Artikel 12 Absatz 2 ist gleichfalls vorgeschrieben, dass Kinder, die sich in Polizeigewahrsam befinden, von Erwachsenen getrennt unterzubringen sind, es sei denn, dies entspricht nicht dem Kindeswohl oder ist in der Praxis ausnahmsweise nicht möglich. Die letztgenannte Ausnahmemöglichkeit kann in dünn besiedelten Gebieten zum Tragen kommen. in denen die Polizeidienststellen nicht mit separaten Einrichtungen für die Unterbringung von Kindern ausgestattet sind, da sie nur sehr wenige Fälle betreffen. Unter diesen Umständen muss die Unterbringung von Kindern zusammen mit Erwachsenen jedoch in einer Weise erfolgen, die mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
Diese Grundsätze werden im nationalen Recht von etwa einem Drittel der Mitgliedstaaten nicht vollständig eingehalten. Was die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung betrifft, ist hier der Unterschied zwischen den Vorschriften über die Trennung im Polizeigewahrsam und in der Untersuchungshaft bemerkenswert. Für die Untersuchungshaft wird in der Richtlinie vorgeschrieben, dass eine gemeinsame Unterbringung nur dann erfolgen darf, wenn es tatsächlich dem Kindeswohl entspricht, sie nicht getrennt von Erwachsenen unterzubringen. Strukturelle Probleme bei der Anpassung der Infrastruktur für die Haft stellen keine Rechtfertigung für eine Abweichung von dieser Regel dar.
Es gibt zudem eine Vielzahl von Fällen, in denen die Bemühungen der Mitgliedstaaten, Artikel 12 Absätze 3 und 4 umzusetzen, dazu geführt haben, dass das Recht des Kindes, grundsätzlich von Erwachsenen, einschließlich junger Erwachsener, die gerade 18 Jahre geworden sind, getrennt untergebracht zu werden, weniger gut eingehalten wird.
In den Absätzen 3 und 4 wird die Ausweitung der stärker unterstützenden und schützenden Haftregelung für Kinder auf diejenigen geregelt, die während ihrer Haftzeit volljährig werden (mindestens bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres). In einigen Mitgliedstaaten besteht das Problem darin, dass eine Ausweitung der gemeinsamen Unterbringung junger Erwachsener mit Kindern faktisch standardmäßig vorgesehen ist, anstatt von einer Beurteilung im Einzelfall abhängig gemacht zu werden, bei der das Kindeswohl der Kinder berücksichtigt wird, die mit den jungen Erwachsenen zusammen in Haft sind. In anderen Mitgliedstaaten ist das nationale Recht so ausgestaltet, dass junge Erwachsene getrennt von Kindern und anderen Erwachsenen untergebracht werden, aber es besteht weiterhin Rechtsunsicherheit hinsichtlich dieser Auslegung.
Neben der von Erwachsenen getrennten Unterbringung sind weitere besondere Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen erforderlich, um das Wohlergehen und die Fähigkeit der Kinder zur Wiedereingliederung zu gewährleisten, insbesondere wenn sie sich in Untersuchungshaft befinden. Gemäß Artikel 12 Absatz 5 sind die Mitgliedstaaten daher verpflichtet, im Hinblick auf Kinder in Untersuchungshaft geeignete Vorkehrungen in fünf wesentlichen Bereichen zu treffen, die unter anderem die wirksame Ausübung des Rechts auf Familienleben durch regelmäßige Kontakte in Form von Besuchen und Schriftverkehr mit ihren Eltern, ihrer Familie und ihren Freunden sicherstellen. Diese Vorkehrungen sollten sich auch auf Fälle des Polizeigewahrsams und, sofern dies im nationalen Recht vorgesehen ist, andere Situationen des Freiheitsentzugs erstrecken, soweit dies angemessen ist.
Alle Mitgliedstaaten haben Maßnahmen, einschließlich Rechtsvorschriften, verabschiedet, die zumindest bis zu einem gewissen Grad insbesondere die Gesundheit von Kindern im Freiheitsentzug gewährleisten sollen. Andere Anforderungen wie die Gewährleistung der Achtung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Kindern werden hauptsächlich durch allgemeine Bestimmungen zum Schutz der Religionsfreiheit umgesetzt. Viele Mitgliedstaaten teilten auch allgemeine Bestimmungen des nationalen Rechts mit, in denen das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung unter Einhaltung der geltenden Menschenrechtsnormen verankert ist.
In vielen Mitgliedstaaten reichen die mitgeteilten Umsetzungsmaßnahmen (teilweise) aus einem der folgenden Gründe nicht aus, um die in der Richtlinie vorgesehenen Standards zu erreichen: die Maßnahmen sind nicht spezifisch genug oder können nicht als wirksam angesehen werden, um die in der Richtlinie festgelegten Rechte und Standards sicherzustellen, sie sind nicht ausreichend, um alle in der Richtlinie genannten Hauptziele oder Formen des Freiheitsentzugs im erforderlichen Umfang abzudecken, oder sie erfassen nicht alle Kinder, denen die Freiheit entzogen wurde (Auswirkung einer nicht richtlinienkonformen Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie). Mehrere konsultierte Mitgliedstaaten wiesen auch auf zusätzliche praktische Durchführungsmaßnahmen hin, wie die Einrichtung von Unterstützungs- und Bildungsprogrammen, die auf freiwilliger Basis regelmäßig oder ad hoc von den einschlägigen Sozial- oder Bildungsdiensten angeboten werden, und einige betonten die individuelle Behandlung für jedes Kind. Insgesamt wurde jedoch festgestellt, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten keine vollständig richtlinienkonforme Umsetzung von Artikel 12 Absatz 5 nachweisen konnte.
Ebenso hat es etwa die Hälfte der Mitgliedstaaten versäumt, spezifische Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Kinder, denen die Freiheit entzogen ist, so bald wie möglich den Träger der elterlichen Verantwortung treffen können, worum sie sich gemäß Artikel 12 Absatz 6 der Richtlinie zumindest bemühen müssen.
3.12.Zügige und sorgfältige Bearbeitung der Fälle (Artikel 13)
Nach Artikel 13 Absätze 1 und 2 der Richtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Strafverfahren, an denen Kinder beteiligt sind, mit Vorrang und mit der gebotenen Sorgfalt bearbeitet werden und dass die Kinder selbst immer auf eine Art und Weise behandelt werden, die ihre Würde schützt und die ihrem Alter, ihrem Reifegrad und ihrem Verständnis entspricht und jegliche besonderen Bedürfnissen einschließlich etwaiger Kommunikationsschwierigkeiten, die sie möglicherweise haben, berücksichtigt.
Wie im Zusammenhang mit spezifischen Maßnahmen für Kinder, denen die Freiheit entzogen wurde, sind die meisten Mitgliedstaaten der Auffassung, dass diese Anforderungen durch allgemeine Bestimmungen des nationalen Rechts, wie etwa Verfassungsgrundsätze, die die Achtung der Würde des Menschen verlangen, sowie geltende Menschenrechtsnormen, einschließlich des von allen EU-Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, ausreichend umgesetzt werden.
3.13.Recht auf Schutz der Privatsphäre (Artikel 14)
Der Schutz der Privatsphäre von Kindern während des Strafverfahrens, einschließlich ihrer personenbezogenen Daten in der Strafakte, ist so gut wie möglich sicherzustellen, um unter anderem eine Stigmatisierung als Hindernis für ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu vermeiden. Eine entsprechende Anforderung zum Schutz von Kindern ist daher in Artikel 14 Absatz 1 der Richtlinie enthalten.
In Artikel 14 Absatz 2 ist vorgeschrieben, dass Gerichtsverhandlungen, an denen Kinder beteiligt sind, grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden oder dass Gerichte oder Richter den Ausschluss der Öffentlichkeit anordnen können. In Absatz 3 wird hinzugefügt, dass angemessene Maßnahmen ergriffen werden müssen, um sicherzustellen, dass audiovisuelle Aufzeichnungen von Befragungen nicht öffentlich verbreitet werden.
Bei der Umsetzung dieser beiden Bestimmungen wurden nur in einigen wenigen Mitgliedstaaten geringfügige Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie festgestellt. In vielen Mitgliedstaaten scheint sich der Anwendungsbereich der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung des allgemeinen Rechts auf Schutz der Privatsphäre von Kindern gemäß Artikel 14 Absatz 1 jedoch nicht auf Kinder zu erstrecken, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben, aber von den zuständigen Behörden noch nicht offiziell als Verdächtige oder beschuldigte Personen (oder gemäß den entsprechenden Begriffen in den Mitgliedstaaten) bezeichnet worden sind. Dies ist auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen.
In jedem Fall müssen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 14 Absatz 4 und unter Achtung der Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Freiheit und Pluralität der Medien auch den Medien nahelegen, Maßnahmen zur Selbstregulierung zu ergreifen, um die Ziele der Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre zu erreichen.
Die meisten Mitgliedstaaten haben daher keine offiziellen Umsetzungsmaßnahmen für diese Bestimmung mitgeteilt. In der Antwort auf die Konsultation durch die Kommission zu praktischen Durchführungsmaßnahmen gab jedoch mehr als ein Drittel der Mitgliedstaaten an, dass die Medien zumindest teilweise an Rechtsvorschriften gebunden sind, die die Verbreitung personenbezogener Informationen, Bilder oder Aufzeichnungen von Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, verbieten. Ergänzt wird dies durch Selbstregulierung. Andere Mitgliedstaaten gaben an, dass die Medien in ihrer Rechtsordnung nach Leitlinien arbeiten, die von speziellen nationalen Verwaltungsstellen herausgegeben wurden, und/oder nach selbst auferlegten und selbst überwachten Ethikkodizes ohne staatliche Intervention.
3.14.Recht des Kindes auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während des Verfahrens (Artikel 15)
Mit dem in Artikel 15 Absatz 1 der Richtlinie verankerten Recht des Kindes auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während der Gerichtsverhandlung sowie gemäß Absatz 4 auch in anderen Phasen des Verfahrens, wenn dies dem Kindeswohl dient und das Strafverfahren nicht beeinträchtigt, wird eine ausschließlich kinderspezifische Verfahrensgarantie eingeführt. Ist mehr als eine Person Träger der elterlichen Verantwortung für das Kind, sollte das Kind, wie in Erwägungsgrund 57 dargelegt, das Recht haben, von allen diesen Personen begleitet zu werden, es sei denn, dies ist in der Praxis trotz angemessener Anstrengungen der zuständigen Behörden nicht möglich.
Die meisten Mitgliedstaaten haben dieses Recht eingeführt, wenngleich einige wenige Mitgliedstaaten seinen Anwendungsbereich durch Ausnahmemöglichkeiten einschränken, die in der Richtlinie nicht vorgesehen sind. Dies ist unter anderem auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen.
Die meisten Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie traten jedoch bei der Umsetzung der Vorschriften über die Benennung eines anderen geeigneten Erwachsenen gemäß den Absätzen 2 und 3 auf, die mit den in Artikel 5 der Richtlinie festgelegten Vorschriften vergleichbar sind.
In einigen Mitgliedstaaten ist es dem Kind nicht gestattet, den anderen geeigneten Erwachsenen in erster Instanz selbst zu benennen. In einigen anderen Mitgliedstaaten können die zuständigen Behörden nach eigenem Ermessen die Träger der elterlichen Verantwortung vom Verfahren ausschließen, ohne notwendigerweise sicherstellen zu müssen, dass ein anderer geeigneter Erwachsener an ihrer Stelle benannt wird, der diese ersetzt. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass eine nicht auch förmlich als tatsächlicher Vormund für das Kind bestellte Person, etwa ein Lehrer oder ein Familienmitglied, die rechtlich nicht die elterliche Verantwortung für das Kind trägt, nicht in der Begriffsbestimmung für „anderer geeigneter Erwachsener“ aufgenommen wurde.
Insgesamt können Probleme bei der richtlinienkonformen Umsetzung des Rechts auf Begleitung schwerwiegende negative Auswirkungen auf das tatsächliche Verständnis des Kindes mit Blick auf das Strafverfahren und seine Fähigkeit, seine Verfahrensrechte wahrzunehmen, haben. Insbesondere Kinder, die gemäß Artikel 6 Absatz 6 oder Artikel 6 Absatz 8 der Richtlinie nicht von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, könnten gänzlich ohne die beratende und unterstützende Anwesenheit eines geeigneten Erwachsenen bleiben.
3.15.Recht von Kindern, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen und daran teilzunehmen (Artikel 16)
In Artikel 16 Absatz 1 wird auf das Recht von Kindern, bei ihrer Verhandlung anwesend zu sein, hingewiesen. Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten jedoch auch alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um ihnen eine wirksame Teilnahme an der Verhandlung zu ermöglichen, einschließlich der Möglichkeit, gehört zu werden und ihre Meinung zu äußern. Wie in Erwägungsgrund 60 vorgeschlagen, sollten die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Anwesenheit der betroffenen Kinder während der Verhandlung zu fördern, etwa indem sie persönlich vorgeladen werden und einem Träger der elterlichen Verantwortung oder einem anderen geeigneten Erwachsenen eine Abschrift der Vorladung übermittelt wird.
Von den wenigen Mitgliedstaaten, deren nationales Recht diese Anforderungen nicht vollständig erfüllt, sehen zwei vor, dass in bestimmten Fällen zumindest ein Teil der Verhandlung ohne körperliche Anwesenheit des Kindes durchgeführt werden kann.
In Artikel 16 Absatz 2 ist ferner festgelegt, dass Kindern, die in Abwesenheit verurteilt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung, die die Prüfung von (neuen) Beweismitteln ermöglicht, oder das Recht auf Einlegung eines sonstigen wirksamen Rechtsbehelfs gemäß der Richtlinie (EU) 2016/343 und unter den darin festgelegten Voraussetzungen gewährt werden muss. Im Allgemeinen gelten die Bestimmungen des nationalen Rechts, die solche Angelegenheiten regeln, nicht speziell für Kinder, sondern für alle Verdächtigen und beschuldigten Personen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in mindestens sechs Mitgliedstaaten, gegen die Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurden, bei der Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie (EU) 2016/343, vor allem Artikel 8 über das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung und Artikel 9 über das Recht auf eine neue Verhandlung, Kernpunkte nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sind.
3.16.Recht auf Prozesskostenhilfe (Artikel 18)
Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, haben wie Erwachsene Anspruch auf Prozesskostenhilfe gemäß der Richtlinie (EU) 2016/1919. Für Kinder wird in Artikel 18 jedoch ausdrücklich vorgeschrieben, dass das nationale Recht in Bezug auf die Prozesskostenhilfe nicht nur das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand garantiert, das allen Verdächtigen und beschuldigten Personen gewährt wird, sondern auch die wirksame Ausübung des Rechts, tatsächlich von einem Rechtsbeistand unterstützt zu werden, gemäß Artikel 6 der vorliegenden Richtlinie.
Probleme im Zusammenhang mit der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 betreffen auch die Gewährung von Prozesskostenhilfe für Kinder. Die Mitgliedstaaten, die die Richtlinie (EU) 2016/1919 nicht ordnungsgemäß umgesetzt haben, werden automatisch auch als Mitgliedstaaten angesehen, die Artikel 18 der hier behandelten Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt haben, es sei denn, das Umsetzungsproblem betrifft nur erwachsene Verdächtige oder beschuldigte Personen, da für die Gewährung von Prozesskostenhilfe für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, andere Bestimmungen gelten, die den Anforderungen der Richtlinie (EU) 2016/1919 entsprechen. Was die Einhaltung der Richtlinie (EU) 2016/1919 betrifft, wurden die in Artikel 4 Absatz 5 festgelegten Vorschriften über den Zeitpunkt der Gewährung von Prozesskostenhilfe von fast allen Mitgliedstaaten nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt. Da die betroffenen Mitgliedstaaten dieselben Vorschriften über Prozesskostenhilfe für Kinder anwenden wie für Erwachsene, stellen diese Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie (EU) 2016/1919 auch Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Bestimmungen der hier behandelten Richtlinie dar.
Wie bereits im Zusammenhang mit der Umsetzung von Artikel 6 der Richtlinie erwähnt, ist nicht in allen Mitgliedstaaten die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, einschließlich der Benennung eines Rechtsbeistands im Wege der Prozesskostenhilfe, ab dem in der Richtlinie vorgesehenen frühestmöglichen Zeitpunkt vorgeschrieben. Dies ist unter anderem auf die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zurückzuführen.
In einigen Mitgliedstaaten müssen Kinder, die Prozesskostenhilfe erhalten, diese Kosten außerdem unter bestimmten Umständen zurückerstatten, obwohl die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand obligatorisch ist. Wie im Bericht über die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 hervorgehoben wird, ermöglicht die Hälfte der Mitgliedstaaten im Allgemeinen die Rückzahlung der Prozesskostenhilfe im Falle einer Verurteilung oder wenn das Strafverfahren aufgrund von Umständen eingestellt wird, die die Person nicht entlasten, wie z. B. Ablauf der Verjährungsfrist. In einigen Fällen erfolgt eine solche Rückzahlung unabhängig von der wirtschaftlichen/finanziellen Lage der betroffenen Personen.
3.17.Rechtsbehelfe (Artikel 19)
Das in Artikel 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist ein grundlegendes Verfahrensrecht. In Artikel 19 ist daher vorgeschrieben, dass Kindern bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht. Wie diese Rechtsbehelfe ausgestaltet sind, ist eine Frage der Verfahrensautonomie. Diese Bestimmung wurde bei der Umsetzung der Richtlinie in sehr hohem Maße eingehalten. Alle Mitgliedstaaten verfügen zumindest über irgendeine Form von Rechtsbehelfen für den Fall, dass die Rechte eines Kindes nach der Richtlinie verletzt werden.
3.18.Schulung (Artikel 20)
Eine wirksame und kontinuierliche Schulung der Berufsangehörigen, die in Bereichen wie Rechte von Kindern, geeignete Befragungsmethoden, Kinderpsychologie und Kommunikation in kindgerechter Sprache in Strafverfahren mit Kindern zu tun haben, ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass die Richtlinie in einer Weise umgesetzt und angewendet wird, die ihren Anforderungen und Zielen entspricht. In Artikel 20 werden daher die Anforderungen für eine solche Schulung für verschiedene wichtige Akteure festgelegt. Bei der Umsetzung dieser Anforderungen gibt es große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.
Gemäß Absatz 1 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass das Personal sowohl der Strafverfolgungsbehörden als auch der Hafteinrichtungen, die Fälle mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, dem Umfang ihres Kontakts mit Kindern angemessene spezifische Schulungen erhalten. Das Fehlen eines gut fundierten Ausbildungsrahmens, der in der Praxis Qualitätskontrollmechanismen unterliegt, trägt jedoch in vielen Mitgliedstaaten zu Problemen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie bei. Einige Mitgliedstaaten haben die Ausbildungsanforderungen der Richtlinie nur für das Personal der Strafverfolgungs- oder nur für jenes der Strafvollzugsbehörden umgesetzt. In vielen Fällen ist die Teilnahme an einschlägigen Schulungen freiwillig. Auch bei der Häufigkeit der angebotenen Schulungen bestehen offenbar erhebliche Unterschiede. Im Rahmen der Konsultation bestätigten einige Mitgliedstaaten, dass die Schulungen nur ad hoc, basierend auf internen Bedarfsbewertungen, durchgeführt werden, während andere regelmäßige Schulungszyklen eingerichtet haben. Dies wurde auch von der Agentur für Grundrechte hervorgehoben. Die konsultierten Interessenträger weisen außerdem auf mögliche Mängel bei der Qualität der angebotenen Schulungen hin. In Bezug auf Richter und Staatsanwälte, die Strafverfahren mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Absatz 2 zumindest geeignete Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass sie besondere Sachkunde oder tatsächlichen Zugang zu spezifischen Schulungen haben.
Solche „geeigneten Maßnahmen“ sind nicht notwendigerweise auf gesetzgeberische Maßnahmen beschränkt und haben in jedem Fall die Unabhängigkeit der Justiz und die Unterschiede in der Organisation der Justizsysteme der Mitgliedstaaten sowie die Rolle derjenigen, die für die Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten zuständig sind, wie etwa unabhängige nationale Einrichtungen für die justizielle Aus- und Fortbildung, zu berücksichtigen. Die meisten Mitgliedstaaten, in denen Rechtsvorschriften für die Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten bestehen, haben diese Vorschriften daher sehr allgemein gehalten und auf zusätzliche praktische Durchführungsmaßnahmen hingewiesen, einschließlich Maßnahmen unabhängiger Stellen für die Aus- und Fortbildung und Selbstregulierung der Justizberufe.
In den Mitgliedstaaten, in denen keine gesetzlichen Bestimmungen über die Weiterbildung von Staatsanwälten und Richtern bestehen, gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Durchführungsrahmen, die hauptsächlich von praktischen Durchführungsmaßnahmen abhängen. Im Rahmen der Konsultation gaben zwei Mitgliedstaaten an, dass in ihrer Rechtsordnung mit speziellen Jugendgerichten und Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet wird. Nur Richter und Staatsanwälte, die Fachwissen durch eine Schulung in den entsprechenden Weiterbildungseinrichtungen für Richter und Staatsanwälte erworben haben, können in diese Positionen berufen werden. Darüber hinaus gibt es Mitgliedstaaten, in denen spezifische Weiterbildungsmaßnahmen von speziellen Weiterbildungseinrichtungen angeboten werden, allerdings offenbar nur auf freiwilliger Basis, zumindest für einige betroffene Angehörige der Rechtsberufe. Dies ist nicht unbedingt dafür ausreichend, dass alle betroffenen Personen tatsächlich eine spezielle Weiterbildung erhalten.
Gemäß Absatz 3 müssen zumindest auch geeignete Maßnahmen zur Förderung solcher spezieller Weiterbildungsmaßnahmen für Rechtsanwälte, die Strafverfahren mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, ergriffen werden, wobei natürlich die Unabhängigkeit der Organe der Rechtspflege und die Rolle derjenigen, die für die Weiterbildung von Rechtsanwälten zuständig sind, wie etwa der nationalen Rechtsanwaltskammern, gebührend zu beachten sind.
Im Rahmen der Konsultation gaben einige Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang an, dass sie den nationalen Rechtsanwaltskammern finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um die angemessene Weiterbildung von Rechtsanwälten in kindgerechten Justizmethoden zu erleichtern, und/oder von Rechtsanwälten, die in die Liste der Prozesskostenhilfeanwälte für Kinder aufgenommen werden möchten, eine spezielle Weiterbildung verlangen. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten gab jedoch an, dass die Weiterbildung in ihrer Rechtsordnung vollständig von den nationalen Rechtsanwaltskammern geregelt und angeboten wird und der Staat nicht in diese Angelegenheit eingreift.
Schließlich schreibt Absatz 4 vor, dass die Mitgliedstaaten Initiativen fördern, die ermöglichen, dass diejenigen, die Kindern Unterstützung leisten oder Wiedergutmachungsdienste zur Verfügung stellen, eine angemessene Schulung erhalten und berufliche Verhaltensregeln in Bezug auf Unvoreingenommenheit, Respekt und Professionalität beachten. Dies ist durch öffentliche Stellen oder durch die Finanzierung von Organisationen zur Unterstützung von Kindern zu erreichen.
Einige Mitgliedstaaten machten Angaben zu praktischen Durchführungsmaßnahmen und bestehenden Strukturen zur Förderung der Weiterbildung von Angehörigen der Rechtsberufe im Bereich der Unterstützung von Kindern und der Wiedergutmachungsdienste. Zu den ergriffenen Maßnahmen gehören unter anderem: Einrichtung spezieller Weiterbildungseinrichtungen/-programme; Bereitstellung finanzieller Mitteln für Organisationen der Zivilgesellschaft, die einschlägige Schulungen und Beratungen anbieten; Verpflichtung für alle Fachleute, die mit Kindern arbeiten, im Rahmen ihrer beruflichen Qualifikation eine Grundausbildung über die Rechte des Kindes zu absolvieren und die Öffnung staatlich finanzierter Schulungen für Angehörige der Justiz für andere Berufe, insbesondere für Bewährungshelfer und Berufsangehörige, die Mediationsverfahren durchführen.
3.19.Datenerhebung (Artikel 21)
Zur Überwachung und Bewertung der Wirksamkeit dieser Richtlinie ist die Erhebung relevanter Daten erforderlich. Gemäß Artikel 21 mussten die Mitgliedstaaten der Kommission daher bis zum 11. Juni 2021 verfügbare Daten übermitteln, aus denen hervorgeht, wie die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte umgesetzt worden sind. Im Anschluss müssen sie dies alle drei Jahre wiederholen.
Entsprechend Erwägungsgrund 64 gehören zu diesen Daten sowohl die von Justiz- und Strafverfolgungsbehörden erfassten Daten als auch – soweit möglich – die von Gesundheits- und Sozialfürsorgediensten zusammengestellten Verwaltungsdaten in Bezug auf die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte, insbesondere die Zahl der Kinder, die Zugang zu einem Rechtsbeistand erhielten, die Zahl der durchgeführten individuellen Begutachtungen, die Zahl der audiovisuell aufgezeichneten Befragungen und die Zahl der Kinder, denen die Freiheit entzogen worden ist.
Die Daten wurden von mehr als zwei Dritteln der Mitgliedstaaten übermittelt. Doch auch wenn Daten übermittelt wurden, waren sie selten so umfassend wie in der Richtlinie vorgesehen. Die Mitgliedstaaten sollten daher ihre Datenerhebungsverfahren so weit wie möglich an die Richtlinie anpassen.
3.20.Kosten (Artikel 22)
Schließlich regelt die Richtlinie, wie die zusätzlichen Verfahrenskosten aufgeteilt werden, die sich aus der Anwendung des Rechts auf individuelle Begutachtung gemäß Artikel 7, des Rechts auf eine medizinische Untersuchung gemäß Artikel 8 und der audiovisuellen Aufzeichnung der Befragung gemäß Artikel 9 der Richtlinie ergeben. Gemäß Artikel 22 werden diese Kosten unabhängig vom Verfahrensausgang stets von den Mitgliedstaaten getragen, mit Ausnahme der Kosten, die sich aus der Anwendung des Rechts auf eine medizinische Untersuchung ergeben, wenn diese durch eine Krankenversicherung gedeckt sind.
In einigen wenigen Mitgliedstaaten ist jedoch nicht ausdrücklich sichergestellt, dass der Staat diese Kosten trägt, während in anderen Mitgliedstaaten das nationale Recht tatsächlich unmittelbar festlegt, dass zumindest ein Teil der Kosten vom Kind zu tragen ist, entweder im Allgemeinen oder zumindest in Fällen, in denen das Kind für schuldig befunden wird. Dies stellt eine unzulässige finanzielle Belastung für Kinder und letztlich für die Träger der elterlichen Verantwortung in diesen Mitgliedstaaten dar und ist ein Problem im Zusammenhang mit der Einhaltung der Richtlinie.
3.21.Umsetzung (Artikel 24)
Gemäß Artikel 24 Absatz 1 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie zu erlassen und die Kommission davon in Kenntnis zu setzen. Erlassen die Mitgliedstaaten diese Vorschriften, müssen sie allerdings in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf die Richtlinie Bezug nehmen. Eine solche Bezugnahme wird auch als „Bezugsklausel“ bezeichnet. Sie soll eine ausreichende Publizität der Umsetzungsmaßnahmen sicherstellen und es den betroffenen Personen ermöglichen, den Umfang ihrer Rechte und Pflichten in dem besonderen, in nationales Recht umgesetzten, unionsrechtlich geregelten Bereich zu erkennen.
Die Mitgliedstaaten können selbst entscheiden, wie diese Bezugnahme erfolgt, solange sie eine spezifische Umsetzungsmaßnahme („acte positif de transposition“) erlassen, in der ausdrücklich auf die Richtlinie Bezug genommen wird. Insbesondere bei bereits bestehenden Rechtsvorschriften könnte es sich beispielsweise um einen spezifischen Rechtsakt handeln, der im Amtsblatt des Mitgliedstaats veröffentlicht wird und in dem die bereits bestehenden Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, mit denen der betreffende Mitgliedstaat die Richtlinie umgesetzt hat, unmissverständlich kenntlich gemacht werden. Es sind also nicht notwendigerweise Änderungen der Rechtsvorschriften erforderlich. Wird jedoch keine Maßnahme ergriffen, um eine Bezugnahme auf die Richtlinie sicherzustellen, können die betroffenen Maßnahmen von der Kommission als Umsetzungsmaßnahmen abgelehnt werden.
Zunächst haben nur drei Mitgliedstaaten die Bezugsklausel der Richtlinie vollständig umgesetzt. Die meisten anderen Mitgliedstaaten sind dieser Anforderung nur hinsichtlich neuer Maßnahmen nachgekommen, die zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden, und nicht hinsichtlich bereits bestehender Rechtsvorschriften. Einige wenige Mitgliedstaaten hingegen haben diese Anforderung vollständig nicht umgesetzt. Diese mangelhafte Umsetzung der Bezugsklausel wurde in Vertragsverletzungsverfahren gegen die 22 betroffenen Mitgliedstaaten geltend gemacht.
Am 30. April 2024 schlug die Kommission nach Gesprächen mit den Mitgliedstaaten eine einjährige Testphase vor, in der die amtliche Veröffentlichung der gemäß der Bezugsklausel erforderlichen nationalen Umsetzungsmaßnahmen über EUR-Lex sichergestellt wird. Am Ende der Testphase wird die Kommission die Ergebnisse und die Praktiken der Mitgliedstaaten bewerten. Wird festgestellt, dass die Testphase nicht die erforderlichen Ergebnisse erbracht hat, behält sich die Kommission das Recht vor, die Durchsetzung der sich aus den Bezugsklauseln ergebenden Verpflichtungen wieder aufzunehmen. In der Zwischenzeit werden Beschwerden in laufenden Vorverfahren oder Anfragen betreffend die Erfüllung der Anforderungen der Bezugsklauseln nicht (weiter)verfolgt, wenn die Mitgliedstaaten der Veröffentlichung von Hyperlinks und/oder Dokumenten direkt auf EUR-Lex zugestimmt haben.
Trotz der eindeutigen Vorteile der EUR-Lex-Lösung in Bezug auf die Zugänglichkeit haben die Mitgliedstaaten das Recht, sich gegen diese Veröffentlichungsmethode zu entscheiden, wenn sie sich verpflichten, in ihren nationalen Umsetzungsmaßnahmen systematisch und direkt auf die Richtlinien zu verweisen oder entsprechende nationale amtliche Bekanntmachungen zu veröffentlichen im Hinblick auf nationale Rechtsvorschriften, die vor oder nach Annahme der jeweiligen umzusetzenden Richtlinie erlassen wurden.
4.ANWENDUNG DES ARTIKELS 6 DER RICHTLINIE
Neben der allgemeinen Bewertung der Umsetzung von Artikel 6 der Richtlinie hat sich die Kommission auch zur Berichterstattung über die Anwendung dieser Bestimmung verpflichtet. Hierzu hat die Kommission, wie in der Einleitung zu diesem Bericht erwähnt, die Mitgliedstaaten konsultiert und sie gebeten, relevante Informationen und Statistiken vorzulegen. Die Mitgliedstaaten wurden gebeten, Informationen/Daten zu ihrer Praxis/ihren praktischen Regelungen in Bezug auf folgende Aspekte vorzulegen:
a)das Recht auf ein Treffen mit einem Rechtsbeistand vor der Befragung gemäß Absatz 4 Buchstabe a
b)die Vorschriften über die Vertraulichkeit der Kommunikation gemäß Absatz 4 Buchstabe a und Absatz 5
c)die Möglichkeit der auf der Verhältnismäßigkeit basierenden Ausnahmeregelung gemäß Absatz 6 und die vorübergehende Ausnahmeregelung gemäß Absatz 8
d)die Vorschriften über die Verschiebung der Befragung gemäß Absatz 7
e)einschlägige Rechtsprechung
Es sind folgende Rückmeldungen eingegangen:
Erstens gaben alle Mitgliedstaaten bis auf zwei hinsichtlich des Rechts, sich vor der Befragung mit einem Rechtsbeistand zu treffen und ihn zu konsultieren, an, dass in ihrem Recht keine Mindest-/Höchstzeit für solche Konsultationen festgelegt ist. Die meisten Mitgliedstaaten geben an, dass Kindern und ihren Rechtsbeiständen in der Praxis so viel Zeit wie nötig eingeräumt wird, sofern der Umfang angemessen ist. In den meisten Fällen dauern diese Konsultationen den Berichten zufolge etwa 30 Minuten.
In einigen Mitgliedstaaten sind die Konsultationen jedoch grundsätzlich auf 30 Minuten begrenzt und können nur auf begründeten Antrag verlängert werden. Regelungen, die eine solche allgemeine zeitliche Beschränkung für die Konsultation von Kindern mit ihrem Rechtsbeistand festlegen, sind nicht von vornherein mit der Richtlinie unvereinbar. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass einem Antrag auf Verlängerung der beschränkten Zeit in der Praxis immer dann stattgegeben wird, wenn dies zur Wahrung eines fairen Verfahrens erforderlich ist, insbesondere wenn ein Kind möglicherweise mehr Zeit mit seinem Rechtsbeistand benötigt, beispielsweise wegen bestehender Kommunikationsschwierigkeiten.
Bei einigen Mitgliedstaaten geht aus den übermittelten Informationen auch hervor, dass sie nicht sicherstellen, dass das Kind stets die Möglichkeit hat, sich zum Zwecke solcher Konsultationen persönlich mit dem Rechtsbeistand zu treffen. In diesen Mitgliedstaaten werden die Konsultationen zumindest in einigen Fällen nur per Telefon ermöglicht. Diese Praxis ist grundsätzlich nicht mit dem in der Richtlinie verankerten Recht, sich mit dem Rechtsbeistand zu „treffen“ vereinbar, da ein Treffen die persönliche Anwesenheit des Rechtsbeistands voraussetzt. Ob dies in bestimmten Fällen auf der Grundlage des Kindeswohls gerechtfertigt sein könnte, muss weiter geprüft werden.
Zweitens berichteten alle befragten Mitgliedstaaten hinsichtlich der Anwendung der Vorschriften über die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen einem Kind und seinem Rechtsbeistand gemäß Absatz 4 Buchstabe a und Absatz 5, dass die Vertraulichkeit der Konsultationen zwischen einem Kind und seinem Rechtsbeistand stets sichergestellt ist. Die Mehrheit gab an, dass zu diesem Zweck getrennte Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, wenn dem Kind im Polizeigewahrsam oder in der Untersuchungshaft die Freiheit entzogen wird.
Mindestens zwei Mitgliedstaaten lassen jedoch offenbar zu, dass solche Räumlichkeiten visuell überwacht werden. Die Richtlinie schließt diese Praxis zwar nicht ausdrücklich aus, dies kann jedoch Anlass zu Bedenken geben, wenn rechtlich geschützte Dokumente oder andere Unterlagen, die von dem Kind und seinem Rechtsbeistand während einer solchen Konsultation eingesehen werden, für die Person(en), die diese überwacht/überwachen, sichtbar zugänglich sind.
Drittens gaben einige der befragten Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Anwendung der in den Absätzen 6 und 8 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten an, dass diese Ausnahmemöglichkeit in ihren Rechtsordnungen nicht festgelegt ist. Die Mitgliedstaaten, die der Auffassung sind, dass diese festgelegt sind, haben entweder angegeben, dass keine Daten über die Zahl der Fälle vorliegen, in denen die Ausnahmemöglichkeit angewandt wurde, oder sie haben einfach keine Zahlen vorgelegt. Ein Mitgliedstaat berichtete, dass die Ausnahmemöglichkeit in seiner Rechtsordnung zwar besteht, sie aber noch nicht angewandt wurde.
Die Mitgliedstaaten wurden ferner gebeten, die nationale Behörde anzugeben, die für die in Absatz 6 vorgeschriebene Bewertung zuständig ist, damit festgestellt werden kann, ob eine Abweichung von den Anforderungen der Richtlinie in Bezug auf die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand verhältnismäßig und mit dem Recht des Kindes auf ein faires Verfahren und die wirksame Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte vereinbar ist. Auf diese Frage antworteten die meisten Mitgliedstaaten, dass die zuständige Behörde diejenige ist, die die Befragung oder eine andere Ermittlungshandlung durchführt (in der Regel die Polizei), oder die Behörde, die zu diesem Zeitpunkt für das Verfahren insgesamt zuständig ist (je nach Rechtsordnung in der Regel ein Staatsanwalt oder im vorgerichtlichen Stadium ein Ermittlungsrichter). In einigen wenigen Mitgliedstaaten ist vorgeschrieben, dass stets eine Justizbehörde die entsprechende Bewertung vornimmt.
Unklar bleibt jedoch, ob in allen Fällen, in denen es sich bei der zuständigen Behörde um eine Strafverfolgungsbehörde handelt, die Entscheidung über die Anwendung der Ausnahmeregelung dennoch gegebenenfalls noch von einem Staatsanwalt oder Ermittlungsrichter genehmigt werden muss oder im Hauptverfahren einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Dies wäre wichtig, um einen wirksamen Rechtsbehelf sicherzustellen und idealerweise auch einen möglichen Missbrauch der Ausnahmemöglichkeit zu verhindern.
Hinsichtlich der Anwendung der in Absatz 8 der Richtlinie niedergelegten Möglichkeit einer vorübergehenden Ausnahmeregelung gingen im Wesentlichen dieselben Antworten ein. Es wurden keine Angaben zur Häufigkeit der Anwendung gemacht, und es bleibt unklar, ob die Entscheidung einer Strafverfolgungsbehörde, die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung anzuwenden, stets gerichtlich zu überprüfen ist.
Viertens hat in Bezug auf die Anwendung der Vorschriften über die Verschiebung der Befragung nach Absatz 7 fast die Hälfte der Mitgliedstaaten Angaben dazu gemacht, wie der in Artikel 6 Absatz 7 eingeführte Begriff der „angemessenen Zeit“ in ihrer nationalen Rechtsordnung ausgelegt wird.
Die meisten Mitgliedstaaten definieren diesen Begriff im nationalen Recht nicht ausdrücklich, sondern überlassen es den zuständigen Behörden, diesen Begriff für jeden Einzelfall und unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Falles auszulegen, insbesondere ob dem Kind die Freiheit entzogen ist.
Einige Mitgliedstaaten haben jedoch spezifische Beschränkungen für die Zeit angegeben, die dem vom Kind gewählten Rechtsbeistand für sein Eintreffen gewährt wird. Diese reichen von einer Stunde bis zu drei Tagen (in Fällen, in denen dem Kind nicht die Freiheit entzogen ist und die Ermittlungen durch die Verzögerung voraussichtlich nicht gefährdet werden).
Wie in der Erläuterung der Umsetzung von Artikel 6 Absatz 7 hervorgehoben wurde, wird der Begriff „angemessene Zeit“ in der Richtlinie nicht definiert. Die Kommission ist jedoch der Auffassung, dass der Begriff als „solange es dauert, bis ein Rechtsbeistand vor Ort eintreffen kann“ ausgelegt werden sollte. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Mitgliedstaaten in Fällen eindeutig übertriebener oder unangemessener Verzögerungen einen anderen im Dienst befindlichen Rechtsbeistand für die Dauer der jeweiligen Handlung bestellen können.
Was schließlich die einschlägige Rechtsprechung auf nationaler Ebene betrifft, in der eine Verletzung der Rechte des Kindes nach Artikel 6, insbesondere im Zusammenhang mit der Anwendung der in den Absätzen 6 und 8 vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten, geltend gemacht wurde, gaben die Mitgliedstaaten an, dass ihnen keine derartigen Fälle bekannt sind und/oder sie keine einschlägigen Statistiken führen. Die Kommission war daher nicht in der Lage zu bewerten, hinsichtlich welcher besonderen Aspekte der Einhaltung von Artikel 6 in der Praxis möglicherweise Probleme aufgetreten sind oder wie häufig diese auftraten.
5.SCHLUSSFOLGERUNG
Ziel der Richtlinie ist es, die Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, umfassend zu stärken und zu ergänzen, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich und wirksam die Möglichkeit haben, Verfahren gegen sie vollständig zu verstehen und ihnen zu folgen sowie ihr Recht auf ein faires Verfahren auszuüben. Mit dieser Richtlinie wurden für eine der schutzbedürftigsten Gruppen von Verdächtigen und beschuldigten Personen die Bemühungen um einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz in der gesamten EU erheblich vorangebracht. Das Potenzial für positive Auswirkungen erstreckt sich nicht nur auf die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Justizsysteme, sondern auch auf die Rückfallverhütung und die Förderung der sozialen Rehabilitation und Wiedereingliederung von Kindern.
Dieser Bericht macht jedoch deutlich, dass im Zusammenhang mit der Einhaltung wesentlicher Bestimmungen der Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten weiterhin Probleme bestehen. Dies gilt insbesondere für den Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie und die Umsetzung wesentlicher materiell-rechtlicher Bestimmungen, unter anderem der Auskunftsrechte, der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, des Rechts auf individuelle Begutachtung und der Vorschriften für die Verhängung von Freiheitsentzug und die Behandlung im Falle eines Freiheitsentzugs. Aus den für diesen Bericht erhobenen Informationen geht auch hervor, dass Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung hinsichtlich der Anwendung von Artikel 6 der Richtlinie bestehen, insbesondere mit Blick auf die Vorschriften über die Verschiebung der Befragung und das Recht, sich vor der Befragung mit einem Rechtsbeistand zu treffen und diesen zu konsultieren.
Die Kommission wird die Vertragsverletzungsverfahren, die wegen unvollständiger Umsetzung der Richtlinie eingeleitet wurden, vorrangig weiterverfolgen und weiterhin die Einhaltung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten bewerten. Soweit erforderlich, wird die Kommission alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der Bestimmungen der Richtlinie in der gesamten EU sicherzustellen.