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Document 52017AE1811

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts“ (COM(2017) 142 final — 2017/0063 (COD))

OJ C 345, 13.10.2017, p. 70–75 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts“

(COM(2017) 142 final — 2017/0063 (COD))

(2017/C 345/11)

Berichterstatter:

Juan MENDOZA CASTRO

Befassung

Europäisches Parlament, 26.4.2017

Rat, 27.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

130/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der seiner Auffassung nach für die wirksame Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unverzichtbar ist.

1.2.

Obwohl Unterschiede bestehen bleiben, hat sich durch eine freiwillige Harmonisierung eine deutliche Konvergenz zwischen den Systemen in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, wobei die EU-Normen als Bezugspunkt dienten.

1.3.

Mit dem System zur Einleitung von Verfahren (case allocation) im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes muss eine eventuelle Doppelung von Maßnahmen verschiedener Mitgliedstaaten vermieden werden.

1.4.

Der EWSA schlägt vor, die Regelung der zivil- und verwaltungsrechtlichen Inhalte künftig im Wege einer Verordnung zu erwägen.

1.5.

Die Wettbewerbspolitik muss Chancengleichheit gewährleisten. Der EWSA unterstreicht, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden („NWB“) mit den notwendigen Mitteln und Rechtsinstrumenten für die Bekämpfung geheimer Kartelle ausgestattet sein müssen, und verweist auf die schweren Schäden, die durch die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung entstehen.

1.6.

Die vollständige Umsetzung von Art. 101 und 102 AEUV muss mit der Wahrung der Grundrechte derjenigen, die Gegenstand einer Untersuchung sind, vereinbar sein.

1.7.

Der EWSA zeigt sich besorgt angesichts des gravierenden Mangels an Unabhängigkeit und Ressourcen der NWB, der derzeit in vielen Mitgliedstaaten festzustellen ist. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die NWB von den Behörden tatsächlich unabhängig sind, weshalb die leitenden Verantwortlichen unabhängige Experten mit nachweislicher Erfahrung sein müssen. Ferner bedarf es eines festen Personalstamms mit angemessener beruflicher Bildung.

1.8.

Es ist in vielen Fällen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Schäden zu beheben, die aufgrund wettbewerbswidriger Verhaltensweisen entstehen, weshalb der EWSA empfiehlt, dass die Befugnisse, die den nationalen Wettbewerbsbehörden zugewiesen werden, auch für präventive Maßnahmen eingesetzt werden.

1.9.

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die Geldbußen„in abschreckender Höhe festgesetzt und im Wiederholungsfall verschärft werden müssen“; er stimmt der Ansicht zu, dass die Befugnis der Durchsetzungsbehörden zur Verhängung von Sanktionen ein wesentliches Element der Wettbewerbspolitik ist.

1.10.

Die Erfahrung der Kommission, die regelmäßig Kronzeugenregelungen anwendet, kann als positiv betrachtet werden; deren einheitliche Anwendung durch die NWB ist für die Existenz eines echten europäischen Wettbewerbsrechts von großer Bedeutung. Allerdings sollte die Kronzeugenregelung die Geschädigten (einschließlich die Verbraucher) nicht daran hindern, durch Sammelklagen eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erwirken.

1.11.

Aufgrund des länderübergreifenden Charakters der Maßnahmen der NWB ist die gegenseitige Amtshilfe zwischen ihnen unverzichtbar.

1.12.

Bei der Umsetzung der Richtlinie muss die Hemmung der Verjährungsfristen im Einklang mit den allgemeinen Verjährungsvorschriften der Mitgliedstaaten stehen.

1.13.

Es ist angezeigt, den NWB die uneingeschränkte Prozessfähigkeit zuzugestehen, da andernfalls ihre Wirksamkeit in einigen Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird.

1.14.

Der EWSA betont, dass es den NWB gestattet sein muss, alle Arten von Beweismitteln zu verwenden, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind.

1.15.

Angesichts weit verbreiteter Unkenntnis der Wettbewerbsregeln besteht ein Bedarf an Informationskampagnen.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1.

Die EU-Mitgliedstaaten sind wichtige Partner der Europäischen Kommission bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union. Seit 2004 sind die nationalen Wettbewerbsbehörden der EU-Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates befugt, gemeinsam mit der Kommission die Wettbewerbsvorschriften der EU anzuwenden. Seit mehr als einem Jahrzehnt setzen die Kommission und die NWB das Wettbewerbsrecht der Union in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN) durch. Das Europäische Wettbewerbsnetz wurde im Jahr 2004 zu eben diesem Zweck eingerichtet.

2.2.

Die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union durch die Kommission und die NWB ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines offenen, wettbewerbsbasierten und innovativen Binnenmarkts, und sie ist von großer Bedeutung für die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum in wichtigen Wirtschaftszweigen, insbesondere im Energiesektor, in der Telekommunikations- und der Digitalbranche sowie im Verkehrssektor.

2.3.

Das Wettbewerbsrecht der Union bildet eine der wesentlichen Säulen des Binnenmarkts, denn wenn der Wettbewerb verfälscht wird, kann der Binnenmarkt weder sein Potenzial voll entfalten noch die notwendigen Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen. Wenn eine Vertiefung und fairere Gestaltung des Binnenmarkts erreicht werden soll, muss gewährleistet werden, dass die Binnenmarktvorschriften zum Wohle der Verbraucher wirksam durchgesetzt werden.

2.4.

Auf sich allein gestellt hätte die Kommission eine so umfassende Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union nie erreichen können. Während die Kommission vor allem wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen oder Vereinbarungen nachgeht, die Auswirkungen auf den Wettbewerb in drei oder mehr Mitgliedstaaten haben, oder aber eingreift, wenn die Schaffung eines europaweit geltenden Präzedenzfalls zweckmäßig ist, werden die NWB insbesondere dann tätig, wenn der Wettbewerb in ihrem eigenen Hoheitsgebiet spürbar beeinträchtigt wird. Die NWB verfügen über die erforderlichen Kenntnisse über die Funktionsweise der Märkte in ihrem eigenen Mitgliedstaat, was für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts von großem Wert ist.

2.5.

Die Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch die NWB kann weiter verbessert werden. In der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 wird nicht auf die Mittel und Instrumente eingegangen, mit deren Hilfe die NWB das EU-Wettbewerbsrecht in den Mitgliedstaaten anwenden, und viele NWB haben nicht alle Mittel und Instrumente zur Verfügung, die für eine wirksame Durchsetzung der Artikel 101 und 102 AEUV erforderlich sind.

2.6.

Die Lücken und Beschränkungen bei den Instrumenten und Garantien, mit denen die NWB ausgestattet sind, führen dazu, dass wettbewerbswidrig handelnde Unternehmen abhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie tätig sind, unter Umständen ganz unterschiedlich behandelt werden: In einigen Mitgliedstaaten müssen sie möglicherweise keinerlei Durchsetzungsmaßnahmen auf der Grundlage der Artikel 101 oder 102 AEUV befürchten und in anderen können sie von einer nur begrenzt wirksamen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts profitieren, weil es dort beispielsweise nicht möglich ist, entsprechende Beweismittel zu erheben, oder weil Unternehmen sich der Verpflichtung zur Zahlung der Geldbußen entziehen können. Eine unterschiedlich strenge Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union führt zu einer Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt und untergräbt das System der dezentralen Durchsetzung, das durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 eingeführt wurde.

2.7.

Die Kommission vertritt daher die Auffassung, dass es eines Legislativvorschlags bedarf, mit dem zwei strategische Ziele verfolgt werden:

mit der Rechtsgrundlage des Artikels 103 AEUV sollen die NWB in die Lage versetzt werden, die Wettbewerbsprinzipien der EU wirksamer umzusetzen, indem ihnen die erforderlichen Garantien im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit, Ressourcen und Befugnisse gegeben werden;

mit der Rechtsgrundlage des Artikel 114 AEUV wird darauf abgezielt, den Binnenmarkt weiter zu stärken, indem die nationalen Hemmnisse beseitigt werden, die die NWB daran hindern, die Vorschriften wirksam anzuwenden, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und eine einheitlichere Anwendung der Vorschriften zu bewirken, was für Verbraucher und Unternehmen von Vorteil ist.

2.8.

Wenn die NWB im Übrigen in die Lage versetzt werden, einander wirksam Amtshilfe zu leisten, sorgt dies für einheitlichere Wettbewerbsbedingungen und stärkt die enge Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, der seiner Auffassung nach für die wirksame Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unverzichtbar ist. Die Einrichtung eines europäischen Wettbewerbssystems erfordert die Beseitigung der Defizite und Hindernisse für die vollständige Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV, die es derzeit in einigen Mitgliedstaaten gibt.

3.2.

Die Dezentralisierung der Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 hat entgegen entsprechender Befürchtungen nicht zu einer Fragmentierung der Durchsetzungsbefugnisse für die Wettbewerbspolitik geführt. Obwohl Unterschiede bestehen bleiben, hat sich durch eine freiwillige Harmonisierung eine deutliche Konvergenz zwischen den Systemen in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, wobei die EU-Normen als Bezugspunkt dienten (1).

3.3.

Der EWSA betont, dass das Bestehen paralleler Zuständigkeiten auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen Anstrengungen zur Anpassung der Gesetze und Institutionen auf nationaler Ebene erfordert. Mit dem System zur Einleitung von Verfahren (case allocation) im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes muss auf jeden Fall eine eventuelle Doppelung von Maßnahmen verschiedener Mitgliedstaaten vermieden werden.

3.4.

Nach Auffassung der Kommission ist eine Richtlinie das geeignete Rechtsinstrument, weil durch sie „die Rechtstraditionen und die institutionellen Besonderheiten der Mitgliedstaaten“ hinreichend berücksichtigt werden können. Damit die Vorschriften durch die NWB insbesondere in Bezug auf den Katalog von Sanktionen (Kapitel V) und den Erlass bzw. die Ermäßigung von Geldbußen (Kapitel VI) einheitlich und kohärent angewendet werden können, muss die derzeitige große Vielfalt überwunden werden. Der EWSA schlägt deshalb vor, künftig die Regulierung der zivil- und verwaltungsrechtlichen Inhalte durch eine Verordnung zu erwägen, wobei die Mitgliedstaaten volle Autonomie bezüglich des Strafrechts behielten.

3.5.

Die Wettbewerbspolitik muss Chancengleichheit gewährleisten. Der EWSA betont die Bedeutung der angemessenen Ausstattung der NWB mit den notwendigen Mitteln und Rechtsinstrumenten zur Bekämpfung geheimer Kartelle (gemäß der Definition in Artikel 2 Absatz 9 des Vorschlags) und unterstreicht des Weiteren die großen Schäden, die die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung — in der Regel durch große Unternehmen oder Konzerne — anderen Unternehmen (insbesondere KMU), den Verbrauchern und den Nutzern verursachen kann.

3.6.

Angesichts des unzureichenden Bekanntheitsgrads der Wettbewerbsregeln in der Öffentlichkeit sollten die Mitgliedstaaten die Durchführung von Informationskampagnen in Erwägung ziehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Grundrechte

4.1.1.

Im Vorschlag der Kommission wird auf die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2) Bezug genommen, wodurch u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte der Unternehmen, die unternehmerische Freiheit, das Eigentumsrecht, das Recht auf gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 16, 17, 41 und 47 der Charta) garantiert wird.

4.1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Anerkennung der weitreichenden Befugnisse, über die die NWB zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügen müssen, die Einführung von Schutzmechanismen und Garantien für die Rechte der von der Untersuchung betroffenen Parteien erfordert und dass dies mit der vollständigen Umsetzung von Art. 101 und 102 AEUV vereinbar sein muss. Die NWB und ggf. die Gerichte müssen die tatsächliche Anwendung dieser Garantien gewährleisten. Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU (EuGH) ist die Unschuldsvermutung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (Art. 48 Abs. 1 der Charta), den die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts beachten müssen (3). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zudem die Anwendung von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Verfahren) (4) bestätigt und sich zur demokratischen Legitimität der Kommission (5) und dem Grundsatz „ne bis in idem“ (6) im Bereich der wettbewerbsrechtlichen Verfahren geäußert.

4.2.    Unabhängigkeit und Ressourcen

4.2.1.

Die Gewährleistung der Unabhängigkeit bedeutet, dass die Behörden ihre Befugnisse „unparteiisch und im Interesse der wirksamen und einheitlichen Durchsetzung“ der Vorschriften ausüben (Art. 4 Abs. 1).

4.2.2.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Mitarbeiter und Mitglieder der Entscheidungsgremien der NWB ihre Aufgaben (Art. 4 Abs. 2)

unabhängig von politischer und anderer äußerer Einflussnahme erfüllen;

weder um Weisungen von einer Regierung oder einer anderen öffentlichen oder privaten Stelle ersuchen noch solche Weisungen annehmen;

jede Handlung unterlassen, die mit der Erfüllung ihrer Aufgaben unvereinbar ist;

außerdem gilt:

sie dürfen nur entlassen werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben nicht mehr erfüllen oder wenn sie sich eines schweren Fehlverhaltens nach nationalem Recht schuldig gemacht haben;

die Gründe für eine Entlassung sollten im Voraus im nationalen Recht festgelegt werden;

sie dürfen nicht aus Gründen entlassen werden, die mit der ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Aufgaben und Ausübung ihrer Befugnisse zusammenhängen.

4.2.3.

Der EWSA zeigt sich besorgt angesichts der diesbezüglichen gravierenden Mängel, die laut Kommission derzeit in vielen Mitgliedstaaten festzustellen sind. Ausreichende personelle, finanzielle und technische Ressourcen (Artikel 5) sind von grundlegender Bedeutung, damit die NWB ihre Aufgaben wahrnehmen können. Die Unabhängigkeit beinhaltet eine weitreichende Selbstbestimmung in der staatlichen Struktur (7), die folgende Aspekte nicht ausschließt:

die richterliche Aufsicht;

die Unterrichtung des Parlaments;

regelmäßige Tätigkeitsberichte;

die Überwachung ihrer Mittelzuweisungen.

4.2.4.

Für den EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die NWB von den Behörden tatsächlich unabhängig sind. In diesem Sinne müssen die leitenden Verantwortlichen unabhängige Experten mit nachweislicher Erfahrung sein. Ferner bedarf es eines festen Personalstamms mit angemessener beruflicher Bildung.

4.3.    Befugnisse

4.3.1.

Zu den Befugnissen, über die die NWB verfügen müssen (Artikel 6 bis 11), zählen:

Durchführung von Nachprüfungen in betrieblichen Räumlichkeiten ohne Vorwarnung und — je nach dem, was die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorsehen — mit oder ohne richterlichen Beschluss: dies beinhaltet mindestens das Recht, die „Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der betroffenen Unternehmen […] zu betreten“, die Bücher und sonstigen geschäftlichen Aufzeichnungen zu prüfen, Kopien „gleich welcher Art“ anzufertigen oder zu erlangen, die „Räumlichkeiten und Bücher oder Aufzeichnungen […] zu versiegeln“ und Erläuterungen zu verlangen. Widersetzt sich ein Unternehmen einer administrativen oder richterlichen Nachprüfung, „so haben die nationalen Wettbewerbsbehörden Anspruch auf die für die Durchführung der Nachprüfung erforderliche Unterstützung durch die Polizei oder eine entsprechende gesetzlich ermächtigte Behörde“, die „auch vorsorglich […] gewährt werden“ kann;

Durchführung von Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten ohne Vorwarnung und ohne richterlichen Beschluss: diese kann erfolgen, wenn ein „begründeter Verdacht“ besteht, dass es Elemente gibt, die zum Nachweis einer schweren Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV von Bedeutung sein könnten;

Auskunftsverlangen;

Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen;

Einstweilige Maßnahmen: anwendbar „in dringenden Fällen, in denen die Gefahr eines ernsten, nicht wieder gutzumachenden Schadens für den Wettbewerb besteht, auf der Grundlage einer prima facie festgestellten Zuwiderhandlung“. Die Maßnahme muss eine befristete Geltungsdauer haben und ist verlängerbar;

Die Verpflichtungszusagen, die Unternehmen unterbreitet haben, können für bindend erklärt werden.

4.3.2.

Es ist in vielen Fällen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Schäden zu beheben, die aufgrund wettbewerbswidriger Verhaltensweisen entstehen, weshalb der EWSA empfiehlt, dass die Befugnisse, die den nationalen Wettbewerbsbehörden zugewiesen werden, auch für präventive Maßnahmen eingesetzt werden.

4.4.    Geldbußen und Zwangsgelder

4.4.1.

„Wirksame, angemessene und abschreckende“Geldbußen können verhängt werden, wenn die Unternehmen „vorsätzlich oder fahrlässig“ eine Nachprüfung nicht dulden, Siegel gebrochen haben, unrichtige oder irreführende Antworten erteilen, unrichtige Angaben machen oder einstweiligen Maßnahmen zuwiderhandeln. Zwangsgelder werden im Unterlassungsfall verhängt, z. B. wenn eine Nachprüfung nicht geduldet wird (Art. 12 und 15).

4.4.2.

Entsprechend dem üblichen sanktionsrechtlichen Kriterium muss im Rahmen der von den Mitgliedstaaten zu verhängenden Geldbußen „sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer“ berücksichtigt werden; der Höchstbetrag wird „auf mindestens 10 %“ des „weltweiten Gesamtumsatzes in dem der Entscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr festgesetzt“ (Art. 13 Abs. 1 und Art. 14). Im Falle von Unternehmensvereinigungen sind unterschiedliche Szenarien bezüglich der Zahlung der Geldbußen vorgesehen (Art. 13 Abs. 2).

4.4.3.

Es sei darauf hingewiesen, dass durch die Ausweitung der Haftung für die Zahlung der Geldbußen auf alle Mitglieder von Unternehmensvereinigungen (Artikel 13.2) ein Schlupfloch in den geltenden Rechtsvorschriften geschlossen wird (8).

4.4.4.

Der Anwendungsbereich des Vorschlags erstreckt sich nur auf Unternehmen, gegen die verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden können. Verhaltensweisen, die eine Straftat darstellen könnten, fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bereits zur Frage der Kompatibilität verwaltungs- und strafrechtlicher Sanktionen geäußert (9).

4.4.5.

Der EWSA, der bereits darauf hingewiesen hat, dass die Höhe der Sanktionen abschreckend wirken und im Wiederholungsfalle höher ausfallen muss (10), stimmt der Ansicht zu, dass die Befugnis der durchführenden Behörde zur Verhängung von Sanktionen ein wesentliches Element der Wettbewerbspolitik ist. Er äußert zudem Bedenken, dass das Wettbewerbsrecht aufgrund der großen Vielfalt an Vorschriften und Strukturen der NWB derzeit nicht ausreichend durchgesetzt wird.

4.5.    Erlass bzw. Ermäßigung von Geldbußen (Kronzeugenregelung)

4.5.1.

Den Mitgliedstaaten wird die Zuständigkeit für die Festlegung der Gründe und Verfahren für den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen zugewiesen, dies jedoch innerhalb eines detailliert festgelegten Rahmens, der folgende Aspekte umfasst:

Voraussetzungen für den Erlass (Art. 16) und die Ermäßigung (Art. 17);

Bedingungen für die Anwendung solcher Maßnahmen (Art. 18);

Form der Anträge (Art. 19);

Marker für einen förmlichen Antrag auf Geldbußenerlass (Art. 20);

Kurzanträge, wenn sich ein Unternehmen gleichzeitig an die Kommission und an eine NWB wendet (Art. 21);

Garantien für Personen, die einen Antrag auf Geldbußenerlass gestellt haben (Art. 22).

4.5.2.

Dieser Vorschlag wird damit begründet, dass die deutlichen Unterschiede zwischen den (die für die Aufdeckung geheimer Kartelle unerlässlichen) nationalen Rechtsvorschriften und ihrer wirksamen Umsetzung zu Rechtsunsicherheit führen, die Anreize für regelkonformes Verhalten schwächen und in der Ineffizienz der Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union resultieren. Außerdem wird angeführt, dass die Mitgliedstaaten das Muster-Kronzeugenprogramms des Europäischen Wettbewerbsnetzes (11) nicht umsetzen, dessen grundlegende Aspekte daher in die neue Verordnung aufgenommen werden.

4.5.3.

Für den EWSA ist die einheitliche Anwendung der Kronzeugenregelung durch die NWB von großer Bedeutung, damit es ein echtes europäisches Wettbewerbsrecht gibt; die Erfahrung der Kommission, die solche Maßnahmen regelmäßig anwendet (12), ist als positiv zu betrachten. Allerdings sollte die Kronzeugenregelung die Geschädigten (einschließlich die Verbraucher) nicht daran hindern, durch Sammelklagen eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erwirken.

4.6.    Gegenseitige Amtshilfe

4.6.1.

Die Zusammenarbeit zwischen den NWB erfordert angesichts der neuen Befugnisse, die ihnen mit diesem Vorschlag zugewiesen werden, Unterstützung und Hilfestellung bei Nachprüfungen (Artikel 23), weshalb die Mitgliedstaaten die Zustellung vorläufiger Beschwerdepunkte (Artikel 24) und die Vollstreckung von Entscheidungen (Artikel 25) gewährleisten müssen. Die Zuständigkeiten für die Streitigkeiten werden festgelegt (Artikel 26).

4.6.2.

Der EWSA hält es für erforderlich, diese Verpflichtungen angesichts des grenzüberschreitenden Charakters der Wettbewerbspolitik verbindlich vorzuschreiben.

4.7.    Hemmung der Verjährungsfristen für die Verhängung von Sanktionen

4.7.1.

Im Vorschlag der Kommission sind zwei besondere Fälle der Hemmung solcher Fristen vorgesehen: „für die Dauer von Verfahren vor nationalen Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten oder vor der Kommission, die sich auf eine Zuwiderhandlung betreffend dieselbe Vereinbarung, Entscheidung einer Unternehmensvereinigung oder abgestimmte Verhaltensweise beziehen“ (Art. 27 Abs. 1) und solange ein Verfahren anhängig ist (Art. 27 Abs. 2).

4.7.2.

Der EWSA verweist darauf, dass bei der Umsetzung der Richtlinie mögliche Konflikte mit einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, die ebenfalls Unterbrechungen der Fristen im Fall von Rechtsstreitigkeiten vorsehen, gelöst werden müssen.

4.8.    Uneingeschränkte Prozessfähigkeit der NWB

4.8.1.

Im Vorschlag ist vorgesehen, dass die NWB über die Prozessfähigkeit verfügen sollte, um direkt Klage bei der Justizbehörde erheben zu können; außerdem muss sie sich eigenständig als Klägerin, Beklagte oder Antragsgegnerin an diesen Verfahren beteiligen können, wobei ihr dieselben Rechte eingeräumt werden wie den anderen Parteien des Verfahrens (Artikel 28).

4.8.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Fehlen einer solchen Befugnis das Handeln der NWB in einigen Mitgliedstaaten derzeit erschwert (13), weshalb die Zuerkennung dieser Befugnis unerlässlich ist, damit die NWB den Anforderungen gerecht werden können, die im Rahmen der Wettbewerbspolitik der EU an sie gestellt werden.

4.9.    Zulässigkeit von Beweismitteln vor den NWB  (14)

4.9.1.

Der EWSA hebt hervor, dass die NWB die Möglichkeit haben müssen, „mündliche Erklärungen, Aufzeichnungen und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind“ (Art. 30), als Beweismittel zu verwenden.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „An academic View on the Role and Powers of National Competition Authorities“, Europäisches Parlament, 2016.

(2)  Urteil in der Rechtssache Karlsson u. a. (C-292/97, Rn. 37).

(3)  Urteile in den Rechtssachen Eturas u. a. (C-74/14, Rn. 38), E.ON Energie/Kommission (C-89/11 P, Rn. 72) und VEBIC (C 439/08, Rn. 63).

(4)  Rechtssache Menarini Diagnostics S.R.L./Italien.

(5)  C-12/03P, Kommission/Tetra Laval (2005).

(6)  Rechtssache Menarini Diagnostics S.R.L./Italien.

(7)  „Independence and accountability of competition authorities“, Unctad 2008.

(8)  Urteil in der Rechtssache Akzo Nobel NV/Kommission, C-97/08 P, Rn. 45 und 77.

(9)  Urteil vom 26.2.2013 — Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson.

(10)  Stellungnahme zum „Bericht über die Wettbewerbspolitik 2014“ (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 33).

(11)  Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. C 298 vom 8.12.2006, S. 17).

(12)  Siehe „Cartel leniency in EU: overview“, Thompson Reuters. Beispiele für die Ermäßigung bzw. den Erlass von Geldbußen durch die Kommission: Riberebro 50 % (ABl. C 298 vom 8.12.2006, S. 17); Hitachi 30 %, u. a.; Philipps, Erlass; Hitachi 50 %; Schenker u. a. 55 %-40 %; DHL, Straffreiheit (C-428/14, DHL/AGCM); Eberspächer 45 % und Webasto, Straffreiheit.

(13)  In ihrer Antwort auf den Fragebogen der Kommission gab die deutsche Wettbewerbsbehörde, das Bundeskartellamt, diesen Mangel als eine der Ursachen für erhebliche Fehlfunktionen des Systems an.

(14)  Beschränkungen bei der Informationsverwendung (Art. 29). Die Kommission hat mitgeteilt, dass der Wortlaut dieses Artikels möglicherweise geändert wird.


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