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Document 52010PC0392

Vorschlag für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren

/* KOM/2010/0392 endg. - COD 2010/0215 */

52010PC0392

Vorschlag für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren /* KOM/2010/0392 endg. - COD 2010/0215 */


[pic] | EUROPÄISCHE KOMMISSION |

Brüssel, den 20.7.2010

KOM(2010) 392 endgültig

2010/0215 (COD)

Vorschlag für eine

RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES

über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren

{SEK(2010) 907}{SEK(2010) 908}

BEGRÜNDUNG

1. Einführung

1. Mit dem vorliegenden Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates sollen gemeinsame Mindestnormen für das Recht auf Belehrung in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union festgelegt werden. Dieser Vorschlag ist die zweite von mehreren Maßnahmen, die in dem am 30. November 2009 im Rat verabschiedeten Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte aufgeführt sind; darin wurde die Kommission aufgefordert, schrittweise Vorschläge zu unterbreiten. Diese Vorgehensweise wird nun als gute Möglichkeit zum Vertrauensaufbau und zur Förderung und weiteren Stärkung des gegenseitigen Vertrauens angesehen. Der vorliegende Vorschlag ist daher als Teil eines in den kommenden Jahren vorzulegenden umfassenden Pakets legislativer Maßnahmen zu verstehen, die in der Europäischen Union ein Mindestmaß an Verfahrensrechten in Strafverfahren gewährleisten sollen.

2. Der Vorschlag dient zur Stärkung der Rechte von verdächtigen Personen. Gemeinsame Mindestnormen für diese Rechte dürften die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung erleichtern und damit die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU verbessern.

3. Bei der ersten Maßnahme handelt es sich um eine Richtlinie über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, die am 8. Oktober 2010 angenommen worden ist.

4. Die Rechtsgrundlage des Vorschlags bildet Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Darin heißt es: „Soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegen. Bei diesen Mindestvorschriften werden die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt.

Die Vorschriften betreffen Folgendes:

a) die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten;

b) die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren;

c) die Rechte der Opfer von Straftaten;

d) (…).“

Gegenseitige Anerkennung setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Um das gegenseitige Vertrauen und mithin auch die Zusammenarbeit zu verbessern, müssen die Vorschriften bis zu einem gewissen Grad kompatibel sein.

5. Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sieht das Recht auf ein unparteiisches Gericht vor; Artikel 48 gewährleistet die Verteidigungsrechte, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die durch Artikel 6 Absatz 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantierten Rechte haben.[1] Das Recht auf Rechtsbelehrung lässt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Artikel 6 EMRK ableiten, wonach die Behörden einen proaktiven Ansatz verfolgen sollten, um sicherzustellen, dass strafrechtlich verfolgte Personen über ihre Rechte belehrt werden. Das Recht auf Belehrung über den Tatvorwurf, das auf Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a EMRK zurückgeht, ist von grundlegender Bedeutung für eine strafrechtlich verfolgte Person, die wissen muss, was ihr zur Last gelegt wird, damit sie ihre Verteidigung vorbereiten kann. Artikel 9 Absatz 2 und Artikel 14 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)[2] enthalten sehr ähnliche Bestimmungen.

6. Zu dem Vorschlag erstellte die Kommission eine Folgenabschätzung. Der diesbezügliche Bericht ist über die Internet-Adresse http://ec.europa.eu/governance/impact/ia_carried_out/cia_2010_en.htm abrufbar.

2. Hintergrund

7. Gemäß Artikel 6 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Nach Artikel 6 Absatz 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt und mit den Unionsverträgen rechtlich gleichrangig sind. Die Charta gilt für die Organe und Mitgliedstaaten der EU bei der Durchführung des Unionsrechts, zum Beispiel im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union.

8. In den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere[3] wird die gegenseitige Anerkennung zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit erklärt. Zugleich wird betont, dass die gegenseitige Anerkennung „[…] und die notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften […] den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern [würden]“[4].

9. In der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 26. Juli 2000 über die gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen[5] heißt es: „Daher muss sichergestellt werden, dass die Behandlung verdächtiger Personen und die Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Anwendung dieses Grundsatzes [der gegenseitigen Anerkennung] nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sogar verbessert würden.“

10. Dies wurde auch in dem von Rat und Kommission angenommenen Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen[6] bestätigt. Demzufolge „ist das Ausmaß der gegenseitigen Anerkennung eng verknüpft mit dem Bestehen und dem Inhalt bestimmter Parameter, die für die Effizienz des Verfahrens ausschlaggebend sind“.

11. Zu diesen Parametern zählen Mechanismen zum Schutz der Rechte von verdächtigten Personen (Parameter 3) sowie die Festlegung der gemeinsamen Mindestnormen, deren es zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bedarf (Parameter 4). Der vorliegende Richtlinienvorschlag ist Ausdruck des erklärten Ziels, die Rechte des Einzelnen zu stärken.

12. 2004 legte die Kommission einen umfassenden Vorschlag[7] für eine Regelung vor, die die wichtigsten Rechte von Beschuldigten in Strafverfahren enthielt. Dieser Vorschlag wurde vom Rat nicht angenommen.

13. Am 30. November 2009 nahm der Rat „Justiz und Inneres” einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren[8] an. Darin rief er dazu auf, zu den elementarsten Verfahrensrechten schrittweise fünf Maßnahmen zu ergreifen, und beauftragte die Kommission, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Der Rat räumte ein, dass bislang auf europäischer Ebene keine hinreichenden Anstrengungen unternommen worden waren, um die Grundrechte des Einzelnen in Strafverfahren zu wahren. Der vollständige Nutzen einschlägiger EU-Rechtsvorschriften wird erst dann zum Tragen kommen, wenn alle Maßnahmen in Rechtsvorschriften umgesetzt worden sind. Die zweite Maßnahme des Fahrplans betrifft das Recht auf Belehrung.

14. In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009[9] angenommenen Stockholmer Programm wurde die Bedeutung der Rechte des Einzelnen in Strafverfahren als Grundwert der Union und wesentlicher Bestandteil des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowie des Vertrauens der Allgemeinheit in die EU bekräftigt. Der Schutz der Grundrechte des Einzelnen wird außerdem dazu beitragen, Hindernisse für den freien Personenverkehr zu beseitigen. Im Stockholmer Programm wird auf den Fahrplan als integralen Bestandteil des Mehrjahresprogramms Bezug genommen und die Kommission aufgerufen, geeignete Vorschläge zur raschen Umsetzung des Fahrplans vorzulegen.

3. Das Recht auf Belehrung nach Massgabe der Charta und der EMRK

15. In Artikel 6 der Charta – Recht auf Freiheit und Sicherheit – heißt es:

„Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

Artikel 47 der Charta – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – sieht Folgendes vor:

„(…) Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

(…).”

Artikel 48 der Charta – Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte – lautet:

„2. Jeder angeklagten Person wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

In ihrem Anwendungsbereich gewährleistet und widerspiegelt die Charta die entsprechenden in der EMRK verankerten Rechte.

In Artikel 5 EMRK – Recht auf Freiheit und Sicherheit – heißt es:

„(2) Jeder festgenommenen Person muss unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.

(…).”

Artikel 6 EMRK – Recht auf ein faires Verfahren – lautet:

„(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;

b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

(…)”

16. Mehrere aktuelle Untersuchungen[10] haben ergeben, dass Verdächtige sehr unterschiedlich über ihre Rechte informiert werden und dass eine Rechtsbelehrung in den meisten Fällen lediglich mündlich und somit weniger wirkungsvoll erfolgt und schwerer zu überwachen ist. Das Recht auf Belehrung wird in der EMRK nicht ausdrücklich erwähnt. Allerdings gibt es einschlägige Gerichtsentscheidungen, denen zufolge die Justizbehörden verpflichtet sind, positive Maßnahmen zu treffen, um eine tatsächliche Einhaltung von Artikel 6 EMRK zu gewährleisten; dazu gehören die Entscheidungen in den Rechtssachen Padalov[11] und Talat Tunc[12] , in denen der EGMR feststellte, dass die Behörden eine aktive Rolle bei der Information von Verdächtigen über ihr Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand übernehmen sollten. Im Fall Panovits[13] befand der EGMR, dass die Behörden eine positive Verpflichtung haben, Verdächtige darüber zu informieren, dass sie ein Recht auf Prozesskostenhilfe und – sofern die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind – auf unentgeltlichen Rechtsbeistand haben. Es genügt nicht, dass die Behörden diese Informationen schriftlich erteilen, zum Beispiel – wie im Fall Panovits geschehen – durch eine Erklärung der Rechte. Wie der EGMR betont, müssen die Behörden alle angemessenen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass Verdächtige genau über ihre Rechte Bescheid wissen.

17. Artikel 5 Absatz 2 und Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a EMRK verpflichten die Justizbehörden, eine verdächtige Person über Art und Grund der gegen diese erhobenen Beschuldigung zu unterrichten, damit die Person den Tatvorwurf kennt und in der Lage ist, ihre Verteidigung vorzubereiten[14] und die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs anzufechten[15]. Beide Artikel schreiben zwar vor, dass ganz bestimmte Informationen zu vermitteln sind, beschränken sich aber auf Sachangaben über die Gründe für die Festnahme sowie über Art und Grund des Tatvorwurfs und die entsprechende Rechtsgrundlage. Der Umfang der der beschuldigten Person mitzuteilenden Informationen hängt von der Art und der Komplexität des Falls ab, denn Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe b sieht vor, dass der Person „ausreichende Zeit und Gelegenheit “ zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu geben ist; je nach Fall wird darunter etwas anderes zu verstehen sein.[16] Demzufolge kann von den Behörden erwartet werden, dass sie zusätzliche Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass der Verdächtige die Informationen auch tatsächlich versteht.[17] Der Rechtsprechung des EGMR ist zu entnehmen, dass die meisten Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen die positiven Maßnahmen zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens betreffen. Es genügt nicht, die Informationen nur deshalb zur Verfügung zu stellen, weil der Verdächtige selbst darum bitten könnte. Pflicht der Strafverfolgungsbehörde ist es, den Verdächtigen über Art und Grund des Tatvorwurfs zu unterrichten, eine Pflicht, der sie nicht passiv nachkommen kann, indem sie die Informationen bereitstellt, ohne die Verteidigung davon in Kenntnis zu setzen.[18] Die EMRK enthält keinerlei Hinweis darauf, wie die Informationen zu vermitteln sind. Auch wenn der Gerichtshof im Fall Kamasinski[19] befand, dass einem Verdächtigen grundsätzlich eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift auszuhändigen ist, wenn dieser die betreffende Sprache nicht versteht, akzeptierte er, dass mündliche Erklärungen ausreichen, um Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a zu entsprechen.

18. Im Einklang mit dem im Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte erteilten Auftrag werden in dieser Richtlinie auf EU-Ebene Mindestanforderungen für die Belehrung von Verdächtigen und Beschuldigten über ihre Verfahrensrechte und den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Die Richtlinie stützt sich auf die Artikel 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den EGMR und fördert somit die Anwendung der Charta der Grundrechte, insbesondere ihrer Artikel 6, 47 und 48.

4. Der Vorschlag im Einzelnen

Artikel 1 – Ziel

19. Dieser Artikel enthält das Ziel der Richtlinie, Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen und Beschuldigten auf Rechtsbelehrung und auf Belehrung über den in Strafverfahren gegen sie erhobenen Tatvorwurf festzulegen.

Artikel 2 – Anwendungsbereich

20. Die Richtlinie findet Anwendung ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, bis zum Abschluss des Verfahrens (einschließlich etwaiger Rechtsmittelinstanzen). Keine Anwendung findet sie hingegen in Verfahren von Verwaltungsbehörden, die Verstöße gegen nationale oder europäische Wettbewerbsvorschriften betreffen, es sei denn, der Fall ist Gegenstand eines Verfahrens vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht.

21. Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls[20] sind ausdrücklich eingeschlossen. Dabei finden aufgrund der Richtlinie die in den Artikeln 47 und 48 der Charta sowie den Artikeln 5 und 6 EMRK vorgesehenen Verfahrensgarantien Anwendung auf die Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls.

Artikel 3 – Recht auf Rechtsbelehrung

22. In diesem Artikel wird der allgemeine Grundsatz festgelegt, dass alle Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zum frühestmöglichen Zeitpunkt des Verfahrens über die relevanten Verfahrensrechte zu informieren sind. Die betreffenden Informationen sind mündlich oder schriftlich in einfacher und leicht verständlicher Sprache zu erteilen.

23. Absatz 2 dieses Artikels enthält jene Mindestrechte und Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die sich aus der Charta, der EMRK, dem IPbpR und den geltenden EU-Rechtsvorschriften ergeben und die bei Einleitung eines Strafverfahrens für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind.

Artikel 4 – Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung bei Festnahme

24. Nach diesem Artikel sind die Mitgliedstaaten generell verpflichtet, Verdächtige oder Beschuldigte über ihre Verfahrensrechte zu informieren, wenn den Betroffenen von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Zuge eines Strafverfahrens aufgrund des Verdachts der Begehung einer Straftat die Freiheit entzogen wird (indem sie zum Beispiel von der Polizei festgenommen und auf richterliche Anordnung hin in Untersuchungshaft genommen werden). Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass diese Personen schriftlich über ihre relevanten Rechte informiert werden. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hat in seinen Berichten wiederholt betont, dass nach seiner Erfahrung im Zeitraum unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzuges das Risiko von Einschüchterung und körperlicher Misshandlung für den Festgenommenen am größten ist. Nach Auffassung des CPT ist es unerlässlich, dass Verdächtige oder Beschuldigte unmittelbar, d. h. ohne Verzögerung nach ihrer Festnahme, und möglichst wirksam, nämlich durch ein Formular, auf dem ihre Rechte klar erläutert sind, über diese belehrt werden[21] (Erklärung der Rechte). In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung des EGMR[22] müssen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass der Festgenommene die in der Erklärung der Rechte enthaltenen Informationen im Wesentlichen versteht. Dem Festgenommenen muss erlaubt werden, die Erklärung der Rechte während der Dauer der Haft zu behalten.

25. Die Erklärung der Rechte ist in einer Sprache abzufassen, die ein Laie ohne Strafverfahrenskenntnisse leicht versteht; sie muss die Informationen enthalten, auf die Artikel 3 Absatz 2 Bezug nimmt. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer solchen Erklärung der Rechte zu erleichtern und die Kohärenz der schriftlich erteilten Informationen in der Europäischen Union zu verbessern, enthält Anhang I der Richtlinie ein Muster der Erklärung der Rechte, das die Mitgliedstaaten verwenden können. Dieses Muster ist nicht endgültig und kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Der Inhalt des Musters berührt nicht die derzeit in den Mitgliedstaaten geltenden Rechte.

26. Die Erklärung der Rechte ist dem Verdächtigen oder Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache auszuhändigen. Von den Polizeibehörden wird erwartet, dass sie über elektronische Fassungen aller in dem betreffenden Ort geläufigen Sprachen verfügen, die bei Bedarf ausgedruckt werden können. Ist eine bestimmte Sprachfassung nicht verfügbar, so ist der Verdächtige oder Beschuldigte in einer ihm verständlichen Sprache mündlich über seine Rechte zu belehren; die Erklärung der Rechte ist ihm (nach Übersetzung in die entsprechende Sprache) unverzüglich auszuhändigen. Für Sehbehinderte, Blinde oder des Lesens unkundige Personen müssen die Mitgliedstaaten eine andere Informationsmethode vorsehen.

Artikel 5 – Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

27. Andere Rechte gelten für Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist (zum Beispiel das Recht auf Anhörung). Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass eine besondere Fassung der Erklärung der Rechte für die betroffenen Personen vorhanden ist. Anhang II der Richtlinie enthält ein Muster der Erklärung der Rechte, das die Mitgliedstaaten verwenden können. Dieses Muster ist nicht endgültig und kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Der Inhalt des Musters berührt nicht die derzeit in den Mitgliedstaaten geltenden Rechte.

Artikel 6 – Recht auf Belehrung über den Tatvorwurf

28. Wird einer Person eine Straftat zur Last gelegt, ist sie unverzüglich, detailliert und in einer ihr verständlichen Sprache zu unterrichten, damit sie ihre Verteidigung vorbereiten und bei Bedarf im Vorverfahren ergangene Entscheidungen anfechten kann. Dieses Erfordernis ist sowohl in der Charta als auch in der EMRK verankert. In diesem Artikel ist genau festgelegt, welche Informationen mindestens zu erteilen sind.

Artikel 7 – Recht auf Akteneinsicht

29. Damit ein Verdächtiger oder Beschuldigter seine Verteidigung während des Prozesses angemessen vorbereiten kann, sind ihm detaillierte Informationen über den Tatvorwurf zur Verfügung zu stellen; am wirksamsten geschieht dies, indem ihm oder seinem Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt wird. Aktuelle Untersuchungen[23] haben ergeben, dass in den meisten Mitgliedstaaten in einer bestimmten Phase des Strafverfahrens bereits Akteneinsicht möglich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR sind die Mitgliedstaaten nach Maßgabe von Artikel 5 Absatz 4 und Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe b EMRK sowie aufgrund des Grundsatzes der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung gehalten, entsprechend dem Stand des Strafverfahrens der Verteidigung alle materiellen Beweise zugunsten oder zulasten des Beschuldigten offenzulegen[24] und dem Rechtsanwalt des Beschuldigten Einsicht in die maßgeblichen Aktenunterlagen zu gewähren[25].

30. Gemäß Absatz 1 ist einem Verdächtigen oder Beschuldigten, der im Zuge eines Strafverfahrens festgenommen wird, Einsicht in jene Aktenunterlagen zu gewähren, die für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung durch die zuständige Justizbehörde maßgeblich sind. Diese beschränkte Akteneinsicht gewährleistet die Fairness des Vorverfahrens in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Festnahme und der Inhaftierung. Bei der Entscheidung darüber, in welche Unterlagen und Informationen Einsicht gewährt wird, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dafür sorgen, dass die Wirksamkeit von Kronzeugenregelungen, die bei strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit Kartellpraktiken zur Anwendung gelangen, gewahrt wird.

31. Absatz 2 verpflichtet die Mitgliedstaaten, allen Beschuldigten, unabhängig davon, ob sich diese in Gewahrsam befinden oder nicht, nach Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen Akteneinsicht zu gewähren. Die zuständige Justizbehörde kann die Einsicht in bestimmte Aktenunterlagen verweigern, wenn die Einsicht in diese Unterlagen das Leben eines anderen ernsthaft gefährden oder die innere Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigen kann. Eine solche Beschränkung der Akteneinsicht ist nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zulässig.

32. Die Akteneinsicht darf sich nicht auf eine einmalige Aktenprüfung beschränken. Weitere Akteneinsicht ist zu gewähren, sofern der Beschuldigte oder sein Rechtsanwalt dies für erforderlich halten. Wenn eine Akte besonders umfangreich ist oder die Interessen der Rechtspflege es erfordern, ist dem Beschuldigten ein Verzeichnis der in der Akte enthaltenen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, damit er entscheiden kann, in welche Unterlagen er Einsicht zu nehmen wünscht.

Artikel 8 – Überprüfung und Rechtsmittel

33. Um sicherzustellen, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter alle Informationen erhält, auf die er Anspruch hat, müssen die Mitgliedstaaten ein Verfahren einführen, anhand dessen festgestellt werden kann, ob der Betreffende die Informationen erhalten hat. Dabei kann es sich beispielsweise um ein Formular handeln, das der Betreffende unterzeichnet, um zu bestätigen, dass er die Informationen erhalten hat, oder um einen Vermerk im Haftprotokoll.

Artikel 9 – Schulung

34. Durch diesen Artikel soll sichergestellt werden, dass Polizeibeamte, Richter und Staatsanwälte der Mitgliedstaaten die erforderliche Schulung erhalten, um ihren Pflichten aus den Artikeln 3 bis 8 der Richtlinie angemessen nachkommen zu können. So ist es unerlässlich, dass diese Beamten über die notwendige genaue Kenntnis der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten verfügen, um sachdienliche, praktische und wirkungsvolle Informationen über diese Rechte erteilen zu können.

Artikel 10 – Regressionsverbot

35. Durch diesen Artikel soll sichergestellt werden, dass es durch die Festlegung gemeinsamer Mindestnormen im Einklang mit dieser Richtlinie in bestimmten Mitgliedstaaten nicht zur Absenkung der Standards kommt und dass die Standards der EMRK beibehalten werden. Es steht den Mitgliedstaaten weiterhin ohne Einschränkung frei, höhere Anforderungen als die der Richtlinie festzulegen.

Artikel 11 – Umsetzung

36. Dieser Artikel verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Richtlinie bis zum x.xx.20xx umzusetzen. Bis dahin müssen sie der Kommission auch den Wortlaut der Bestimmungen übermitteln, mit denen sie die Richtlinie in innerstaatliches Recht umsetzen.

Artikel 12 – Bericht

37. 36 Monate nach Veröffentlichung der Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union muss die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht übermitteln, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, um der Richtlinie nachzukommen, und diesem Bericht gegebenenfalls Legislativvorschläge beifügen.

Artikel 13 – Inkrafttreten

38. Dieser Artikel sieht vor, dass die Richtlinie am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft tritt.

Anhang I

39. Dieser Anhang enthält ein vorläufiges Muster der Erklärung der Rechte, die gemäß Artikel 4 Absatz 1 Verdächtigen oder Beschuldigten bei der Festnahme auszuhändigen ist. In dem Muster der Erklärung der Rechte werden die unmittelbar relevanten Mindestrechte, die in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie aufgeführt sind, in einfacher Sprache erläutert. Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, das Muster zu verwenden, doch wird davon ausgegangen, dass diejenigen, die dies tun, Artikel 4 der Richtlinie umgesetzt haben. Das Muster kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Der Inhalt des Musters berührt nicht die derzeit in den Mitgliedstaaten geltenden Rechte.

Anhang II

40. Dieser Anhang enthält ein vorläufiges Muster der Erklärung der Rechte, die gemäß Artikel 5 Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, auszuhändigen ist. Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, das Muster zu verwenden, doch wird davon ausgegangen, dass diejenigen, die dies tun, Artikel 5 der Richtlinie umgesetzt haben. Das Muster kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Der Inhalt des Musters berührt nicht die derzeit in den Mitgliedstaaten geltenden Rechte.

5. Subsidiaritätsprinzip

41. Das Ziel des Vorschlags lässt sich von den Mitgliedstaaten allein nicht hinreichend verwirklichen, weil hinsichtlich der genauen Art und Weise und des Zeitpunkts der Bereitstellung der entsprechenden Informationen immer noch erhebliche Unterschiede bestehen, wodurch es zu unterschiedlichen Standards in der EU kommt. Da der Vorschlag die Förderung gegenseitigen Vertrauens zum Ziel hat, können kohärente gemeinsame Mindestnormen mit unionsweiter Geltung nur durch ein Tätigwerden der EU festgelegt werden. Mit dem Vorschlag sollen die wichtigsten verfahrensrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Belehrung über die Rechte und darüber, was einer Person zur Last gelegt wird, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, angeglichen werden, um untereinander Vertrauen aufzubauen. Der Vorschlag steht daher mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang. Die Kommission schlägt eine Lösung vor, die geringfügig von der nach der Folgenabschätzung vorzuziehenden Option abweicht, aber vergleichbare Auswirkungen hat. Die Kosten der von der EU vorgesehenen Maßnahmen entsprechen denjenigen, die für die ursprünglich vorgezogene Option veranschlagt wurden; den Mitgliedstaaten entstehen zusätzliche Kosten nur dann, wenn sie in Bezug auf die Erklärung der Rechte ihren Ermessensspielraum in Anspruch nehmen anstatt das vorgeschlagene Muster zu verwenden.

6. Grundsatz der Verhältnismässigkeit

42. Der Vorschlag entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da er nicht über das Maß hinausgeht, das erforderlich ist, um das erklärte Ziel auf europäischer Ebene zu erreichen.

2010/0215 (COD)

Vorschlag für eine

RICHTLINIE …/…/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES

über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION –

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Rechtsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses[26],

nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen[27],

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1) In Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („Charta“), Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 der Charta gewährleistet die Achtung der Verteidigungsrechte.

(2) In Artikel 6 der Charta und Artikel 5 EMRK ist das Recht auf Freiheit und Sicherheit verankert; die Einschränkungen, denen dieses Recht unterliegen kann, dürfen nicht über die Einschränkungen hinausgehen, die im Rahmen des Artikels 5 EMRK und nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zulässig sind.

(3) Die Europäische Union hat sich den Aufbau und die Erhaltung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt. Der Europäische Rat von Tampere erhob in seinen Schlussfolgerungen – insbesondere Ziffer 33 – vom 15. und 16. Oktober 1999 den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Union, da eine verbesserte gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen und Urteilen und die notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern würden.

(4) Am 29. November 2000 verabschiedete der Rat im Einklang mit den Schlussfolgerungen von Tampere ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen[28]. In der Einleitung dieses Programms heißt es, die gegenseitige Anerkennung „soll es ermöglichen, […] die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten“ und „den Schutz der Persönlichkeitsrechte zu verstärken“.

(5) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten Vertrauen in die jeweils anderen Strafrechtssysteme haben. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt sehr stark von einer Reihe von Parametern ab, unter anderem von Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen und von gemeinsamen Mindestnormen zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung.

(6) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kann nur in einem Klima des Vertrauens richtig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als mit denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; hierzu bedarf es des Vertrauens nicht nur in die Rechtsvorschriften seiner Partner, sondern auch in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften.

(7) Zwar sind die Mitgliedstaaten Vertragsstaaten der EMRK und des IPbpR, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dies allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafjustiz anderer Mitgliedstaaten schafft.

(8) Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens bedarf es detaillierter Bestimmungen zum Schutz der Verfahrensrechte und –garantien, die auf die Charta, die EMRK und den IPbpR zurückgehen. Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten in keinem Fall die in der Konvention und der Charta festgelegten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Standards unterschreiten.

(9) Nach Artikel 82 Absatz 2 AEUV können zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension in den Mitgliedstaaten anwendbare Mindestvorschriften festgelegt werden. Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b nennt „die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“ als einen der Bereiche, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können.

(10) Gemeinsame Mindestvorschriften sollten das Vertrauen in die Strafjustiz aller Mitgliedstaaten stärken, was wiederum zu einer wirksameren justiziellen Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens und zur Förderung einer Grundrechtskultur in der Europäischen Union führen sollte. Sie sollten auch dazu beitragen, Hindernisse für den freien Personenverkehr zu beseitigen. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften sollten für die Belehrung in Strafverfahren gelten.

(11) Am 30. November 2009 verabschiedete der Rat den Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren („Fahrplan“)[29]. Der Fahrplan sieht einen schrittweisen Ansatz vor und fordert die Annahme von Maßnahmen betreffend das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, das Recht auf Rechtsbelehrung und Belehrung über den Tatvorwurf, das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe, das Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden sowie besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige und Beschuldigte. Im Fahrplan wird betont, dass die Reihenfolge der Rechte nur indikativ ist, und damit impliziert, dass diese Reihenfolge entsprechend den Prioritäten geändert werden kann. Der Fahrplan soll in seiner Gesamtheit wirken und wird erst dann voll zum Tragen kommen, wenn alle darin vorgesehenen Einzelmaßnahmen umgesetzt worden sind.

(12) In dem am 11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm[30] begrüßte der Europäische Rat den Fahrplan und nahm ihn in das Stockholmer Programm (Abschnitt 2.4.) auf. Der Europäische Rat betonte den nicht erschöpfenden Charakter des Fahrplans und forderte die Kommission auf, weitere Elemente von Mindestverfahrensrechten in Bezug auf Verdächtige und Beschuldigte zu prüfen und zu bewerten, ob andere Themen, beispielsweise die Unschuldsvermutung, angegangen werden müssen, um eine bessere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu fördern.

(13) Die erste Maßnahme des Fahrplans ist eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Strafverfahren[31].

(14) Die vorliegende Richtlinie bezieht sich auf die Maßnahme B des Fahrplans. Sie legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und darüber, was Personen zur Last gelegt wird, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu stärken. Die Richtlinie stützt sich auf die Artikel 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und fördert somit die Anwendung der Charta, insbesondere ihrer Artikel 6, 47 und 48. Die Kommission kündigte in ihrer Mitteilung „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürger Europas – Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms“[32] für 2010 die Vorlage eines Vorschlags über das Recht auf Belehrung an.

(15) Die Richtlinie findet keine Anwendung in Verfahren von Verwaltungsbehörden, die Verstöße gegen nationale oder europäische Wettbewerbsvorschriften betreffen, es sei denn, der Fall ist Gegenstand eines Verfahrens vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht.

(16) Das Recht auf Rechtsbelehrung (das sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ableiten lässt) sollte durch die Richtlinie ausdrücklich festgelegt werden. Die Richtlinie bietet somit einen Schutz, der über den durch die EMRK gegenwärtig gewährleisteten Schutz hinausgeht. Die Belehrung über den Tatvorwurf ist ein Recht, das in den Artikeln 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie in den Artikeln 9 und 14 IPbpR verankert ist. Die Bestimmungen der vorliegenden Richtlinie sollen die praktische Anwendung dieser Rechte mit dem Ziel der Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren erleichtern.

(17) Ein Verdächtiger oder Beschuldigter sollte seine Rechte kennen und verstehen und diese Rechte vor einer polizeilichen Vernehmung in Anspruch nehmen können. Er sollte unverzüglich in einer ihm verständlichen Sprache über Art und Grund des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfs sowie über die unmittelbar relevanten Rechte informiert werden.

(18) Alle Verdächtigen und Beschuldigten sollten unmittelbar nach Einleitung eines Strafverfahrens mündlich oder schriftlich über ihre Rechte belehrt werden. Die im Rahmen dieser Richtlinie vorgeschriebene Rechtsbelehrung sollte mindestens Informationen zu folgenden Rechten umfassen: Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, Recht auf Belehrung über den Tatvorwurf und gegebenenfalls auf Akteneinsicht, Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen für Personen, die die Verfahrenssprache nicht verstehen, und – im Falle der Festnahme eines Verdächtigen oder Beschuldigten – Recht, unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden. Dies berührt nicht die Informationen, die über andere Verfahrensrechte aufgrund der Charta, der EMRK, des IPbpR und der geltenden EU-Rechtsvorschriften in der Auslegung durch die zuständigen Gerichte erteilt werden.

(19) Jeder Verdächtige oder Beschuldigte ist bei seiner Festnahme über diese unmittelbar relevanten Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte zu belehren, die leicht verständlich abgefasst ist, um zu gewährleisten, dass er seine Rechte tatsächlich versteht. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer solchen Erklärung der Rechte zu erleichtern und die Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern, enthält Anhang I der Richtlinie ein Muster der Erklärung der Rechte, das die Mitgliedstaaten verwenden können. Dieses Muster ist nicht endgültig und kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Die auf diesem Muster basierende tatsächliche Erklärung der Rechte sollte auch andere in den Mitgliedstaaten geltende relevante Verfahrensrechte umfassen.

(20) Einer Person, die der Begehung einer Straftat beschuldigt wird, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigt, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.

(21) Dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter über hinlängliche Informationen über den Tatvorwurf verfügt, lässt sich am wirksamsten sicherstellen, wenn ihm oder seinem Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt wird. Diese Akteneinsicht kann beschränkt werden, wenn sie das Leben eines anderen oder die innere Sicherheit des Mitgliedstaats ernsthaft gefährdet.

(22) Die Mitgliedstaaten sollten ein Verfahren besitzen, anhand dessen geprüft werden kann, ob Verdächtigen oder Beschuldigten alle Informationen über ihre Rechte und den Tatvorwurf, auf die sie Anspruch haben, zur Verfügung gestellt wurden.

(23) Die zuständigen Beamten der Mitgliedstaaten sollten eine angemessene Schulung über die Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten erhalten.

(24) Im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes gilt als Kind jede Person unter 18 Jahren. Bei allen Maßnahmen im Zusammenhang mit Kindern muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(25) Die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte sollten für Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten[33] entsprechend gelten. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer entsprechenden Erklärung der Rechte zu erleichtern und die Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern, enthält Anhang II der Richtlinie ein Muster der Erklärung der Rechte, das die Mitgliedstaaten verwenden können. Dieses Muster ist nicht endgültig und kann im Zusammenhang mit dem Bericht über die Richtlinienumsetzung, den die Europäische Kommission gemäß Artikel 12 der Richtlinie vorzulegen hat, und außerdem nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden.

(26) Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um in Fällen, auf die in dieser Richtlinie nicht ausdrücklich eingegangen wird, ein höheres Schutzniveau vorzusehen. Das Schutzniveau sollte niemals die von der EMRK vorgesehenen Standards, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelegt werden, unterschreiten.

(27) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, die Verteidigungsrechte und die Rechte des Kindes gefördert werden. Sie ist entsprechend umzusetzen.

(28) Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie, wenn sie Rechten entsprechen, die durch die EMRK gewährleistet werden, entsprechend den von der EMRK vorgesehenen Rechten, wie sie in der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt wurden, umgesetzt werden.

(29) Da das Ziel der Festlegung gemeinsamer Mindestnormen durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten weder auf nationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene, sondern nur auf Unionsebene zu verwirklichen ist, können das Europäische Parlament und der Rat im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Gemäß dem in dem genannten Artikel verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.

(30) [Gemäß den Artikeln 1, 2, 3 und 4 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben das Vereinigte Königreich und Irland mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie beteiligen möchten] ODER [Unbeschadet des Artikels 4 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an der Annahme dieser Richtlinie, die daher für das Vereinigte Königreich und Irland weder bindend noch anwendbar ist][34].

(31) Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position des Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie, die daher für Dänemark weder bindend noch anwendbar ist –

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Artikel 1 Ziel

Mit der Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen und Beschuldigten auf Rechtsbelehrung und auf Belehrung über den in Strafverfahren gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt.

Artikel 2 Anwendungsbereich

(1) Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt wird, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder Beschuldigte die Straftat begangen hat, einschließlich gegebenenfalls der Verurteilung und der Entscheidung über ein eingelegtes Rechtsmittel.

(2) Diese Richtlinie gilt auch für Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

Artikel 3 Recht auf Rechtsbelehrung

(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass jede Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, unverzüglich in einfacher und leicht verständlicher Sprache über ihre Verfahrensrechte belehrt wird.

(2) Die Informationen nach Absatz 1 betreffen mindestens:

- das Recht auf – erforderlichenfalls unentgeltliche – Hinzuziehung eines Rechtsanwalts,

- das Recht auf Belehrung über den Tatvorwurf und gegebenenfalls auf Akteneinsicht,

- das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen,

- im Falle der Festnahme eines Verdächtigen oder Beschuldigten das Recht, unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden.

Artikel 4 Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung bei Festnahme

(1) Eine Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats im Zuge eines Strafverfahrens festgenommen wird, wird unverzüglich schriftlich über ihre Verfahrensrechte belehrt (Erklärung der Rechte). Sie erhält Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und darf diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen.

(2) Die Erklärung der Rechte wird in einfacher Sprache abgefasst und enthält mindestens die Informationen gemäß Artikel 3 Absatz 2. Anhang I der Richtlinie enthält ein vorläufiges Muster einer solchen Erklärung der Rechte.

(3) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter, der die Verfahrenssprache nicht spricht oder nicht versteht, die Erklärung der Rechte in einer ihm verständlichen Sprache erhält. Die Mitgliedstaaten sorgen für ein Verfahren, damit sehbehinderte oder des Lesens unkundige Verdächtige oder Beschuldigte entsprechend informiert werden. Handelt es sich bei dem Verdächtigen oder Beschuldigten um ein Kind, so werden die in der Erklärung der Rechte enthaltenen Informationen auch mündlich in einer Weise vermittelt, die dem Alter, dem Reifegrad sowie den geistigen und seelischen Fähigkeiten des Kindes Rechnung trägt.

(4) Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so wird der Verdächtige oder Beschuldigte in einer ihm verständlichen Sprache mündlich über seine Rechte belehrt. Später wird ihm ohne unnötige Verzögerung eine Erklärung der Rechte in einer ihm verständlichen Sprachfassung ausgehändigt.

Artikel 5 Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, die einem Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unterliegen, eine entsprechende Erklärung der Rechte erhalten, in der ihre Rechte gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI dargelegt sind. Anhang II der Richtlinie enthält ein vorläufiges Muster einer solchen Erklärung der Rechte.

Artikel 6 Recht auf Belehrung über den Tatvorwurf

(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter hinlängliche Informationen über den Tatvorwurf erhält, damit ein faires Strafverfahren gewährleistet ist.

(2) Die gemäß Absatz 1 erforderlichen Informationen werden unverzüglich, detailliert und in einer dem Verdächtigen oder Beschuldigten verständlichen Sprache erteilt. Im Falle eines Kindes erfolgt die Belehrung über den Tatvorwurf in einer Weise, die dem Alter, dem Reifegrad sowie den geistigen und seelischen Fähigkeiten des Kindes Rechnung trägt.

(3) Unter anderem werden folgende Informationen erteilt:

a) Beschreibung der Umstände der Tatbegehung, einschließlich der Tatzeit, des Tatorts und des Grads der Tatbeteiligung des Verdächtigen oder Beschuldigten und

b) Art und rechtliche Einstufung der Straftat.

Artikel 7 Recht auf Akteneinsicht

(1) Wird ein Verdächtiger oder Beschuldigter zu einem bestimmten Zeitpunkt des Strafverfahrens festgenommen, so tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass ihm oder seinem Rechtsanwalt Einsicht in jene Aktenunterlagen gewährt wird, die für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung maßgeblich sind.

(2) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass einem Beschuldigten oder seinem Rechtsanwalt nach Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen Akteneinsicht gewährt wird. Die zuständige Justizbehörde kann die Einsicht in bestimmte Aktenunterlagen verweigern, wenn die Einsicht in diese Unterlagen das Leben eines anderen ernsthaft gefährden oder die innere Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigen kann. Wenn die Interessen der Rechtspflege es erfordern, kann der Beschuldigte oder sein Rechtsanwalt ein Verzeichnis der in der Akte enthaltenen Unterlagen verlangen.

(3) Die Akteneinsicht wird rechtzeitig gewährt, damit der Verdächtige oder Beschuldigte seine Verteidigung vorbereiten oder im Vorverfahren ergangene Entscheidungen anfechten kann. Sie erfolgt unentgeltlich.

Artikel 8 Überprüfung und Rechtsmittel

(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ein Verfahren besteht, anhand dessen festgestellt werden kann, ob ein Verdächtiger oder Beschuldigter alle für ihn maßgeblichen Informationen gemäß den Artikeln 3 bis 7 erhalten hat.

(2) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen kann, wenn er diese Informationen nicht erhält.

(3) Erfolgt die Rechtsbelehrung im Einklang mit Artikel 4 Absatz 4 mündlich, so wird sie so aufgezeichnet, dass der mitgeteilte Inhalt überprüft werden kann.

Artikel 9 Schulung

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die zuständigen Beamten in Polizei- und Justizbehörden eine ihren in den Artikeln 3 bis 8 festgelegten Pflichten entsprechende Schulung erhalten. Die Mitgliedstaaten tragen insbesondere dafür Sorge, dass die zuständigen Beamten die Rechte von Verdächtigen und Beschuldigten gemäß Artikel 3 hinlänglich kennen, damit eine angemessene Vermittlung der Informationen über diese Rechte gewährleistet ist.

Artikel 10 Regressionsverbot

Keine Bestimmung dieser Richtlinie ist so auszulegen, dass dadurch die Rechte und Verfahrensgarantien nach Maßgabe der EMRK, des IPbpR und anderer einschlägiger Bestimmungen des Völkerrechts oder der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, beschränkt oder beeinträchtigt würden.

Artikel 11 Umsetzung

(1) Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum [35] die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen.

(2) Sie teilen der Kommission den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mit und fügen eine Tabelle der Entsprechungen zwischen der Richtlinie und diesen innerstaatlichen Rechtsvorschriften bei.

(3) Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.

Artikel 12 Bericht

Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum ………. [36] einen Bericht, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen getroffen haben, um dieser Richtlinie nachzukommen, und unterbreitet gegebenenfalls Legislativvorschläge.

Artikel 13 Inkrafttreten

Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Artikel 14

Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.

Geschehen zu Brüssel am

Im Namen des Europäischen Parlaments Im Namen des Rates

Der Präsident Der Präsident

ANHANG I

[pic]

Vorläufiges[37] Muster der Erklärung der Rechte, die Verdächtigen und Beschuldigten bei Festnahme auszuhändigen ist:

Im Falle einer Festnahme durch die Polizei haben Sie das Recht,

A. darüber informiert zu werden, welcher Straftat Sie verdächtigt werden,

B. einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen,

C. einen Dolmetscher hinzuzuziehen und die Übersetzung der Unterlagen zu verlangen, falls Sie die betreffende Sprache nicht verstehen,

D. zu erfahren, wie lange Sie festgehalten werden können.

Diese Erklärung der Rechte dürfen Sie während der Haft behalten.

A. Information über den Verdacht

- Auch wenn die Polizei Sie nicht vernimmt, haben Sie unmittelbar nach dem Freiheitsentzug das Recht zu erfahren, warum Sie im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben.

- Sie oder Ihr Rechtsanwalt können beantragen, Einsicht in die Aktenunterlagen, die Ihre Festnahme und Haft betreffen, zu nehmen oder eingehend über ihren Inhalt informiert zu werden.

B. Hinzuziehung eines Rechtsanwalts

- Sie haben das Recht, sich vor der polizeilichen Vernehmung mit einem Rechtsanwalt zu beraten.

- Ihr Wunsch, mit einem Rechtsanwalt zu sprechen, macht Sie nicht verdächtig.

- Die Polizei muss Ihnen bei der Kontaktaufnahme mit einem Rechtsanwalt behilflich sein.

- Der Rechtsanwalt ist von der Polizei unabhängig und gibt keine Einzelheiten aus dem Gespräch mit Ihnen preis.

- Sie haben das Recht, sowohl in der Polizeidienststelle als auch am Telefon ohne Gegenwart Dritter mit einem Rechtsanwalt zu sprechen.

- Sind Sie nicht in der Lage, einen Rechtsanwalt zu bezahlen, so muss die Polizei Sie über die Möglichkeit eines unentgeltlichen oder teilweise unentgeltlichen Rechtsbeistands informieren.

C. Hinzuziehung eines Dolmetschers

- Wenn Sie die betreffende Sprache nicht verstehen oder sprechen, wird ein Dolmetscher für Sie hinzugezogen. Der Dolmetscher ist von der Polizei unabhängig und gibt keine Einzelheiten aus dem Gespräch mit Ihnen preis.

- Sie können auch um Hinzuziehung eines Dolmetschers bitten, damit Sie sich besser mit Ihrem Rechtsanwalt verständigen können.

- Die Unterstützung durch einen Dolmetscher erfolgt unentgeltlich.

- Sie haben das Recht auf eine Übersetzung jeder richterlichen Anordnung, die Ihre Festnahme oder Ihren weiteren Gewahrsam ermöglicht. Sie können außerdem beantragen, dass weitere wichtige Ermittlungsunterlagen für Sie übersetzt werden.

D. Wie lange kann Ihnen die Freiheit entzogen werden?

- Wenn Sie nicht freigelassen werden, müssen Sie binnen *[38] Stunden nach dem Freiheitsentzug einem Richter vorgeführt werden.

- Der Richter muss Sie sodann anhören und kann darüber entscheiden, ob Sie weiterhin in Gewahrsam zu halten oder freizulassen sind. Entscheidet der Richter, dass Sie in Gewahrsam bleiben müssen, so haben Sie das Recht auf eine Übersetzung der richterlichen Entscheidung.

- Sie haben das Recht, jederzeit Ihre Freilassung zu beantragen. Ihr Rechtsanwalt kann Sie darüber beraten, wie dabei vorzugehen ist.

ANHANG II

[pic]

Vorläufiges[39] Muster der Erklärung der Rechte, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Personen auszuhändigen ist:

Wenn Sie von der Polizei auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, haben Sie das Recht,

A. den Festnahmegrund zu erfahren,

B. einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen,

C. einen Dolmetscher hinzuzuziehen und die Übersetzung der Unterlagen zu verlangen, falls Sie die betreffende Sprache nicht verstehen,

D. über Ihr Recht auf Zustimmung zur Übergabe informiert zu werden,

E. angehört zu werden, wenn Sie der Übergabe nicht zustimmen,

F. nach Fristablauf freigelassen zu werden.

Diese Erklärung der Rechte dürfen Sie während der Haft behalten.

A. Recht auf Information über den Festnahmegrund

- Sie haben das Recht zu erfahren, warum Sie von einem anderen Land gesucht werden.

B. Hinzuziehung eines Rechtsanwalts

- Sie haben das Recht, einen Rechtsanwalt hinzuziehen. Die Polizei muss Ihnen bei der Kontaktaufnahme mit einem Rechtsanwalt behilflich sein.

- Der Rechtsanwalt ist von der Polizei unabhängig und gibt keine Einzelheiten aus dem Gespräch mit Ihnen preis.

- Sie haben das Recht, sowohl in der Polizeidienststelle als auch am Telefon ohne Gegenwart Dritter mit einem Rechtsanwalt zu sprechen.

- Sind Sie nicht in der Lage, einen Rechtsanwalt zu bezahlen, so muss die Polizei Sie über die Möglichkeit eines unentgeltlichen Rechtsbeistands informieren.

C. Hinzuziehung eines Dolmetschers

- Wenn Sie die betreffende Sprache nicht verstehen oder sprechen, wird ein Dolmetscher für Sie hinzugezogen. Der Dolmetscher ist von der Polizei unabhängig und gibt keine Einzelheiten aus dem Gespräch mit Ihnen preis.

- Sie können auch um Hinzuziehung eines Dolmetschers bitten, damit Sie sich besser mit Ihrem Rechtsanwalt verständigen können.

- Die Unterstützung durch einen Dolmetscher erfolgt unentgeltlich.

- Sie haben das Recht auf eine Übersetzung jeder richterlichen Anordnung, die Ihre Festnahme oder Ihren weiteren Gewahrsam ermöglicht. Sie können außerdem beantragen, dass weitere wichtige Ermittlungsunterlagen für Sie übersetzt werden.

D. Recht auf Zustimmung zur Übergabe

- Sie haben das Recht, Ihrer Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zuzustimmen. Dies dürfte das Verfahren beschleunigen.

- Wenn Sie der Übergabe zugestimmt haben, kann es schwierig sein, diese Entscheidung später zu ändern. Sie sollten sich daher zuerst mit einem Rechtsanwalt über eine etwaige Zustimmung zur Übergabe beraten.

E. Recht auf Anhörung

- Sind Sie nicht damit einverstanden, in den Mitgliedstaat, in dem Sie gesucht werden, überstellt zu werden, so haben Sie das Recht, ein Gericht anzurufen und zu erläutern, warum Sie Ihre Zustimmung verweigern.

F. Recht auf Freilassung nach Fristablauf

- Generell müssen Sie binnen zehn Tagen nach einer endgültigen Gerichtsentscheidung, der zufolge Ihre Übergabe zu erfolgen hat, übergeben werden. Sind Sie nach zehn Tagen nicht übergeben worden, müssen die Behörden Sie normalerweise freilassen. Allerdings kann in bestimmten Fällen von dieser Regel abgewichen werden; daher sollten Sie sich hierüber mit Ihrem Rechtsanwalt beraten.

[1] Erläuterung zu Artikel 48, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte.

[2] 999 U.N.T.S. 171. Der IPbpR ist ein internationales Übereinkommen über bürgerliche und politische Rechte, das am 16. Dezember 1966 durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Unterzeichnung aufgelegt und von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde und somit für diese völkerrechtlich verbindlich ist.

[3] 15. /16. Oktober 1999.

[4] Schlussfolgerung 33.

[5] KOM(2000) 495 vom 29.7.2000.

[6] ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 10.

[7] KOM(2004) 328 vom 28.4.2004.

[8] ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

[9] Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 2009.

[10] T. Spronken, G. Vermeulen et al., EU Procedural Rights in Criminal Proceedings , Antwerpen 2009; E. Cape, Z. Namoradze et al., Effective Criminal Defence in Europe , Antwerpen 2010.

[11] Padalov gegen Bulgarien, Urteil vom 10. August 2006, Antrag Nr. 54784/00.

[12] Talat Tunc gegen Türkei , Urteil vom 27. März 2007, Antrag Nr. 32432/96.

[13] Panovits gegen Zypern , Urteil vom 11. Dezember 2008, Antrag Nr. 4268/04, §§ 72-73.

[14] Mattoccia gegen Italien , Urteil vom 25. Juli 2000, Antrag Nr. 23969/94, § 60.

[15] Fox, Campbell und Hartley , Urteil vom 30. August 1990, Antrag Nr. A 182, § 40.

[16] Pélissier und Sassi gegen Frankreich , Urteil vom 25. März 1999, Antrag Nr. 25444/94, § 54; Mattoccia gegen Italien , Urteil vom 25. Juli 2000, Antrag Nr. 23969/94, §§ 60 und 71.

[17] Brozicek gegen Italien , Urteil vom 19. Dezember 1989, Antrag Nr. 10964/84, § 41; Mattoccia gegen Italien , Urteil vom 25. Juli 2000, Antrag Nr. 23969/94, § 65; Vaudelle gegen Frankreich , Urteil vom 30. Januar 2000, Antrag Nr. 35683/97, § 59.

[18] Mattoccia gegen Italien , Urteil vom 25. Juli 2000, Antrag Nr. 23969/94, § 65.

[19] Kamasinsksi gegen Österreich , Urteil vom 19. Dezember 1989, Antrag Nr. 9783/82, § 79.

[20] Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI).

[21] CPT, „Die Standards des CPT“ – „Inhaltliche“ Abschnitte der Jahresberichte des CPT, CPT/Inf/E (2002) 1 – Rev. 2009, S. 11 und 12.

[22] Panovits gegen Zypern , Urteil vom 11. Dezember 2008, Antrag Nr. 4268/04, § 67.

[23] T. Spronken, G. Vermeulen et al., EU Procedural Rights in Criminal Proceedings , Antwerpen 2009; E. Cape, Z. Namoradze et al., Effective Criminal Defence in Europe , Antwerpen 2010.

[24] Edwards gegen Vereinigtes Königreich , Urteil vom 16. Dezember 1992, Antrag Nr. 13071/87, § 36.

[25] Garcia Alva gegen Deutschland , Urteil vom 13. Februar 2001, Antrag Nr. 23541/94, §§ 47-55; Schöps gegen Deutschland , Urteil vom 13. Februar 2001, Antrag Nr. 251164/94, §§ 41-42; Mooren gegen Deutschland , Urteil vom 9. Juli 2009, Antrag Nr. 11364/03, §§ 121-124.

[26] ABl. C […] vom […], S. […].

[27] ABl. C […] vom […], S. […].

[28] ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 10.

[29] ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

[30] ABl. C 115 vom 4.5.2010.

[31] Richtlinie 2010/xxx/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Strafverfahren (8. Oktober 2010).

[32] KOM(2010) 171 vom 20.4.2010.

[33] ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1.

[34] Der endgültige Wortlaut dieses Erwägungsgrunds der Richtlinie hängt von der tatsächlichen Position ab, die das Vereinigte Königreich und Irland entsprechend den Bestimmungen des Protokolls (Nr. 21) einnehmen.

[35] 24 Monate nach Veröffentlichung dieser Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union .

[36] 36 Monate nach Veröffentlichung dieser Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union .

[37] Zu ergänzen durch andere in den Mitgliedstaaten geltende relevante Verfahrensrechte.

[38] (…)

[39] Zu ergänzen durch andere in den Mitgliedstaaten geltende relevante Verfahrensrechte.

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