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Die unmittelbare Wirkung des Rechts der Europäischen Union

Die unmittelbare Wirkung des Rechts der Europäischen Union

 

ZUSAMMENFASSUNG DES DOKUMENTS:

Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung – Grundsatz der unmittelbaren Wirkung

WAS WIRD IN DEM URTEIL FESTGESTELLT?

  • In seinem Urteil verankert der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die unmittelbare Wirkung des Rechts der Europäischen Union (EU).
  • Das Urteil besagt, dass das EU-Recht nicht nur Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch Rechte für Einzelne hervorbringt. Einzelne können daher von diesen Rechten Gebrauch machen und sich vor nationalen und europäischen Gerichten direkt auf das EU-Recht berufen, unabhängig davon, ob eine Prüfung nach nationalem Recht vorliegt (d. h. wenn es nach nationalem Recht keinen Rechtsbehelf gibt).

WICHTIGE ECKPUNKTE

Horizontale und vertikale unmittelbare Wirkung

Es sind zwei Aspekte der unmittelbaren Wirkung zu unterscheiden: die vertikale und die horizontale Wirkung.

  • Die vertikale unmittelbare Wirkung bestimmt die Rechtsbeziehungen zwischen Einzelnen und dem Land. Dies bedeutet, dass Einzelne eine Vorschrift des EU-Rechts gegenüber dem Land geltend machen können.
  • Die horizontale unmittelbare Wirkung bestimmt die Rechtsbeziehungen zwischen den Einzelnen untereinander. Dies bedeutet, dass eine Person eine Vorschrift des EU-Rechts gegenüber einer anderen Person geltend machen kann.
  • Je nach Rechtsakt akzeptierte der Gerichtshof entweder eine vollständige unmittelbare Wirkung (d. h. eine horizontale unmittelbare Wirkung und eine vertikale unmittelbare Wirkung) oder eine teilweise unmittelbare Wirkung (d. h. auf die vertikale unmittelbare Wirkung beschränkt).

Unmittelbare Wirkung und Primärrecht

  • Was das Primärrecht betrifft, so hat der Gerichtshof im Urteil Van Gend & Loos den Grundsatz der unmittelbaren Wirkung aufgestellt. Er gab jedoch als Bedingung an, dass die Verpflichtungen eindeutig, klar und uneingeschränkt sein müssen und keine zusätzlichen Maßnahmen auf nationaler oder europäischer Ebene erfordern dürfen.
  • In seinem Urteil in der Rechtssache Becker lehnt der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung ab, sobald die Länder über einen sei es auch noch so kleinen Handlungsspielraum hinsichtlich der Durchführung der betreffenden Bestimmung verfügen. In der Rechtssache Kaefer und Procacci gegen Französischer Staat bestätigte der Gerichtshof, dass die betreffende Bestimmung unbedingt ist, da sie den Mitgliedstaaten kein Ermessen lässt und daher unmittelbare Wirkung hat.

Unmittelbare Wirkung und abgeleitetes Recht

Der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung bezieht sich auch auf Rechtsakte des abgeleiteten Rechts, d. h. von den EU-Organen erlassene Rechtsakte wie Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, die sich aus den in den Verträgen festgelegten Grundsätzen und Zielen ergeben. Der Umfang der unmittelbaren Wirkung hängt jedoch vom jeweiligen Rechtsakt ab.

  • Verordnungen gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten, wie in Artikel 288 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt, und haben somit unmittelbare Wirkung. Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen gilt dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Vorschriften für die Situation des Einzelnen hinreichend klar, genau und relevant sind (direkte Wirkung, wie sie durch das Urteil Politi gegen Finanzministerium der Italienischen Republik bestätigt wird).
  • Richtlinien sind an die Mitgliedstaaten gerichtete Rechtsakte, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Trotzdem erkennt der Gerichtshof in bestimmten Fällen eine unmittelbare Wirkung an, um die Rechte der Einzelnen zu schützen. So hat der Gerichtshof in seinem Urteil Van Duyn gegen Home Office festgelegt, dass eine Richtlinie eine unmittelbare Wirkung hat, wenn ihre Bestimmungen uneingeschränkt und hinreichend klar und eindeutig sind und wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat. Sie kann jedoch nur unmittelbare vertikale Wirkung entfalten; die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Richtlinien umzusetzen, aber ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Richtlinien gegenüber Einzelnen berufen (siehe Urteil in der Rechtssache Ratti).
  • Beschlüsse können unmittelbare Wirkung entfalten, wenn sie sich auf einen Mitgliedstaat als Adressaten beziehen. Der Gerichtshof erkennt daher nur eine unmittelbare vertikale Wirkung an (Urteil Hansa Fleisch gegen Landrat des Kreises Schleswig-Flensburg).
  • Internationale Übereinkommen. In seinem Urteil in der Rechtssache Demirel gegen Stadt Schwäbisch Gmünd hat der Gerichtshof bei bestimmten Abkommen nach den aus der Rechtssache Van Gend & Loos abgeleiteten Kriterien eine unmittelbare Wirkung anerkannt.
  • Stellungnahmen und Empfehlungen sind nicht rechtsverbindlich. Folglich haben sie auch keine unmittelbare Wirkung.

HINTERGRUND

Neben dem Vorrang des EU-Rechts (auch als „Präzedenz“ bezeichnet) ist die unmittelbare Wirkung ein Grundsatz des EU-Rechts.

HAUPTDOKUMENT

Urteil vom 5. Februar 1963, NV Algemene Transport- en Expeditie Onderneming van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung, C-26/62, ECLI:EU:C:1963:1.

VERBUNDENE DOKUMENTE

Urteil vom 10. November 1992, Hansa Fleisch Ernst Mundt GmbH & Co. KG gegen Landrat des Kreises Schleswig-Flensburg, C-156/91, ECLI:EU:C:1992:423.

Urteil vom 12. Dezember 1990, Peter Kaefer und Andréa Procacci gegen Französischer Staat, verbundene Rechtssachen C-100/89 und C-101/89, EU:C:1990:456.

Urteil vom 30. September 1987, Meryem Demirel gegen Stadt Schwäbisch Gmünd, C-12/86, ECLI:EU:C:1987:400.

Urteil vom 19. Januar 1982, Ursula Becker gegen Finanzamt Münster-Innenstadt, C-8/81, ECLI:EU:C:1982:7.

Urteil vom 5. April 1979, Strafverfahren gegen Tullio Ratti, C-148/78, ECLI:EU:C:1979:110.

Urteil vom 4. Dezember 1974, Yvonne van Duyn gegen Home Office, C-41/-74, ECLI:EU:C:1974:133.

Urteil vom 14. Dezember 1971, Politi s.a.s. gegen Finanzministerium der Italienischen Republik, C-43/71, ECLI:EU:C:1971:122.

Letzte Aktualisierung: 25.11.2022

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