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Document 62011CC0042

Schlussanträge des Generalanwalts P. Mengozzi vom 20. März 2012.
João Pedro Lopes Da Silva Jorge.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel d’Amiens.
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Art. 4 Nr. 6 – Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Umsetzung in das nationale Recht – Verhaftete Person, die die Staatsangehörigkeit des Ausstellungsmitgliedstaats besitzt – Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Möglichkeit der Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf den Fall beschränken, dass es sich bei der gesuchten Person um einen Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats handelt.
Rechtssache C-42/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:151

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 20. März 2012 ( 1 )

Rechtssache C-42/11

João Pedro Lopes Da Silva Jorge

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel d’Amiens [Frankreich])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten — Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, die die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, auf die Fälle beschränkt, in denen es sich bei der gesuchten Person um einen Staatsbürger dieses Staates handelt — Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit“

1. 

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel d’Amiens (Frankreich) gibt dem Gerichtshof erneut die Gelegenheit zur Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 2 ). Der Gerichtshof wird insbesondere gebeten, seine Rechtsprechung zu präzisieren und eine Abwägung des Wertungsspielraums, der den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses einzuräumen ist, und der Garantien, die den Unionsbürgern zu gewähren sind, wenn ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen sie vorliegt, vorzunehmen.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Völkerrecht

2.

Das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen, das am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichnet wurde und dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind, sieht in Art. 2 Abs. 1 vor, dass sich „die Vertragsparteien verpflichten …, nach diesem Übereinkommen im Hinblick auf die Überstellung verurteilter Personen weitestgehend zusammenzuarbeiten“.

3.

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen bestimmt:

„Eine verurteilte Person kann nach diesem Übereinkommen nur unter den folgenden Voraussetzungen überstellt werden:

a.

dass sie Staatsangehörige des Vollstreckungsstaats ist“.

4.

Art. 3 Abs. 4 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen ergänzt, dass „[j]eder Staat … jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung für seinen Bereich den Begriff ‚Staatsangehöriger‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen [kann]“.

B – Unionsrecht

1. Rahmenbeschluss 2002/584

5.

Art. 1 des Rahmenbeschlusses definiert den Europäischen Haftbefehl und die Verpflichtung zu seiner Vollstreckung wie folgt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

6.

Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennt die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Unter Nr. 6 sieht er vor, dass „[d]ie vollstreckende Justizbehörde … die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern [kann], … wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken“.

7.

Art. 32 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt, dass „für die vor dem 1. Januar 2004 eingegangenen Auslieferungsersuchen … weiterhin die im Bereich der Auslieferung bestehenden Instrumente [gelten]. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgeben, dass er als Vollstreckungsmitgliedstaat auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor einem von ihm festzulegenden Zeitpunkt begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. …“

8.

Die Erklärung Frankreichs in Bezug auf Art. 32 lautet wie folgt: „Frankreich erklärt gemäß Art. 32 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, dass es als Vollstreckungsmitgliedstaat auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor dem 1. November 1993 begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. …“

2. Rahmenbeschluss 2008/909/JI

9.

Der Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union ( 3 ) führt eine Regelung ein, deren Ziel es ist, die Vollstreckung einer Strafe in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der das Strafurteil erlassen hat, zu erleichtern, um die Resozialisierung des Verurteilten zu begünstigen.

10.

Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt: „Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.“

11.

Art. 28 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor, dass „[f]ür Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingehen, … weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen [gelten]. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen.“

C – Nationales Recht

12.

Art. 695-24 des Code de procédure pénale nennt die Gründe, aus denen es abgelehnt werden kann, einem europäischen Haftbefehl nachzukommen. So sieht er vor, dass „[d]ie Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann,

2.   wenn es sich bei der Person, die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung gesucht wird, um einen französischen Staatsbürger handelt und wenn die zuständigen französischen Justizbehörden sich verpflichten, diese Strafe zu vollstrecken“.

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13.

Am 14. September 2006 stellte ein portugiesisches Strafgericht einen Europäischen Haftbefehl aus, der gegen den Beklagten des Ausgangsverfahrens, Herrn Lopes Da Silva Jorge, einen portugiesischen Staatsangehörigen, gerichtet war, um eine im Jahr 2003 verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren für im Jahr 2002 begangene Taten zu vollstrecken. Seit diesem Zeitpunkt ist Herr Lopes Da Silva Jorge in Frankreich niedergelassen.

14.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass Herr Lopes Da Silva Jorge seit dem 11. Juli 2009 mit einer französischen Staatsangehörigen verheiratet ist, mit der er im französischen Hoheitsgebiet wohnt. Er ist seit dem 3. Februar 2008 bei einer französischen Firma unbefristet als Kraftfahrer im Nahverkehr angestellt.

15.

Am 19. Mai 2010 sprach Herr Lopes Da Silva Jorge nach einer telefonischen Vorladung bei den französischen Polizeidienststellen vor. Bei dieser Gelegenheit wurde er darüber informiert, dass ein Europäischer Haftbefehl gegen ihn vorliege und die portugiesischen Behörden seine Übergabe zur Vollstreckung der Strafe beantragt hätten. Am 20. Mai 2010 beantragte der Procureur général bei der Cour d’appel d’Amiens beim vorlegenden Gericht eine Entscheidung über die Übergabe von Herrn Lopes Da Silva Jorge an die portugiesischen Behörden.

16.

Im Rahmen des Ausgangsverfahrens führte der Procureur général im Wesentlichen aus, dass der Europäische Haftbefehl von den portugiesischen Behörden unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen erlassen worden sei und dass keiner der im französischen Code de procédure pénale vorgesehenen zwingenden oder fakultativen Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung Anwendung finde. Auf die Aufforderung, zu den Auswirkungen des Urteils Wolzenburg des Gerichtshofs ( 4 ) Stellung zu nehmen, trug der Procureur général vor, dass Herr Lopes Da Silva Jorge zwar berechtigt sei, sich auf die französischen Rechtsvorschriften zu berufen, in denen die Voraussetzungen festgelegt seien, unter denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entsprechend der Festlegungen des Gerichtshofs von der zuständigen Behörde abgelehnt werden könne, und somit, sich auch auf Art. 695-24 des Code de procédure pénale zu berufen, doch sei der in dieser Bestimmung genannte Grund, der nur französische Staatsangehörige betreffe, gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fakultativ. Somit sei Art. 695-24 des Code de procédure pénale nur unter zwei Voraussetzungen anwendbar, nämlich dass der Europäische Haftbefehl gegen einen französischen Staatsangehörigen gerichtet sei und dass die zuständigen französischen Behörden sich verpflichteten, die Vollstreckung der Strafe selbst vorzunehmen. Der Procureur général beantragte deshalb die Übergabe von Herrn Lopes Da Silva Jorge an die portugiesischen Behörden.

17.

Im Ausgangsverfahren erklärte Herr Lopes Da Silva Jorge dagegen, dass er nicht damit einverstanden sei, an die portugiesischen Behörden übergeben zu werden, und er beantragte seine Inhaftierung in Frankreich; dabei berief er sich erstens auf Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und die unverhältnismäßige Beeinträchtigung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens, die eine Entscheidung der Übergabe an die portugiesischen Behörden zum Zwecke der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darstellen würde. Zweitens äußerte er unter Hinweis auf das Urteil Wolzenburg im Hinblick darauf, dass das französische Recht eine Ablehnung der Übergabe nur für französische Staatsangehörige ermögliche, Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 695-24 des Code de procédure pénale mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und ganz allgemein mit dem Diskriminierungsverbot, wie es in Art. 18 AEUV niedergelegt sei ( 5 ).

18.

Die Chambre de l’instruction de la Cour d’appel d’Amiens hat aufgrund der Schwierigkeiten, denen sie sich bei der Auslegung des Unionsrechts gegenübersah, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und mit Vorlageentscheidung, die am 31. Januar 2011 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV folgende zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nationalen Rechtsvorschriften wie Art. 695-24 des Code de procédure pénale entgegen, die die Möglichkeit der Verweigerung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls auf den Fall beschränken, dass es sich bei der gesuchten Person um einen französischen Staatsbürger handelt und dass die zuständige französische Justizbehörde sich dazu verpflichtet, die Vollstreckung selbst vorzunehmen?

2.

Steht die Umsetzung des Verweigerungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in innerstaatliches Recht im Ermessen der Mitgliedstaaten, oder ist sie zwingend geboten, und kann ein Mitgliedstaat insbesondere eine Maßnahme einführen, die eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

19.

Herr Lopes Da Silva Jorge, die tschechische, die deutsche, die französische, die niederländische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen abgegeben.

20.

In der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2012 haben der Beklagte des Ausgangsverfahrens, die deutsche, die französische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission mündlich Stellung genommen.

IV – Rechtliche Würdigung

21.

Nach einigen Vorbemerkungen werde ich die Würdigung aus Gründen der logischen Reihenfolge mit der zweiten Vorlagefrage beginnen.

A – Vorbemerkungen

1. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Vorabentscheidung

22.

Die Französische Republik hat eine Erklärung im Sinne des früheren Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen nach den Modalitäten des früheren Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkannt hat ( 6 ). Außerdem bleiben gemäß Art. 10 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen, das dem AEU-Vertrag beigefügt ist, die Befugnisse des Gerichtshofs nach dem früheren Titel VI des EU-Vertrags bei Rechtsakten der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurden, unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach dem früheren Art. 35 Abs. 2 EU anerkannt wurden. Der Gerichtshof ist daher zuständig, über die Fragen des vorlegenden Gerichts zu entscheiden.

2. Zur Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584

23.

Auch wenn Art. 32 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Vollstreckungsmitgliedstaaten ermächtigt, weiterhin das Auslieferungssystem anzuwenden, das vor dem 1. Januar 2004 anwendbar war, folgt aus der Erklärung der Französischen Republik, dass sie sich dieses Recht nur für vor dem 1. November 1993 begangene Taten vorbehalten hat. Auf einen Sachverhalt wie denjenigen des Ausgangsverfahrens, bei dem sich die zur Last gelegten Taten, die dem Ersuchen zugrunde liegen, im Jahr 2002 ereignet haben und bei dem das Ersuchen um Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls selbst nach dem 1. Januar 2004 gestellt worden ist, ist somit das durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführte System anzuwenden.

24.

Man muss sich jedoch fragen, wie sich der Rahmenbeschluss 2008/909 auf das Ausgangsverfahren auswirkt. Dieser Rahmenbeschluss, der am 27. November 2008 erlassen wurde, bezweckt, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt ( 7 ). Als Frist für die Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses durch die Mitgliedstaaten wurde der 5. Dezember 2011 bestimmt ( 8 ). Dass das Fristende in den Zeitraum des Vorabentscheidungsverfahrens fällt, hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren. Art. 28 dieses Rahmenbeschlusses sieht nämlich vor, dass, sofern nicht eine einseitige gegenteilige Erklärung abgegeben wird, für Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingehen, weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen gelten. Da das Vollstreckungsersuchen für den Europäischen Haftbefehl vor dem 5. Dezember 2011 bei den französischen Behörden einging, ist die Situation des Beklagten des Ausgangsverfahrens mangels gegenteiliger Erklärung der Französischen Republik anhand des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu prüfen.

B – Zum Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584

25.

Mit der zweiten Frage an den Gerichtshof möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mitgliedstaaten die in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann, in ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen umsetzen müssen und, sollte dies bejaht werden, ob dies für alle in dieser Nummer genannten Fälle gilt, d. h. sowohl hinsichtlich der eigenen Staatsangehörigen als auch hinsichtlich der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in ihrem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten.

26.

Die Schwierigkeit hat meines Erachtens ihren Grund weniger in einem redaktionellen Problem der in Rede stehenden Bestimmung als in den Bedenken der Rechtsprechung, die zu unterschiedlichen Auslegungen führen konnte. Daher behandle ich zunächst den Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und die allgemeine Systematik dieses Rahmenbeschlusses, bevor ich zu einer Würdigung des Wertungsspielraums der Mitgliedstaaten im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelange.

27.

Ich möchte jedoch einige Bemerkungen vorausschicken, die mir für ein besseres Verständnis der vorliegenden Rechtssache und der damit verbundenen Probleme wesentlich erscheinen. Insoweit ist es von wesentlicher Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bekräftigt, dass dieser Rahmenbeschluss „… nicht die Pflicht [berührt], die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie [im Unionsrecht] niedergelegt sind, zu achten“.

28.

Die Rückkehr zu den Grundrechten und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist als Sicherheitsschranke anzusehen. In dem Bereich, den dieser Rahmenbeschluss abdeckt, und ganz allgemein im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen kann der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt, nicht auf die gleiche Art und Weise angewandt werden wie bei der Anerkennung eines Studienabschlusses oder eines Führerscheins, die ein anderer Mitgliedstaat ausgestellt hat. Ebenso wenig ist vorstellbar, dass die Mitgliedstaaten dazu beitragen, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen, der zur Folge hätte, dass die Grundrechte der Personen nicht beachtet werden, deren Verhalten eine Gefahr für die Freiheit, die Sicherheit oder das Recht darstellen konnte. Die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, insbesondere bei einem Europäischen Haftbefehl, der zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, kann nicht automatisch erfolgen, sondern er muss vielmehr vor dem Hintergrund des persönlichen, menschlichen Kontexts der individuellen Situation, die jedem Ersuchen auf Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt, betrachtet werden. Somit muss – und Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 soll daran erinnern – bei der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Sinne des genannten Rahmenbeschlusses die Wahrung der Grundrechte, wobei an erster Stelle die Würde des Verurteilten steht ( 9 ), oberstes Gebot sein. Dies gilt für den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Rechtsakte der Union, für die nationalen Justizbehörden bei der Anwendung der Befugnisse, die das Unionsrecht ihnen übertragen hat, aber auch für den Gerichtshof, wenn er um Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 gebeten wird. Der freie Verkehr von Strafurteilen ist unter Berücksichtigung dieses übergeordneten Grundsatzes, den der Schutz der Würde des Menschen, ein Eckpfeiler des Grundrechtsschutzes in der Rechtsordnung der Union, darstellt, sicherzustellen, aber gegebenenfalls auch einzuschränken.

29.

Ich schlage nun vor, die Würdigung fortzusetzen und dabei immer dieses humanistische Verständnis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vor Augen zu haben.

1. Wörtliche und teleologische Auslegung

30.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss als Rechtsakt der Union gemäß dem früheren Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU für die Mitgliedstaaten „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich [ist], … jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel [überlässt]“.

31.

Insbesondere nennt der Rahmenbeschluss 2002/584 in seinen Art. 3 und 4 die an die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats gerichteten Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Diese Gründe, die in dem genannten Rahmenbeschluss abschließend aufgezählt sind, um den Grundsatz der Übergabe selbst nicht zu gefährden, betreffen sowohl die verbindlich vorgeschriebene als auch die fakultative Ablehnung der Vollstreckung. Der Überschrift von Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) ist zu entnehmen, dass nicht die Umsetzung dieser Gründe durch die Mitgliedstaaten fakultativ ist, sondern die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, die so im Ermessen der nationalen Justizbehörden steht ( 10 ).

32.

Betrachtet man den Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 getrennt von den anderen Nummern dieses Artikels, sieht er vor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn dieser zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

33.

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, im Licht des früheren Art. 34 EU betrachtet, fordert somit von den Mitgliedstaaten, dass sie den Grund für die Ablehnung der Vollstreckung, den er vorsieht, in all seinen Modalitäten in ihrer Rechtsordnung umsetzen. Ich bin nicht der Ansicht, dass der Verwendung der Konjunktion „oder“ im Wortlaut dieser Nummer entscheidende Bedeutung beizumessen ist. Wie einige der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Verfahrensbeteiligten ausgeführt haben, wird diese Konjunktion zwar in den meisten Sprachfassungen verwendet ( 11 ), während z. B. die deutsche Fassung „und“ verwendet, um die Personenkategorien zu bestimmen, die in den Genuss des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grundes für eine Ablehnung der Vollstreckung kommen können. Ein solches Argument ist meines Erachtens zumindest schwach, wenn nicht gar unerheblich, da es keinen Sinn gemacht hätte, in der französischen Fassung von Art. 4 Nr. 6 die Konjunktion „und“ zu verwenden. Dies hätte zu der Gefahr geführt, dass sich eine absurde Argumentation entwickelt, wonach nur eine Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist, sich dort aufhält und dort ihren Wohnsitz hat, in den Genuss dieses Grundes hätte kommen können.

34.

Selbst wenn man annimmt, dass die Mitgliedstaaten Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht umsetzen müssen, musste der französische Gesetzgeber, da er ihn offensichtlich mittels Art. 695-24 des Code de procédure pénale umsetzen wollte, dies gegenüber allen darin genannten Personengruppen tun. Abgesehen von eventuellen sprachlichen Abweichungen folgt meines Erachtens zweifelsfrei aus dem Ziel, das Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses verfolgt, dass die Mitgliedstaaten diese Nr. 6 so umzusetzen haben, dass ihre Justizbehörden in der Lage sein müssen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht nur im Hinblick auf ihre eigenen Staatsangehörigen, sondern auch im Hinblick auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten nach Vornahme einer Gesamtwürdigung ihrer individuellen Lage abzulehnen, sofern diese die im Rahmenbeschluss 2002/584 festgelegten Voraussetzungen erfüllen

35.

Ein solches Ergebnis widerspricht meines Erachtens entgegen dem Vorbringen der meisten Verfahrensbeteiligten in diesem Verfahren nicht dem wesentlichen Grundsatz, auf dem der Rahmenbeschluss 2002/584 beruht, nämlich dem der gegenseitigen Anerkennung. Nach Ansicht dieser Verfahrensbeteiligten sind die Ablehnungsgründe dieses Rahmenbeschlusses besonders restriktiv auszulegen, um die Übergabe entsprechend dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

36.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet dieser Grundsatz, „der der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 zugrunde liegt, … nach dessen Art. 1 Abs. 2, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken“ ( 12 ). Ungeachtet des beträchtlichen Raums, der dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Rahmenbeschluss eingeräumt wird, wurden jedoch vom Unionsgesetzgeber Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung vorgesehen. Sie sind abschließend aufgezählt, wodurch eben gewährleistet ist, dass es beim Grundsatz der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle bleibt. Insbesondere bezweckt Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der Strafe zu erhöhen ( 13 ). Deshalb wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wie er im Rahmenbeschluss umgesetzt wurde, so wichtig er auch sein mag, vom Unionsgesetzgeber nicht als absoluter Grundsatz formuliert. Der Hinweis auf die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestätigt dies, wie ich einleitend ausgeführt habe. Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses ist somit eine deutliche Manifestation des Willens des Unionsgesetzgebers, den zuständigen Justizbehörden gegebenenfalls die Möglichkeit zu belassen, einen Ausgleich mit diesem Grundsatz zu finden, wenn sie sich einem ebenso zu schützenden grundlegenden Anliegen wie der erfolgreichen Resozialisierung der verurteilten Person gegenüber sehen.

37.

Dieser Resozialisierungszweck dient nicht allein dem individuellen Interesse des Verurteilten. Eine erfolgreiche Resozialisierung in einer dieser Person vertrauten Umgebung ist auch eine zusätzliche Versicherung für die Gesellschaft, in der er zwangsläufig lebt, dass das Risiko eines Rückfalls geringer ist. Die Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber dem beimisst, wurde im Rahmenbeschluss 2008/909 ausdrücklich bestätigt, dessen Zweck nach seinem Art. 3 Abs. 1 „die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person“ ist.

38.

Der Gerichtshof hat bestätigt, dass „mit dem fakultativen Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 … zwar insbesondere bezweckt wird, dass der Frage, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können, besondere Bedeutung beigemessen werden kann …, dass ein solches Ziel – so wichtig es ist – es aber nicht ausschließen kann, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieses Rahmenbeschlusses die Fälle, in denen die Übergabe einer vom Anwendungsbereich des Art. 4 Nr. 6 erfassten Person verweigert werden kann, im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 des genannten Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundregel begrenzen“ ( 14 ). Damit hat er nichts anderes gemacht, als daran zu erinnern, dass Art. 4 Nr. 6 kein unbedingtes Recht der verurteilten Person festlegen möchte, ihre Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats zu verbüßen, und dass im gegebenen Fall die Anwendung des nationalen Rechts, das die Anwendung des fakultativen Ablehnungsgrundes für ausländische Staatsangehörige an die Bedingung einer regelmäßigen Aufenthaltsdauer von fünf Jahren knüpft, mit dem Rahmenbeschluss vereinbar war. Der Gerichtshof hat sich somit zur Anwendung von Rechtsvorschriften geäußert, die in einer besonderen Situation die Fälle begrenzte, in denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden konnte, ohne sie jedoch auszuschließen. Ich werde später darauf zurückkommen, mit welcher Vorsicht die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs angewandt werden muss ( 15 ).

39.

Entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung kann bei der von mir vorgeschlagenen Lesart des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses keine Rede davon sein, die Straffreiheit der gesuchten Person festzulegen oder sogar den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Frage zu stellen, denn der Vollstreckungsstaat kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur ablehnen, wenn er sich ausdrücklich verpflichtet, die Strafe in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, ohne die Entscheidung, mit der sie verhängt wurde, in Frage zu stellen. Insoweit bleibt die Logik der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen der Justiz vollkommen gewahrt, auch wenn die gesuchte Person ihre Strafe im Vollstreckungsstaat und nicht in dem Staat, der sie ausgesprochen hat, verbüßt. Die Auslegung, die ich dem Gerichtshof für Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorschlage, widerspricht meines Erachtens somit weder der allgemeinen Systematik noch den Zielen, die er verfolgt.

40.

Letztendlich bin ich davon überzeugt, dass eine Auslegung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses, die erlauben würde, nationale Rechtsvorschriften als mit diesem Rahmenbeschluss vereinbar anzusehen, die ohne Differenzierung jeden Unionsbürger, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält oder seinen Wohnsitz hat, von der Möglichkeit, in den Genuss der fakultativen Ablehnungsgründe zu kommen, allein deshalb ausschließt, weil er nicht Staatsangehöriger dieses Staates ist, unmittelbar gegen eine Vielzahl von Grundrechten und allgemeiner Rechtsgrundsätze verstoßen würde, deren Beachtung nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgeschrieben ist, und somit selbst kaum mit den Erfordernissen nach diesem Artikel vereinbar wäre.

2. Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten und persönlicher Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584

41.

Der Gerichtshof hat im Urteil Wolzenburg ausgeführt, dass „[die Mitgliedstaaten b]ei der Durchführung des Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und insbesondere seiner Nr. 6, … notwendigerweise über einen bestimmten Wertungsspielraum [verfügen]“ ( 16 ). Meines Erachtens wird damit nichts anderes bezeichnet als der Wertungsspielraum, den der Vertrag den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Form und der Mittel der Durchführung von Rahmenbeschlüssen einräumt. Auf alle Fälle muss dieser Wertungsspielraum unter Beachtung des Unionsrechts ausgeübt werden ( 17 ).

42.

Der Gerichtshof war bereits ersucht worden, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses auszulegen, und die Verfahrensbeteiligten, die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens Erklärungen abgegeben haben, haben lange Ausführungen zu den einschlägigen Urteilen Kozlowski ( 18 ) und Wolzenburg gemacht. Die meisten dieser Beteiligten haben aus Randnr. 58 des Urteils Wolzenburg geschlossen, dass der Gerichtshof darin festgelegt habe, dass es dem nationalen Gesetzgeber freistehe, die verschiedenen Gründe, die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannt seien, umzusetzen. In dieser Randnummer hat der Gerichtshof bekräftigt, dass „ein nationaler Gesetzgeber, der sich entsprechend den ihm durch Art. 4 des genannten Rahmenbeschlusses eröffneten Möglichkeiten dafür entscheidet, die Fälle, in denen seine vollstreckende Justizbehörde die Übergabe einer gesuchten Person verweigern kann, zu begrenzen, nur das mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe [verstärkt]“.

43.

Man darf jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass die Situation im Hinblick auf das nationale Recht im Rahmen der Rechtssache Wolzenburg eine ganz andere war, da der Gerichtshof damals über Rechtsvorschriften zu entscheiden hatte, mit denen Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 tatsächlich umgesetzt worden war, auch hinsichtlich der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten als des Vollstreckungsstaats. Dies ist ein grundlegender Unterschied zur vorliegenden Rechtssache, bei der infolgedessen große Vorsicht geboten ist, wenn man sich an den Ausführungen des Gerichtshofs in den einschlägigen Urteilen orientiert, insbesondere dem Urteil Wolzenburg, die nicht ipso facto übertragbar sind in einem Fall, in dem das nationale Recht die Anwendung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nur seinen Staatsangehörigen vorbehält. Die Auslegung dieser Randnr. 58 hat somit im Licht des besonderen innerstaatlichen Kontexts zu erfolgen, der damals in Rede stand.

44.

Wenn somit eine Lehre aus dieser Randnummer zu ziehen ist, dann diejenige, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in ihrem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten, ein unbedingtes Recht zu gewähren, dass die Vollstreckung eines sie betreffenden Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird. Der Wertungsspielraum, der den Mitgliedstaaten eingeräumt ist und um den es in diesem Urteil ebenfalls ging, kann sich durchaus in einer Begrenzung solcher Fälle zeigen ( 19 ), aber sicher nicht im vollständigen Ausschluss aller ausländischen Staatsangehörigen von der Vergünstigung des fakultativen Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses. Es ist klar, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihren Justizbehörden die Pflicht aufzuerlegen, jeden Sachverhalt mittels einer Gesamtbeurteilung individuell zu prüfen, falls bei diesen Behörden beantragt wird, einem Europäischen Haftbefehl, der zur Vollstreckung einer Strafe gegen einen Angehörigen des Vollstreckungsstaats, eine Person, die sich dort aufhält oder eine Person, die dort ihren Wohnsitz hat, verhängt wurde, nicht nachzukommen ( 20 ).

45.

Der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ebenso klar zu entnehmen, dass dieser den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht so versteht, dass er sich wahlweise entweder auf die Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaats oder Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die in seinem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten, oder beide Alternativen zusammen bezieht. Der Gerichtshof hat nämlich in Randnr. 34 des Urteils Kozlowski bekräftigt, dass „nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses [2002/584] der Anwendungsbereich dieses fakultativen Ablehnungsgrundes auf Personen begrenzt [ist], die sich, ohne Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats zu sein, dort ‚aufhalten‘ oder ‚ihren Wohnsitz haben‘“.

46.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Vorlagefrage in dem Sinne zu antworten, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausübung des Wertungsspielraums, über den sie verfügen, unter Beachtung des Unionsrechts in Bezug auf die Bestimmung der Voraussetzungen, von denen die Anwendung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die in ihrem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten, abhängig gemacht werden kann, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 umsetzen müssen, so dass die Vollstreckungsjustizbehörden die Befugnis haben, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe sowohl in Bezug auf ihre eigenen Staatsangehörigen als auch in Bezug auf die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, abzulehnen, wobei es diesen Behörden möglich sein muss, diese Befugnis im Licht der jedem Einzelfall eigenen Umstände auszuüben.

C – Zur ersten Frage

47.

Meines Erachtens genügt die Antwort auf die vorstehend geprüfte Frage für eine ausreichende Aufklärung des vorlegenden Gerichts. Sollte der Gerichtshof jedoch entscheiden, dass die Mitgliedstaaten allein aufgrund des Wortlauts des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht gehalten sind, dessen Art. 4 Nr. 6 sowohl im Hinblick auf ihre Staatsangehörigen als auch im Hinblick auf die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, umzusetzen, und zu dem Ergebnis kommen, dass der französische Staat von seinem Wertungsspielraum in völliger Übereinstimmung mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 Gebrauch gemacht hat, muss er zu der Frage Stellung nehmen, ob das Diskriminierungsverbot nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.

48.

Erstens ist festzustellen, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er sich in französisches Hoheitsgebiet begeben hat, wo er rechtmäßig seinen Wohnsitz hat und eine Familie gegründet hat. Nun dürfen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung eines Rahmenbeschlusses nicht gegen das Unionsrecht verstoßen, insbesondere nicht gegen die Vorschriften über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( 21 ). So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, das Recht hat, sich gegenüber einer nationalen Regelung, die die Voraussetzungen festlegt, unter denen die zuständige Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung zu berufen ( 22 ). Dies muss erst recht gegenüber der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden französischen Regelung gelten, die jeden Unionsbürger, mit Ausnahme allein der französischen Staatsangehörigen, von der Anwendung der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Ablehnungsgründe ausschließt. Folglich hat der Beklagte des Ausgangsverfahrens das Recht, sich gegenüber dieser Regelung auf Art. 18 AEUV zu berufen. Es ist noch zu prüfen, ob Art. 695-24 des Code de procédure pénale eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit enthält.

49.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Diskriminierungsverbot impliziert, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist ( 23 ).

50.

Nach den französischen Rechtsvorschriften unterscheidet sich die Behandlung, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten erhalten, ganz offensichtlich von der Behandlung, die französischen Staatsangehörigen vorbehalten ist. Dem Vorbringen einiger Regierungen, dass die Situation der Inländer in einem solchen Fall nicht mit derjenigen der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten vergleichbar sei, kann nicht gefolgt werden. Diese Mitgliedstaaten betonen die unterschiedliche Natur der Bindung eines Staatsangehörigen an seinen Heimatstaat im Vergleich zu der Bindung eines Unionsbürgers an seinen Wohnsitzstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitze. Zum Beispiel habe jeder französische Staatsangehörige zwangsläufig eine sehr starke, in der Staatsangehörigkeit verkörperte Bindung zur französischen Gesellschaft, die es rechtfertige, dass der französische Staat sich nur im Hinblick auf ihn verpflichte, die in einem anderen Mitgliedstaat der Union verhängte Strafe in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken. Meines Erachtens hätte sich das Unionsrecht, wären wir bei dieser Art von Argumentation stehengeblieben, nicht so außergewöhnlich entwickelt, wie dies bis heute der Fall ist. Eine solche Diskussion erscheint mir längst überholt zu sein.

51.

Man kann leicht verstehen, dass ein Mitgliedstaat sich nach allen Seiten absichern und die Verpflichtung, eine im Ausland verhängte Strafe zu vollstrecken – was zweifellos eine schwere Verantwortung für diesen Staat bedeutet –, nur hinsichtlich Personen eingehen möchte, die eine tatsächliche, stabile und dauerhafte Bindung zu der Gesellschaft des in Rede stehenden Staates haben. Dagegen ist es völlig falsch, zu sagen, dass nur die Personen mit der Staatsangehörigkeit dieses Staates eine solche Bindung haben können. Der Fall des Beklagten des Ausgangsverfahrens ist ein treffendes Beispiel dafür. Das im Unionsrecht verankerte Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, hat zur Folge, dass heute nicht unwiderlegbar angenommen werden kann, dass die besten Aussichten für eine Resozialisierung einer verurteilten Person nur in dem Staat bestehen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die französischen Vorschriften vergleichbare Situationen ungleich behandeln.

52.

Eine solche unterschiedliche Behandlung kann mit dem Diskriminierungsverbot vereinbar sein, wenn sie objektiv gerechtfertigt und hinsichtlich des rechtmäßig verfolgten Ziels verhältnismäßig ist, d. h., sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist ( 24 ).

53.

Die französische Regierung hat vorgetragen, die unterschiedliche Behandlung lasse sich objektiv begründen. Sie weist auf eine Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem nationalen Recht hin. Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses Nr. 2002/584 sehe nämlich vor, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat verpflichte, die im Ausland verhängte Strafe in seinem eigenen Hoheitsgebiet nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Das französische positive Recht erlaube dem französischen Staat aber nicht, eine solche Verpflichtung einzugehen. Die französische Regierung weist darauf hin, dass die Vollstreckung einer im Ausland verhängten Strafe in Frankreich wichtige Rechtsfragen aufwerfe, die im Rahmenbeschluss 2002/584 nicht geregelt seien, weshalb Art. 4 Nr. 6 auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten verweise. Die Vollstreckung im Ausland verhängter Strafen sei nicht einheitlich geregelt und falle meistens unter internationale, bilaterale oder multilaterale Übereinkommen, und der französische Staat könne nicht einseitig entscheiden, in seinem Hoheitsgebiet eine in einem anderen Mitgliedstaat verhängte Strafe zu vollstrecken, da er der verurteilten Person nicht garantieren könne, dass die Vollstreckung in dem Staat anerkannt werde, der sie verhängt habe.

54.

Meines Erachtens kann man diese Argumentation auf zwei Arten widerlegen, zunächst durch Zurückweisung der vorgetragenen Rechtfertigung und dann durch die Betonung der offensichtlichen Unverhältnismäßigkeit der französischen Vorschriften.

55.

Was die Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem innerstaatlichen Recht betrifft, auf die sich die französische Regierung beruft, erinnere ich vorab daran, dass der Gerichtshof dieser Art von Argumentation selten gefolgt ist.

56.

Weiter ist zu bemerken, dass die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, dass der Umstand, dass das französische Recht derzeit nicht erlaube, eine Strafe zu vollstrecken, die ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Person verhängt habe, die nicht die französische Staatsbürgerschaft habe, mehr in der Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 durch den Gesetzgeber begründet ist, wonach Art. 4 Nr. 6 den Mitgliedstaaten nicht die Pflicht zur Gleichbehandlung der nationalen Staatsangehörigen und der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auferlege, als in einem unüberwindbaren rechtlichen Hindernis durch das den französischen Staat gegenwärtig bindende Völkervertragsrecht. In dieser Hinsicht hat die Kommission zu Recht ausgeführt, dass der französische Staat, wie alle Mitgliedstaaten der Union, Vertragsstaat des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen ist ( 25 ). Es sieht vor, dass eine Überstellung stattfinden kann, wenn der Verurteilte Angehöriger des Vollstreckungsstaats ist ( 26 ), es besagt jedoch auch, dass die Vertragsstaaten jederzeit durch eine einseitige Erklärung den Begriff „Staatsangehöriger“ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen können ( 27 ), so dass der französische Staat die Bestimmungen des Übereinkommens auch auf die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten anwenden konnte ( 28 ).

57.

Selbst wenn man schließlich annimmt – wovon ich überhaupt nicht überzeugt bin –, dass erst seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses 2008/909 die rechtlichen Aspekte im Zusammenhang mit der Vollstreckung einer Strafe, die in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurde, geregelt sind, kann ich jedenfalls nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass der französische Gesetzgeber dadurch, dass er diesen Rahmenbeschluss nicht innerhalb der vorgegebenen Frist umgesetzt hat, seit dem 5. Dezember 2011 für das von ihm geltend gemachte Fehlen einer Regelung in seinem innerstaatlichen Recht allein verantwortlich ist und somit, wenn der Gerichtshof das Argument betreffend die Schwierigkeiten des französischen positiven Rechts anerkennen sollte, weiterhin einen Vorteil aus seiner eigenen Nachlässigkeit ziehen könnte. Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthält aber – und die französische Regierung hat dies in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt – einen flexiblen Verweis auf das nationale Recht, so dass, selbst wenn für Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 beim Vollstreckungsstaat eingegangen sind, weiterhin der Rahmenbeschluss 2002/584 gilt, die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 gerade deshalb berücksichtigt werden könnten, weil er über seine Durchführung zu einer Änderung und einer Anpassung des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten führt.

58.

Außerdem ist es offensichtlich, dass Rechtsvorschriften, die dazu führen, dass ganz einfach alle Unionsbürger, die nicht französische Staatsangehörige sind, von der Anwendung des Ablehnungsgrundes, der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehen ist, ausgeschlossen werden, unverhältnismäßig sind. Sie entziehen den zuständigen Justizbehörden systematisch ihre Befugnis, individuelle Sachverhalte zu würdigen, und gehen ebenso kategorisch wie unwiderlegbar davon aus, dass es rechtlich unmöglich ist, die Strafe im französischen Hoheitsgebiet zu vollstrecken. Aus dem Vorbringen der französischen Regierung ergibt sich jedoch, dass die Situation nuancierter ist und dass es, da es nicht möglich ist, für alle Fallgestaltungen, mit denen die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats befasst werden können, einen einheitlichen rechtlichen Rahmen zu schaffen, notwendig ist, von Fall zu Fall das anwendbare Recht zu bestimmen, da es sich entsprechend dem Staat, dessen Angehöriger der Verurteilte ist, ändern kann. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften sind unverhältnismäßig, da sie verurteilte Personen von vornherein von der Anwendung des genannten Grundes ausschließen, obwohl sie möglicherweise im Hinblick auf die Vorschriften, die für ihr Ersuchen gelten, einen Anspruch auf die Vollstreckung ihrer Strafe im französischen Hoheitsgebiet haben könnten.

59.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass das in Art. 18 AEUV verankerte Diskriminierungsverbot einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die Möglichkeit, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls abzulehnen, auf den Fall beschränkt, dass es sich bei der gesuchten Person um einen französischen Staatsbürger handelt und die zuständigen französischen Behörden sich verpflichten, die Vollstreckung selbst durchzuführen.

D – Zur Pflicht einer konformen Auslegung

60.

Im Urteil Pupino hat der Gerichtshof entschieden, dass „der Grundsatz konformer Auslegung in Bezug auf Rahmenbeschlüsse, die im Rahmen von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union ergangen sind, anzuwenden ist. Soweit das vorlegende Gericht das nationale Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, muss es seine Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses ausrichten, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen und so [dem früheren] Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU nachzukommen.“ ( 29 ) Im Übrigen „[endet d]ie Verpflichtung des nationalen Gerichts, den Inhalt eines Rahmenbeschlusses bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts heranzuziehen, … wenn dieses nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluss angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz konformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen.“ ( 30 )

61.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sein nationales Recht in diesem Verfahren in einer konformen Weise ausgelegt werden kann. Ich erinnere nur daran, dass das vorlegende Gericht, falls es eine solche Auslegung für möglich hält, z. B., indem es den Ausdruck „französischer Staatsangehöriger“ in Art. 695-24 Abs. 2 des Code de procédure pénale so auslegt, dass er auch vergleichbare Staatsangehörigkeiten betrifft, nämlich die der anderen Mitgliedstaaten der Union, die verschiedenen Ziele berücksichtigen muss, die der Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgt und die eine erfolgreiche Resozialisierung des Verurteilten einschließen. Dabei kann es sich zweckmäßig an den Kriterien, die der Gerichtshof in Randnr. 48 des Urteils Kozlowski dargelegt hat, sowie an den Ausführungen in Randnr. 76 des Urteils Wolzenburg orientieren, um aufgrund einer Gesamtbeurteilung der Bindung des Beklagten des Ausgangsverfahrens an die französische Gesellschaft festzustellen, ob er eine Vollstreckung im französischen Hoheitsgebiet verlangen kann.

V – Ergebnis

62.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die beiden Vorlagefragen der Cour d’appel d’Amiens wie folgt zu beantworten:

1.

Die Mitgliedstaaten müssen unbeschadet der Ausübung des Wertungsspielraums, über den sie verfügen, unter Beachtung des Unionsrechts in Bezug auf die Bestimmung der Voraussetzungen, von denen die Anwendung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die in ihrem Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufhalten, abhängig gemacht werden kann, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 umsetzen, so dass die Vollstreckungsjustizbehörden die Befugnis haben, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe sowohl in Bezug auf ihre eigenen Staatsangehörigen als auch in Bezug auf die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, abzulehnen, wobei es diesen Behörden möglich sein muss, diese Befugnis im Licht der jedem Einzelfall eigenen Umstände auszuüben.

2.

Jedenfalls steht das in Art. 18 AEUV verankerte Diskriminierungsverbot einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die die Möglichkeit, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls abzulehnen, auf den Fall beschränkt, dass es sich bei der gesuchten Person um einen französischen Staatsbürger handelt und dass die zuständigen französischen Behörden sich dazu verpflichten, die Vollstreckung selbst durchzuführen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. L 190, S. 1.

( 3 ) ABl. L 327, S. 27.

( 4 ) Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg (C-123/08, Slg. 2009, I-9621).

( 5 ) Wenn die Schriftsätze und insbesondere das Vorabentscheidungsersuchen auf Art. 12 EG Bezug nehmen, ist das ganz selbstverständlich so zu verstehen, dass Art. 18 AEUV gemeint ist.

( 6 ) Siehe Unterrichtung über die Erklärungen der Französischen Republik und der Republik Ungarn zur Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen über die in Artikel 35 des Vertrags über die Europäische Union genannten Rechtsakte (ABl. 2005, C 318, S. 1).

( 7 ) Vgl. Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909.

( 8 ) Vgl. Art. 29 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Die Französische Republik hat diese Frist nicht eingehalten, da der Entwurf des Gesetzes, das den Rahmenbeschluss 2008/909 in französisches Recht umsetzen soll, zum Zeitpunkt des Vortrags meiner Schlussanträge in dieser Rechtssache immer noch im Parlament diskutiert wird (vgl. den Entwurf eines Gesetzes betreffend mehrere Bestimmungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht in Anwendung der internationalen Verpflichtungen Frankreichs, das am 11. Januar 2012 dem Senat vorgelegt wurde).

( 9 ) Die Würde des Menschen ist das erste der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genannten Grundrechte (vgl. Art. 1 dieser Charta).

( 10 ) Der Wortlaut ist in den anderen Sprachfassungen ebenso deutlich; ich verweise hierzu im Wesentlichen auf die Überschrift von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in ihrer englischen Fassung („Grounds for optional non-execution of the European arrest warrant“), in ihrer italienischen Fassung („Motivi di non esecuzione facoltativa del mandato di arresto europeo“), in ihrer spanischen Fassung („Motivos de ejecución facultativa de la orden de detención europea“) und in ihrer portugiesischen Fassung („Motivos de não execução facultativa do mandado de detenção europeu“).

( 11 ) Dies ist u. a. der Fall in der englischen, der spanischen, der französischen, der italienischen und der portugiesischen Fassung.

( 12 ) Urteil Wolzenburg, oben in Fn. 4 angeführt (Randnr. 57).

( 13 ) Ebd. (Randnr. 67).

( 14 ) Ebd. (Randnr. 62).

( 15 ) Vgl. Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge.

( 16 ) Urteil Wolzenburg, oben in Fn. 4 angeführt (Randnr. 61).

( 17 ) Ebd. (Randnr. 45).

( 18 ) Urteil vom 17. Juli 2008, Kozłowski (C-66/08, Slg. 2008, I-6041).

( 19 ) Der Gerichtshof hat im Übrigen niederländische Rechtsvorschriften, nach denen die Vergünstigung des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 niederländischen Staatsangehörigen ohne Bedingungen und Angehörigen anderer Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung gewährt wird, dass sie sich rechtmäßig mindestens fünf Jahre ununterbrochen im niederländischen Hoheitsgebiet aufgehalten haben, als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen.

( 20 ) Der achte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 spricht sich eindeutig in diesem Sinne aus, indem er bestimmt, dass „Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls … ausreichender Kontrolle unterliegen [müssen]; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, eine Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss“.

( 21 ) Vgl. Urteil Wolzenburg (Randnr. 45).

( 22 ) Ebd. (Randnr. 47).

( 23 ) Vgl. u. a. Urteile vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung), und Wolzenburg (Randnr. 62).

( 24 ) Urteil Wolzenburg (Randnr. 69).

( 25 ) Vgl. Nr. 2 der vorliegenden Schlussanträge.

( 26 ) Vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen.

( 27 ) Vgl. Art. 3 Abs. 4 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen.

( 28 ) Im Übrigen ergibt sich aus einer Untersuchung der unilateralen Erklärungen der Vertragsstaaten des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen, dass mindestens sieben Mitgliedstaaten der Union den Begriff „Staatsangehöriger“ im Sinne dieses Übereinkommens auf Personen ausgeweitet haben, die ihren Wohnsitz im Vollstreckungsstaat haben oder dort wohnen oder die sich dort endgültig niedergelassen haben (das Königreich Dänemark, Finnland, Ungarn, das Königreich der Niederlande, Portugal, Slowakei und das Königreich Schweden). Irland und das Vereinigte Königreich sehen ihrerseits die Möglichkeit vor, diesen Begriff entsprechend einer Würdigung der engen Bindungen der verurteilten Person zum betreffenden Staat auszudehnen.

( 29 ) Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino (C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Randnr. 43).

( 30 ) Ebd. (Randnr. 47).

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